Der chinesische Meuchelmörder

4.1

Kheng Wu – Ken, wie die amerikanisierte Version seines Namens lautete – trottete den Pfad hinauf. Er hasste die Hitze in der Wüste von Arizona. Sich selbst hasste er auch. Er hatte es zugelassen, dass er während seines einjährigen Aufenthalts in den Vereinigten Staaten abgeschlafft war. Durch das intensive Training im klimatisierten Fitnesscenter in Boston hatte er sich in trügerischer Sicherheit gewiegt, was seine Fitness betraf. Denn er hatte das vergessen – wie es war, unmittelbar den Elementen ausgesetzt zu sein. Seine Lunge glühte förmlich, und durch die sengende Sonne war er schweißgebadet. Er erging sich in sentimentalen Erinnerungen an die Märsche, die er als junger Mann beim Militär absolviert hatte. Das waren richtige Härtetests gewesen. Er hatte sich als Freiwilliger bei der chinesischen Volksarmee gemeldet: beseelt vom Wunsch, seinem Land zu dienen und Ruhm und Ehre zu erlangen – und weil er der Enge seines verarmten Heimatdorfs in Qinghai entfliehen wollte. Seine Brüder waren zu Hause geblieben und hatten die Einberufung abgewartet. Aber nicht Wu. Mit achtzehn hatte er seinem Onkel Lebewohl gesagt und sich in der Garnison Shenyang gemeldet. Dort hatte er wochenlang mit wenig Schlaf auskommen müssen, war gnadenlos gedrillt worden und hatte steile Bergpfade mit einem Fünfundzwanzig-Kilo-Rucksack erklommen, dessen Riemen ihn in die Schultern schnitten. Die LifeFitness-Laufbänder in Amerika konnten da nicht mithalten.

Heute, im Alter von achtunddreißig Jahren, biss er die Zähne zusammen und zwang sich, immer weiter den Pfad hinaufzugehen.

Zwanzig Meter hinter ihm stolperte eine kleine Gruppe von Leichen auf der Jagd nach ihm den Berg hinauf. Sechzehn tote Männer und Frauen; er zählte sie immer wieder durch, um sich zu vergewissern, dass sie auch noch alle da waren. Ihre geschwärzten Gesichter hatten Ähnlichkeit mit verkohlten Brandleichen. Sie waren ihm seit zwanzig Minuten auf den Fersen, seit er das alte Lager an der Nordseite der Superstitions verlassen hatte.

Er hatte die zerfetzten Zelte durchsucht, die schon halb im roten Erdboden versunken waren. Auf dem Parkplatz stand der Lkw der amerikanischen Armee – der Lkw, nach dem er tagelang gesucht hatte. Das chinesische Ministerium für Staatssicherheit hatte dem Geheimdienstdossier zwar GPS-Koordinaten hinzugefügt, aber sie waren nur bis auf ein paar Kilometer genau; das Aufspüren des amerikanischen AAE-Teams war schwieriger gewesen als gedacht. Dann war er aber doch fündig geworden: Dort stand ihr Fahrzeug, ein alter Siebentonner, den sie grob fahrlässig mitten im freien Gelände abgestellt hatten. Vielleicht hatten die Amerikaner geglaubt – in ihrer typischen Arroganz, sagte Wu sich –, dass auf dieser Seite des Kontinents niemand mehr am Leben sei, und deshalb auf jegliche Tarnung verzichtet.

Er hatte den Parkplatz mit der GPS-App seines Android-Smartphones als Positionspunkt gespeichert und dann das Gerät wieder in den Rucksack gepackt. Am anderen Ende des Parkplatzes stand ein verdreckter Wohnwagen; die Deichsel hatte sich in den Boden gegraben, nachdem der Wohnwagen von der Zugmaschine abgekoppelt und zurückgelassen worden war. Aus dem Inneren hörte Wu dumpfe Schläge. Irgendjemand hatte die Toten da drin eingesperrt; die Tür war mit einem Vorhängeschloss gesichert, und die Fenster waren zu klein, um hindurchzukriechen. Die Leichen hatten dort drinnen Jahre zugebracht und waren dabei immer weiter verrottet. Waren in diesem provisorischen Gefängnis in sengender Hitze und ohne Essen und Wasser dahinvegetiert. Bemerkenswert. Wu staunte oft über die Überlebensfähigkeit der Toten.

Falls »Überleben« überhaupt das richtige Wort war.

Wie immer verspürte er Mitleid mit ihnen. Er holte einen großen Stein von einer Feuerstelle in der Nähe und schlug gegen das Schloss. Fingernägel kratzten an der anderen Seite der Tür.

Als das Schloss dann aufging, zog Wu sich ein paar Meter zurück und wartete. Die Tür flog auf, und fast schlagartig wurde die Luft im näheren Umkreis des Wohnwagens verpestet. Der Gestank stieg ihm in die Nase. Er hoffte zum hundertsten Mal, dass das Briefing, das er im letzten Monat vom MSS erhalten hatte, auch richtig war – eine Zusicherung, dass die Infektion nicht durch die Luft übertragen wurde. Aber vielleicht … über diese kurze Distanz …?

Bevor er weitere Spekulationen anzustellen vermochte, erschien eine Leiche aus dem dunklen Innenraum und trat unsicher auf die oberste Stufe. Es war eine nackte männliche Leiche, die wirklich grotesk aussah: Der Penis war an der Eichel mit verkrustetem Blut überzogen und hing wie eine bizarre purpurfarbene Kalebasse zwischen den Beinen. Der Bauch war ein glänzender harter Ballon – so stark von Gasen aufgebläht, dass er jeden Moment zu platzen drohte.

Wu strich mit den Fingerspitzen über die gerundeten Griffe der beiden Mandarinenten-Haken an seinem Gürtel. Er war bereit, sie notfalls zu ziehen. Diese Mandarinenten-Haken – lujiaodao in seiner Sprache – waren nach wie vor seine bevorzugten Waffen. Er hatte ihre Handhabung in Peking erlernt; sein erstes Jahr beim MSS hatte auch ein intensives Studium des Kampfkunststils Baguazhang beinhaltet. Die beiden Klingen wölbten sich wie zwei rasiermesserscharfe Sicheln um die Fäuste – perfekt für den Nahkampf, vor allem wenn man umzingelt war. Dann konnte er sie virtuos kreisen lassen und mehreren Angreifern gleichzeitig die Kehle durchschneiden.

Man hatte ihm dringend davon abgeraten, bei diesem Auftrag herkömmliche Waffen zu benutzen. Eine Fleischwunde hatte bei den auferstandenen Toten keine mannstoppende Wirkung; es war inzwischen allgemein bekannt, dass das Gehirn ausgeschaltet werden musste. Also ein Kopfschuss. Wu hatte ein chinesisches Kalaschnikow-Sturmgewehr umgehängt, das er vom MSS erhalten hatte. Er hatte allerdings nicht die Absicht, es zu benutzen. Die kühlen Messergriffe verschafften ihm ein ausreichendes Gefühl der Sicherheit; mit den Klingen konnte er eine Leiche außer Gefecht setzen, ohne sie unnötig zu verstümmeln.

Die nackte männliche Leiche stellte Blickkontakt mit ihm her.

Die Leiche schnaubte – ein feuchtes Geräusch, als ob sie einen Schleimklumpen ausspuckte, und dann wurde ihr Kinn von einer zähen schwarzen Flüssigkeit benetzt. Langsam stieg sie die Stufen hinunter und näherte sich Wu. Sie verlor auf ihren steifen, unkoordinierten Beinen das Gleichgewicht und wäre fast aufs Gesicht gefallen. Bevor sie den Boden erreichte, erschien schon eine andere desolate Gestalt im Eingang – eine weibliche Leiche in einem schmutzigen Bikinioberteil und einer zerlumpten Hose. Die Kopfhaut hing ihr in fleischigen Streifen vom Schädel, und Überreste von roten Zöpfen schwangen wie schmutzige Seile hin und her, als auch sie die Stufen hinunterhoppelte.

Wu wich noch einen Schritt zurück. Er wollte schon kehrtmachen, diesen Ort verlassen und zu seinem Lager in den Bergen zurückkehren. Die schlurfenden Leichen stellten keine wirkliche Gefahr für ihn dar. In schnellem Lauf konnte er sie innerhalb weniger Minuten abhängen. Doch dann regte sich wieder etwas im Wohnwagen, und er hielt noch einmal inne. Eine dritte Leiche kam zum Vorschein – noch ein Mann – und dahinter eine vierte und eine fünfte. Der Wohnwagen war wie eine Sardinenbüchse vollgepackt, und Wu erinnerte sich plötzlich schlaglichtartig an die beengten Verhältnisse, in denen er als Kind gehaust hatte. Seine vier Brüder und zwei Schwestern, die ineinander verschlungen auf dem rauen Holzfußboden in der Hütte seines Onkels Bao Zhi geschlafen hatten. Wie der Regen nachts auf das rot-weiße Metalldach über ihnen geprasselt war – ein mit Coca-Cola-Logos bedrucktes, grob zugeschnittenes Alublech, das aus einer Materiallieferung für die Abfüllanlage in Sichuan gestohlen worden war.

Erneut verspürte Wu einen Anflug von Mitgefühl für die toten Camper.

Die erste Leiche war ihm inzwischen bedenklich nah gekommen – so nah, dass Wu schon ihre Zähne klappern hörte. Der Bauchnabel stach obszön hervor; er wurde durch den Druck der Fäulnisgase in den Eingeweiden herausgepresst. Ungerührt ging Wu zehn Schritte zurück, ohne den Blick vom Anhänger abzuwenden. Die Anzahl der Leichen hatte sich noch einmal erhöht. Nun waren es insgesamt sechzehn.

Aber er fühlte sich immer noch nicht bedroht. Er vertraute auf seine Fähigkeit, den Toten zu entkommen, solange sie in einer Gruppe zusammenblieben. Wu war nicht wie die amerikanischen Soldaten, mit deren Verfolgung er beauftragt worden war; sie waren schießwütige Narren und ballerten sofort auf jede Leiche, die ihnen über den Weg lief. Am Tag zuvor hatte er beobachtet, wie sie von ihrem Lkw aus grölend und jubelnd Leichen nur so zum Spaß abknallten – wie man damals im Wilden Westen aus fahrenden Zügen die Büffel abgeschossen hatte. Der Anblick hatte ihn abgestoßen. Das war Leichenschändung.

Und Munitionsvergeudung. Aber das ist eben typisch amerikanisch, hatte Wu sich grimmig gesagt.

Sämtliche Ressourcen vergeuden, bis schließlich nichts mehr da ist.

Er hatte sich schon darauf gefreut, nach der Mission in seine Heimat China zurückzukehren. Seit dem letzten Sommer hielt er sich illegal in den Sicheren Staaten auf – als Schläfer-Agent an der Ostküste, der auf weitere Anweisungen aus Peking wartete. Er war klug genug, keine schlafenden Hunde zu wecken, indem er sich bei der Zentrale meldete. In Amerika herrschten chaotische Zustände, und zudem zeichnete sich ein schwerer politischer Konflikt ab; er hatte also angenommen, dass das MSS ihn einsatzbereit in der Nähe des Chaos haben wollte, falls er plötzlich gebraucht wurde. Monatelang hatte er in dieser Ungewissheit gelebt und sich gefragt, wie man ihn wohl einsetzen würde – zur Aufklärung oder für Terroranschläge –, doch zu seinem Verdruss hatte Peking sich in Schweigen gehüllt.

Also hatte er dort ausgeharrt. Er hatte im ehemaligen Schneiderviertel von Bostons Chinatown eine Unterkunft gesucht und in einer alten Textilfabrik ein Einzimmer-Apartment gemietet. Er hatte zu niemandem Kontakt und lebte völlig zurückgezogen. Morgens trainierte er allein im Boston Sports Club; nachmittags meditierte er in den Bambus- und Felsengärten am Tor von Chinatown, streifte über quirlige Märkte oder schaute sich in anheimelnden Läden um, die vom Duft aromatischer Tees erfüllt waren. Die Inhaber weckten seine Neugierde – er stellte sie sich als Abkömmlinge armer chinesischer Tagelöhner vor, die vor hundert Jahren den Pazifik überquert hatten. Amerika war ihr Traum gewesen. Doch nun war der Traum verflogen, und Wu fragte sich, wie viele Amerikaner chinesischer Abstammung sich insgeheim nach einer Rückkehr ins Heimatland sehnten, das nun einen großen Aufschwung erlebte.

Der Gedanke stimmte ihn traurig.

Seine Einreise nach Amerika war geradezu ein Kinderspiel gewesen. Trotz der markigen Sprüche der Neuen Republikaner waren die Außengrenzen der Sicheren Staaten löchrig wie ein Schweizer Käse. Der Grenzschutz hatte andere Prioritäten. Er konzentrierte sich vorrangig auf die Mississippi-Frontlinie und starrte wie gebannt auf die Gefahr, die von den Toten auf der anderen Seite des Flusses ausging. Es bedurfte nur einiger gefälschter Papiere und eines bestochenen Beamten der Behörde für Einwanderung und Einbürgerung, und Kenny Wu wurde auf die Gehaltsliste von Green Solar gesetzt, einem in Boston ansässigen Hersteller von Solarstrommodulen. Green Solar hatte schon vor der Auferstehung im Rahmen eines Joint Venture mit China eine Fotovoltaikanlage in der Mongolei errichtet. Da das MSS inzwischen den Vorstand kontrollierte, war es auch ein Leichtes gewesen, für Wu eine Scheinanstellung in der Niederlassung in Neuengland zu arrangieren.

Er hatte sich allerdings kein einziges Mal bei Green Solar in Boston blicken lassen, und es wurden auch keine Fragen gestellt. Über die Geschäftstätigkeit informierte er sich in der Presse und verfolgte, wie die Staaten eine Energiewende zu vollziehen versuchten. Die Ölversorgung war stark beeinträchtigt, weil Texas unter Quarantäne stand und der Nahe und Mittlere Osten die amerikanische Hegemonie abschüttelten. Wu freute sich über den Niedergang Amerikas und die Seelenqualen, die Verwirrung und Verzweiflung, mit der man den kometenhaften Aufstieg Chinas an die Weltspitze verfolgte. Er hatte die besorgten Mienen der Weißen auf dem historischen Kopfsteinpflaster von Boston geradezu genossen. Wie konnte uns das nur passieren?, schienen sie zu fragen. Meinetwegen anderen Völkern. Anderen Ländern. Aber doch nicht uns.

Eure Zeit ist vorbei, hätte er ihnen sagen mögen. Nun sind wir an der Reihe.

Und im letzten Monat hatte Peking endlich Anweisungen übermittelt. Die Mission war noch viel glorreicher, als Wu erwartet hätte; das Herz schlug ihm höher, nachdem er die Nachricht auf seinem Android-Smartphone entschlüsselt hatte. Zwei Tage später reiste er über New York nach Kanada ein. Selbst hier, im nördlichsten Zipfel der Sicheren Staaten, waren die Grenzen bis auf unbestimmte Zeit für Amerikaner geschlossen; alle nach Norden führenden Straßen waren mit Containern von den Frachthöfen blockiert worden. Die Container von der Größe von Lkw-Anhängern waren mit Betonblöcken beladen und doppelt gestapelt worden. Doch durch eine weitere gut platzierte Bestechung sicherte Wu sich eine Überfahrt auf einem Polizeiboot über den Ausläufer des stillen Eriesees – weit nach Mitternacht, mit dem Flüstern der imposanten Niagarafälle im Hintergrund. Von dort aus marschierte er zunächst in westliche Richtung und dann wieder nach Süden, um in die Evakuierten Staaten einzuwandern. In den Gebirgswäldern südlich von Calgary waren all seine Überlebenstechniken gefordert; er musste einen gewaltigen Hindernisparcours aus steilen Felswänden und endlosen Wäldern überwinden, deren Bewachung die Kanadier für unnötig hielten. Nachdem er die Grenze endlich überwunden hatte, schloss er einen Pontiac kurz und legte mit dem Fahrzeug die restliche Strecke bis nach Arizona zurück. Als schließlich die Superstition Mountains am Horizont emporragten, ließ er das Auto stehen; das laute Motorengeräusch hätte den Feind vielleicht vorgewarnt, wenn er den einsamen Highway in Richtung des GPS-Ziels befuhr.

Hier, am Fuß der Superstitions, hatten die Überlegungen bezüglich der Amerikaner Wu zu dieser Idee inspiriert. Das feindliche Lager befand sich ebenfalls hoch in den Bergen, etwas mehr als anderthalb Kilometer über seinem. Er hatte sie an jenem Morgen bei Sonnenaufgang von seinem Versteck auf dem Kamm aus beobachtet. Fünf Soldaten. Zwei dunkelhäutige Männer und drei weiße, darunter ein muskulöser Mann mit silbernen Bartstoppeln auf den Wangen. Graubart, hatte Wu ihn insgeheim genannt, und er schien auch der Kommandant zu sein. Wu kannte ihre richtigen Namen nicht. Die Namen spielten aber auch keine Rolle. Als er die Gruppe der Amerikaner nach wochenlanger schwieriger Verfolgung endlich ausfindig gemacht hatte – wobei er wegen der mangelhaften Verpflegung fast verhungert wäre und sich zum Schlafen wie ein Wüstenfuchs unter Felsen eingegraben hatte –, war Wu mehr als bereit, diese erste Phase des Auftrags abzuschließen.

Die Amerikaner zu vernichten. Dann würde er sich seinem nächsten Ziel widmen.

Doktor Henry Marco.

»Hey«, sagte Wu zur nächsten Leiche. »Gen wo zou.«

Mir folgen.

4.2

Die geröteten, von geschwollenen Äderchen durchzogenen Augen des toten Mannes weiteten sich. Aus einer Entfernung von zwanzig Metern torkelte er auf Wu zu und streckte eine skelettartige Hand aus – das heißt, es war eigentlich gar keine Hand mehr. Ein Daumen und vier zerfetzte Stümpfe – die Finger waren abgebissen worden. Nachdem Wu sich vergewissert hatte, dass die Leiche ihm folgte, drehte er sich um und lief zehn Schritte auf die Stelle zu, die den Ausgangspunkt des Bergpfads markierte. Dann blieb er neben einem braunen Holzschild mit eingebrannten gelben Buchstaben stehen, die inzwischen verblasst waren:

NIEMALS VOM RECHTEN WEG ABWEICHEN.

Ein guter Rat, dachte Wu.

Er winkte das Rudel der Leichen, das gemächlich hinter ihm hertrottete, zu sich.

»Guhn whu zoe. Mir folgen!«

Und sie folgten ihm, immer weiter den Pfad hinauf. Er musste eigentlich nur einen Sicherheitsabstand einhalten und gelegentlich stehen bleiben, damit sie ihn fast einholten und nicht das Interesse an ihm verloren. Jedes Mal ließ er sie gerade so nah an sich herankommen, dass er in ihren verschrumpelten Gesichtern den hungrigen Ausdruck sah, der ihm galt – schwarze Zungen, die ihnen wie bei Hunden aus schwarzen Mündern hingen –, dann zog er das Tempo wieder an und vergrößerte den Abstand, während die Leichen hinter ihm frustriert bellten und grunzten. Er hatte sie nun schon etwa drei Kilometer weit geführt. Und wieder zollte er den Toten Bewunderung. Sie waren zäh. Weigerten sich, die Niederlage zu akzeptieren.

Der Pfad verlief in Serpentinen bergauf und schlängelte sich zwischen Teppichen aus gelben Wüstenblumen und dem aschgrauen Gestrüpp noch nicht erblühter Brittlebrush-Sträucher dahin. Ein Vogel mit langen Schwanzfedern, ein Wegekuckuck – auch als »Roadrunner« bekannt –, huschte über den Pfad und verschwand in westlicher Richtung im Unterholz. Allmählich schienen die Lücken im umgebenden Bergrücken immer größer zu werden, und dann kam weit über ihm ein Gipfelmassiv in Sicht.

Flatiron – so hieß der Gipfel, wo die Amerikaner ihren Beobachtungsposten eingerichtet hatten und von dem aus sie das Tal überblickten. An Wus Standort fiel der Pfad zu einer Felsmulde hin ab, die von Wind und Wetter blank geschliffen worden war. Auf der gegenüberliegenden Seite stieg das felsige Terrain dann wieder an und führte zum Fuß einer langen natürlichen Treppe – steile Steinstufen, die noch einmal etwa tausend Meter bis zum Gipfel hinaufführten.

Noch ein langer Weg. Länger, als er es sich vorgestellt hatte. Er holte tief Luft und fluchte. Kein einsames Training auf dem StairMaster in Boston hätte ihn darauf vorzubereiten vermocht.

Er hörte, wie ein Stein an seinem Fuß vorbeirollte, und wurde sich bewusst, dass er unkonzentriert gewesen war, während er sich wegen der bevorstehenden Kletterpartie Gedanken machte. Die Leichen hatten aufgeholt. Mit grimmigem Blick setzte er den Aufstieg fort und lief zügig weiter; und just in diesem Moment torkelte die Horde in die Mulde hinter ihm.

Zum ersten Mal verspürte er Besorgnis. Er lief zum Fuß der Flatiron-Treppe und sprang auf die unterste Stufe. Auf den nächsten hundert Metern hatte er freie Bahn. Die Leichen stolperten im unwegsamen Gelände über Steine und Wurzeln und fielen zurück. Der nackte Mann ruderte mit den Armen und schlug mit dem Gesicht nach unten auf dem Pfad auf. Mit einem vernehmlichen Platzgeräusch wurde der aufgeblähte Bauch von einem vorstehenden Stein aufgerissen, und eine Fontäne aus Blut und Schleim spritzte auf den Erdboden. Doch die vom Hunger getriebene Leiche war sofort wieder auf den Beinen und fletschte die Zähne. Der aufgerissene Bauch gab wie ein Fenster den Blick auf die Innereien frei. Die anderen Leichen setzten sich in Bewegung und nahmen die Verfolgung auch wieder auf.

Auf halber Höhe der Treppe machte Wu sich nun doch ernsthaft Sorgen. Die toten Wanderer waren unermüdlich und bewegten sich noch immer genauso schnell wie vor einer halben Stunde. Vielleicht waren sie sogar noch schneller geworden, als würde die Frustration sie anspornen. Er wusste nicht, ob sie überhaupt Schmerz empfanden – ob die Toten aufgrund ihrer Physiologie die gleichen durch Übersäuerung der Muskeln verursachten Schmerzen verspürten wie lebende Sportler. Doch wenn das der Fall war, ignorierten sie diese Schmerzen.

Seine Beine brannten jedenfalls wie Feuer. Er wurde sich bewusst, dass er langsamer wurde und nicht mehr schneller war als die Leichen. Sie kamen immer näher, nahmen ihm Meter für Meter ab.

Er drückte eine Hand auf die Rippen und trieb sich noch einmal an. Er erwog nun auch, die Leichen abzuhängen – den Plan aufzugeben, indem er den Pfad verließ und die direkte Route über den Berg nahm, dessen schwieriges Terrain ihnen eine Verfolgung unmöglich machen würde. Doch dann erspähte er die kleine weiße Markierung an der rötlichen Felswand. Das war der Strich, den er an jenem Morgen etwa zweihundert Meter oberhalb seiner jetzigen Position in den Fels geritzt hatte, um die Abzweigung zu seinem Lager zu markieren. Er wusste, dass die Amerikaner nicht mehr allzu weit entfernt waren.

Also sollte er besser zu Ende bringen, was er angefangen hatte.

Er nahm eine Feldflasche aus dem Rucksack und trank einen letzten Schluck Wasser. Dann konzentrierte er sich wieder auf den Pfad vor sich. Er erinnerte sich an Shenyang, an diese endlosen, erbarmungslosen Märsche. Wie die Rottenführer die Leute, die zurückfielen, laut beschimpft hatten. Wu hatte gelernt, Schritt zu halten, um diese Schmach zu vermeiden – beziehungsweise die Bestrafung. Nun befand er sich wieder in einer vergleichbaren Situation. »Qian jin«, nuschelte er und wischte sich die Stirn ab.

Vorwärts marsch.

Marschieren und leiden. Die Befehle, die er sein ganzes Leben lang befolgt hatte.

4.3

Die Sonne über Arizona brannte immer heißer, als ob der Pfad direkt in ihren Mittelpunkt führte. Wu befeuchtete die ausgetrockneten Lippen mit der Zunge und schmeckte Salz. Seine Lunge lechzte nach Sauerstoff. Er zwang sich, kontrolliert zu atmen, und unterdrückte ein Keuchen – das Geräusch hätte in der Gebirgsluft zu weit getragen. Wenn die Amerikaner ihn beim Besteigen des Bergs hörten, wäre der Plan gescheitert.

Eine Minute später hörte Wu die Amerikaner.

Tiefe Stimmen, die fluchten und lachten, hallten laut und hemmungslos zwischen den Bergkämmen wider, die das unsichtbare feindliche Lager umgaben. Schon wieder hatten die Soldaten geglaubt, sie seien allein in der Wildnis und könnten deshalb auf Tarnung und Vorsicht verzichten.

Wu gedachte, das zu seinem Vorteil zu nutzen, und plante den Angriff. Er wusste, dass der Pfad ihn um den nächsten Bergkamm herumführen würde, womit er sich direkt unter der amerikanischen Einheit befand. Die Amerikaner hatten ihre Zelte auf einem kleinen Plateau aufgeschlagen, in einer Felsspalte zehn Meter oberhalb des Pfades. Wenn Wu weiter auf dem Pfad blieb und von unten kam, wäre der Misserfolg vorprogrammiert. Der Feind würde sich in der besseren Position befinden und ihn und die Leichen aus fünf Rohren unter Beschuss nehmen, wenn sie versuchten, das Plateau zu erklimmen.

Also hatte er nur noch eine Option. Einen Angriff von oben.

Das Lager der Amerikaner musste nun ganz in der Nähe sein. Wu hörte auch schon einzelne Worte aus den Stimmen heraus, die von den Felswänden widerhallten.

»Verdammt, Nelson, du bist ein beschissener Betrüger, Mann!«

»Ja klar, ich betrüge! Nur weil ich der Einzige bin, der weiß, wie das Spiel geht.«

Die Toten hörten die Stimmen auch. Die Leiche, die das Rudel anführte – der nackte Mann, der als Erster aus dem Wohnwagen gekommen war –, hob den Kopf, und Wu sah, wie die blutunterlaufenen Augen zwischen den Echos hin und her huschten.

Der Kehle der Leiche entrang sich ein Geräusch wie ein schmatzendes Blubbern, das zu einem Geifern wurde. Die anderen stürmten weiter; die Aussicht auf mehr Fleisch hatte einen Motivationsschub bewirkt. Ihre Gesichter bebten vor Gier; das Rudel stieß ein leises gutturales Stöhnen aus, das immer lauter wurde.

Wu verspannte sich. Er hoffte, dass die Amerikaner so abgelenkt waren, dass sie das nicht hörten.

Doch zurück zu seinem Plan. Er hatte keine Zeit mehr zum Nachdenken – nicht, wenn sechzehn Leichen ihm auf den Fersen waren. Wie sollte er also zum Lager gelangen? Er würde vom Pfad abweichen und eine andere Route finden müssen, die ihn in eine Position oberhalb der Amerikaner brachte. Er rief sich das Gelände vor Augen, das er gesehen hatte, als er die Amerikaner ausspähte, und steckte dann schnell einen Weg ab, der rechts von ihm über eine Felsnase führte. Ja. Auf der anderen Seite würden hohe braune Steilhänge ihn und die Leichen nach unten aufs Plateau leiten.

Schwierig, aber machbar. Mit neu erwachter Zuversicht drehte er sich um und kletterte fünf Meter am Seitenhang hinauf. Dann legte er schwitzend eine Pause ein und presste sich gegen den Berg. Den Fuß stellte er auf die Wurzel eines Buschs, um zu verhindern, dass er wieder abrutschte.

»Hier lang, hier lang«, sagte er und versuchte, die toten Wanderer vom Pfad abzubringen.

Nur dass die Leichen nicht auf ihn hörten.

Der nackte Mann torkelte unten auf dem Pfad an Wu vorbei und drehte nicht einmal den Kopf. Drei weitere Leichen folgten ihm, und Wu erkannte betrübt – und mit Respekt –, dass die Toten doch intelligenter waren und logischer zu denken vermochten, als er vermutet hatte. Sie hatten das Interesse an ihm verloren und wurden stattdessen von den lärmenden Amerikanern angezogen. Da sie nun eine größere Beute-Population vor sich hatten, war Wu der Mühe nicht mehr wert.

Er nahm eine Handvoll Kieselsteine vom Erdboden und warf sie in einer Staubwolke auf die vorüberziehenden Leichen. Ein Stein prallte von der Schulter einer jugendlichen Leiche in einem roten Baseballtrikot ab. Der Junge drehte kurz den Kopf, ging aber zielstrebig weiter. Die Leichen behielten die ursprüngliche Marschrichtung bei. Wu stieß einen zischenden Fluch aus. Er verlor sie auf dem Pfad schon aus den Augen.

Nein, sagte er sich. Er breitete die Arme aus, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und kletterte mit unsicheren Schritten den Steilhang hinunter. Dann sprang er auf den Pfad und wäre dabei fast mit einem der toten Nachzügler zusammengestoßen. Die Frau im Bikini knurrte und schnappte nach ihm, doch Wu duckte sich weg und rannte am Rand des Pfades weiter bergauf.

Innerhalb weniger Sekunden hatte er ein halbes Dutzend Leichen überholt. Ihr Gestank kondensierte förmlich in der Luft und löste bei ihm einen Brechreiz aus. Er spie einen Mundvoll zähen braunen Speichels auf den Pfad. Nach ein paar weiteren Schritten hatte er auch den nackten Mann überholt, der die Horde anführte – kurz vor der Biegung des Pfads, die sie unter die Amerikaner führen würde.

Er drehte sich vor dem Mann um und blieb eine Armlänge von ihm entfernt stehen. Er spürte ein Kribbeln auf der Haut. Einer lebendigen Leiche so nah zu sein, war immer wieder aufs Neue spannend und aufregend. Die roten Augäpfel des toten Mannes beäugten ihn, und er konnte nur spekulieren, wie er wohl von der Leiche wahrgenommen wurde; er hatte das Gefühl, von einem geweihten Tempel aus betrachtet zu werden, den kein Mensch lebendig betreten konnte.

Bis vor einem Monat hatte er noch keine Leiche in natura gesehen. Während des Ausbruchs war er in Peking stationiert gewesen; seine ersten Begegnungen mit den Toten waren in dunklen Lagebesprechungsräumen erfolgt, wo man unscharfe Nachrichtenvideos oder Satellitenbilder von verwüsteten, menschenleeren Städten analysierte. Die Auferstehung war Amerikas Nemesis, und der Rest der Welt schaute zu. Als er dann in Boston stationiert war, hatte er ständig Fox News gesehen, wo die Toten die politische Berichterstattung dominierten. Es wurde das immer gleiche Bildmaterial gezeigt, vor dessen Hintergrund die Agitatoren der Neuen Republikaner die Notwendigkeit betonten, wachsam zu sein. Auf den Videos waren Episoden aus dem Ausbruch dokumentiert – mit reißerischen Titeln wie kalifornischer Z-Tag, der Todesmarsch von Denver und das Massaker von San Antonio unterlegt. Der Gipfel der Geschmacklosigkeit war dann aber der Titel Mutter mit Kind, eine in den Medien beliebte Horrorszene – typisch amerikanischer Trash. Eine junge Mutter stolpert wie in Trance durchs Bild, den enthaupteten Körper eines fünf Jahre alten Jungen in den Armen. Dazu ertönt ein eigenartiges Stöhnen im Hintergrund. Sie haben ihm den Kopf abgerissen, sagt die Frau emotionslos, und dann wird die Kamera abgeschaltet.

Wu hatte das alles fasziniert verfolgt. Angst hatte er jedoch keine verspürt.

Und er hatte auch jetzt keine Angst.

Er sprang vorwärts und schlug der Leiche auf die Schulter – ein harter Schlag, der einen weißen Handabdruck auf der violetten, verwesenden Haut hinterließ. Der Mann schnaufte überrascht, presste die Lippen zusammen und stieß ein Knurren aus. Wu ließ ihn einfach stehen und rannte zum Rand des Pfades zurück.

Dort blieb er wieder stehen und hoffte, dass sein Kalkül aufgehen würde. Und tatsächlich drehte der Mann sich zu seiner Erleichterung langsam um und torkelte in seine Richtung. Die Leichen dahinter folgten ihm, sodass das ganze Rudel nun auf Wu zuhielt.

Er hatte sie wieder unter Kontrolle.

Nur um sicherzugehen, ließ er die ersten paar Leichen nah an sich herankommen – fast schon zu nah –, eine Phalanx aus ausgestreckten Armen und gefletschten Zähnen. Sie waren frustriert und hatten Hunger auf ihn …

Das war nah genug. Wu zog sich zurück und lief vom Pfad zum Abhang, um sich vor der Horde in Sicherheit zu bringen. Doch dann knickte er auf dem unebenen Boden um, sodass er fast wieder heruntergefallen wäre – Idiot!, schalt er sich. Aber er erlangte das Gleichgewicht zurück und hatte wenig später den Pfad zu seinem geplanten Angriffspunkt wiedergefunden. Er lief den Hang hinauf.

Und diesmal folgten die Toten ihm. Auf allen vieren kletterten sie über den felsigen Boden, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie nun Mensch oder Tier seien. Wus Blick traf sich mit dem einer amerikanischen Leiche. Ihr war die Oberlippe abgerissen worden, sodass die Wurzeln der verfaulten oberen Zähne freilagen. Sie kroch auf ihn zu, und die über die roten Steine gleitenden Finger hinterließen schwarze, blutige Schleifspuren.

Wu lief immer weiter bergauf. Seine Oberschenkel glichen überhitzten Kolben und drohten jeden Moment den Dienst zu versagen. Er unterdrückte den Drang aufzuschreien; stattdessen biss er die Zähne zusammen, ballte die Fäuste und versuchte, den Schmerz zu ignorieren, bis er nur noch den Himmel über sich sah – keine heißen Schluchten mehr, keine Steilhänge mehr. Auf einer Woge des Stolzes bewältigte er auch noch die letzten zehn Schritte bis zum Gipfel.

Den Berg hatte er also bezwungen. Auf ins nächste Gefecht. Er taumelte über den Gipfel hinweg und blieb auf der anderen Seite ein paar Schritte unterhalb stehen. Dabei achtete er darauf, keine Steine loszutreten, die vielleicht den Hang hinuntergerollt wären und ihn verraten hätten. Die Amerikaner befanden sich etwa fünfzig Meter unter ihm. Er musste einfach nur senkrecht absteigen.

Er hatte es perfekt kalkuliert.

Wu beobachtete das Lager. Er hatte die Amerikaner seit Tagen verfolgt, doch so nah war er ihnen bisher noch nicht gekommen. Zwei kleine Zelte schmiegten sich an die westliche Felswand, und daneben standen vier sandfarbene Rucksäcke. Die Soldaten bildeten einen Kreis in der Mitte des Plateaus und hockten auf Felsbrocken, die sie von den Rändern herübergerollt hatten. In ihren braunen Unterhemden und den Hosen mit Wüstentarnmuster sahen die Männer fast selbst wie Felsbrocken aus – schmutzig, massiv, mit der Erde verwachsen. Sie hatten sich über einen Rucksack gebeugt, der als improvisierter Tisch in ihrer Mitte stand. Spielkarten waren darauf ausgebreitet.

Die Waffen der Amerikaner lagen griffbereit zu ihren Füßen auf den Felsen; doch diese kurze Zeitspanne, die sie zum Aufnehmen der Waffen benötigten, würde Wu schon genügen. Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Er schien alle Trümpfe in der Hand zu haben. Sogar sein bisheriger Widersacher, die Sonne, hatte sich nun auf seine Seite geschlagen – sie warf seinen Schatten nach hinten auf die Steilwand, weg vom Lager, und verhinderte so eine Entdeckung in letzter Sekunde.

Einer der weißen Soldaten deckte seine Karten auf. »Heult doch, ihr Muschis.«

»Unglaublich. Das gibt’s ja nicht. Jetzt weiß ich, dass du wirklich bescheißt.«

Der weiße Mann – Wu erinnerte sich, dass er Nelson hieß – zeigte mit dem Finger auf sein Gegenüber. »Guerrero, Mann, ich versohle dir den Arsch, wenn du nicht mit dem Scheiß aufhörst.«

Guerrero schob Nelsons Hand weg, und die Soldaten brachen in brüllendes Gelächter aus.

Wu hörte das Knirschen von trockenem Erdreich hinter sich. Die Leichen hatten nun auch den Flatiron-Gipfel erreicht und wälzten sich wie eine Lawine von hinten auf ihn zu.

Seine Hände flogen zum Gürtel, und er ging blitzschnell in Kampfstellung. Die halbmondförmigen Klingen der Mandarinenten-Haken glitzerten in der Sonne. Wie Raubtiere, die sich blutgierig die Lippen leckten.

Wu holte tief Luft, und dann schwang er sich den Abhang hinab, den Amerikanern entgegen.

Es wurde Zeit, dass auch er seine Karten aufdeckte.

Heult doch, ihr Muschis.

4.4

Es brach ein Chaos aus – genauso, wie Wu gehofft hatte. Als er sich – fast im freien Fall – dem Lager bis auf drei Meter genähert hatte, stieß er sich von der Steilwand ab und sah die bevorstehenden Ereignisse schon vor seinem geistigen Auge: Wie die Langnasen mit schreckgeweiteten Kulleraugen auf die Kreatur starrten, die da vom Himmel fiel und sie mit gebogenen, glitzernden Klauen attackierte. Er prallte auf dem harten Felsboden auf und katapultierte sich mit einem Satz in den Kreis der Soldaten. Schreie wie Verdammt! und Scheiße! ertönten um ihn herum und hallten von den Felswänden wider. Mit dem linken Bein trat er gegen ein schwarzes Sturmgewehr vom Typ HK416, das herrenlos auf dem Boden lag, und als die Waffe scheppernd wegflog, sprang Wu wieder auf die Füße und schlitzte dem Soldaten Nelson mit dem Mandarinenten-Haken der Länge nach den Hals auf.

Der Blutschwall in Wus Gesicht roch süßlich und war kühl – eine bizarre Erfrischung in der Wüstenhitze. Nelson fasste sich an die Kehle, aus der das Blut spritzte, und fiel mit zuckenden Beinen auf den Rücken.

»Fick dich!«, kreischte jemand.

Ein Donner hallte in der Schlucht wider, und eine Kugel schlug hinter Wu in den Fels. Er warf sich auf den Boden, schnappte sich den Rucksack – den improvisierten Pokertisch der Soldaten –, wirbelte dann auf einem Bein herum und hielt sich den Rucksack als Kugelfang vor den Körper. Und genau in diesem Moment drang eine weitere Kugel mit einem dumpfen Laut in den Rucksack ein. Spielkarten und grüne Stofffetzen wirbelten durch die Luft. Vor Wu legte der Soldat namens Guerrero mit einer Beretta M9 auf ihn an. Mit hochrotem Gesicht wollte er einen weiteren Schuss abgeben, während die anderen Männer hastig ihre Waffen aufnahmen.

Wu schaute flüchtig an der Steilwand hinauf. Dann ließ er den Rucksack und die Mandarinenten-Haken fallen und wollte die Kalaschnikow von der Schulter nehmen. Doch er war durch den langen Aufstieg geschwächt, und die Amerikaner waren frisch und ausgeruht. Die Läufe der HK416 zuckten wie schwarze Vipern von den Felsen hoch und flogen förmlich in die Hände der Soldaten. Alle Blicke richteten sich auf Wu. Er rechnete schon damit, von Kugeln durchsiebt zu werden …

… und in diesem Moment stürmten die Leichen das Lager.

Guerrero war das erste Opfer. Weil er mit dem Rücken zum Berg stand und mit seiner Waffe Wu im Visier hatte, wurde Guerrero völlig überrascht, als die nackte männliche Leiche von hinten auf ihn sprang. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte vornüber.

»Scheiße …«, stieß er hervor.

Der Kommandant mit dem grauen Stoppelbart, der fünf Meter entfernt stand, reagierte als Erster. »ZOMBIES!«, schrie er und deckte den Berg mit einem mörderischen Sperrfeuer ein, das Schmutz und Steine aus der Wand riss. Die Teenager-Leiche im Baseballtrikot wurde zurückgeschleudert, und das Gehirn spritzte aus dem Schädel. Die anderen Soldaten im Lager vergaßen Wu und richteten ihre Waffen auf die neuen Angreifer.

Die Leiche biss in Guerreros Hinterkopf.

»Verflucht!«, brüllte Guerrero. Dann drückten zwei weitere Leichen auf seine Beine und hielten ihn am Boden fest. Hinter ihm kamen die Toten wie in einer Prozession den Hang herab – sie stolperten, stürzten und rappelten sich wieder auf. Mit einem heftigen Ruck riss die männliche Leiche einen Streifen von Guerreros Kopfhaut ab. Das bluttriefende Fleisch hing ihm wie eine borstige Schweineschwarte aus dem Mund.

Guerrero fing an zu schreien. Und hörte nicht mehr auf.

Hinter ihm strömten die Toten in das Lager. Die Soldaten wichen zurück und suchten sorgfältig immer neue Ziele für ihre Waffen.

»Macht sie fertig!«, schrie Graubart.

Jetzt, sagte Wu sich, schnappte sich die Mandarinenten-Haken und rannte auf den älteren Mann zu. Er hatte die Hälfte der Strecke bewältigt, als die Soldaten gleichzeitig ihre Waffen abfeuerten; der Donnerschlag der Gewehrschüsse hätte Wu fast von den Füßen gerissen. Über und unter ihm rumorte der Berg wie ein Vulkan im akustischen Kreuzfeuer der Echos, die seine inneren Organe in Schwingungen versetzten und ihm die Tränen in die Augen trieben.

Am Steilhang verloren zwei Leichen – die Frau im Bikini und der amerikanische Ureinwohner – den Halt und stürzten ab. Das Einzige, was von ihnen noch übrig blieb, waren Fleischbrocken und Blut, das wie Altöl aussah. Wu taumelte, benebelt vom Gestank des Schießpulvers. Er wurde wieder an seine Kindheit in China bei Onkel Bao Zhi erinnert und an die Feuerwerkskörper, die sie jedes Jahr in einem Fass hinter der Hütte gezündet hatten, um böse Geister zu vertreiben. Er musste bei dieser Erinnerung beinahe lachen und lief der vorrückenden Leichenhorde entgegen. Die Toten kennen keine Angst. Nur die Lebenden.

Die Gewehrschüsse verhallten, und Graubart schrie: »Feuer!« Und dann machte Wu einen Ausfallschritt und rammte dem alten Soldaten die Klingen mit voller Wucht von beiden Seiten in den Hals. Der Mann hatte kaum Zeit zu reagieren. Ein letzter Befehl – »Macht sie fertig« – kam ihm noch über die Lippen, und dann trafen die Schneiden der Mandarinenten-Haken aufeinander, durchtrennten die Luftröhre und enthaupteten ihn fast. Der Kopf fiel ihm auf die Brust und wurde nur noch von spaghettiartigen Rückenmarksträngen gehalten. Dann fiel der Körper in den Schmutz.

Wus Ohren klingelten. Wieder fielen Schüsse, und Schreie ertönten, doch Guerrero wimmerte nur noch. Die Lebensgeister schwanden, während die Leichen ihm das Fleisch von den Beinen, den Rippen und dem Kopf fraßen.

Die Toten stürmten weiter vor und nahmen das Lager schließlich ein. Eine verschrumpelte männliche Leiche mit tätowierten Unterarmen ließ sich auf Nelson fallen und setzte sich mit gespreizten Beinen auf ihn. Dann steckte sie die Hand bis zum Handgelenk in den aufgerissenen Hals des Soldaten und zerfetzte ihm die Luftröhre. Wieder ertönte ein erstickter Schrei.

Hinter ihnen schlug die nackte Leiche schon wieder die Zähne in Guerreros Genick.

»Geh … verdammt noch mal … runter!«, kreischte Guerrero so schmerzerfüllt, dass die Worte kaum zu verstehen waren. Dann schob er sich die Beretta in den Mund und drückte ab. Die Kugel trat aus dem Hinterkopf wieder aus, drang ins linke Auge der fressenden Leiche und zerschmetterte ihren Schädel. Guerrero und die Leiche fielen vornüber aufs Gesicht und blieben reglos liegen. Schwarzes Blut mischte sich mit rotem.

Nun waren noch zwei Soldaten übrig. Und neun oder zehn Leichen, nach Wus schneller Zählung.

»Rückzug! Rückzug!«, rief ein Soldat, ein weißer Mann mit dunklen Bartstoppeln im Gesicht und einem flachsblonden Bürstenhaarschnitt. Er hatte sich hinter einem Felsbrocken am Rand des Plateaus verschanzt. Von dort feuerte er eine Salve von Schüssen ab, die das Lager in eine Wolke aus Staub und Gesteinssplittern aus der Felswand hüllte. »Baines! Lauf den gottverdammten Pfad runter und geh dort in Stellung!«

Der zweite Soldat, ein schwarzer Hüne, gab drei Schüsse aus einer Pistole auf die sich nähernden Leichen ab – seine HK416 war verschwunden. Er konnte noch einen Kopfschuss platzieren, bevor die Waffe mit einem metallischen Klack signalisierte, dass sie leer war.

»Verstanden!«, rief er.

Wus Augen weiteten sich. Er durfte nicht zulassen, dass sie sich zurückzogen. Falls es den Soldaten gelang, den Pfad zu erreichen …

Dann würde er sie nie mehr einholen. Die Mission wäre gescheitert.

Er spürte ein Zupfen am Ärmel und drehte sich um. Eine zitternde ältere Frau in einem mit Urin und Blut befleckten Nachthemd fasste ihn am Ellbogen und stützte sich an ihm ab, während sie sich ihm zuwandte. Seine Hand schloss sich um das Messer … doch dann befreite er nur den Arm aus ihrem Griff und schob sie beinahe sanft weg. Die Leiche stolperte rückwärts über den Rand des Plateaus und schlug zehn Meter tiefer auf dem Pfad auf.

Wu ließ sich von ihrem schrecklichen Wimmern nicht beirren. Dafür hatte er keine Zeit. Die beiden Soldaten näherten sich ihm, dahinter die Horde der Leichen. Er traf eine schnelle Entscheidung. Er machte einen Satz und schlug einen Salto – mit beiden Händen stieß er sich von dem harten Boden ab und versetzte dem Soldaten mit den blondierten Haaren einen Tritt zwischen die Schulterblätter.

Der Mann wurde nach vorn zwischen drei tote Wanderer geschleudert. Sie trugen ihre verschlissenen Rucksäcke noch immer auf den Schultern, und die Gurte hinterließen mit Eiter gefüllte Striemen in ihrem Fleisch. Innerhalb von Sekunden hatten die Leichen den Mann überwältigt und zu Boden geworfen. Dann rückten sie ihm mit Zähnen und Fingern zu Leibe.

»Pozzo!«, kreischte der schwarze Soldat. Reflexartig betätigte er zweimal den Abzug der Pistole, bis er sich daran erinnerte, dass das Magazin leer war. Er stand reglos da, während weitere Leichen sich ihm näherten.

Der am Boden liegende Pozzo schrie qualvoll auf und versuchte mit aller Macht, wieder auf die Füße zu kommen. Sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Es war nur noch eine rötliche Masse, und aus den Augenhöhlen quoll Blut. Zwei weitere Leichen gesellten sich zu dem Schlachtfest und zerrten ihn wieder zu Boden.

Der letzte Soldat richtete den Blick auf Wu. »Du Hurensohn!«, knurrte er, senkte die mächtigen Schultern und griff an. Wu stellte sich dem Angriff. Er wollte zur Seite ausweichen und dann mit den Mandarinenten-Haken zustechen. Doch der Soldat war schnell und gut trainiert. Im letzten Moment wich er aus, wehrte Wus Hieb ab und versetzte ihm einen krachenden Uppercut. Der stählerne Lauf der Beretta brach Wus Kiefer wie ein Schuss aus einer Nietpistole. Er taumelte benommen zurück, und der Himmel und die Berggipfel drehten sich um ihn. In einer geschmeidigen Bewegung packte der Soldat ihn unter den Armen und drehte ihn herum. Kräftige Arme schlossen sich um Wus Hals.

Wu versuchte sich zu wehren, doch der Würgegriff war zu stark, und er konnte auch die Arme nicht bewegen, um die Mandarinenten-Haken einzusetzen. Der Mann war mindestens fünfzig Kilo schwerer als er. Er schüttelte Wu wie eine Puppe durch und drehte ihn um, sodass sein Blick auf die letzten Leichen fiel – drei Männer, deren aufgerissene Lippen mit blutigem Schaum und Galle überzogen waren. Sie waren nur noch ein paar Meter entfernt und kamen immer näher.

»Jetzt bist du dran, Schlitzauge«, sagte der Soldat knurrend. »Mahlzeit.«

4.5

Panische Angst stieg in Wus zugeschnürter Brust auf. Er unterdrückte sie schnell wieder – er hatte in seinem Leben dem Tod schon oft ins Gesicht gesehen –, doch dann loderte ein anderes Feuer in ihm auf. Er verspürte ein Brennen in der Kehle, und die Ohren glühten. Schmach. Er hatte versagt, war von diesem Amerikaner besiegt worden. Eine großartige Gelegenheit für sein Heimatland … die bald vertan wäre.

Er roch den modrigen Atem des Mannes, den Gestank nach ungewaschener Haut und kaltem Schweiß. Die Leichen streckten die Hand nach ihm aus – sie waren jetzt so nah, dass er auch ihre verwesenden Kadaver riechen konnte. Er richtete den Blick über ihre Köpfe hinweg. Hinter ihnen sah er die Felswand, von wo aus er den Angriff auf das Lager geführt hatte.

Eine Leiche mit blutverkrustetem Oberlippenbart packte Wus Weste und riss den Mund auf.

»So, du Scheißkerl«, sagte der große Soldat und grunzte. Dann schob er Wu noch näher an die gefletschten Zähne heran.

Nein. Wu widersetzte sich in Gedanken und versuchte, diese Schmach abzuwehren – eine sinnlose Emotion, die nur sein Denkvermögen blockierte. China ist heute die Nummer eins. Nicht Amerika. Er bemühte sich, rational zu denken.

Amerika … ist … tot.

Seine Augen weiteten sich. Die Felswand schien weit weg, vielleicht zwanzig Meter entfernt. Also musste er sich in der Nähe der Abbruchkante befinden, über die die alte Frau gestürzt war.

Tote Hände strichen ihm übers Haar und übers Gesicht …

»Zhongguo!«, schrie er – der stolze Ruf, mit dem er sich als junger Soldat zu seinem Land bekannt hatte.

China!

Er schwang beide Beine nach oben, drückte die Stiefel auf die Brust der Leiche vor sich, mobilisierte die letzten Kräfte und stieß sich ab. Die Leiche taumelte zurück, und gemäß dem physikalischen Prinzip von Aktion und Reaktion verloren Wu und der schwarze Mann das Gleichgewicht. Sie stolperten einen Schritt nach hinten, noch einen Schritt, und dann ertönten Geräusche von rieselndem Schmutz und kullernden Steinen. Die Perspektive veränderte sich, und Wu schaute in den blauen Himmel. Die gnadenlose Sonne hing wie ein Geier über ihm, und er spürte den freien Fall. Sein Magen schien sich umzustülpen. Der Soldat schrie, und die Steilwand raste an ihnen vorbei und …

KNACK!

Ein höllischer Schmerz! Und das unverkennbare Geräusch brechender Knochen. Wu atmete in einem kräftigen Schwall aus; unter ihm stieß der Soldat einen Schrei aus. Sie waren rückwärts über die Abbruchkante gestürzt, sodass der Amerikaner zuerst auf dem steinigen Boden aufschlug. Sein Körper diente Wu als Puffer und absorbierte die größte Wucht des Aufpralls. Der Mann hatte sich sämtliche Rippen im Körper gebrochen. Sein Würgegriff löste sich.

Wu rollte von ihm herunter und überprüfte, ob er irgendwelche Verletzungen davongetragen hatte.

Quetschungen. Sonst nichts.

Doch der Soldat keuchte qualvoll und zuckte mit den Beinen; sein massiger Körper vollführte einen makabren Tanz auf dem Erdboden. Sein Rückgrat war gebrochen. Bei jedem mühsamen Atemzug quoll ihm Blut aus dem Mund.

Wu stand auf und schaute zum Plateau hoch. Verweste Gesichter lugten über den Rand und beäugten ihn verdrießlich. Dann wandten sie sich wieder ab. Sie hatten oben genug frisches Fleisch.

Wu stand mit stolzgeschwellter Brust da. Er hatte die Amerikaner besiegt. Er hatte sein Selbstvertrauen wiedererlangt und wurde von dem gleichen Hochgefühl erfüllt, das er schon mit achtzehn verspürt hatte, als er in Shenyang zum ersten Mal seine gestärkte Uniform anlegte – motiviert vom Bewusstsein, dass er nun ein Teil von etwas Großartigem und Einzigartigem war.

China würde die Welt beherrschen. Und er, Kheng Wu, würde seinen Teil dazu beitragen.

Ein leises Kratzen richtete Wus Aufmerksamkeit wieder auf den Pfad. Die Leiche der älteren Frau, die er über die Abbruchkante gestoßen hatte, war wieder aufgestanden und schlurfte durch den Schmutz. Durch den Sturz hatte sie sich beide Beine gebrochen; die Knie waren in einem grotesken Winkel abgespreizt, und spitze Knochen hatten die nässende Haut durchbohrt. Wu sprang auf die andere Seite des gelähmten Soldaten und ging fünf Meter den Pfad entlang.

»Nein«, stieß der Soldat leise hervor, als die Frau sich auf seine Brust hockte.

Von dieser Stelle des Pfads hatte er eine spektakuläre Aussicht. Die Amerikaner hatten sich wirklich einen guten Beobachtungsposten ausgesucht – in einer Schneise in den südlichen Ausläufern der Superstitions. Unter ihm erstreckte die Wüste sich wie ein Teppich aus orangefarbenem Erdboden, purpurnen Blumen und stachligen Kakteen bis zum ein paar Kilometer entfernten Gold Canyon. Das Vorgebirge war mit Lehmziegelhäusern gesprenkelt. Wu studierte sie.

Irgendwo in diesen Hügeln war Henry Marco.

Hinter Wu stieß der tödlich verwundete Soldat einen Schrei aus – einen schrillen Hilferuf. Die alte Leiche hatte ihm ins Gesicht gebissen und dabei einen großen blutigen Hautlappen von der Nase bis zum Ohr abgerissen.

Der bewegungsunfähige Soldat schrie erneut, als die Leiche ihm ihre kalten Finger in die Augen bohrte und den freigelegten Wangenknochen abnagte. Ein schreckliches Knirschen ertönte.

Der Amerikaner würde einen langsamen, qualvollen Tod sterben.

Wu konzentrierte sich auf die Planung seines nächsten Zuges.

Als Nächster wäre Henry Marco an der Reihe.