Abschieds-geschichten

12.1

Roger Ballard. Nicht tot. Auch nicht auferstanden.

Roger Ballard – wie er leibt und lebt.

Er saß aufrecht auf der Kante eines akkurat gemachten Gefängnisbettes und hatte die Hände auf den Knien liegen. Er sah wie aus dem Ei gepellt aus, mit gestärktem Hemd und blauer Krawatte. Er reagierte auf die Begegnung mit Marco hier und jetzt, nachdem sie sich in fünf höllischen Jahren einander entfremdet hatten, genauso entspannt, als hätten sie sich erst gestern zum Essen getroffen. Er hatte sein kastanienfarbenes Haar wie immer zurückgekämmt, nur dass es ihm nun bis auf die Schultern fiel. Er sah alt aus; viel älter als die vierzig Jahre, die er eigentlich war. Sein Gesicht war eingefallen und kündete von starker Unterernährung; die Haut klebte ihm wie Schrumpffolie am Schädel, die Wangenknochen traten stark hervor, und die Augen lagen tief in den Höhlen.

Rogers Anblick traf Marco wie ein plötzlicher Schlag in die Magengrube; zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen erinnerte er sich an seinen letzten Morgen am Cedars-Sinai, bevor er mit Danielle nach Arizona aufgebrochen war. Auf dem letzten Gang zur Parkgarage war er an Rogers Büro vorbeigekommen und hatte sich geschworen, auf keinen Fall hineinzuschauen … aber dann hatte er doch einen Blick hineingeworfen, und da hatte Roger an seinem Schreibtisch gesessen und auf die Tür gestarrt, als wüsste er irgendwie, dass Marco genau in diesem Moment vorbeikommen würde. Auf Wiedersehen, Henry, hatte Ballard gesagt, doch Marco hatte ihn einfach ignoriert und war weitergegangen – hatte sich dabei hundeelend gefühlt, hatte sich gefragt, ob Roger ihm vielleicht folgte, und war dann froh gewesen, dass er es nicht getan hatte. Das Bild war seit einem halben Jahrzehnt in Marcos Gehirn eingebrannt – wie Roger verloren in seinem tristen kleinen Büro saß. Und nun hatte Roger Ballard – noch immer der gleiche Mensch, doch zugleich auch ein völlig anderer – auf wundersame Art und Weise einen Sprung durch die Zeit gemacht und war von seinem tristen Büro in eine triste Gefängniszelle verschlagen worden, aus der er Marco schon wieder erwartungsvoll ansah.

Mit einem dürren Finger schob er seine kleine Brille etwas höher auf die Nase und erhob sich dann.

»Ich bin froh, dass du meine E-Mail erhalten hast, Henry«, sagte er. »Es ist schließlich schon einige Zeit her, nicht wahr? Ich war mir nicht sicher, ob du überhaupt kommen würdest.«

Diese Bemerkung erwischte Marco auf dem falschen Fuß – Scheiße, nicht dass er auf irgendetwas vorbereitet gewesen wäre, was Roger vielleicht gesagt hätte –, und ihm fiel die Kinnlade herunter. Er starrte ihn an und suchte krampfhaft nach Worten. In seinem Kopf drehte es sich wie eine Roulettescheibe, und er hatte das Gefühl, auf der imaginären Kugel zu reiten und alle unberechenbaren Sprünge und wilden Hüpfer mitzumachen. Ohne zu wissen, auf welchem Feld sie schließlich landen und welche Emotionen sie hervorrufen würde: Zorn oder Erleichterung, Trauer oder Hass oder vielleicht sogar Entsetzen.

Das Rad wurde langsamer. Die Kugel fiel.

Landete auf »Verwirrung«.

»Roger«, sagte er mit einem Krächzen. »Roger, alle glauben, dass du tot bist.«

Ballards schiefe Oberlippe – die Kerbe über der Oberlippe befand sich bei ihm nicht genau in der Mitte, sondern seitlich versetzt, sodass er immer spöttisch zu grinsen schien – zuckte. »Nein, nein«, sagte er. »Ich habe die ganze Zeit gearbeitet. Ich habe auch große Fortschritte gemacht.«

Er machte eine ausladende Geste, als wollte er den Raum präsentieren. Er hatte einen stählernen Labortisch in die kleine Zelle geschleift und in die Ecke gestellt, sodass sie nun gewissermaßen möbliert war. Notizbücher stapelten sich auf dem Tisch. Die Seiten waren durch die Feuchtigkeit aufgequollen und verzerrt. Eine rote Kerze brannte daneben.

»Roger«, sagte Marco nachdrücklich. »Hör mir zu …«

»Ich sagte doch, dass ich die ganze Zeit gearbeitet habe«, unterbrach Ballard ihn verärgert. »Ich will es dir zeigen.« Mit einem leicht unbeholfenen Gang ging er zum Tisch hinüber. Marco senkte den Blick und zuckte zusammen. Ballards linker Fuß war seitlich abgeknickt – so stark, dass er beim Gehen fast mit dem Knöchel über den Boden schleifte. Er hatte sich den Fuß gebrochen, und der Bruch war so schlecht verheilt, dass er nun einen Klumpfuß hatte.

Durch den Sprung, dachte Marco. Er musste ihn gar nicht erst fragen. Von der Galerie.

»Sie sind von der Armee«, stellte Ballard fest, als er Wu schließlich erblickte. Der Sergeant stand hinter Marco und ließ den Blick zwischen den beiden Ärzten schweifen.

»Ja.« Wu warf Marco einen warnenden Blick zu. Seine Unterarmmuskeln spannten sich an, und das Messer in seiner Hand bewegte sich, als ob er mit Problemen rechnete. »Sergeant Ken Wu.«

»Du hast die Armee mitgebracht, Henry?«

»Er ist einfach mitgekommen.«

»Weiß Osbourne Bescheid?«

Marco zögerte, als er die plötzliche Besorgnis in Ballards Gesicht sah. »Ja …«, sagte er vorsichtig. Er hatte irgendwie Angst, Roger aufzuregen – obwohl ihm das doch völlig egal sein konnte.

Doch Ballard presste nur für einen Moment die Lippen zusammen und seufzte dann. »Nun ja. Vielleicht hätte ich von vornherein damit rechnen sollen. Ich freue mich trotzdem, dass du gekommen bist, Henry. Wo du nun hier bist, wird sich alles fügen. Aber diese anderen Männer am Kontrollpunkt – sind sie nicht mitgekommen?«

»Nein.«

Ballard nickte zufrieden. Er blies die Kerze aus und nahm das oberste Notizbuch vom durchnässten Stapel. Dann zwängte er sich zwischen Marco und Wu hindurch auf den Korridor. Er verströmte einen leichten Geruch nach Krankenhausseife mit einem gefälligen Jasminduft. Doch der Gestank gewann schnell wieder die Oberhand.

»Ich habe wirklich Fortschritte gemacht, Henry«, sagte Ballard. »Du wirst schon sehen – ich werde es dir zeigen …«

Er verstummte, orientierte sich nach links und verschwand um die nächste Biegung des Korridors. Marco blinzelte ein paarmal. Ihm war schwindlig, als hätte er einen Schwips, und er fragte sich in einer Anwandlung von Irrationalität, ob er die ganze Begegnung mit Ballard nur halluziniert hätte.

Doch ein Blick in Wus kalte grüne Augen ernüchterte ihn wieder.

»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Marco.

»Wir folgen ihm«, erklärte Wu. »Aber vorsichtig.«

Sie bogen um die Ecke und sahen, dass Ballard noch immer mit seinem Klumpfuß durch den Korridor humpelte. Die Männer schlossen schnell zu ihm auf, und Marco musste dem Drang widerstehen, Roger an seiner schmächtigen knochigen Schulter zu packen – ihn herumzuwirbeln und zu fragen, was zum Teufel hier überhaupt vorging. Stattdessen trottete er hinter seinem ehemaligen Arbeitskollegen her und fragte sich besorgt, wo dieser bizarre Marsch wohl enden würde.

Typisch Roger, dachte er grimmig. Er ist so auf sich selbst fixiert, dass er sich nicht einmal vorstellen kann, dass wir ihn für total irre halten müssen. Und ich hatte immerhin jahrelang Zeit, um mich an diesen Scheiß zu gewöhnen. Weiß Gott, was Wu jetzt wohl denkt.

Wahrscheinlich hält er mich auch für verrückt.

Auf halber Länge des Korridors sagte Ballard mit gedämpfter, aber recht zuversichtlich klingender Stimme: »Ich habe viel über dich nachgedacht, Henry. Über das, was geschehen ist.« Er verstummte für die nächsten drei oder vier Schritte. »Wie geht es Danielle?«, fragte er dann.

Marco versteifte sich. Sagte nichts. Gott verdammt, Roger.

Ballard neigte den Kopf und schien die unausgesprochene Antwort zu hören. »Oh«, sagte er mit einem traurigen Unterton und schob sich die Brille wieder höher auf die Nase. Dunkelheit schien sich auf ihn herabzusenken, und er verschmolz mit dem Zwielicht im Gefängniskorridor.

»Nichts für ungut, Roger, aber lass uns das Thema wechseln. Wieso bist du noch immer hier?«

»Hier? Ganz einfach. Weil ich fertig werden musste.«

Während Marco noch darauf wartete, dass Roger das näher erläuterte, schloss Wu einen Schritt dichter zu den Ärzten auf. »Fertig werden?«, fragte er interessiert. »Meinen Sie etwa den Impfstoff?«

Ballard schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Siehst du, Henry? So ist das Militär. Ungeduldig und macht immer Druck. Niemals zufrieden. Das muss schneller gehen‹, hat Osbourne andauernd gesagt. Dieser Mann verfolgte seine eigenen Ziele – das war eindeutig. Man konnte ihm nicht trauen. Für ihn zählte nur die Politik, nicht die Wissenschaft. Wussten Sie eigentlich, Sergeant Wu, dass es vierhundert Jahre gedauert hat, bis man endlich ein Mittel gegen die Windpocken gefunden hat?«

Wu und Marco wechselten fragende Blicke. Marco antwortete, um den armen Wu aus Ballards inquisitorischen Fängen zu befreien. »Roger, in deiner E-Mail hast du geschrieben …«

»Sei jetzt still, Henry«, sagte Ballard. »Zu viele Gespräche in den Korridoren stören die Patienten. Es ist besser, sie schlafen zu lassen.«

»Roger …«

Der Korridor führte noch einmal auf einer Länge von etwa dreißig Metern an Zellen vorbei, kreuzte einen anderen Gang und verlief weiter geradeaus. Zu seinem Erstaunen sah Marco an der Kreuzung dieselbe schmutzige fahrbare Krankentrage, an der sie auf dem Weg zur Krankenstation vorbeigekommen waren, und denselben Empfangsbereich weitab zur Rechten. Er war von der Ratte abgelenkt worden und hatte deshalb nicht bemerkt, wie diese Nebengänge abzweigten. Die Krankenstation war ein gottverdammtes Labyrinth, wie er nun erkannte – man konnte sich hier verirren.

Hinter der Kreuzung befanden sich offene Untersuchungszimmer. Marco warf im Vorübergehen schnell einen Blick hinein und rechnete schon mit weiteren blutigen Horrorszenen wie der Leiche in der medizinischen Zelle. Doch die Räume hier waren sauber, geradezu rein; auf den glänzenden Tischen lag kein einziges Staubkörnchen, und die Böden waren alle vor Kurzem gewischt worden. Roger hatte wirklich gute Arbeit geleistet und die durch den Ausbruch verwüstete Krankenstation wieder auf Vordermann gebracht. Ballard ging an den Räumen vorbei, ohne einen Kommentar abzugeben. Ungefähr dreißig Meter weiter sah Marco wieder eine Kreuzung – doch die Männer hatten erst drei Viertel der Strecke zurückgelegt, als Ballard durch einen torbogenartigen Eingang zu seiner Rechten ging.

Sie befanden sich in einem Blutuntersuchungslabor. Weiß laminierte Arbeitstische zogen sich an den Wänden entlang. Sie waren durchgängig mit Mikroskopen bestückt, die wie kleine schwarze Geier über einer Mahlzeit in Form von Petrischalen hockten. An der Wand neben dem Eingang hing ein Regal mit Ampullen, die eine eklige, senfgelbe Flüssigkeit enthielten. Im Raum roch es streng und steril wie nach einem Bleichmittel. Auf dem Tisch direkt neben Marco stand ein großer Kasten – eine Blutzentrifuge –, und ein Hämatologie-Analysegerät lief und gab kleine grüne Zahlen aus, während es Plasma reinigte und die Retikulozytenzahl ermittelte. Ein medizinischer Kühlschrank aus Edelstahl summte an der Rückwand. Die Glastüren des Kühlschranks waren vereist.

In der Mitte des Labors stand als verstörender Blickfang ein veritabler Operationstisch, makellos sauber und zum Glück nicht belegt. Die Pritsche war modifiziert und mit Halterungen ausgestattet worden – mit seltsamen Schnallen versehene Gurte baumelten an der Seite herab.

In einer Ecke des Raums nahm Marco ein Flackern wahr. Dort, am anderen Ende, stand der neunte Überwachungsmonitor – das Gerät, das am Arbeitsplatz des Wärters fehlte. Er hockte wie ein Oktopus auf dem Arbeitstisch, auf dem Ballard ihn aufgestellt hatte: Ein Gewirr aus schwarzen und gelben Kabeln ging von ihm aus, und daneben war ein Schaltkasten mit einer Metallblende und einem weißen Kippschalter in der Mitte. Der Bildschirm war in neun Fenster unterteilt; alle Überwachungsbereiche, die zuvor jeweils einem der neun Bildschirme zugeordnet waren, wurden nun auf einen einzigen Bildschirm gelegt.

»Ich sehe eben gern fern bei der Arbeit«, erklärte Ballard.

Jetzt habe ich aber genug von diesem Scheiß, dachte Marco und legte die bemühte Höflichkeit ab.

»Roger. Hör mir zu, um Gottes willen. Es ist vier verdammte Jahre her, seit zuletzt irgendjemand etwas von dir gehört hat – ist dir das eigentlich bewusst? Du wurdest gebissen. Deine Nachricht besagte, dass du im Sterben lagst. Wir sind gekommen … um nachzusehen, ob du überlebt hast«, sagte er. Das war natürlich gelogen. Er warf Wu einen verlegenen Blick zu.

Ballard nickte. »Ja«, sagte er abwesend und überflog mit geschürzten Lippen die Ziffern auf dem Hämatologie-Analysegerät. »Die Kommunikationseinrichtungen haben schon seit einer Weile keinen Strom mehr. Die Anlage wurde runtergefahren, kurz nachdem ich dir die E-Mail geschickt hatte, Henry, und ich war dann nicht mehr in der Lage, eine neue zu schreiben oder zu telefonieren. Diese Soldaten sind ohne mich abgezogen. Aber ich habe das Beste daraus gemacht, Henry. Ich hatte alles, was ich brauchte.«

»Ja, aber …« Marco suchte nach Worten. »Aber wie hast du überhaupt überlebt? Ich habe ein Video von dir an jenem Tag gesehen, Roger, du wurdest doch gebissen, oder etwa nicht?«

Ballard hob eine schmale Augenbraue. »Ja, das stimmt.« Die Augen funkelten hinter seiner Streberbrille. Amüsiert. An der Rückseite des Raums klickte und brummte der Kühlschrank.

Marco räusperte sich unbehaglich. »Also … dein Blut und alles, was du über deine DNA gesagt hast, die neuen Antikörper … es hat wirklich funktioniert? Die Erreger wurden abgetötet?«

»Nein, Henry«, sagte Ballard. »Nicht ganz.« Er hob die Stimme, und Marco hörte wieder die angespannte Erregung heraus, an die er sich von den frühmorgendlichen Unterredungen am Cedars-Sinai erinnerte – wenn Marco mit einem Brötchen im Mund und einem Kaffeebecher in der Hand ankam und kaum den Mantel abzulegen vermochte, bevor Ballard ihn in die Erörterung eines neuen Forschungsstrangs verwickelte.

»Aber das ist es doch, was ich dir zeigen wollte«, fuhr Ballard fort. »Den Fortschritt.«

Er streckte den linken Arm aus und knöpfte unbeholfen mit der freien Hand den Ärmel auf. Dann schlug er die Manschette um und krempelte den Ärmel hoch …

… bis hinauf zum Ellbogen …

… und drehte den Arm im Licht.

Marco hörte sich keuchen.

Ballards ganzer Unterarm war purpurfarben verwest und aufgedunsen und mit grau-grünen, warzenartigen Flecken gangränösen Gewebes bedeckt. Erweiterte Adern schlängelten sich wie schwarze Schlangen direkt unter der Haut dahin. Auf halber Höhe des Arms glitzerte ein feuchtes Narbengewebe wie ein grellroter Halbmond.

Und der Arm stank – ein ekliger chemischer Geruch wie Formaldehyd.

»Siehst du?«, sagte Ballard, und nun schwang unüberhörbar Erregung in seiner Stimme mit – wie bei einem verrückten Kind, das sein Lieblingsspielzeug vorzeigte. »Ich bin infiziert. Ich bin Träger der Auferstehung.«

12.2

Marco starrte Ballard an – angewidert und fasziniert zugleich. Und dann explodierte ein bisher unterdrückter Gedanke wie eine Landmine in seinem Kopf, und voller Panik wurde er sich bewusst, dass er ausgetrickst worden war – oh Gott, Roger ist eine Leiche, eine gottverdammte sprechende Leiche –, und nun würde Ballard sich gleich auf ihn stürzen und ihm ein Stück aus der Kehle reißen …

Doch stattdessen streckte Ballard nur strahlend seinen infizierten Arm aus. »Siehst du, Henry? Ich habe die Infektion eingedämmt. Ja, es gibt nekrotisches Gewebe, aber nur in einem begrenzten Radius: Es zieht sich den Arm hinauf und bedeckt einen Teil des Rumpfs. Aber das war auch erst die Beta-Zusammensetzung der Antikörper – du musst bedenken, dass meine Leukozyten noch nicht vollständig adaptiert waren. Mit der aktuellen Formel wäre das ganz verhindert worden.«

Marco machte große Augen und hielt den Atem an. Er spürte das beruhigende Gewicht der M9 in der Hand; er war bereit, Roger im Notfall mit einer Kugel über den Steg dieser Drahtgestellbrille hinweg niederzustrecken. Nur dass Roger ganz harmlos schien; er schaute Marco freundlich und erwartungsvoll an wie ein Hund, der ein Lob für ein schönes Kunststückchen erwartete – wobei er ganz vergaß, dass er gerade auf den Teppich geschissen hatte. Langsam lockerte Marco den Griff um die M9 und sah Wu unsicher an. Die blutigen Finger des Sergeants schlossen sich um sein Messer.

»Diese Verletzung wurde durch den Biss der Leiche verursacht?«, hakte Wu nach. Sein Ton war ziemlich schroff.

»Ja, natürlich. Wodurch hätte sie sonst verursacht werden sollen?«

»Sie tragen die Auferstehung nun in sich?«

»Ja«, sagte Ballard. Er klang pikiert. »Das hatte ich doch schon gesagt.«

Marco schluckte. Der Speichel war zähflüssig und körnig – das kam davon, wenn man sich zwei Tage lang ständig in Staub und Dreck herumprügelte. Er sehnte sich nach seiner Zahnbürste und ein wenig Backpulver. »Aber Roger«, sagte er mit rauer Stimme. »Wie hast du es denn geschafft, dass sie dich nicht getötet hat? In deiner E-Mail stand doch, dein Blut – der Impfstoff – wäre noch nicht fertig. Du sagtest, du würdest sterben.«

»Oh ja, ich wäre auch fast gestorben; ja, es hätte nicht viel gefehlt.« Ballard schauderte bei der Erinnerung. »Sehr hohes Fieber, Schüttelfrost, Muskelstarre. Ständiges Erbrechen. Ich war tagelang bettlägerig. Hatte Schmerzen am ganzen Körper. Und, mein Gott, wie dieser Biss gejuckt hat, Henry. Das war fast das Schlimmste. Dieses Jucken.«

»Aber …?«

Ballards Miene hellte sich wieder auf. »Diese Symptome sind dann aber wieder verschwunden. Wie ich prognostiziert hatte, haben die Antikörper die Auferstehung selbst zwar nicht verhindert – doch erstaunlicherweise haben sie die tödliche Wirkung verhindert. Ich bin zwar infiziert, aber ich bin keine wandelnde Leiche. Und wie sich herausstellte, hatte ich recht in Bezug auf die Auferstehung.«

Marco musterte ihn neugierig. »Was meinst du damit?«

»In Bezug auf ihre Natur. Wie man sie bekämpft. Alle anderen haben sich geirrt, weißt du. Die Auferstehung ist nämlich kein Virus.« Ballard zwinkerte ihm zu. »Prion, Henry. Die Auferstehung ist ein Prion.«

Prion? Das Wort kullerte förmlich durch Marcos Bewusstsein. Er runzelte die Stirn.

Prionen

Er spürte, dass er einen Moment lang den Körper von Henry Marco, dem professionellen Leichen-Killer verließ, der mit Blut und Schweiß überzogen war und in total verdreckten Kleidern steckte; für einen Moment war er einfach nur wieder der Neurologe Henry Marco, der eine Diagnose zu stellen versuchte. Der mit verschiedenen Tests versuchte, der Ursache auf die Spur zu kommen. Er nickte bedächtig und dann noch einmal. Natürlich

»Ein TSE«, sagte er.

Ballard nickte heftig mit dem Kopf.« Exakt.«

»Und … proteaseresistent?«

»Leider ja«, räumte Ballard ein und wirkte irgendwie niedergeschlagen. »Mit einer bemerkenswert kurzen Inkubationszeit. Erstaunlich schnell – so etwas habe ich noch nie erlebt. Ich verbrachte einen ganzen Monat damit, Enzyme zuzuführen, um die Probe zu zerlegen, doch nichts …«

»Doktoren.« Wus metallische Stimme fuhr wie ein Hammer auf Ballard und Marco herab. Der Sergeant warf ihnen einen warnenden Blick zu. »Bitte lassen Sie mich doch an diesem Gespräch teilhaben. Sie sagten, die Auferstehung sei … ein …?«

Ballards Miene verdüsterte sich wieder – Marco wusste, dass er es hasste, elementarste Zusammenhänge erklären zu müssen. Patientenkontakt war noch nie Rogers Stärke gewesen.

»Prion«, sprang Marco in die Bresche. Er wollte nicht, dass Roger sich noch mehr echauffierte. »Die Abkürzung für ansteckende eiweißartige Teilchen‹. Dabei handelt es sich im Prinzip um eine entartete Proteinstruktur – aber es ist eben kein Virus. Das hört sich harmlos an, doch wenn es in den Körper gelangt, entfaltet es seine ganze zerstörerische Wirkung. Sehen Sie, das Gehirn und das zentrale Nervensystem haben normale Proteine mit der Bezeichnung PRP. Das Prion greift das PRP im Körper an und bewirkt eine Mutation – es klappt das Protein zusammen, quasi wie eine Pizza Calzone –, sodass es die Form eines Prions annimmt. Und dann läuft die Mutation in einer Kettenreaktion ab, bis das ganze Gehirn nur noch aus Prionen besteht.«

Wu hörte mit angespannter Kiefermuskulatur zu. Marco war sich sicher, dass er jedes Wort analysierte.

Ballard öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch Marco kam ihm zuvor. »Also handelt es sich bei der Auferstehung um eine neue Form von TSE – eine übertragbare spongiforme Enzephalopathie.«

»Und was bedeutet das?«, fragte Wu.

»Eine Gehirnerkrankung. Und zwar eine ganz üble. Alle bekannten TSE nehmen zu hundert Prozent einen tödlichen Verlauf. Wie Kuru …«, sagte er nachdenklich. »Kuru ist eine Krankheit, deren Ursprung in Papua-Neuguinea lag. Einige Eingeborenenstämme hatten dort rituellen Kannibalismus praktiziert.«

Wu hob eine Augenbraue. »Im Südpazifik.«

Ballard nickte aufgeregt; er konnte einfach nicht mehr an sich halten. »Der japanische Gefangene, er war der Überträger, Henry. Ich habe sie alle untersucht, und seine Blutprobe hatte die infizierte Isoform.«

»Ein Japaner«, sagte Wu. »Die Aum-Sekte. Eines ihrer Mitglieder war hier inhaftiert.«

Marco nickte bedächtig. Südpazifik. Allmählich ergab das alles einen Sinn.

»Dann stellt sich das also folgendermaßen dar«, sagte er. »Ein Haufen durchgeknallter Bösewichte hat am Kuru-Prion manipuliert und ein Designer-TSE entwickelt, das tausendmal gefährlicher ist. Prionen krempeln das Nervensystem um, bewirken das Absterben der Organe und übernehmen schließlich den Körper. Wandelnde Leichen. Mein Gott, das sind nur Prionen mit Armen und Beinen. Sie brauchen frisches Protein – zum Beispiel rohes Fleisch –, um das System aufrecht zu erhalten.«

Wu musterte Ballards abgestorbenen Arm, als wollte er eine Botschaft entschlüsseln, die die verschnörkelten schwarzen Adern enthielten. »Gibt es ein Heilmittel?«

Ballard wirkte pikiert und rollte wieder den Ärmel herunter. »Es gibt kein Heilmittel«, sagte er in einem Ton, als ob er sich verteidigen wollte. »Noch nicht.« Er schniefte betrübt und schloss den Manschettenknopf.

»Und was nun?«, fragte Marco. Er war inzwischen auch ungeduldig geworden. »Was ist mit den Antikörpern, der DNA-Impfung? Du sagst, es gäbe eine funktionierende Formel. Dass nun niemand mehr, der mit der Auferstehung in Berührung kommt, infiziert würde. Und dass … so etwas nicht mehr vorkommt.« Er deutete auf Ballards Arm.

Ballard rückte die Brille gerade. »Korrekt«, antwortete er. Er richtete die Antwort explizit an Marco und ignorierte Wu ersichtlich. »Ein richtiger Impfstoff. Es war schwierig, Henry. Ich bin in viele Sackgassen geraten und habe versucht, das Prion mit einem anderen Immunogen zu koppeln. Ich habe Monate mit der Entwicklung einer modifizierten Protease zugebracht …«

»Enzyme, die Proteine aufspalten«, übersetzte Marco für Wu.

Ballard ignorierte die Unterbrechung und fuhr fort. »… doch das hat auch nicht gefruchtet. Dann habe ich mir das PRP einmal selbst angesehen, und dann erschien allmählich die Antwort vor meinem geistigen Auge … Chaperons. Verstehst du? Die richtigen von der DNA produzierten Antikörper konnten die mikroskopischen Taschen im PRP stabilisieren. Im Grunde so, als ob man Kalk als Bindemittel in porösen Zement füllen würde …«

Mein Gott, dachte Marco. Er fühlte sich plötzlich benommen. Er drückte sich mit seinen kühlen Fingerspitzen die Augen zu; der Druck hatte kurzfristig eine beruhigende Wirkung, und er sah Lichtschlieren auf der Netzhaut.

Ist das hier überhaupt real?

Ja, antwortete er sich selbst. Ja, das ist es. Roger ist wirklich hier. Wirklich lebendig.

Und er erklärt mir, wie er die Welt retten will.

Dabei konnte er doch nicht einmal Hannah retten.

Dieser Gedanke erzürnte ihn, eine Woge heißen Zorns stieg in ihm auf, und der Boden schien sich unter seinen Füßen zu neigen. Ballards Stimme hüllte ihn wie ein wabernder, giftiger Qualm ein. Er wusste, dass er sich zusammenreißen, sich konzentrieren und voller Demut zuhören sollte, während Roger wie ein Schamane um das Lagerfeuer eines Stammes tanzte – oh du großer Geist der Auferstehung, enthülle uns das Geheimnis deines allmächtigen Impfstoffes

Und dann geriet in seinem Kopf etwas in Bewegung, und er hielt inne – aufgerüttelt von einem Gedanken, der so völlig unerwartet kam, dass er seinen Ursprung gar nicht in ihm selbst zu haben schien. Die Wissenschaft ist irrelevant. Soll Ballard doch weiter labern. Soll er die Auferstehung wie ein biologisches Präparat aufspießen und aufschneiden, ihre Teile bestimmen und unter einem Mikroskop die ineinandergreifenden Zahnräder beobachten, um ihre Funktion zu ermitteln. Die Wahrheit war doch, dass man endlos graben und schürfen konnte – von Pontius zu Pilatus kommen konnte –, doch nie zum eigentlichen Kern der Sache gelangen würde. Die Wissenschaft hatte eben nicht auf alles eine Antwort. Und wenn sie mit ihrem Latein am Ende war, klaffte immer eine Lücke, die man nicht zu überwinden vermochte; die ultimative Antwort war immer unerreichbar.

»Genau das ist dein Problem, mein Schatz«, hatte Danielle vorwurfsvoll zu ihm gesagt. »Dass du den Dingen immer auf den Grund gehen musst. Du hast überhaupt keinen Sinn für Magie.«

Nun wurde er sich bewusst, dass sie recht gehabt hatte. Magie. Es war alles Magie – faszinierend und unbegreiflich. Ein toter Mensch ersteht wieder auf. Ein neugeborenes Baby macht seinen ersten Atemzug. Das ist dasselbe. Das Leben entströmt einem versteckten Quell. Wie eine Fontäne, die von einer gottähnlichen Hand eingeschaltet wird. Wir nennen es Biologie, aber es ist ein Wunder … und wir geben nur vor, dass wir es erklären könnten.

Er schluckte unbehaglich. Oder kann Roger auch Wunder erklären?

Dieser letzte Gedanke verursachte ihm Unbehagen, und er zitterte – wankte am Rand eines unendlich tiefen Abgrunds. Er hatte plötzlich eine absolute Gewissheit: Wenn er das wüsste, was Roger wusste, würde es ihn vernichten – es würde ihn in den gleichen Abgrund schleudern, in den sein alter Freund schon gefallen war.

»… um zu verhindern, dass sie zusammengeklappt werden, wenn das Prion angreift«, leierte Ballard herunter. »Und ich habe es erschaffen, Henry, habe es aus meinem eigenen Blut erschaffen. Ich habe ununterbrochen gearbeitet, nachdem das Militär abgezogen war. Dreiundneunzig Injektionszyklen, Millionen Zellteilungen, und dann habe ich es schließlich erschaffen. Ein Nukleotid, das zu der erforderlichen Immunreaktion imstande war …«

Während Marco ihm mit halbem Ohr zuhörte, erschienen Bilder in seinem Kopf; irgendwo in den Tiefen seines Gehirns war ein Diaprojektor angesprungen, und jeder einzelne verstörende Schnappschuss dieser Diaserie erschien vor seinem geistigen Auge: Er sah eine Geschichte, die er gar nicht sehen wollte, vor der er sich aber nicht verschließen konnte. Klick. Roger am Tisch des Wärters, das Haar mit Blut und Schweiß verkleistert, wie er sich in der Krankenstation einschloss, als Leichen Sarsgard überrannten. Klick. Roger, wie er mit den infizierten Gefangenen hier auf der Krankenstation experimentierte – wie er Löcher in arme Schweine bohrte, die mit Handschellen an Tragbahren gefesselt waren, fleischige Gehirnproben nahm und ihnen eine Infusion mit weiß Gott was für einem Zeug in die verhärteten Venen legte.

Ballards Stimme drang an seine Ohren. »… womit ich die Bestätigung hatte, dass der Impfstoff bei Ratten wirkte. In dieser Hinsicht hatte ich Glück, denn ich hatte einige Ratten zu Versuchszwecken infiziert. Aber wusstest du schon, Henry, dass die Auferstehung Nagetiere nur tötet, dass sie sie nicht zurückbringt? Also blieb die Frage offen, ob die Formel auch genauso gut bei Menschen wirken würde …«

Klick. Eine Leiche biss Roger bei seinem Fluchtversuch in den Arm.

Klick. Roger im freien Fall von der Galerie.

Klick. Roger, wie er mit zerschmettertem Fußknöchel und verfaulender Haut zu seinem Labor humpelte. Wie er sich hier versteckte und eine letzte E-Mail an Marco rausschickte, während er auf den Tod wartete.

Klick. Roger allein in diesem Höllenloch, bei der Arbeit, beim Essen, beim Scheißen, wie er Leichen aufschnitt und nachts in dieser gottverlassenen Zelle vor sich hin kicherte. Vier Jahre. Klick, Klick, Klick.

»… Erfolg. Einen voll wirksamen Impfstoff«, beendete Ballard seinen Vortrag und wischte sich über die Stirn. Die Diashow vor Marcos geistigem Auge endete auch, und er konzentrierte sich wieder auf das Labor. Da war Roger. Er atmete schwer – die Wangen waren gerötet, und ihm stand vor lauter Anstrengung der Schweiß auf der Stirn. Er strahlte eine unheimliche Energie aus, eine Hochstimmung, die man schon nicht mehr als normal bezeichnen konnte und die an Perversion grenzte. Als ob er den Wahnsinn des Gefängnisses in sich aufgesogen hätte und die Aura von Vergewaltigern und Mördern auf ihn abgefärbt hätte.

Er ist verrückt geworden, sagte Marco sich zu seinem Leidwesen. Er ist total durchgeknallt.

»Roger«, fragte er unsicher. »Weiß Osbourne über diese ganze Sache Bescheid?«

Ballard schniefte. »Überhaupt nicht. Ich habe dich doch vor dem Mann gewarnt, Henry. Es ging ihm nur um sich selbst, nicht darum, anderen zu helfen.« Er sah mit einem trotzigen Blick zum Eingang, als könnte Osbourne jeden Moment durch die Tür spazieren. »Deshalb habe ich meine Forschungen geheim gehalten. Ich musste vorsichtig sein, bis ich mir sicher war. Osbourne verlangte Berichte; ich habe sie frisiert und die wirklich wichtigen Dinge vorsichtshalber nicht erwähnt. Doch dann ist das Rettungsteam ohne mich verschwunden. Ohne meine Forschungsergebnisse.«

»Sie dachten, du wärst tot.«

»Ja«, räumte Ballard ein. »Verständlich. Also habe ich ohne sie weitergemacht.«

In der Mitte des Raums stand Wu und musterte gründlich den Operationstisch. Roger fragte sich, ob auch er sich die Grausamkeiten vorstellte, die Roger hier verübt haben musste. Der Sergeant zog fest an einem der Haltegurte und ließ ihn fallen. Die Handschelle schwang wie ein Uhrpendel im Sekundentakt, und Wu drehte sich um und sah Ballard fest in die Augen.

»Zeigen Sie mir den Impfstoff«, sagte Wu. Seine grünen Augen funkelten wie Smaragde.

Das Pendel schwang vor und zurück.

Zählte auf null herunter.

12.3

Wu atmete ruhig durch die Nase ein und wartete auf eine Antwort von diesem verrückten amerikanischen Arzt, der einstigen Koryphäe Roger Ballard. Den Blick hatte er auf eine bestimmte Stelle an Ballards Hals gerichtet – einen Zentimeter vom Kehlkopf entfernt, wo die Schlagader verlief – und wo er sein lujiaodao-Messer versenken würde, falls Ballard sich weigerte, den Impfstoff herauszurücken.

Die bemerkenswerte Entdeckung, dass Ballard noch am Leben war, wirkte sich nicht auf den ursprünglichen Plan aus; Wu hatte es auf das Blut des Mannes abgesehen, und er würde es auf jeden Fall beschaffen. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, den Doktor zu entführen, damit man ihn in Peking vernehmen oder vielleicht sogar zur Arbeit in einem Forschungslabor des MSS zwingen konnte. Doch Ballard war offensichtlich ein Radikaler – er war unberechenbar und akzeptierte keine Autoritäten. Er würde sich bestimmt weigern, China zu helfen, sofern sein zerfallender Geist überhaupt noch brauchbare Informationen enthielt. Wu war sich auch im Klaren darüber, dass der über dreihundert Kilometer lange Marsch zur mexikanischen Grenze mit einer Geisel als Ballast viel zu gefährlich wäre, zumal er auch kein Handy mehr hatte. Er wusste noch immer nicht, wie er sich mit dem MSS in Verbindung setzen sollte, damit sie ihn rausholten.

Ich müsste froh sein, sagte er sich, wenn ich überhaupt lebendig dort unten ankäme, bei den ganzen Leichen und mit einem Verrückten im Schlepptau.

Zumal er Roger Ballard auch gar nicht brauchte. Er hatte nämlich schon etwas Besseres. Nicht nur die DNA, sondern den Impfstoff selbst. Die Antwort auf die Auferstehung, eine Formel, die chinesische Chemiker studieren und reproduzieren konnten. Also würde er den Arzt exekutieren und dann mit den DNA-Proben und dem Impfstoff verschwinden, als hätte er Schätze aus einem versunkenen Tempel geraubt. Man würde ihm in Peking einen triumphalen Empfang bereiten.

Es sei denn … was, wenn der Doktor ihm den Stoff nicht zeigte? Wu ließ den Blick über die kleinen Ampullen auf dem Wandregal schweifen, in denen sich sämige Flüssigkeiten in diversen Braun- und Gelbtönen befanden. Vier Reihen mit jeweils sechs Ampullen. Ob eine den Impfstoff enthielt?

Ballard zu töten, ohne eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, wäre nicht zielführend.

»Könntest du ihn uns zeigen, Roger?«, zerriss Marcos Stimme Wus Gedanken.

Wu zuckte zusammen. Er hatte fast die andere noch unerledigte Aufgabe vergessen.

Henry Marco zu töten.

Bei dieser Erkenntnis verspürte er plötzlich und zu seiner Verwunderung ein Unbehagen. Er musterte Marco kurz von der Seite. Sein Mit-Überlebender. Sein unfreiwilliger Partner. Marco hatte ihm das Leben gerettet und das nicht nur einmal. In Salton, im Gefängnishof, auf der Galerie des Zellenblocks. Ob Wu ohne Marco bis heute überlebt hätte, auch wenn der Mann noch so spontan und unprofessionell agierte?

Natürlich, dachte Wu. Dieser Gedanke war geradezu ein Affront. Ich hätte nicht versagt.

Doch ein kleines Stimmchen in seinem Kopf widersprach ihm.

Nein. Du hast ihn gebraucht.

Seine Gedanken schweiften ab, und er erinnerte sich daran, wie er gestern Morgen mit Marco auf dem Friedhof gewesen war. Die beiden Männer hatten Schulter an Schulter in der Kapelle gesessen und den Toten Ehre erwiesen; die Trauer im Herzen des Amerikaners hatte ihn kurz selbst gerührt. Wu hatte versucht, das Leiden des Mannes zu lindern.

Aber ich werde ihn töten, sagte Wu sich noch einmal. Ich werde den Impfstoff an mich nehmen und ihn töten.

Plötzlich überkam ihn eine ganz spezielle Erinnerung. An seine erste Mission, die schon so lange her war. Tenzin Dawa, der Mönch, der gegen die Eisenbahn protestiert hatte und vor Wus Füßen gestorben war. Der kahl rasierte Kopf, das runzlige Gesicht, die flatternden Augenlider, als das Blut aus der durchschnittenen faltigen Kehle schoss. Wie die orangefarbene Kutte sich blutrot verfärbt hatte. Wus blutige Hände hatten noch Stunden danach gezittert; er hatte dieses Leben überhaupt nicht auslöschen wollen. Aber China hatte ihn gebraucht. Die Eisenbahn war gebaut worden.

Und nun brauchte China ihn wieder.

Marco zu töten, sagte er sich, wird so sein, als ob ich zum ersten Mal töten würde. Schwierig. Aber ich werde es tun. Wie eine Katze, die Mäuse fängt. Die Katze empfindet auch kein Mitleid mit ihrer Beute.

Doch zuerst brauchte er einmal den Impfstoff.

»Wir warten, Doktor Ballard«, sagte er höflich und legte die Hand aufs Messer.

12.4

Ballard runzelte die Stirn; Marco spürte seinen Widerwillen. Doch die Wahrheit war, dass Roger schon seit Jahren darauf wartete, etwas zu präsentieren – irgendjemandem, selbst wenn es jemand war, den er für so einen stupiden Soldaten wie Wu hielt. Die schwingende Handschelle am Operationstisch kam zum Stillstand, und Ballard nickte. In stolzer Pose drehte er sich zum Wandregal um und nahm eine mit einem Gummistopfen verschlossene Ampulle von der unteren Reihe.

Er hob die Ampulle, als wollte er einen Toast ausbringen. In ihrem Inneren schwappte eine zähe Flüssigkeit, die an braunen Joghurt erinnerte, während er provokant mit dem Fingernagel dagegenschnippte.

»Der Impfstoff«, sagte er mit wichtiger Miene, jedoch kaum lauter als im Flüsterton.

Wu richtete den Blick auf die Ampulle. »Sind Sie sicher, Doktor? Dass er auch wirkt?«

»Oh ja, absolut. Ich habe ihn oft an mir selbst getestet, und es ist keine Zunahme der Auferstehungs-Prionen in meinem Körper erfolgt.«

»Bei dir selbst?«, fragte Marco konsterniert. »Aber – was meinst du damit, getestet? Wie oft?«

Ballards Gesicht umwölkte sich.

»Du hast dir die Auferstehung selbst injiziert?«, fragte Marco ungläubig.

»Nein, Henry.«

Marco zögerte. »Bist du noch einmal gebissen worden?«

Ballard sagte nichts. Er drehte sich um und stellte die Ampulle ins Regal zurück.

»Antworten Sie uns, Doktor«, sagte Wu mit einem warnenden Unterton. Marco spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Irgendwie wusste er – er wusste es einfach –, dass Rogers Antwort ihm überhaupt nicht gefallen würde.

»Ich habe infiziertes Fleisch verzehrt«, sagte Ballard. »Leichen.«

Eine Weile sagten die Männer kein Wort.

Marco stieß die Luft aus, die er vor schierem Entsetzen angehalten hatte, und erlangte als Erster die Sprache zurück. »Ach du Scheiße.«

Wu schürzte mit einem deutlichen Ausdruck des Ekels die Lippen. »Sie haben die Toten gegessen …?«

Ballard schaute finster. »Ja, Sergeant Wu. Um zu überleben. Im Vorratsraum des Gefängnisses waren nur Lebensmittel für ein Jahr. Und als die aufgebraucht waren, musste ich mich anderweitig versorgen. Ratten waren auch eine Option, aber sie sind zu klein – sie halten nicht lange vor. Doch eine Leiche reicht für ein paar Wochen.«

Marco schauderte. Er hatte plötzlich den Geschmack von Galle im Mund, und sein Kopf glich wieder einem Panoptikum aus unerfreulichen Bildern. Von Ballard, wie er Leichen in ihren Zellen schlachtete. Wie er das faulige, verweste Fleisch von den Knochen schabte. Zähe graue Hautstreifen wie Trockenfleisch kaute.

»Roger«, stieß er hervor. »Das waren doch Menschen …«

Roger sah ihn mit einem seltsamen Blick an. »Natürlich, Henry.«

Ganz der alte Roger, dachte Marco. Sein Zorn loderte wieder auf. Roger hatte die Leute eigentlich nie als Menschen betrachtet. Eher als Proben. Und nun als eine tägliche Nahrungsquelle.

Du irres, egozentrisches Arschloch.

Ballard schien seine Gedanken zu lesen. »Ich hatte keine Wahl, Henry. Aber es hatte einen Sinn. Und es war ein weiterer Beweis für die Wirksamkeit des Impfstoffes. Der Verzehr der Prionen hätte meinen Körper eigentlich überfordern müssen, aber es ist überhaupt kein negativer Effekt eingetreten.«

»Ist es dir jemals in den Sinn gekommen«, fragte Marco schroff, »einfach zu verschwinden?«

Ballard neigte verwirrt den Kopf. »Verschwinden?«

»Aus dem Gefängnis. Deinen beschissenen Impfstoff zu nehmen und zu gehen. Von hier zu verschwinden.«

Ballards missgebildete Oberlippe zuckte, wodurch das spöttische Grinsen sich noch verstärkte. Er sah Marco mit offensichtlicher Missbilligung an. »Natürlich nicht«, sagte er. »Ich hätte doch nicht einfach meine Arbeit im Stich lassen können. Ich habe dir doch gesagt, dass ich Fortschritte machte, Henry. Aber das größere Problem besteht nach wie vor.«

»Das größere Problem? Sag mir jetzt nur nicht, dass du ein Heilmittel meinst.«

Ballard bedachte Marco mit einem ernsten Blick. »Ja, das Heilmittel ist eine Herausforderung. Mit genügend Zeit werde ich jedoch eine Methode entwickeln, um die Prionen-Transformation umzukehren. Und trotzdem besteht noch immer ein größeres Problem. Es wundert mich, dass du es nicht erkennst, Henry.«

»Ja? Was für eins denn – die Tatsache, dass du ein durchgeknallter Psychopath bist …«

Marco zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich ein lautes Geräusch an der anderen Seite des Raums ertönte: ein gläsernes Klirren aus dem medizinischen Kühlschrank. Er wirbelte mit der M9 im Anschlag herum. Irgendetwas war gegen die breite Doppeltür gestoßen. Von innen.

Das Glas war beschlagen, sodass man nicht hindurchsehen konnte – doch beim Anblick der Form, die sich gegen die Frostschicht presste, lief es Marco eiskalt den Rücken hinunter.

Ein Fußabdruck. Die Konturen einer Ferse, eines Ballens und fünf gespreizter Zehen.

»Roger …«, sagte Marco und verstummte, als ihm plötzlich übel wurde.

»Du müsstest das doch verstehen, Henry«, sagte Ballard zu ihm. »Wenn überhaupt jemand, dann du.«

»Roger, was zum Teufel ist in dem Kühlschrank?«

»Du weißt es doch schon.«

»Nein«, sagte Marco. Doch nun beschlich ihn die Angst, dass er es doch wusste …

Bitte nicht. Bitte sag mir, dass es nicht das ist, was ich glaube.

Bitte zeig es mir nicht.

Doch Ballard hatte bereits den Raum durchquert und kramte in seiner Tasche. Er zog einen Schlüssel heraus und steckte ihn ungeschickt in das Schloss der Glastür. Dann drehte er sich zu Marco um. Er wirkte nun bedrückt, und das manische Grinsen, das er eben noch im Gesicht gehabt hatte, war einem melancholischen Lächeln gewichen.

»Es tut mir leid, Henry. Ich hoffe, du weißt, wie leid es mir getan hat.« Er leckte sich die Lippen, als hätte er nervöse Zuckungen, und ließ den Blick über den Boden schweifen. »Wegen meines Fehlers. Bei Hannah.«

»Roger«, sagte Marco eindringlich. Sein Gesicht glühte. »Mach das nicht.«

Ballard tippte auf ein rundes Thermometer, das ins Glas eingelassen war. »Zehn Grad Celsius. Alle zwölf Stunden gehe ich auf zwölf Grad und dann wieder herunter.«

Mit beiden Händen riss er den Kühlschrank auf.

»Unterkühlungsbehandlung.«

Im Kühlschrankfach lag eine verkrümmte Leiche mit bläulicher Haut. Ein Mann mittleren Alters, dessen Nase von erweiterten Adern durchzogen wurde und dessen Augen wie Milchglas getrübt waren. Der Oberkörper steckte in einer Zwangsjacke, und die Knie waren an die Brust gezogen. Eine hellgelbe Zunge hing steif aus dem offenen Mund, als wäre sie beim Eislecken erstarrt. Die Leiche stöhnte und drehte in einer schläfrigen Bewegung den Kopf. Der Mund schloss sich langsam, öffnete sich und schloss sich wieder. Marco erkannte, dass sie nach Ballard schnappte. Aber ihre Bewegungsabläufe wurden durch die Kälte so verlangsamt, dass sie sich nur wie in Zeitlupe bewegte.

Ballard trat zurück und atmete mit dramatischem Gestus tief ein. Dann fuchtelte er unter seiner Nase herum, als wollte er die Luft umwälzen. »Das Problem ist Sauerstoff, Henry«, fuhr er fort. »Selbst wenn wir die Prionen mit einem Heilmittel neutralisieren könnten, wie sollte das Gehirn sich wohl wieder erholen? Nach einer so langen Asphyxie? Stell dir das doch nur einmal vor. Monate und Jahre ohne Atmung, ohne Sauerstoff. Die Patienten würden einen unvorstellbaren Hirnschaden erleiden. Zerebrale Lähmung in ihrer schlimmsten Form.«

Die M9 zitterte in Marcos Hand – der einzige Körperfortsatz, der noch einer Regung fähig war. »Also kühlst du sie«, sagte er. »Um den Schaden zu begrenzen.« Er sagte das emotionslos und war auch froh über diese emotionale Lähmung. Wenn er auch nur die kleinste Gefühlsregung zuließ, würde es ihn zerreißen wie eine überlastete Maschine. Dann würden sämtliche Sicherungen bei ihm durchbrennen.

»Wie du es auch bei Hannah versucht hast«, fügte er hinzu. Er sah Wu von der Seite an; selbst der Sergeant schien sich unbehaglich zu fühlen. Er hatte eine blutverkrustete Augenbraue hochgezogen und betrachtete die tiefgekühlte Leiche.

Ballard sah Marco ebenso unsicher wie flehentlich an. »Ich kann sie retten, Henry.«

Ich kann Hannah retten. Dieses Versprechen, das Roger vor sechs Jahren gegeben und dann gebrochen hatte – es hallte nun laut und deutlich in seinem Bewusstsein wider, und eine alte Wunde wurde aufgerissen. Marco verzog das Gesicht.

»Nein, Roger«, sagte er. »Das kannst du nicht. Das ist unmöglich. Sie sind beide tot.«

Für den Bruchteil einer Sekunde trat ein panischer Ausdruck in Ballards Augen; doch dann erlangte er genauso schnell die Fassung zurück. Ein schwaches Lächeln erschien auf seinem hageren Gesicht.

Er ignorierte Marcos Vorwurf. »Du verstehst doch«, sagte er mit gezwungener Fröhlichkeit, »dass ich die Forschungen fortsetzen muss. Bis eine effektive Behandlung entwickelt wurde.« Wie um das zu unterstreichen, schlug er die Kühlschranktür zu und schloss die Leiche wieder in ihrer frostigen Katakombe ein. Dieser Handgriff schien Ballard das Letzte abzuverlangen. Er packte die Türgriffe und drückte die Stirn gegen das Glas. Die Brille schlug mit einem leisen metallischen Geräusch gegen die vereiste Oberfläche.

»Ehrlich gesagt hatte ich sehr wohl schon daran gedacht zu gehen«, gestand er. Er klang todmüde. »Aber das kann ich nicht, Henry. Du verstehst das doch. Wer sonst, wenn nicht du. Deshalb bin ich auch so froh, dass du gekommen bist. Deshalb habe ich dir auch geschrieben, um dir zu sagen, wie leid es mir tut. Ich musste nämlich hierbleiben, um wegen Hannah Sühne zu leisten …«

Er schien förmlich in sich zusammenzusacken. »Verstehst du, Henry? Das ist mein Gefängnis.«

Und dann lachte er – zuerst ein leises, kaum hörbares Säuseln. Doch dann wurde es immer lauter und heftiger, und seine schmächtigen Schultern zuckten, bis das wiehernde Gelächter abrupt verstummte. Er legte den Kopf gegen den Kühlschrank und verharrte in dieser Stellung wie in einer Gebetspose.

Das ist mein Gefängnis.

In Marcos Kopf drehte sich alles. Tatsache war, dass Roger recht hatte. Ich verstehe.

Ein Gefängnis. Genauso fühlte es sich an – eine ausbruchssichere, fensterlose Hölle; eine Kerkertür, die an dem Tag, als Hannah starb, hinter ihm und Danielle zugeschlagen wurde. Und auch hinter Roger – Marco hatte das bis eben nur nicht erkannt. Aber ja, auch hinter Roger. Und keiner von ihnen hatte bisher einen Weg hinausgefunden. Sein Kinn zuckte, und Tränen traten ihm in die Augen. Sollten sie nur fließen. Er war es leid, sie zu unterdrücken.

Also weinte er.

Er erinnerte sich an die Tage, die Wochen, die zwei Jahre, nachdem sie Hannah verloren hatten. An die unzähligen dunklen Stunden im Bett, in denen er, lange nachdem sie das Licht ausgemacht hatten, an den Gitterstäben seines Bewusstsein gerüttelt hatte. Wie er um Gnade gefleht hatte – für die Begnadigung um Mitternacht, die niemals kam, von einem Gouverneur, dem das völlig egal war. Es war die Einsamkeit, die am meisten geschmerzt hatte. Danielle nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt auf der unbequemen Matratze, das Gesicht abgewandt; und doch hatte er immer irgendwie gewusst, wenn sie die Augen geöffnet hatte und schlaflos die Wand anstarrte. Sie war der Häftling in der Zelle neben ihm. Mit der gleichen Strafe belegt, aber von ihm getrennt. Weil er nämlich nie wusste, was er sagen sollte oder was er sie fragen sollte, oder wann er sie berühren sollte – oder wann er sie eben nicht berühren sollte, weil seine Haut eine zu grausame Erinnerung an das war, was sie gemeinsam gehabt und verloren hatten.

Und dann durchlebten sie immer den dumpfen Horror des Erwachens – den morgendlichen Weckruf, der sie in eine Wirklichkeit zurückholte, die sich nie änderte und die sich auch niemals ändern würde. Und ewig grüßt das Murmeltier.

Ja. Ein verdammtes Gefängnis, genau das. Ein elender Käfig.

Kein Sonnenlicht. Keine Hannah.

Ich muss hier raus. Das waren Danielles Worte gewesen, die sie mit einem purpurfarbenen Kugelschreiber geschrieben hatte. Auf Briefpapier mit Blumenmuster.

Bei diesem Bild wurde ihm sofort schlecht; der Magen schien ihm in die Kniekehlen zu sacken, und er keuchte und presste sich die Hand auf die Rippen, als könnte er so die Übelkeit zurückdrängen.

Du hast zugelassen, dass er das tat, Henry. Ihre Stimme ertönte nun laut in seinen Ohren. Du hast es zugelassen!

Er musste es tun, Delle. Ihre Asphyxie war zu stark – sie hätte sonst nie

Gott verdammt, Henry! Du suchst nach Ausflüchten. Du suchst doch immer nur nach Ausflüchten.

Das stimmt nicht, das stimmt nicht, ich schwöre, dass ich

Sein Mund öffnete sich wie in einem Erstickungsreflex. Er erkannte, dass es Zeit wurde. Zeit, ihr – und sich selbst – ein für alle Mal zu beweisen, dass er nicht immer nur nach Ausflüchten suchte. Es wurde Zeit, sich zu erinnern.

Sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Mit allen Höhen und Tiefen.

Die Achterbahn, sagte er sich und schloss entsetzt die Augen. Und mit einem leisen, kläglichen Wimmern erbrach er eine heiße braune Flüssigkeit auf den kalten Fliesenboden.

Ich muss hier raus.

Das Licht verschwamm, von den Tränen gebrochen, als Marco würgte und nach Luft schnappte; er war desorientiert, als wäre er unter Wasser und kurz vor dem Ertrinken. Der ganze Raum drehte sich um ihn, sein Bewusstsein wurde in einen Strudel gezogen, und die Zeit verflüssigte sich und floss rückwärts …

12.5

… vier Sommer in die Vergangenheit: Marco saß in seinem Audi und überfuhr mit überhöhter Geschwindigkeit eine rote Ampel in der Innenstadt von Phoenix. Er hatte einen gehetzten Blick, und jeder Herzschlag glich einer Dynamitexplosion. Im Rückspiegel sah er, dass die Straße mit Monstern übersät war – tot, wie können sie überhaupt tot sein? Scheiße Scheiße Scheiße –, eine mächtige, erbarmungslose Flut aus Zähnen und Blut, die Schaufenster einschlug, Autos umstürzte und die Stadt total verwüstete. Er war seit dem frühen Morgen im Krankenhaus gewesen. Es hatte wie ein ganz normaler Tag angefangen. Doch gegen elf Uhr war eine Notfallbesprechung mit der gesamten neurologischen Abteilung anberaumt worden, während die Notaufnahme wegen einer Flut von Patienten bald aus allen Nähten platzte. Blasse Männer, Frauen und Kinder, die Schweiß verströmten, der nach saurer Milch stank, und ihre besorgten Familien, die den Warteraum und die Flure bis in den letzten Winkel belegten. Sie hatten keinen Platz mehr, um sie alle zu versorgen. Man versuchte, sie auf andere Krankenhäuser zu verteilen. Doch alle Krankenhäuser waren überlastet. In der Stadt und im ganzen Bundesstaat. Entsprechende Meldungen hörte man sogar aus Kalifornien. Zu diesem Zeitpunkt wusste man – noch – nicht, dass sich eine apokalyptische Katastrophe anbahnte, doch die Furcht war zu spüren. Dieses Gefühl, dass sich etwas zusammenbraute und man rein gar nichts dagegen tun konnte.

Und dann war die Katastrophe über sie hereingebrochen.

Auf der Hauptverkehrsader Central Avenue trat Marco aufs Gas, um mit den in Panik geratenen Fahrern mitzuhalten – Pkw und Lkw rasten die Straße entlang und versuchten verzweifelt, der tödlichen Bedrohung hinter ihnen zu entkommen. Ein Mann in einem Anzug kam aus einer Seitenstraße hervor und rannte blindlings auf die Straße, und Marco schrie auf, als ein silbernes Fahrzeug den Mann mit voller Wucht erfasste und in die Luft schleuderte. Der zappelnde Körper flog mit gebrochenen Knochen wie ein nadelgestreifter Schemen über Marcos Audi hinweg und schlug hinter ihm auf der Straße auf. Ein schlingerndes UPS-Fahrzeug walzte den Körper regelrecht platt, als Marco an der Straße vorbeifuhr, aus der der Geschäftsmann gekommen war. Dann tauchten noch mehr Monster auf und umzingelten den blockierten UPS-Wagen. Die Toten enterten den Lieferwagen durch die offene Tür und fielen über den schreienden Fahrer her.

Marco zwang sich, nach vorne zu schauen. Bau bloß keinen Unfall. Bau … bloß … keinen … Unfall.

Ein Polizeiauto raste mit heulenden Sirenen in Gegenrichtung an ihm vorbei. Mit grimmiger Gewissheit sagte Marco sich, dass der Beamte diesen Tag nicht überleben würde.

Schusswaffen nützen hier nichts.

Der Audi wurde von dem unangenehmen, süßlichen Geruch von Blut erfüllt; Marcos Hemd war rot verfärbt. Tommy. Der Wachmann des Cedars-Sinai-Krankenhauses. Eine tote Krankenschwester hatte Tommy tief in den Hals gebissen, als er ihr in den Oberkörper geschossen hatte – er hatte das Magazin leer geschossen, doch sie hatte immer noch nicht sterben wollen. Marco hatte ihr ein Telefonkabel um den Hals gewickelt, sie weggeschleift und Tommy in die Parkgarage gebracht. Er hatte Tommy gegen den Audi gelehnt und nach den Schlüsseln gesucht. Am Ende der Parkreihe hatte die Zufahrt zur Garage sich mit Schatten verdunkelt, während gespenstische Schreie von den Betonwänden widerhallten und die Toten von der Straße hereinströmten; und als Marco wieder nach Tommy geschaut hatte, war der auch schon eine Leiche …

Das Kunstmuseum huschte zur Linken vorbei; ausgeweidete Körper lagen mit dem Gesicht nach unten auf den marmornen Stufen. Oh Gott, oh Gott, verdammt, dachte er und riss am Lenkrad; der Audi bog schlingernd auf die Zufahrt zur I-10 ab, und Sekunden später raste er auf der Interstate in Richtung Gold Canyon. Es herrschte wenig Verkehr auf dem Highway; Marco vermutete, dass er am Rand einer tödlichen Schockwelle entlangfuhr, die sich von der Innenstadt nach außen ausbreitete. Die Vorstädte im Umland waren noch nicht betroffen. Aber trotzdem. Gib Gas und verschaffe dir einen Vorsprung, sagte er sich. Nur so groß, dass du nach Hause zu Danielle kommst.

Er hatte versucht, sie vom Büro aus anzurufen – zweimal am Morgen und dann noch einmal vor zwanzig Minuten in einem letzten verzweifelten Versuch, sie zu erreichen. Das Telefon klingelte und klingelte, er hielt den Hörer in der verschwitzten Hand und musste sich zwingen, nicht wieder aufzulegen. Er ließ es auch noch klingeln, als er schon Schreie und hastige Schritte auf dem Gang hörte, die immer näher kamen, aber er konnte doch nicht auflegen, er musste sie warnen, und als er sich gerade sagte, dass er beim nächsten Klingeln durchdrehen würde, platzten der Wachmann Tommy und die kannibalische Krankenschwester kreischend und sich balgend bei ihm herein, und er versuchte, Tommy zu retten.

Danielle, bitte, dachte er nun im Auto. Bitte sei in Sicherheit.

Wenn er nur ein Handy gehabt hätte.

Ha. Das ist lustig. Ich werde es Danielle erzählen, wenn ich nach Hause komme, sie wird lachen, wir beide werden lachen, aber bitte, Delle, sei in Sicherheit … sei sicher, sei sicher, sei sicher.

»Scheiße!«, brüllte er und schrie sich frustriert die Kehle heiser.

Auf dem Instrumentenbrett hatte die Tachometernadel sich inzwischen bei hundertachtzig Stundenkilometern eingependelt. Marco trat das Gaspedal bis zum Boden durch. Der Audi raste im Slalom über alle Fahrspuren und quetschte sich in die Lücken zwischen langsameren Fahrzeugen. Die Superstition Mountains ragten in der Ferne auf. Sie wirkten verschwommen und unwirklich – wie der Thron eines mythologischen Königs, der Gott einer dem Untergang geweihten Traumlandschaft –, und wenn Marco jemals aus einem Albtraum hatte erwachen wollen, dann war jetzt verdammt noch mal der richtige Zeitpunkt dafür.

Und dann verließ er den Highway und raste zum Gold Canyon, in sein Wohnviertel, seine Straße. Das eiserne Tor vor der Zufahrt brauchte eine halbe Ewigkeit, um sich zu öffnen; er drückte zehnmal auf die Taste der Fernbedienung, als ob er den Abzug eines Schnellfeuergewehrs betätigte, bevor er endlich wieder Gas geben konnte. Der Audi fuhr schon los, obwohl das Tor sich noch nicht ganz geöffnet hatte, und mit einem lauten Knacken wurde der Außenspiegel abgerissen. Die Reifen rollten ratternd über das Kopfsteinpflaster, und der Geruch von verbranntem Öl stieg ihm in die Nase.

Auf dem Wendekreis bremste er abrupt ab.

Danielles Auto war nicht da.

Er schaute blinzelnd auf den leeren Stellplatz, wo sie normalerweise parkte, als hätte er sich vielleicht getäuscht, als wäre ihr Auto doch hier und seine Augen unterlägen einer optischen Täuschung. Aber nein. Das Auto war wirklich nicht da. Es mochte hundert harmlose Erklärungen dafür geben – und doch hatte er plötzlich ein ausgesprochen flaues Gefühl im Magen.

Oh Gott

Und dann rannte er zur Tür, ohne sich noch daran zu erinnern, dass er den Audi vor dem Haus abgestellt hatte. Das Einzige, was er überhaupt noch wahrnahm, war der hektisch klirrende Schlüsselbund in seiner Hand.

Er platzte ins Foyer. »Delle!«

Seine Stimme hallte von den Stuckwänden und der hohen Decke wider.

Keine Antwort.

Er rief noch einmal das Treppenhaus hinauf und rannte ins Wohnzimmer in der bangen Erwartung, ihren verstümmelten Körper auf dem Hartholzboden liegen zu sehen. Aber nichts. Keine zerbrochenen Fensterscheiben, keine Pfützen aus Blut. Das Mobiliar war unversehrt. Es war zur Haustür ausgerichtet, damit das Chi ungehindert fließen konnte; Danielle hatte während ihres ersten Monats im Haus eigens einen Feng-Shui-Berater engagiert. Marco trampelte in einer Aufwallung negativer Emotionen durch den Raum und brüllte ihren Namen.

»Delle!«

Er sah sich im Spiegel im Flur – die Augen schreckgeweitet, Gesicht und Hals mit Tommys blutigen Handabdrücken übersät, das Hemd rot und feucht wie eine Metzgerschürze. Er erschrak vor seinem eigenen Anblick und ging in die Küche. Sie war leer. Die Hintertür geschlossen, die Glasscheibe intakt. Sauberes Geschirr stapelte sich auf einem Handtuch neben der Edelstahlspüle. Die Arbeitsplatte …

Die Arbeitsplatte.

Ein blauer Zettel lag auf der Kücheninsel, exakt in der Mitte des Mosaiks aus orangefarbenen, ockerfarbenen und braunen Kacheln. Eine Nachricht.

Er schnappte sich den Zettel.

Henry, hatte Danielle in ihrer zarten Handschrift darauf geschrieben. Mit purpurfarbener Tinte und leichtem Federstrich.

Ich muss hier raus.

Er runzelte die Stirn und las es noch einmal. Doch er wusste jetzt schon, was diese Worte bedeuten, was diese Nachricht ihm sagen sollte; sie musste sie an jenem Morgen geschrieben haben, als die Welt noch in Ordnung war – und sein erster Impuls war, den Zettel zu zerknüllen und auf den Küchenboden zu werfen, bevor die Nachricht ihn zerstörte, bevor sie ihn zerriss, ihn auf eine grausamere Art und Weise tötete, als irgendein toter Kannibale es je vermocht hätte …

Seine Hände zitterten unkontrollierbar. Das Papier raschelte. Er las die Nachricht:

Henry,

ich muss hier raus. Ich liebe dich – ja, wirklich, aber es wird mir alles zu viel, und ich halte es hier nicht mehr aus. Ich weiß, du wirst sagen, dass zwischen uns wieder alles in Ordnung kommt, aber das wird es eben nicht. Ich kann deine Stimme hören, selbst während ich diese Zeilen schreibe. Wie du zu mir sagst: »Gib uns noch etwas Zeit. Mit der Zeit wird es wieder besser.« Aber du suchst schon wieder nach Ausflüchten. Du suchst doch immer nur nach Ausflüchten, Henry. Ich liebe dich, aber ich hasse dich, wenn du nach Ausflüchten suchst. Das ist nicht fair mir gegenüber, und es ist auch nicht fair Hannah gegenüber.

Du sagst, ich solle uns noch Zeit geben. Doch wann wird sie wieder zu uns zurückkommen? Niemals natürlich. Und ich weiß, dass du, schon während du das liest, nach Ausflüchten suchst. War es dir unangenehm, wenn ich sie erwähnt habe? Das hat dir nicht gefallen, da bin ich mir sicher. Du hast nie über sie sprechen wollen. Aber ich musste über sie sprechen.

Ich kann einfach nicht so sein wie du. Ich habe es versucht, ich versichere dir, ich habe es wirklich versucht. Das Problem ist, ich liebe dich von ganzem Herzen, aber ich glaube, dass ich sie noch mehr liebe, und ich muss mich nun für sie entscheiden, weil du es nicht zulassen wirst, dass sie hier bei uns lebt. Du hast das nie begriffen. Ich habe das Gefühl, dass ich mit ihr gestorben bin, Henry. Das wirst du wahrscheinlich auch nicht gern hören. Aber sie war ein Teil von mir. Wieso habe ich dir das denn nie begreiflich machen können?

Ich muss gehen. Ich weiß nicht, ob es für immer sein wird, aber fürs Erste muss ich hier raus. Es tut mir leid. Wir haben es versucht, und ich weiß auch, dass wir beide unser Bestes gegeben haben, aber wir waren eben nicht stark genug.

Ich möchte aber nicht, dass du dir Sorgen machst. Ich bin bei Trish, falls du

Der Brief ging noch weiter, aber er hörte auf zu lesen. Trish. Ihre Schwester.

Mit einem Schrei stopfte er sich den Zettel in die Tasche, rannte zum Telefon und tippte hektisch auf die Tasten, als ob er eine Bombe entschärfte.

Es klingelte zweimal … dreimal …

Benjamin meldete sich. »Hallo?«, sagte er mit zitternder Stimme und halb im Flüsterton.

»Ben! Ist Danielle da?«

»Henry? Mein Gott! Siehst du auch diesen Scheiß …«

»Danielle!«, schrie Marco und verlor die Beherrschung. »Ist sie bei euch?«

»Was? Nein … Nein. Es sind nur wir beide hier. Trish fragt, ob du …«

Das Telefon knallte auf den mit orangefarbenen Fliesen ausgelegten Boden. Marco rannte durch den Flur ins Foyer und zur Tür hinaus und hechtete in den Audi. Die Räder drehten kreischend durch, als er aufs Gas trat, und das Auto raste über das Kopfsteinpflaster. Zurück in die sterbende Welt.

Er fuhr auf dem Superstition Freeway nach Westen in Richtung Scottsdale. Der Wahnsinn hatte weiter um sich gegriffen, das war offensichtlich; abseits des Highways marschierten Legionen toter Männer und Frauen wie in einer Parade aus der Hölle über die Straßen. Sie hatten ein bösartiges Grinsen auf den aschgrauen Gesichtern. Sie wankten auf steifen Beinen mit durchgedrückten Knien dahin. Totenstarre, diagnostizierte er. Ihre Gesichtsmuskeln und Gliedmaßen zuckten heftig. Vielleicht würden sie gleich hinfallen und nicht mehr aufstehen …?

Reines Wunschdenken. Wenn das nur so einfach wäre.

Er richtete seine volle Aufmerksamkeit auf den Highway und hielt verzweifelt Ausschau nach Danielles blauem Honda. Zweimal sah er sie … falsch, nicht sie, gottverdammt, sondern nur ein ähnliches Auto mit einem anderen Fahrer, der in einen sehr individuellen Tod raste.

In Scottsdale verließ er den Highway und raste an toten Fußgängern vorbei, die sich an jeder gottverdammten Ecke stapelten; Phoenix quoll förmlich über, oder vielleicht brachen überall spontan neue Wellen aus. Als er eine Seitenstraße entlangraste, sah er plötzlich einen wilden Kampf durch die rechte Seitenscheibe – ein Mann auf einem Fahrrad war von einem Rudel der Monster angegriffen worden. Der todgeweihte Mann lag auf dem Boden, den Fahrradsattel zwischen den Beinen, und trat noch immer panisch in die Pedale, als die Toten über ihn herfielen, ihm das Hemd vom Leib rissen und ihm die Haut in feuchten, gummiartigen Fetzen abschälten.

Marcos Fuß streifte das Bremspedal. Dann trat er wieder aufs Gas. Es gab nichts, was er tun konnte. Sein Gesicht juckte wie verrückt vom Schweiß und dem verkrusteten Blut. Nichts … Konzentriere dich

Ungefähr zehn Kilometer von Trishs Haus entfernt wurde er plötzlich kreidebleich.

Danielles Auto.

Er trat so fest auf die Bremse, dass die Räder blockierten und der Audi schlingernd zum Stehen kam. Er begriff instinktiv, dass die folgenden Ereignisse – diese nächsten, entscheidenden Sekunden – ihn tausendmal in seinen Albträumen verfolgen würden, und im tiefsten Inneren spürte er, wie sein Unterbewusstsein sich schmerzerfüllt aufbäumte. Benommen stieg er aus dem Auto aus und wankte auf den Honda zu. Er war wie in Trance. Der Asphalt saugte wie Schlick an den Füßen – das alles war für immer in sein Muskelgedächtnis eingebrannt. Die Ohren summten, als ob seine Angst hörbar wäre.

Nein.

Ihr Auto stand halb auf dem Gehweg, die Motorhaube an einem gesplitterten Telegrafenmast eingedrückt, dieses gottverdammte blöde YINYANG-Nummernschild …

Nein nein nein.

Blutverschmierte braune Fingerabdrücke an den offenen Türen, der Motor war noch immer heiß und zischte …

Nein nein nein, verdammt verdammt verdammt.

Marco warf einen Blick auf den schmutzigen Fahrersitz. Er war mit Eingeweiden bedeckt, zerrissenen Darmschlingen, einer abgebissenen halben Leber. Auf den Fußmatten stand das Blut zentimeterhoch. Aber keine Danielle.

Delle

Eine Spur aus roten Fußabdrücken führte aus dem Auto heraus, zog sich quer über den Gehweg und verschwand im Unterholz.

In der öden Wüste.

Sie hatte ihn verlassen.

12.6

Im Gefängnislabor hustete und spuckte Marco; er hatte noch immer den säuerlichen Nachgeschmack von Erbrochenem im Mund. Dann sog er tief die Luft ein und wurde durch die Zeit wieder in die Gegenwart katapultiert. Sein Blick hatte sich in den letzten paar Sekunden eingetrübt, als hätte er einen Grauschleier vor Augen gehabt, und plötzlich fluteten die Farben zurück, und der Raum erwachte in quälender Klarheit zu neuem Leben. Da war Wu: Er stand steif neben dem Operationstisch, der linke Arm war mit einem braun-roten Verband umwickelt, und seine grünen Augen huschten zwischen Marco und dem Impfstoff auf dem Wandregal hin und her – als ob er zwei Optionen prüfte und jede einzelne sorgfältig in den verborgenen Tiefen seines Bewusstseins abwog.

Und da war Ballard, der noch immer vor dem medizinischen Kühlschrank kauerte. Er flüsterte mit dieser nervigen leisen Stimme vor sich hin, in der genuschelten Geheimsprache, an die Marco sich aus seinen letzten Tagen im Krankenhaus erinnerte. Roger Ballard – der intelligenteste Mensch, dem Marco je begegnet war und der nun auf diese plappernde, verrückte, erbärmliche Gestalt reduziert worden war.

Es tut mir leid, Roger.

Der Gedanke wurde in Marcos Bewusstsein aufgedeckt wie ein Karte bei einem erstaunlichen und eigentlich unmöglichen Zaubertrick. Doch er war unbestreitbar da. Es tut mir leid. Es tut mir leid, dass das geschehen ist.

Für mich, für dich. Für Hannah. Für Danielle. Für uns alle.

Vier miteinander verknüpfte Leben – eine Kettenreaktion, ausgelöst durch ein und denselben Katalysator, ein einziger Funke, der vier Infernos entfacht hatte. Und Hannahs Geburtsasphyxie war die schreckliche Bürde, die ihnen allen auferlegt worden war. Sie waren wie Packtiere, jeder von ihnen – überladen, überanstrengt. Und obwohl sie sich tapfer geschlagen hatten, waren sie dann doch zusammengebrochen mit hervorquellenden Augen und heraushängenden Zungen in den Staub gesunken. Hannah war als Erste gefallen. Dann Marco und Danielle.

Und jetzt Roger. Sie hatten alle ihr Bestes gegeben – und waren gescheitert.

Wie er Roger nun sah, so gebrochen und elend, erlebte Marco plötzlich einen emotionalen Dammbruch. Er wurde von einer Woge der Empathie mitgerissen, und seine Liebe zu Hannah und Danielle blähte sich wie eine durch Benzin genährte Flamme zu einem Feuerball auf, der sich immer weiter ausdehnte, bis er schließlich auch Ballard einhüllte. Er liebte Roger, liebte ihn, weil er litt, weil er sich selbst zerstörte, weil er in dieser beschissenen Hölle, in die er sich selbst verbannt hatte, um Hannah trauerte. Eine Spiegelkabinett-Version von mir. Mit diesen Worten hatte Marco Roger einmal beschrieben, und es stimmte auch. Roger war wie ein Fortsatz von ihm – ein trauriges, verrücktes und besessenes Zerrbild, das unbedingt wissen wollte, warum das schiefgegangen war.

Er konnte Roger das verzeihen.

»Roger«, sagte Marco mit heiserer Stimme. »Roger, wir müssen von hier verschwinden.«

Doch Ballard reagierte nicht. Im Kühlschrank trat die Leiche wieder gegen die Tür; Ballard tätschelte das Glas wie ein Vater, der sein Kind beruhigte.

Marco warf Wu einen Blick zu und runzelte die Stirn. Der Sergeant schien irgendwie verändert. Sein Gesicht wirkte … härter, die Wangenknochen traten noch stärker hervor, und das Kinn war nach vorne gereckt. Die Temperatur in seinen Augen war gefallen – sie waren wieder so kalt wie an jenem ersten Morgen in Maricopa.

Davon unbeeindruckt richtete Marco die Aufmerksamkeit wieder auf Ballard. »Roger.«

Ballard ignorierte ihn.

Marco ging langsam auf ihn zu und stellte sich neben seinen alten Freund. »Roger, du hast hier großartige Arbeit geleistet«, sagte er mit ruhiger und aufmunternder Stimme.

Ballards Murmeln erstarb mitten im Wort, und er schien aus einem tiefen Keller in seinem Inneren emporzusteigen und mit unsicherem Gang und blinzelnd wieder ans Tageslicht zu kommen. Er setzte die Brille ab und putzte die Gläser mit der Krawatte. Dann sah er Marco an. Seine tief in den Höhlen liegenden Augen waren leicht unfokussiert. »Sauerstoff, Henry«, sagte er mit schwacher Stimme. »Das Problem ist Sauer…«

»Ich weiß, Roger. Du wirst das auch lösen, aber nicht hier. Wir müssen gehen.« Nervös warf Marco einen Blick auf den flackernden Überwachungsbildschirm. Im Gang zur Krankenstation probten die Leichen noch immer den Aufstand; die Leiber stauten sich dicht gedrängt an der Gittertür. Ihm sank der Mut. Es würde schwierig werden, von hier zu entkommen. »Gibt es noch einen anderen Weg?«, fragte er Ballard.

»Henry.« Ballards schiefe Lippe zuckte. »Hast du mir verziehen?«

Marco verspannte sich überrascht, hatte Angst vor der Antwort. Und dann glühten seine Wangen.

»Ja«, sagte er. Das Wort entfuhr ihm wie ein wunderschöner Luftschweif – ein Atemhauch, von dem er plötzlich spürte, dass er ihn Minuten, Monate, Jahre zurückgehalten hatte.

Ballards angespanntes Gesicht wurde weich. Er nickte erleichtert und setzte sich die Brille wieder auf die Nase. »Das freut mich«, sagte er. »Fortschritt, Henry, ja?«

Marco räusperte sich. »Fortschritt.«

Die Männer sahen sich versöhnlich an.

»Also«, sagte Marco. »Kommst du, Roger?«

Ballard schloss die Augen und atmete tief ein; Marco vermochte fast in sein Bewusstsein zu sehen: ein bunter Reigen aus blauem Himmel und grünem Gras und weitem Land. Das Leben außerhalb der Folterkammer, die er für sich selbst eingerichtet hatte. Und dann war Roger plötzlich wieder hellwach.

»Ja«, sagte er dann. »Ich werde mit dir kommen. Das werde ich. Wenn es dir nichts ausmacht, hier zu warten, du und der Sergeant, hole ich noch meine Unterlagen und natürlich den Impfstoff …«

WUSCH.

Ein silberner Schemen schoss von rechts durch Marcos Blickfeld. So schnell, dass er keine Zeit hatte zu reagieren, keine Zeit, das Ding abzufangen oder abzulenken. Er konnte nur zusammenzucken, als Ballards Kehle aufriss und in zwei gummiartige rosige Lappen gespalten wurde – einer oben, einer unten. Einen Moment lang grinste die Wunde grotesk wie der Mund eines Mutanten, dann stieß Ballard einen gurgelnden Laut aus und umklammerte seinen Hals, während ein unheimlicher roter Wasserfall kaskadenartig über seine dürren Finger strömte. Marco riss verblüfft die Augen auf, und während er die Geschehnisse noch verarbeitete, stieg Panik in ihm auf.

Nein

Ballard verdrehte die Augen in den knochigen Höhlen, und seine Lippen zuckten. Er sah aus wie ein sterbender Fisch, als der Mund sich mit leisen Schmatzgeräuschen öffnete und schloss. Er wollte etwas sagen – wollte Marco vielleicht noch eine letzte wissenschaftliche Erkenntnis mit auf den Weg geben, eine ultimative Entdeckung, die er durch die Linse seines Todes sah –, doch stattdessen quoll nur eine klebrige rosige Blase aus ihm heraus. Die Pupillen verengten sich, und er ging zuckend zu Boden; aus der Schlagader spritzte Blut, und sein Körper glich einer bebenden Insel in einem sich ausbreitenden roten Meer.

Scheiße nein!

Marco konnte sich nicht bewegen – er war durch den Schock wie gelähmt, seine Beine ignorierten die Schreie des Gehirns –, doch dann wurde die Blockade auf einmal aufgehoben, und er taumelte entsetzt zurück; er prallte gegen den Rand des Operationstisches und rutschte aus. Er ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, aber nicht schnell genug; mit einem überraschten Schrei landete er auf dem Hintern, die M9 fiel ihm aus der Hand und schlitterte rotierend über die Fliesen.

Das darf doch nicht

Vielleicht zwei Meter entfernt stand Wu über Ballards reglosem Körper. In seiner Hand schimmerte das sichelförmige Messer; die Klinge hatte einen roten Rand. Marco sah erstaunt, wie sich an der Spitze ein roter Tropfen sammelte und wie eine grausame Träne auf den weißen Boden fiel.

»Wu«, sagte er atemlos. »Nein …«

Wu bedachte ihn mit einem gemessenen Blick, dann bückte er sich und hob die M9 auf, die dicht vor seinen Füßen lag.

»Es tut mir leid, Doktor«, sagte er. Das klang beinahe so, als meinte er es wirklich ernst. Er steckte das Messer in die Scheide und griff mit der linken Hand in seine Weste. Dann nahm er die Ampulle mit dem Gummistopfen aus dem Regal. Der Impfstoff. Wu hielt ihn in die Höhe. »Ich habe, weshalb ich hergekommen bin.«

Weshalb bist du hergekommen? Marco wurde blass und verspürte wieder Übelkeit. Und dann begriff er endlich.

Natürlich … ich bin ein verdammter Idiot.

Er war viel zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt gewesen, um das kommen zu sehen – auch wenn es noch so offensichtlich gewesen war. Verdammt, Wu hatte ihn im Zug sogar noch gewarnt – dass der Impfstoff der Preis sei, der Joker in diesem Spiel zwischen Nationen. Roger Ballard? Nur ein gesichtsloser kleiner Bauer in diesem Schachspiel.

Genauso wie ich, wurde Marco sich bewusst. Doch sein Zorn überwog die Angst.

Er verspürte ein flaues Gefühl im Magen. »Sie hätten ihn nicht töten müssen.«

Wu starrte ihn nur an. »Töten ist mein Handwerk, Doktor. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.«

»Er hätte weiterarbeiten und das Heilmittel finden können.«

»Heilmittel?«, sagte Wu spöttisch. »Er war wahnsinnig. Das Gehirn war schon beeinträchtigt – Sie haben es doch selbst gesehen. Wir haben auch in China hervorragende Wissenschaftler. Mehr als den Impfstoff brauchen sie nicht.«

Nach Wus Worten trat eine Totenstille im Labor ein, die eine ganze Weile anhielt.

Und dann hallte ein Wort in Marcos Bewusstsein wider. China.

Er runzelte die Stirn.

China

Wu wusste Marcos Gesichtsausdruck richtig zu deuten und antwortete ihm mit einem kaum merklichen Kopfnicken. Mit dieser minimalistischen Kommunikation gaben die Männer sich zu verstehen, dass Wus Geheimnis aufgeflogen war.

»Scheiße«, stieß Marco hervor, als die Erkenntnis ihn schließlich mit voller Wucht traf. Und dann wurde er von Panik überwältigt, kratzte wie von Sinnen über die Fliesen, rutschte mit den Händen weg und kam schließlich auf die Knie …

… als der rote Laserpunkt der M9 auf seiner Brust zentriert wurde, dort verharrte und zitterte wie ein winziges rundes Herz. Er erstarrte wie in Trance und sah Wu hilflos an. Das kalte schwarze Auge der Waffe in der Hand des Sergeants erwiderte spöttisch seinen Blick.

»Unten bleiben«, sagte Wu.

»Sie sind kein Amerikaner.«

»Nein«, bestätigte Wu. »Genauso wenig wie Sie, Doktor. Wie Sie sich vielleicht erinnern, hat Ihr Land Sie ausgebürgert.«

»Schwachsinn«, sagte Marco schroff. »Dann sind Sie also ein gottverdammter Spion?«

Wu sagte nichts.

»Diese ganzen Hackerangriffe«, sagte Marco. »Da steckt wohl China dahinter. Und was jetzt? Wollen Sie, dass ich die Seiten wechsele, um Osbourne eins auszuwischen?«

Wu schüttelte den Kopf. »Wohl kaum, Doktor«, sagte er mit schmalen, zusammengepressten Lippen. »Es ist schon viel zu spät, um noch solche personellen Rochaden durchzuführen. Zumal ich Ihre Hilfe auch nicht mehr benötige.«

Er hielt nachdenklich inne. »Sie waren nützlich, aber ich muss …« Er verstummte, und der Lauf der M9 schob sich etwas vor, als wollte er den Gedanken zu Ende bringen.

»Sie haben die ganze Zeit den Plan verfolgt, mich zu töten«, sagte Marco, dem nun alles klar wurde.

»Ja«, sagte Wu. Eine knappe Bestätigung.

»Das AAE-Team, das Osbourne geschickt hat. Haben Sie die Leute getötet?«

»Ja.«

»Mein Gott … Ich wusste schon am ersten Tag, dass Sie ein Arschloch sind. Ich hätte auf meine innere Stimme hören sollen.«

Wus Gesicht verdüsterte sich. »Genug geredet, Doktor. Es wird Zeit …«

Er wurde von einem Geräusch hinter sich abgelenkt und zuckte zusammen. Ballard war noch nicht tot. Er war trotz seiner schweren Verwundungen wieder aufgestanden, stützte sich an der Arbeitsplatte ab und schleppte seinen zerstörten Körper zur Tür – ein vergeblicher Fluchtversuch, dachte Marco. Eine Spur aus verschmiertem Blut markierte Ballards Fortschritt auf der Edelstahlplatte des Arbeitstisches. Sein verkrüppelter Fuß schleifte über die Fliesen, und ein leises gurgelndes Geräusch drang aus seiner aufgeschlitzten Kehle, während er sich vorwärtsquälte.

Er erreichte die Stelle, wo der Arbeitstisch im rechten Winkel abknickte, und mit neuerlichem Entsetzen wurde Marco sich bewusst, was Roger wirklich vorhatte.

Der Schaltkasten neben dem Bildschirm. Der weiße Kippschalter.

Gütiger Gott.

Das ist der gottverdammte Türöffner.

Der gleiche Gedanke kam Wu im selben Moment. Seine Augen weiteten sich, und er wirbelte mit der M9 im Anschlag herum und projizierte den roten Punkt auf Rogers Rücken …

… und als der Schuss sich löste und ein Loch in die Rückseite von Rogers Hemd gerissen wurde und das Gewebe sich blutrot färbte …

… und als Marco sich schreien hörte: »Nein, Roger!« …

… schlug Ballard mit der flachen Hand auf den Schaltkasten und legte den Schalter mit dem letzten Rest von Energie, die noch in seinen Muskeln steckte, um. Weit entfernt in den Korridoren, an der Sicherheitsschleuse, die zur Krankenstation führte, ertönte das durchdringende Geräusch des Summers.

ZRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRR.

Das Geräusch ging Marco durch Mark und Bein. Er schlotterte förmlich. An der Sicherheitskonsole krümmte Ballard sich mit einem letzten Schmerzensschrei und fiel zu Boden. Nun war er definitiv tot, doch Marco hatte jetzt andere Sorgen. Denn auf dem Überwachungsbildschirm zeichnete sich ein verdammt ernstes Problem ab; ein Albtraum, der aus seinem Unterbewusstsein direkt auf den Schwarz-Weiß-Bildschirm projiziert und Wirklichkeit wurde.

Die Leichen hatten die Sicherheitstür geöffnet und strömten in Hundertschaften durch die Schleuse. Ein endloser Strom toter blutrünstiger Häftlinge wälzte sich der Krankenstation entgegen.

Er hörte schon ihr Geheul in den Korridoren widerhallen.

Sie wollten ihn sich holen.

Fassungslos sah er Wu in die Augen.

Der Sergeant – nein, er war ja gar kein Sergeant, gehörte auch nicht zum militärischen Nachrichtendienst, sondern er war ein nichtsnutziger Hurensohn von Spion – erwiderte seinen Blick mit einem betretenen Ausdruck im Gesicht. »Das war dumm«, murmelte er, und Marco hatte das Gefühl, dass Wu vielleicht sich selbst damit meinte. Schweiß tropfte aus dem verfilzten schwarzen Haar des Mannes.

»Wu«, sagte Marco eindringlich. Die Schreie der Toten wurden immer lauter. »Wir müssen von hier verschwinden.«

Wu stieß ein Lachen aus – ein seltsames Geräusch, das belustigt und gequält zugleich klang. »Ich werde ganz bestimmt verschwinden, Doktor.« Er richtete die Pistole wieder auf Marco. Er krümmte den Finger um den Abzug.

»Aber ohne Sie«, sagte er.

12.7

Marco hatte den Eindruck, dass der rote Laserpunkt auf seiner Brust zur Größe eines Basketballs anschwoll. Er spannte in Erwartung des stechenden Schmerzes, den er verspüren würde, wenn die Kugel das Brustbein zerschmetterte und ihm das Herz zerfetzte, die Brustmuskulatur an. Voller Verzweiflung versuchte er, die Entfernung zu Wu abzuschätzen, und überlegte, wie viele Schritte er bräuchte, um ihn zu erreichen. Es waren mindestens zweieinhalb Meter – zu viel, um ihn anzuspringen und ihm die Waffe zu entreißen. Er würde mitten im Sprung erschossen werden.

Wu beherrschte die Mitte des Labors. Er war eine imposante, muskulöse Erscheinung. Durch den blutgetränkten Verband um den mächtigen linken Bizeps wirkte er sogar noch stärker, geradezu unbezwingbar. Er hielt die M9 in festem Griff – mit eindeutiger Tötungsabsicht. Sein Gesichtsausdruck war völlig leer, und er schien ein ganz anderer Mensch zu sein, wenn man bedachte, welche Gefühle er in der Kapelle in Hemet gezeigt hatte.

Wir waren damals … fast schon Freunde, dachte Marco verzagt.

Doch nun war da nichts mehr – nichts mehr zwischen ihnen außer einem mechanischen Starren. Der Verrat hätte Marco eigentlich ärgern müssen – er hätte sich empören und vom Wunsch beseelt sein müssen, Wu den Schädel einzuschlagen und sein hinterlistiges Hirn zu Mus zu verarbeiten. Und doch war das alles so … logisch, dachte er. Es hatte überhaupt nichts mit ihm zu tun. Wu tat einfach nur das, wozu er ausgebildet worden war.

Ich bin schon tot, sagte Marco sich. Er nahm diesen Gedanken mit einer eigentümlichen Gelassenheit hin, beinahe schicksalergeben – als wäre der Tod eine Wahl, die er nicht selbst treffen konnte, und er wäre irgendwie froh, dass nach diesem ganzen Elend ein anderer diese Entscheidung für ihn traf …

Schwachsinn, schalt er sich und wurde wieder klar im Kopf. Fast hätte er sich selbst aufgegeben, aber Scheiße, fick dich, Wu, ich dachte, wir wären ein Team … und fick dich, Osbourne und fick dich Gott

»Geh du nicht sanft in jene Gute Nacht« und dieser ganze Scheiß, du kannst mich zwar töten, aber ich muss das nicht akzeptieren, ich muss nicht so tun, als ob das in Ordnung wäre

… und endlich überkam ihn der Zorn, den er so dringend brauchte – spät, aber besser spät als nie …

Und du, Danielle, fick dich auch. Es tut mir leid, es tut mir leid, Delle, aber fick dich auch, ich hätte dich gebraucht.

… und er entflammte in heißem Zorn, und Tränen brannten wie loderndes Benzin auf den Wangen und am Kinn.

»Sie haben mich gewarnt, Wu«, sagte er mit trockenem Mund. Ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen. »Sie sind nichts anderes als ein Killer, nicht wahr? Nun machen Sie schon und beweisen Sie es.«

Wu zögerte. Ganz kurz, nur einen Moment lang, zuckten seine Mundwinkel, und seine Augen flackerten in einem Ausdruck der Trauer. Er blinzelte – sein Finger krümmte sich um den Abzug, der Lauf schwankte –, er blinzelte noch einmal, und seine Augen waren wieder so kalt wie Smaragde.

»Zhongguo«, sagte er fast flüsternd wie ein Geist. »Für China.«

Die Waffe stabilisierte sich, und Marco rüstete sich für den Schuss. Er konnte das Ganze noch immer nicht glauben. Sein Blick begegnete Wus mit einer intensiven, durchdringenden Endgültigkeit – als könnte er im letzten Moment ins Innere des Mannes sehen und ihn enträtseln, den wahren Wu kennenlernen, bevor die Pistole losging und die Lichter ausgingen …

Wus Finger verharrte in seiner momentanen Position; der Augenblick zog sich quälend in die Länge, und Marco stockte der Atem.

Und dann senkte die Waffe sich. Der rote Punkt berührte den Boden.

Wu schüttelte langsam und bedächtig den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Das werde ich nicht tun.«

Zweieinhalb Meter von ihm entfernt wartete Marco in perplexem Schweigen. Er kniete wie angewurzelt da – hatte Angst, sich zu bewegen, zu atmen, ein Wort zu sagen.

Das ist ein Trick. Ein Trick – ein beschissener gemeiner Trick.

Wu drehte den Kopf, ohne Marco anzusehen. »Ich habe, was ich brauche, Doktor. Peking irrt sich. Mit Ihrem Tod wäre überhaupt nichts gewonnen.« Er klang angespannt. »Der Impfstoff gehört mir. Aber Sie können gehen. Bitte.«

Aus dem Hauptgang ertönte ein schier unmenschliches Geheul, und Leichen strömten am Anmeldeschalter vorbei. Zögernd riskierte Marco es, etwas zu sagen: »Gehen …?«

»Nach Hause«, sagte Wu. Er hob den Kopf und nickte mit resolut gerecktem Kinn. Schließlich sah er Marco doch an; seine Augen waren nun sanft wie grünes Milchglas wie die Kapellenfenster in Hemet, und in diesem Moment glaubte Marco ihm. Wu straffte sich.

»China schuldet – ich schulde Ihnen das«, bekräftigte er und nickte noch einmal, als träfe er mit sich selbst eine Abmachung. Dabei bemerkte er nicht, dass ein Schemen mit steifen Gliedern sich hinter ihm vom Boden erhoben hatte und die Arme nach ihm ausstreckte …

Marcos Augen weiteten sich entsetzt.

»Wu!«, schrie er …

… als Roger Ballards auferstandene Leiche Wu von hinten ansprang. Ihr Gesicht war verzerrt und kalkweiß, sie grub Wu die Zähne ins Genick und biss kraftvoll zu, und Marco sah hilflos mit an, wie der Nackenmuskel zerfetzt wurde und eine Fontäne aus Blut aufspritzte …

… dann brach ein infernalischer Lärm los, als Wu einen schrillen Schrei ausstieß und die M9 abfeuerte; der ungezielte Schuss zerschmetterte eine Ampulle auf dem Gestell hinter Marco, und das ganze Labor hallte von dem ohrenbetäubenden Echo wider. Marco hörte sich auch schreien, überwältigt von seinen eigenen Sinnen und von der Tatsache, dass er noch lebte …

… und er sah Wu rückwärts umkippen; Ballards blutige, zähnefletschende und knurrende Leiche warf ihn auf den Boden. Die Ampulle mit dem Impfstoff fiel Wu aus der linken Hand und rollte klirrend und sich drehend unter den Operationstisch. Der Sergeant schrie schmerzerfüllt auf. Er lag auf dem unverletzten Arm, sodass er sich nicht wehren konnte, als die Leiche wieder zubiss und einen glitzernden, mundgroßen Krater unter seinem Kinn aufriss.

»Gottverdammt!«, brüllte Wu und befreite mit einem Ruck den Arm.

Und dann ertönte der zweite Donnerschlag, als Wu Ballard die M9 unter die krumme Lippe rammte und den Abzug betätigte. Ballards Kopf explodierte wie ein Feuerwerk, wie ein roter Sternenausbruch aus Blut und Gehirnmasse. Splitter von gelblich verfärbten Zähnen wirbelten über die Fliesen auf Marco zu. Instinktiv riss er den Fuß weg und zog das Knie an die Brust. Ihm wurde übel.

Ballards Körper fiel auf Wu, und ihr Blut verschmolz zu einer zähen Flüssigkeit.

Roger Ballard war zurückgegeben worden.

»Gottverdammt!«, kreischte Wu erneut. Rote Speicheltropfen flogen aus seinem Mund. Er schob Ballard von sich herunter und setzte sich mühsam auf. Er presste die Hände auf den aufgerissenen Nacken, aber die Wunde war zu groß, um die Blutung zu stoppen. Das Blut floss ihm durch die Finger und tropfte am Unterarm entlang zum Ellbogen. Er biss sich fest auf die Lippe und atmete schwer.

Marco kam taumelnd auf die Beine. Es hatte ihm die Sprache verschlagen. Er stieß schon wieder gegen den Operationstisch und ging um ihn herum. Seine Gedanken überschlugen sich.

Roger ist auferstanden.

Der Impfstoff hat nicht gewirkt – oder vielleicht … vielleicht hat Roger

Und dann verstand er. Der Impfstoff hatte sehr wohl gewirkt, aber er war eben kein Heilmittel; auch wenn Roger das gesagt hatte. Der Impfstoff schützte die Menschen, die noch nicht infiziert worden waren. Aber Roger hatte sich zu spät geimpft, hatte viel zu lange gewartet, nachdem er gebissen worden war, sodass die Krankheit ihn schon befallen hatte. Die Auferstehung war die ganze verdammte Zeit in ihm gewesen, in seinem Blut – hatte geschlafen und geduldig gewartet, denn sie hatte das Gewebe nicht zu überwältigen vermocht, solange er noch am Leben war.

Doch als er dann tot war, hatte sie die Kontrolle erlangt. Sich genommen, was sie wollte …

Die gläsernen Ampullen klirrten hinter Marcos Rücken, als er sich gegen die Wand presste. Er blickte Wu über das Labor hinweg in die Augen. Die Beine des Sergeants zitterten und verursachten ein schwappendes Geräusch in der Blutpfütze. Die Finger beider Hände hatten sich zu Klauen verformt, weil die Muskulatur sich verkrampft hatte. Die M9, die er vorhin hatte fallen lassen, lag nutzlos neben dem rechten Knie auf dem Boden. Er lehnte mit schlaff baumelnden Armen am Arbeitstisch. Seine Wangen waren kreidebleich, und er wirkte nun klein und wie eine Puppe. Die Bisswunden hatten sich schon purpurn verfärbt, was auf den Ausbruch der Krankheit hindeutete, und die Haut an den Wundrändern war spröde wie Pergament. Er lächelte Marco wissend an.

»Ich war unvorsichtig«, sagte er und betonte das Wort mit bitterer Selbstkritik.

Gequälte Schreie hallten im Korridor vor dem Labor wider – sie waren nun schon sehr nah.

»Wie zornige Hornissen«, bemerkte Wu. Seine Stimme zitterte.

Auf dem Bildschirm war zu sehen, dass die Toten die Krankenstation gestürmt hatten. Der Monitor wurde von tausend verrottenden Kannibalen ausgefüllt, die sich in den Korridoren drängten. Sie waren noch etwa fünfzehn Meter vom Labor entfernt, vielleicht auch weniger. Voller Entsetzen warf Marco einen Blick auf den Eingang – er wusste, dass in wenigen Sekunden schwankende Leiber durch die Tür fluten würden. Verweste Gesichter, klauenartige Hände zum Herausreißen von Fleisch und gnadenlos zuschnappende Kiefer.

Er ging einen Schritt auf Wu zu und blieb dann stehen. Unmöglich.

Mit ihm würde er nie lebend hier rauskommen. Wu wurde gebissen und ist schon so gut wie tot … Aber vielleicht würde der Impfstoff helfen? Scheiße!

Die Leichen waren nur noch etwa drei Meter von der Tür entfernt.

»Doktor.« Wus Stimme drang ihm an die Ohren und richtete ihn innerlich auf. Marco drehte sich zu dem gefallenen Mann um.

»Sie sollten jetzt ganz schnell verschwinden«, empfahl Wu ihm.

Der Spruch war wie ein Segen, wie eine Erlösung. Schlagartig hatten sich alle Zweifel zerstreut; beide Männer wussten, was sie zu tun hatten. Marco nickte dankbar. »Es tut mir leid«, murmelte er und rannte mit grimmigem Fatalismus zum Eingang – und dann schrie sein verbliebener Verstand eindringlich auf, und er machte kehrt und lief nach rechts. Er bückte sich und hob die gläserne Ampulle auf, die unter dem Operationstisch lag.

Der Impfstoff.

Komm schon, beeil dich, du Arschloch.

Er steckte das Fläschchen in die Westentasche, stützte sich wie ein Sprinter an der Startlinie mit der Hand auf dem Boden ab und schnappte sich noch ein erbsengroßes Stück von Roger Ballards schwammigem, ausgetretenem Gehirn. Das steckte er sich auch noch in die Tasche.

Als Beweis.

Roger hatte keinen Ehering – bring den Schmuck zurück, und niemand bezweifelt, dass du den Auftrag erledigt hast –, doch dafür sollte Osbourne seine gottverdammte DNA-Probe bekommen.

Das Stöhnen der Toten im Korridor hallte aus nächster Nähe wider. Sie würden nun jeden Moment auftauchen; ihre Schatten huschten schon über die Wände. Die Zeit wurde knapp. Die Leichen waren da.

»Laufen Sie«, sagte Wu eindringlich und spuckte Blut.

Marco tat wie geheißen und rannte zur Tür. Da platzte ein einäugiger Häftling herein, fletschte die Zähne und griff nach ihm; Marco duckte sich und schlüpfte unter dem Arm der Leiche hindurch. Ein eiskalter Daumen streifte seine Wange, als er stolperte und im Korridor auf den Hintern fiel. Scheiße! Leichen in Overalls blockierten den Korridor und umzingelten ihn. Er rutschte zur anderen Wand hinüber, wobei er den Kopf mit den Armen schützte, um die Tritte ihrer blutverschmierten Stiefel abzuwehren. Er sackte an der Wand zusammen und hustete. Sein plötzliches Erscheinen auf dem Gang hatte die toten Männer überrascht – der einzige Grund, weshalb er nicht schon tot war –, doch die Verwirrung würde nicht mehr lange anhalten. In wenigen Augenblicken würden sie über ihn herfallen wie ein Schwarm wahnsinniger orangefarbener Vögel, die einen Wurm vom Boden aufpickten.

Er musste etwas unternehmen.

Er trat heftig aus und rutschte dadurch nach rechts, weg von den wahnsinnigen Leichen, die den Gang entlangstolperten, und dann rollte er sich herum und warf mitten in der Bewegung noch einen letzten schnellen Blick ins Labor. Rogers geschundener Körper lag auf dem Boden – ein hässlicher Anblick –, und Wu lehnte benommen und schwach an einem Schrank. Er verfolgte Marcos unbeholfene Akrobatik mit einem belustigten Grinsen wie ein Kind im Zirkus.

Ihre Blicke trafen sich ein letztes Mal, und Marco verspürte plötzlich ein starkes Schuldgefühl. Aus irgendeinem irrationalen Grund wünschte er sich, dass er sich richtig von Wu verabschiedet und sich bei ihm bedankt hätte – so verrückt es auch schien, ihm dafür zu danken, dass er ihn auf dieser Wahnsinnstour begleitet hatte …

… und dann rollte er an der Tür vorbei, und Wu war verschwunden.

Marco erhob sich mühsam und musste aufpassen, dass er nicht schon wieder ausrutschte, denn seine Stiefel waren glitschig durch das gerinnende Blut. Ungefähr drei Meter vor den vorrückenden Leichen erlangte er das Gleichgewicht zurück. Die Front der Aufständischen wälzte sich in seine Richtung und folgte dem sich bewegenden Ziel – frisches Fleisch, das sie erbeuten und verzehren wollten. Marco stellte grimmig fest, dass die Flut der Toten nun auch ins Labor schwappte. Leichen mit leerem Blick marschierten durch die Tür und schwärmten im Raum aus, in dem der wehrlose Wu lag.

Auf Wiedersehen, Wu.

Marco rannte keuchend weiter. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, sein Körper war ein einziger Quell des Schmerzes. Er stolperte, stieß heftig mit der Schulter gegen eine Weißwandtafel und verschmierte dabei irgendwelche Zahlen, die mit schwarzem Stift darauf gekritzelt waren. Dann trat er wieder in die Mitte des Ganges und lief weiter.

Die Beine wurden mit jedem Schritt schwerer. Im Geiste zählte er die Sekunden, und alle Geräusche waren aus seinem Bewusstsein ausgeblendet, eine erwartungsvolle Stille, als wäre der Stift aus einer Handgranate gezogen worden.

Und dann erfolgte die Detonation – ein schrilles Kreischen, das einem durch Mark und Bein ging, ertönte im Labor und verfolgte ihn den Gang entlang. Eine Schockwelle, der er unmöglich davonzulaufen vermochte.

Auf Wiedersehen, Wu, sagte er sich wieder.

Er taumelte erschöpft vorwärts, ein Dutzend Leichen dicht auf den Fersen.

Er hatte keine Ahnung, wohin er überhaupt lief.

Doch er hoffte – betete –, dass dieser Korridor nicht wieder eine Sackgasse war.

12.8

Während das Leben aus ihm entwich, sah Wu Henry Marco verschwinden. Der Amerikaner stürzte sich kaltblütig vor den toten Mob, entging dem Ansturm nur um Haaresbreite und verschwand dann den Gang entlang. Er würde überleben oder anderswo im Gefängnis sterben. Er wird leben, dachte Wu. Er ist stark.

Starke Überlebensinstinkte. Seine Informationen waren richtig gewesen.

Als der Eingang des Labors von Leichen verdunkelt wurde und sie wie ein Exekutionskommando kamen, um ihn zu holen, lachte Wu laut auf. Die plötzliche warme Regung überraschte ihn – er hatte schon seit Monaten, vielleicht seit Jahren nicht mehr gelacht –, und er fragte sich, was das wohl zu bedeuten hatte. Diese gute Laune, die ihn so plötzlich überkommen hatte und die seine Angst besiegte. Und dann verstand er.

Bao Zhi

Sein Onkel.

Bao Zhi, der es immer geschafft hatte, dass Wu sich als Junge vor Lachen auf dem Boden rollte. Bao Zhi, der Meister blöder Witze und beliebter Gutenachtgeschichten, die er im Kerzenschein erzählte, war hier – hier, aber unsichtbar. Als Geist, der Wu tröstend an der Hand nahm.

Ja. Bao Zhi. Wu spürte, dass sich die eisenharten Muskeln in seinen Armen entspannten. Die Sicht verschwamm; und er verspürte einen kühlen Hauch auf der Haut, als das Blut aus der Wunde im Nacken quoll wie Rauch aus einem Schornstein. Die Körperfunktionen wurden heruntergefahren, und sein Leib kühlte auf Raumtemperatur ab.

Tote Häftlinge schlurften durch die Tür, zwängten sich zu zweit oder zu dritt hindurch und stießen mit den Schultern aneinander. Ein Latino führte den Mob an. Sein Gesicht war halb gehäutet, und der Mund stand offen. Ein einziger Goldzahn glänzte in einer Höhle aus schwarzem Zahnfleisch und braunen Zahnstümpfen.

Schmerz wühlte in jeder Pore von Wus Haut, und er zwang sich, ihn zu akzeptieren – ihn zu einem Teil von sich zu machen, denn der Schmerz war alles, was er noch hatte, und wenn er ihn besaß, brauchte er ihn nicht zu fürchten. Schmerz. Er würde sterben. Er biss sich auf die Lippe, um ihn zu unterdrücken, und das schmerzte auch.

»Shūshu«, stöhnte er.

»Qĭng liū zài wŏ shēnbiān.«

Bitte verlass mich nicht.

Er schaute auf. Über ihm nur ein Himmel aus grotesken Gesichtern und blutgierigen Leichen, die sich über ihn beugten. Sein Kopf war wie benebelt. Der Anblick des bevorstehenden Todes betäubte ihn. Als würde er in der Straße einer Stadt zu den Wolkenkratzern emporblicken. Wie Peking, sagte er sich und erinnerte sich, wie er die Stadt als neunzehn Jahre alter Soldat zum ersten Mal besucht hatte. Es war im Sommer nach der Jangtse-Flut gewesen, als er seine neue Stelle beim MSS antrat. Er hatte seine Kindheit zweitausend Kilometer weiter westlich verbracht, inmitten grüner Wälder, leuchtender Bambushaine und majestätischer Berge; und doch hatte er bis zu diesem ersten Tag in Peking nicht gewusst, wie wunderschön sein Land sein konnte. Beton und Glas und Stahl, meisterhaft von Menschenhand angeordnet, ragten Hunderte Meter hoch empor – ein Versprechen der Größe, des Wachstums und des Reichtums, der ganz China erwartete. Seine Brüder und Schwestern hatten eine stolze Zukunft vor sich, die Erlösung von harter Arbeit und schmutzigen Dörfern. Und er, der junge Kheng Wu, würde beim Bau des ehrwürdigen neuen China mithelfen, sich wie ein Ziegelstein in die Grundmauern einfügen, seine Befehle befolgen …

Hier im Labor hatte ein Dutzend Leichen sich um ihn versammelt wie Gäste an einem Esstisch. Trockene Fingerspitzen strichen ihm übers Gesicht und wischten seine Tränen ab. Die Berührung war sanft, eine flüchtige, trügerische Liebkosung – und dann begann das Gemetzel. Er stöhnte auf, als gezackte Fingernägel ihm die Haut zerkratzen, sich in seine Ohren, Nasenlöcher und Augenhöhlen bohrten, ihm den Mund aufzwangen und die Wangen aufrissen. Das Universum explodierte in einem grellen, blendenden, blutigen Orange und trieb seine Augen tief in den Schädel. Geblendet bäumte er sich auf, wurde vom Schmerz überwältigt und ertrank darin. Er spürte Münder auf der Haut …

Shūshu!

… und Zähne, überall Zähne, die ihn zur Welt öffneten; er verkrampfte sich, als ein eisiger Schwall die Eingeweide traf, kalte Luft, ein heftiges Zerren, das mit einem Reißen endete. Einen Moment lang verspürte er eine Leichtigkeit, als er sein Gewicht in feuchten, glitschigen Schüben abschüttelte; er hatte das Gefühl, wie eine Rolle aus fleischigem Seil abgewickelt zu werden. Und dann fiel ein neues Gewicht auf ihn, und er wurde von einem neuen quälenden Schmerz geschüttelt, als hundert Hände auf ihn herabstießen; er spürte etwas Süßliches auf der Zunge, und Blut strömte in seine Kehle.

Er hörte seinen Körper schreien – laut, lang gezogen, ein furchtbar irdisches Geräusch.

Doch er war fertig mit der Erde.

Fertig mit Peking.

Fertig als Killer.

Er ballte die rechte Hand zur Faust, fester und noch fester, bis er schließlich spürte, dass Bao Zhi den Griff erwiderte. Und dann wurde es Zeit. Zeit, diesen Ort zu verlassen – friedlich, demütig und mit Respekt. Es wurde Zeit, zu seinem Onkel zu gehen. Zu seinem Dorf in Qinghai zurückzukehren. Seinen Platz im Reich der Toten einzunehmen … und die Lebenden zu begleiten, seine geliebten Brüder und Schwestern.

Er vermisste sie. Er würde dort glücklich sein in seiner Rolle als Diener und Beschützer. Er würde über sie wachen, wie die Geister der Vorfahren es taten.

Ein Lächeln breitete sich auf seinem verwüsteten Gesicht aus.

Er hatte nicht versagt.

China braucht mich, dachte er. Meine Familie braucht mich.

Und mit einem Fanfarenstoß aus Blut und Eingeweiden ging Kheng Wu zu ihnen.

12.9

Nach rechts. Nein – links! Der Gang teilte sich. Marco war gezwungen, eine Entscheidung zu treffen. Er wandte sich nach links und lief den Leichen davon, die ihm in einer Entfernung von etwa zehn Metern folgten. Er hetzte durch einen anderen langen Korridor mit belegten Zellen, hinter deren Metalltüren ein ersticktes Stöhnen ertönte, und atmete in tiefen Zügen die verseuchte Luft ein. Er drohte in Panik zu geraten und in den labyrinthischen Kurven und identischen Korridoren, die in die Finsternis führten, die Orientierung zu verlieren. Er fühlte sich wie Theseus, der, vom tödlichen Minotaurus gejagt, orientierungslos durch das Labyrinth von Knossos stolperte. Nach links? Nein, geradeaus. Er wusste, dass er nur einmal falsch abbiegen musste, um dem Tod direkt in die Arme zu laufen; und während zornige Schreie hinter ihm und vor ihm widerhallten, von Orten, die er unmöglich zu bestimmen vermochte, betete er, dass er nicht in die falsche Richtung lief und schon hinter der nächsten Ecke mit den tobenden Toten zusammenstieß. Links, definitiv links, und dann huschte eine Ratte vor seinen Füßen vorbei, und er sprang über sie hinweg wie ein gedopter olympischer Hürdenläufer; an der nächsten Ecke strauchelte er und prallte mit voller Wucht gegen die Wand, doch er wurde so stark von Adrenalin durchflutet, dass er keinen Schmerz verspürte. Er zuckte nicht einmal, sondern stieß sich von der Wand ab und sprintete weiter – manche Details kamen ihm nun bekannt vor. Seine Zuversicht stieg, und er sagte sich, dass das wahrscheinlich der Weg war, auf dem er hergekommen war. Er erkannte eine Reihe von Einschusslöchern in der Wand, einen länglichen Blutfleck an den Kacheln – und dann sah er plötzlich am Ende des Korridors, etwa dreißig Meter vor sich, die Toten, zerlumpt, aschgrau und stumpfsinnig, auf ihn zustürmen … Der Magen drehte sich ihm beinahe um, doch er blieb nicht stehen, wurde nicht einmal langsamer. Er wusste nun, wo er war, und er rannte direkt auf sie zu wie ein wahnsinniger Soldat, der über das Schlachtfeld hetzte und in den sicheren, schrecklichen Tod rannte.

Zehn Meter, fünf Meter, drei …

Drei Schritte vor ihren gierig ausgestreckten Armen öffnete sich rechts von ihm ein Korridor, und mit Gebrüll verlagerte er sein Gewicht auf den linken Fuß und brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit …

… und stieß einen triumphierenden Schrei aus, als er sah, dass er richtig getippt hatte. Nach dieser ganzen Odyssee befand er sich endlich wieder im zentralen Korridor. Da stand dieselbe fahrbare Krankenbahre, an der er zuvor vorbeigekommen war und die ihm wie ein Verkehrsschild einen Weg aus diesem beschissenen Labyrinth wies. Der Korridor vor ihm war frei; die Legion der Toten aus dem Hauptblock befand sich nun in der Krankenstation und im Labor. Tausend Leichen schlängelten sich hinter ihm durch Biegungen und Kurven, als führte er eine monströse Polonaise auf einer unseligen Hochzeit an.

Er hörte, wie die Leichen um die Ecke stürmten. Sie waren ihm noch immer auf den Fersen, und ihm stieg ein ekliger Geruch in die Nase, als ob sie eine Wolke aus fauliger Luft vor sich herschieben würden. Er lief weiter, wobei er plötzlich ein Hochgefühl verspürte und lachen musste. Er war sich nun sicher, dass er überleben würde – schier unglaublich und eigentlich unmöglich, dass er diesen irrealen, verdammten Morgen überleben würde –, und je weiter er lief, desto vertrauter wurde die Umgebung: das Pult der Aufnahme, der Eingang zur Krankenstation …

… die stählerne Gittertür der Sicherheitsschleuse. Er schlitterte über eine rutschige Fläche aus schaumigem Blut, das mit formlosen Fleischbrocken garniert war – Beine, ein Brustkorb und ein halb zerkautes Herz, und da lag auch Monsterschädels gehäuteter Kopf mit offenem Mund in der Ecke.

Und dahinter stand das verlassene Quad quer im Korridor.

Jackpot.

Danke, dachte Marco und fasste sich an die Brust, als würde ein weiterer Atemzug ihn umbringen. Er hatte einen schummrigen Kopf und wäre fast auf das Fahrzeug gehüpft – doch dann rief er sich zur Ordnung, sein Verstand arbeitete wieder normal, und das logische Denkvermögen kehrte zurück. Er drehte sich um, packte die Gittertür und zerrte so fest daran, dass er sich fast die Ellbogen ausgekugelt hätte. Die Tür fiel mit einem lauten Geräusch zu und verriegelte sich – gerade noch rechtzeitig.

Die Front der Toten warf sich gegen die Gitterstäbe, und die nachrückenden Leichen zerquetschten die vordersten. Augäpfel sprangen heraus, als die Menge von hinten nachdrängte, Rippen brachen, und es floss schwarzes, zähflüssiges Blut. Eine ausgehungerte Leiche mit einem markanten Kinn streckte durch die Gitterstäbe die Arme nach ihm aus; als der Druck schließlich zu groß wurde, wurden ihre Arme abgetrennt und klatschten vor Marcos Füßen auf den Boden. Marco trat zurück und beäugte skeptisch die feuchten Betonziegelwände. Lieber Gott, bitte mach, dass die Tür hält. Und sie hielt stand. Die Toten kreischten und tobten.

»Entschuldigung«, wandte er sich an die Menge. »Ihr müsst hierbleiben.«

Er bestieg das Quad und drehte den Zündschlüssel, und als die Griffe unter seinen wunden Händen vibrierten und der Motor wie ein unzerstörbares Herz pulsierte, wurde Marco plötzlich von neuer Energie durchflutet, als ob die Kraft des Motors sich auch auf ihn übertrug.

Vor ihm erstreckte sich der stille, leere, lange Gang.

Hoffentlich bleibt es auch so.

Sein Blick fiel auf den gespenstischen Pferdeschädel, der die Motorhaube zierte. Der lange Kopf wies ihm den Weg nach Hause.

»Hü«, sagte er und betätigte den Gasgriff.

Das Quad schoss vorwärts und zog eine Abgaswolke hinter sich her. Und dann war er draußen. Vor den Zellenblöcken, die genauso unheimlich und stumm dalagen … im Gefängnishof, am Wrack des Militär-Lkw vorbei … dann raus ins Freie. Die Sonne stand hoch am Himmel, und die Luft des späten Vormittags fühlte sich fantastisch frisch auf den Wangen an, als er mit spielerischer Leichtigkeit die paar vereinzelten Leichen umkurvte, die sich noch immer auf dem Gelände herumtrieben.

Zwei Minuten später hatte er das Gefängnis durch das in die Betonwand gesprengte Loch verlassen und das Quad gegen eines der übrigen verlassenen MTVR eingetauscht; nach fünf Minuten raste er mit dem Lkw auf der Route 247 in östlicher Richtung nach Arizona zurück – zurück zur Basis, zurück zu dem Rest der Realität, der ihn dort vielleicht noch erwartete. Er betrachtete sich im Spiegel – seine Augen waren verquollen und blutunterlaufen, und nun wurden sie auch noch durch die Tränen gerötet, die unkontrolliert hervorquollen –, während das Gefängnis von Sarsgard hinter ihm im Rückspiegel kleiner wurde, immer weiter schrumpfte, bis es schließlich verschwunden war und Roger und Wu mit sich in die Leere riss.

Es war alles vorbei.

Seine Hände umklammerten das Lenkrad. Traurig warf er einen Blick auf den zu großen Platinring, der ihm schief am Ringfinger steckte.

So allein wie jetzt hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.

Aber ich bin noch am Leben, sagte er sich, brach wieder in Tränen aus und schmeckte die salzige Flüssigkeit auf den Lippen. Nach allem, was geschehen ist – nach diesem ganzen Mist noch immer am Leben.

Scheiß drauf. Scheiß auf das Gefängnis.

Ich bin begnadigt worden.