Kapitel 46. Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens

Aus der Nacht der Bewußtlosigkeit zum Leben erwacht findet der Wille sich als Individuum, in einer end- und gränzenlosen Welt, unter zahllosen Individuen, alle strebend, leidend, irrend; und wie durch einen bangen Traum eilt er zurück zur alten Bewußtlosigkeit. – Bis dahin jedoch sind seine Wünsche gränzenlos, seine Ansprüche unerschöpflich, und jeder befriedigte Wunsch gebiert einen neuen. Keine auf der Welt mögliche Befriedigung könnte hinreichen, sein Verlangen zu stillen, seinem Begehren ein endliches Ziel zu setzen und den bodenlosen Abgrund seines Herzens auszufüllen. Daneben nun betrachte man, was dem Menschen, an Befriedigungen jeder Art, in der Regel, wird: es ist meistens nicht mehr, als die, mit unablässiger Mühe und steter Sorge, im Kampf mit der Noth, täglich errungene, kärgliche Erhaltung dieses Daseyns selbst, den Tod im Prospekt. – Alles im Leben giebt kund, daß das irdische Glück bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden. Hiezu liegen tief im Wesen der Dinge die Anlagen. Demgemäß fällt das Leben der meisten Menschen trübsälig und kurz aus. Die komparativ Glücklichen sind es meistens nur scheinbar, oder aber sie sind, wie die Langlebenden, seltene Ausnahmen, zu denen eine Möglichkeit übrig bleiben mußte, – als Lockvogel. Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im Kleinen, wie im Großen. Hat es versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen, wie wenig wünschenswerth das Gewünschte war: so täuscht uns also bald die Hoffnung, bald das Gehoffte. Hat es gegeben; so war es, um zu nehmen. Der Zauber der Entfernung zeigt uns Paradiese, welche wie optische Täuschungen verschwinden, wann wir uns haben hinäffen lassen. Das Glück liegt demgemäß stets in der Zukunft, oder auch in der Vergangenheit, und die Gegenwart ist einer kleinen dunkeln Wolke zu vergleichen, welche der Wind über die besonnte Fläche treibt: vor ihr und hinter ihr ist Alles hell, nur sie selbst wirft stets einen Schatten. Sie ist demnach allezeit ungenügend, die Zukunft aber ungewiß, die Vergangenheit unwiederbringlich. Das Leben, mit seinen stündlichen, täglichen, wöchentlichen und jährlichen, kleinen, größern und großen Widerwärtigkeiten, mit seinen getäuschten Hoffnungen und seinen alle Berechnung vereitelnden Unfällen, trägt so deutlich das Gepräge von etwas, das uns verleidet werden soll, daß es schwer zu begreifen ist, wie man dies hat verkennen können und sich überreden lassen, es sei da, um dankbar genossen zu werden, und der Mensch, um glücklich zu seyn. Stellt doch vielmehr jene fortwährende Täuschung und Enttäuschung, wie auch die durchgängige Beschaffenheit des Lebens, sich dar als darauf abgesehn und berechnet, die Ueberzeugung zu erwecken, daß gar nichts unsers Strebens, Treibens und Ringens werth sei, daß alle Güter nichtig seien, die Welt an allen Enden bankrott, und das Leben ein Geschäft, das nicht die Kosten deckt; – auf daß unser Wille sich davon abwende.

Die Art, wie diese Nichtigkeit aller Objekte des Willens sich dem im Individuo wurzelnden Intellekt kund giebt und faßlich macht, ist zunächst die Zeit. Sie ist die Form, mittelst derer jene Nichtigkeit der Dinge als Vergänglichkeit derselben erscheint; indem, vermöge dieser, alle unsere Genüsse und Freuden unter unsern Händen zu Nichts werden und wir nachher verwundert fragen, wo sie geblieben seien. Jene Nichtigkeit selbst ist daher das alleinige Objektive der Zeit, d.h. das ihr im Wesen an sich der Dinge Entsprechende, also Das, dessen Ausdruck sie ist. Deshalb eben ist die Zeit die a priori nothwendige Form aller unserer Anschauungen: in ihr muß sich Alles darstellen, auch wir selbst. Demzufolge gleicht nun zunächst unser Leben einer Zahlung, die man in lauter Kupferpfennigen zugezählt erhält und dann doch quittiren muß: es sind die Tage; die Quittung ist der Tod. Denn zuletzt verkündigt die Zeit den Urtheilsspruch der Natur über den Werth aller in ihr erscheinenden Wesen, indem sie sie vernichtet:

Und das mit Recht: denn Alles was entsteht,

Ist werth, daß es zu Grunde geht.

Drum besser wär's, daß nichts entstünde.

So sind denn Alter und Tod, zu denen jedes Leben nothwendig hineilt, das aus den Händen der Natur selbst erfolgende Verdammungsurtheil über den Willen zum Leben, welches aussagt, daß dieser Wille ein Streben ist, das sich selbst vereiteln muß. »Was du gewollt hast«, spricht es, »endigt so: wolle etwas Besseres.« – Also die Belehrung, welche Jedem sein Leben giebt, besteht im Ganzen darin, daß die Gegenstände seiner Wünsche beständig täuschen, wanken und fallen, sonach mehr Quaal als Freude bringen, bis endlich sogar der ganze Grund und Boden, auf dem sie sämmtlich stehn, einstürzt, indem sein Leben selbst vernichtet wird und er so die letzte Bekräftigung erhält, daß all sein Streben und Wollen eine Verkehrtheit, ein Irrweg war:

Then old age and experience, hand in hand,

Lead him to death, and make him understand,

After a search so painful and so long,

That all his life he has been in the wrong72.

Wir wollen aber noch auf das Specielle der Sache eingehn; da diese Ansichten es sind, in denen ich den meisten Widerspruch erfahren habe. – Zuvörderst habe ich die im Texte gegebene Nachweisung der Negativität aller Befriedigung, also alles Genusses und alles Glückes, im Gegensatz der Positivität des Schmerzes noch durch Folgendes zu bekräftigen.

Wir fühlen den Schmerz, aber nicht die Schmerzlosigkeit; wir fühlen die Sorge, aber nicht die Sorglosigkeit; die Furcht, aber nicht die Sicherheit. Wir fühlen den Wunsch, wie wir Hunger und Durst fühlen; sobald er aber erfüllt worden, ist es damit, wie mit dem genossenen Bissen, der in dem Augenblick, da er verschluckt wird, für unser Gefühl dazuseyn aufhört. Genüsse und Freuden vermissen wir schmerzlich, sobald sie ausbleiben; aber Schmerzen, selbst wenn sie nach langer Anwesenheit ausbleiben, werden nicht unmittelbar vermißt, sondern höchstens wird absichtlich, mittelst der Reflexion, ihrer gedacht. Denn nur Schmerz und Mangel können positiv empfunden werden und kündigen daher sich selbst an: das Wohlseyn hingegen ist bloß negativ. Daher eben werden wir der drei größten Güter des Lebens, Gesundheit, Jugend und Freiheit, nicht als solcher inne, so lange wir sie besitzen; sondern erst nachdem wir sie verloren haben: denn auch sie sind Negationen. Daß Tage unsers Lebens glücklich waren, merken wir erst, nachdem sie unglücklichen Platz gemacht haben. – In dem Maaße, als die Genüsse zunehmen, nimmt die Empfänglichkeit für sie ab: das Gewohnte wird nicht mehr als Genuß empfunden. Eben dadurch aber nimmt die Empfänglichkeit für das Leiden zu: denn das Wegfallen des Gewohnten wird schmerzlich gefühlt. Also wächst durch den Besitz das Maaß des Nothwendigen, und dadurch die Fähigkeit Schmerz zu empfinden. – Die Stunden gehn desto schneller hin, je angenehmer; desto langsamer, je peinlicher sie zugebracht werden: weil der Schmerz, nicht der Genuß das Positive ist, dessen Gegenwart sich fühlbar macht. Eben so werden wir bei der Langeweile der Zeit inne, bei der Kurzweil nicht. Beides beweist, daß unser Daseyn dann am glücklichsten ist, wann wir es am wenigsten spüren: woraus folgt, daß es besser wäre, es nicht zu haben. – Große, lebhafte Freude läßt sich schlechterdings nur denken als Folge großer vorhergegangener Noth: denn zu einem Zustande dauernder Zufriedenheit kann nichts hinzukommen, als etwas Kurzweil, oder auch Befriedigung der Eitelkeit. Darum sind alle Dichter genöthigt, ihre Helden in ängstliche und peinliche Lagen zu bringen, um sie daraus wieder befreien zu können: Drama und Epos schildern demnach durchgängig nur kämpfende, leidende, gequälte Menschen, und jeder Roman ist ein Guckkasten, darin man die Spasmen und Konvulsionen des geängstigten menschlichen Herzens betrachtet. Diese ästhetische Nothwendigkeit hat Walter Scott naiv dargelegt in der »Konklusion« zu seiner Novelle Old mortality. – Ganz in Uebereinstimmung mit der von mir bewiesenen Wahrheit sagt auch der von Natur und Glück so begünstigte Voltaire: le bonheur n'est qu'un rêve, et la douleur est réelle; und setzt hinzu: il y a quatre-vingts ans que je l'êprouve. Je n'y sais autre chose que me résigner, et me dire que les mouches sont nées pour être mangées par les araignées, et les hommes pour être dévorés par les chagrins.

Ehe man so zuversichtlich ausspricht, daß das Leben ein wünschenswerthes, oder dankenswerthes Gut sei, vergleiche man ein Mal gelassen die Summe der nur irgend möglichen Freuden, welche ein Mensch in seinem Leben genießen kann, mit der Summe der nur irgend möglichen Leiden, die ihn in seinem Leben treffen können. Ich glaube, die Bilanz wird nicht schwer zu ziehn seyn. Im Grunde aber ist es ganz überflüssig, zu streiten, ob des Guten oder des Uebeln mehr auf der Welt sei: denn schon das bloße Daseyn des Uebels entscheidet die Sache; da dasselbe nie durch das daneben oder danach vorhandene Gute getilgt, mithin auch nicht ausgeglichen werden kann:

Mille piacer' non vagliono un tormento73.

Petr.

Denn, daß Tausende in Glück und Wonne gelebt hätten, höbe ja nie die Angst und Todesmarter eines Einzigen auf: und eben so wenig macht mein gegenwärtiges Wohlseyn meine früheren Leiden ungeschehn. Wenn daher des Uebeln auch hundert Mal weniger auf der Welt wäre, als der Fall ist; so wäre dennoch das bloße Daseyn desselben hinreichend, eine Wahrheit zu begründen, welche sich auf verschiedene Weise, wiewohl immer nur etwas indirekt ausdrücken läßt, nämlich, daß wir über das Daseyn der Welt uns nicht zu freuen, vielmehr zu betrüben haben; – daß ihr Nichtseyn ihrem Daseyn vorzuziehn wäre; – daß sie etwas ist, das im Grunde nicht seyn sollte; u.s.f. Ueberaus schön ist Byron's Ausdruck der Sache:

Our life is a false nature, – 'tis not in

The harmony of things, this hard decree,

This uneradicable taint of sin,

This boundless Upas, this all-blasting tree

Whose root is earth, whose leaves and branches be

The skies, which rain their plagues on men like dew –

Disease, death, bondage – all the woes we see –

And worse, the woes we see not – which throb through

The immedicable soul, with heart-aches ever new74.

Wenn die Welt und das Leben Selbstzweck seyn und demnach theoretisch keiner Rechtfertigung, praktisch keiner Entschädigung oder Gutmachung bedürfen sollten, sondern dawären, etwan wie Spinoza und die heutigen Spinozisten es darstellen, als die einzige Manifestation eines Gottes, der animi causa, oder auch um sich zu spiegeln, eine solche Evolution mit sich selber vornähme, mithin ihr Daseyn weder durch Gründe gerechtfertigt, noch durch Folgen ausgelöst zu werden brauchte; – dann müßten nicht etwan die Leiden und Plagen des Lebens durch die Genüsse und das Wohlseyn in demselben völlig ausgeglichen werden; – da dies, wie gesagt, unmöglich ist, weil mein gegenwärtiger Schmerz durch künftige Freuden nie aufgehoben wird, indem diese ihre Zeit füllen, wie er seine; – sondern es müßte ganz und gar keine Leiden geben und auch der Tod nicht seyn, oder nichts Schreckliches für uns haben. Nur so würde das Leben für sich selbst bezahlen.

Weil nun aber unser Zustand vielmehr etwas ist, das besser nicht wäre; so trägt Alles, was uns umgiebt, die Spur hievon – gleich wie in der Hölle Alles nach Schwefel riecht, – indem Jegliches stets unvollkommen und trüglich, jedes Angenehme mit Unangenehmem versetzt, jeder Genuß immer nur ein halber ist, jedes Vergnügen seine eigene Störung, jede Erleichterung neue Beschwerde herbeiführt, jedes Hülfsmittel unserer täglichen und stündlichen Noch uns alle Augenblicke im Stich läßt und seinen Dienst versagt, die Stufe, auf welche wir treten, so oft unter uns bricht, ja, Unfälle, große und kleine, das Element unsers Lebens sind, und wir, mit Einem Wort, dem Phineus gleichen, dem die Harpyen alle Speisen besudelten und ungenießbar machten. Alles was wir anfassen, widersetzt sich, weil es seinen eigenen Willen hat, der überwunden werden muß. Zwei Mittel werden dagegen versucht: erstlich die eulabeia, d.i. Klugheit, Vorsicht, Schlauheit: sie lernt nicht aus und reicht nicht aus und wird zu Schanden, Zweitens, der Stoische Gleichmuth, welcher jeden Unfall entwaffnen will, durch Gefaßtseyn auf alle und Verschmähen von Allem: praktisch wird er zur kynischen Entsagung, die lieber, ein für alle Mal, alle Hülfsmittel und Erleichterungen von sich wirft: sie macht uns zu Hunden: wie den Diogenes in der Tonne. Die Wahrheit ist: wir sollen elend seyn, und sind's. Dabei ist die Hauptquelle der ernstlichsten Uebel, die den Menschen treffen, der Mensch selbst: homo homini lupus. Wer dies Letztere recht ins Auge faßt, erblickt die Welt als eine Hölle, welche die des Dante dadurch übertrifft, daß Einer der Teufel des Andern seyn muß; wozu denn freilich Einer vor dem Andern geeignet ist, vor Allen wohl ein Erzteufel, in Gestalt eines Eroberers auftretend, der einige Hundert Tausend Menschen einander gegenüberstellt und ihnen zuruft: »Leiden und Sterben ist euere Bestimmung: jetzt schießt mit Flinten und Kanonen auf einander los!« und sie thun es. – Ueberhaupt aber bezeichnen, in der Regel, Ungerechtigkeit, äußerste Unbilligkeit, Härte, ja Grausamkeit, die Handlungsweise der Menschen gegen einander: eine entgegengesetzte tritt nur ausnahmsweise ein. Hierauf beruht die Nothwendigkeit des Staates und der Gesetzgebung, und nicht auf euern Flausen. Aber in allen Fällen, die nicht im Bereich der Gesetze liegen, zeigt sich sogleich die dem Menschen eigene Rücksichtslosigkeit gegen seines Gleichen, welche aus seinem gränzenlosen Egoismus, mitunter auch aus Bosheit entspringt. Wie der Mensch mit dem Menschen verfährt, zeigt z.B. die Negersklaverei, deren Endzweck Zucker und Kaffee ist. Aber man braucht nicht so weit zu gehn: im Alter von fünf Jahren eintreten in die Garnspinnerei, oder sonstige Fabrik, und von Dem an erst 10, dann 12, endlich 14 Stunden täglich darin sitzen und die selbe mechanische Arbeit verrichten, heißt das Vergnügen, Athem zu holen, theuer erkaufen. Dies aber ist das Schicksal von Millionen, und viele andere Millionen haben ein analoges.

Uns Andere inzwischen vermögen geringe Zufälle vollkommen unglücklich zu machen; vollkommen glücklich, nichts auf der Welt. – Was man auch sagen mag, der glücklichste Augenblick des Glücklichen ist doch der seines Einschlafens, wie der unglücklichste des Unglücklichen der seines Erwachens. – Einen indirekten, aber sichern Beweis davon, daß die Menschen sich unglücklich fühlen, folglich es sind, liefert, zum Ueberfluß, auch noch der Allen einwohnende, grimmige Neid, der, in allen Lebensverhältnissen, auf Anlaß jedes Vorzugs, welcher Art er auch seyn mag, rege wird und sein Gift nicht zu halten vermag. Weil sie sich unglücklich fühlen, können die Menschen den Anblick eines vermeinten Glücklichen nicht ertragen: wer sich momentan glücklich fühlt, möchte sogleich Alles um sich herum beglücken, und sagt:

Que tout le monde ici soit heureux de ma joie.

Wenn das Leben an sich selbst ein schätzbares Gut und dem Nichtseyn entschieden vorzuziehn wäre; so brauchte die Ausgangspforte nicht von so entsetzlichen Wächtern, wie der Tod mit seinen Schrecken ist, besetzt zu seyn. Aber wer würde im Leben, wie es ist, ausharren, wenn der Tod minder schrecklich wäre? – Und wer könnte auch nur den Gedanken des Todes ertragen, wenn das Leben eine Freude wäre! So aber hat jener immer noch das Gute, das Ende des Lebens zu seyn, und wir trösten uns über die Leiden des Lebens mit dem Tode, und über den Tod mit den Leiden des Lebens. Die Wahrheit ist, daß Beide unzertrennlich zusammengehören, indem sie ein Irrsal ausmachen, von welchem zurückzukommen so schwer, wie wünschenswerth ist.

Wenn die Welt nicht etwas wäre, das, praktisch ausgedrückt, nicht seyn sollte; so würde sie auch nicht theoretisch ein Problem seyn: vielmehr würde ihr Daseyn entweder gar keiner Erklärung bedürfen, indem es sich so gänzlich von selbst verstände, daß eine Verwunderung darüber und Frage danach in keinem Kopfe aufsteigen könnte; oder der Zweck desselben würde sich unverkennbar darbieten. Statt dessen aber ist sie sogar ein unauflösliches Problem; indem selbst die vollkommenste Philosophie stets noch ein unerklärtes Element enthalten wird, gleich einem unauflöslichen Niederschlag, oder dem Rest, welchen das irrationale Verhältniß zweier Größen stets übrig läßt. Daher, wenn Einer wagt, die Frage aufzuwerfen, warum nicht lieber gar nichts sei, als diese Welt; so läßt die Welt sich nicht aus sich selbst rechtfertigen, kein Grund, keine Endursache ihres Daseyns in ihr selbst finden, nicht nachweisen, daß sie ihrer selbst wegen, d.h. zu ihrem eigenen Vortheil dasei. – Dies ist, meiner Lehre zufolge, freilich daraus erklärlich, daß das Princip ihres Daseyns ausdrücklich ein grundloses ist, nämlich blinder Wille zum Leben, welcher, als Ding an sich, dem Satz vom Grunde, der bloß die Form der Erscheinungen ist und durch den allein jedes Warum berechtigt ist, nicht unterworfen seyn kann. Dies stimmt aber auch zur Beschaffenheit der Welt: denn nur ein blinder, kein sehender Wille konnte sich selbst in die Lage versetzen, in der wir uns erblicken. Ein sehender Wille würde vielmehr bald den Ueberschlag gemacht haben, daß das Geschäft die Kosten nicht deckt, indem ein so gewaltiges Streben und Ringen, mit Anstrengung aller Kräfte, unter steter Sorge, Angst und Noch, und bei unvermeidlicher Zerstörung jedes individuellen Lebens, keine Entschädigung findet in dem so errungenen, ephemeren, unter unsern Händen zu nichts werdenden Daseyn selbst. Daher eben verlangt die Erklärung der Welt aus einem Anaxagorischen nous, d.h. aus einem von Erkenntniß geleiteten Willen, zu ihrer Beschönigung, nothwendig den Optimismus, der alsdann, dem laut schreienden Zeugniß einer ganzen Welt voll Elend zum Trotz, aufgestellt und verfochten wird. Da wird denn das Leben für ein Geschenk ausgegeben, während am Tage liegt, daß Jeder, wenn er zum voraus das Geschenk hätte besehn und prüfen dürfen, sich dafür bedankt haben würde; wie denn auch Lessing den Verstand seines Sohnes bewunderte, der, weil er durchaus nicht in die Welt hineingewollt hätte, mit der Geburtszange gewaltsam hineingezogen werden mußte, kaum aber darin, sich eilig wieder davonmachte. Dagegen wird dann wohl gesagt, das Leben solle, von einem Ende zum andern, auch nur eine Lektion seyn; worauf aber Jeder antworten könnte: »So wollte ich eben deshalb, daß man mich in der Ruhe des allgenugsamen Nichts gelassen hätte, als wo ich weder Lektionen, noch sonst etwas nöthig hatte.« Würde nun aber gar noch hinzugefügt, er solle einst von jeder Stunde seines Lebens Rechenschaft ablegen; so wäre er vielmehr berechtigt, selbst erst Rechenschaft zu fordern darüber, daß man ihn, aus jener Ruhe weg, in eine so mißliche, dunkele, geängstete und peinliche Lage versetzt hat. – Dahin also führen falsche Grundansichten. Denn das menschliche Daseyn, weit entfernt den Charakter eines Geschenks zu tragen, hat ganz und gar den einer kontrahirten Schuld. Die Einforderung derselben erscheint in Gestalt der, durch jenes Daseyn gesetzten, dringenden Bedürfnisse, quälenden Wünsche und endlosen Noch. Auf Abzahlung dieser Schuld wird, in der Regel, die ganze Lebenszeit verwendet: doch sind damit erst die Zinsen getilgt. Die Kapitalabzahlung geschieht durch den Tod. – Und wann wurde diese Schuld kontrahirt? – Bei der Zeugung. –

Wenn man demgemäß den Menschen ansieht als ein Wesen, dessen Daseyn eine Strafe und Buße ist; – so erblickt man ihn in einem schon richtigeren Lichte. Der Mythos vom Sündenfall (obwohl wahrscheinlich, wie das ganze Judenthum, dem Zend-Avesta entlehnt: Bun-Dehesch, 15) ist das Einzige im Alten Testament, dem ich eine metaphysische, wenn gleich nur allegorische Wahrheit zugestehn kann; ja, er ist es allein, was mich mit dem Alten Testament aussöhnt. Nichts Anderm nämlich sieht unser Daseyn so ähnlich, wie der Folge eines Fehltritts und eines strafbaren Gelüstens. Das neutestamentliche Christenthum, dessen ethischer Geist der des Brahmanismus und Buddhaismus, daher dem übrigens optimistischen des Alten Testaments sehr fremd ist, hat auch, höchst weise, gleich an jenen Mythos angeknüpft: ja, ohne diesen hätte es im Judenthum gar keinen Anhaltspunkt gefunden. – Will man den Grad von Schuld, mit dem unser Daseyn selbst behaftet ist, ermessen; so blicke man auf das Leiden, welches mit demselben verknüpft ist. Jeder große Schmerz, sei er leiblich oder geistig, sagt aus, was wir verdienen: denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht verdienten. Daß auch das Christenthum unser Daseyn in diesem Lichte erblickt, bezeugt eine Stelle aus Luthers Kommentar zu Galat., c, 3, die mir nur lateinisch vorliegt: Sumus autem nos omnes corporibus et rebus subjecti Diabolo, et hospites sumus in mundo, cujus ipse princeps et Deus est. Ideo panis, quem edimus, potus, quem bibimus, vestes, quibus utimur, imo aër et totum quo vivimus in carne, sub ipsius imperio est. – Man hat geschrieen über das Melancholische und Trostlose meiner Philosophie: es liegt jedoch bloß darin, daß ich, statt als Aequivalent der Sünden eine künftige Hölle zu fabeln, nachwies, daß wo die Schuld liegt, in der Welt, auch schon etwas Höllenartiges sei: wer aber dieses leugnen wollte, – kann es leicht ein Mal erfahren.

Und dieser Welt, diesem Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehn, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausend anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist, wo sodann mit der Erkenntniß die Fähigkeit Schmerz zu empfinden wächst, welche daher im Menschen ihren höchsten Grad erreicht und einen um so höheren, je intelligenter er ist, – dieser Welt hat man das System des Optimismus anpassen und sie uns als die beste unter den möglichen andemonstriren wollen. Die Absurdität ist schreiend. – Inzwischen heißt ein Optimist mich die Augen öffnen und hineinsehn in die Welt, wie sie so schön sei, im Sonnenschein, mit ihren Bergen, Thälern, Ströhmen, Pflanzen, Thieren u.s.f. – Aber ist denn die Welt ein Guckkasten? Zu sehn sind diese Dinge freilich schön; aber sie zu seyn ist ganz etwas Anderes. – Dann kommt ein Teleolog und preist mir die weise Einrichtung an, vermöge welcher dafür gesorgt sei, daß die Planeten nicht mit den Köpfen gegen einander rennen, Land und Meer nicht zum Brei gemischt, sondern hübsch auseinandergehalten seien, auch nicht Alles in beständigem Froste starre, noch von Hitze geröstet werde, imgleichen, in Folge der Schiefe der Ekliptik kein ewiger Frühling sei, als in welchem nichts zur Reife gelangen könnte, u. dgl. m. – Aber Dieses und alles Aehnliche sind ja bloße conditiones sine quibus non. Wenn es nämlich überhaupt eine Welt geben soll, wenn ihre Planeten wenigstens so lange, wie der Lichtstrahl eines entlegenen Fixsterns braucht, um zu ihnen zu gelangen, bestehn und nicht, wie Lessings Sohn, gleich nach der Geburt wieder abfahren sollen; – da durfte sie freilich nicht so ungeschickt gezimmert seyn, daß schon ihr Grundgerüst den Einsturz drohte. Aber wenn man zu den Resultaten des gepriesenen Werkes fortschreitet, die Spieler betrachtet, die auf der so dauerhaft gezimmerten Bühne agiren, und nun sieht, wie mit der Sensibilität der Schmerz sich einfindet und in dem Maaße, wie jene sich zur Intelligenz entwickelt, steigt, wie sodann, mit dieser gleichen Schritt haltend, Gier und Leiden immer stärker hervortreten und sich steigern, bis zuletzt das Menschenleben keinen andern Stoff darbietet, als den zu Tragödien und Komödien, – da wird, wer nicht heuchelt, schwerlich disponirt seyn, Hallelujahs anzustimmen. Den eigentlichen, aber verheimlichten Ursprung dieser letzteren hat übrigens, schonungslos, aber mit siegender Wahrheit, David Hume aufgedeckt, in seiner Natural history of religion, Sect. 6, 7, 8 and 13. Derselbe legt auch im zehnten und elften Buch seiner Dialogues on natural religion, unverhohlen, mit sehr triftigen und dennoch ganz anderartigen Argumenten als die meinigen, die trübsälige Beschaffenheit dieser Welt und die Unhaltbarkeit alles Optimismus dar; wobei er diesen zugleich in seinem Ursprung angreift. Beide Werke Hume's sind so lesenswerth, wie sie in Deutschland heut zu Tage unbekannt sind, wo man dagegen, patriotisch, am ekelhaften Gefasel einheimischer, sich spreizender Alltagsköpfe unglaubliches Genügen findet und sie als große Männer ausschreit. Jene Dialogues aber hat Hamann übersetzt, Kant hat die Uebersetzung durchgesehn und noch im späten Alter Hamanns Sohn zur Herausgabe derselben bewegen wollen, weil die von Platner ihm nicht genügte (siehe Kants Biographie von F. W. Schubert, S. 81 und 165). – Aus jeder Seite von David Hume ist mehr zu lernen, als aus Hegels, Herbarts und Schleiermachers sämmtlichen philosophischen Werken zusammengenommen.

Der Begründer des systematischen Optimismus hingegen ist Leibnitz, dessen Verdienste um die Philosophie zu leugnen ich nicht gesonnen bin, wiewohl mich in die Monadologie, prästabilirte Harmonie und identitas indiscernibilium eigentlich hineinzudenken, mir nie hat gelingen wollen. Seine Nouveaux essays sur l'entendement aber sind bloß ein Excerpt, mit ausführlicher, auf Berichtigung abgesehener, jedoch schwacher Kritik des mit Recht weltberühmten Werkes Locke's, welchem er hier mit eben so wenig Glück sich entgegenstellt, wie, durch sein gegen das Gravitationssystem gerichtetes Tentamen de motuum coelestium causis, dem Neuton. Gegen diese Leibnitz-Wolfische Philosophie ist die Kritik der reinen Vernunft ganz speciell gerichtet und hat zu ihr ein polemisches, ja, vernichtendes Verhältniß; wie zu Locke und Hume das der Fortsetzung und Weiterbildung. Daß heut zu Tage die Philosophieprofessoren allseitig bemüht sind, den Leibnitz, mit seinen Flausen, wieder auf die Beine zu bringen, ja, zu verherrlichen, und andererseits Kanten möglichst gering zu schätzen und bei Seite zu schieben, hat seinen guten Grund im primum vivere: die Kritik der reinen Vernunft läßt nämlich nicht zu, daß man Jüdische Mythologie für Philosophie ausgebe, noch auch, daß man, ohne Umstände, von der »Seele« als einer gegebenen Realität, einer wohlbekannten und gut ackreditirten Person, rede, ohne Rechenschaft zu geben, wie man denn zu diesem Begriff gekommen sei und welche Berechtigung man habe, ihn wissenschaftlich zu gebrauchen. Aber primum vivere, deinde philosophari! Herunter mit dem Kant, vivat unser Leibnitz! – Auf diesen also zurückzukommen, kann ich der Theodicee, dieser methodischen und breiten Entfaltung des Optimismus, in solcher Eigenschaft, kein anderes Verdienst zugestehn, als dieses, daß sie später Anlaß gegeben hat zum unsterblichen Candide des großen Voltaire; wodurch freilich Leibnitzens so oft wiederholte, lahme Exküse für die Uebel der Welt, daß nämlich das Schlechte bisweilen das Gute herbeiführt, einen ihm unerwarteten Beleg erhalten hat. Schon durch den Namen seines Helden deutete Voltaire an, daß es nur der Aufrichtigkeit bedarf, um das Gegentheil des Optimismus zu erkennen. Wirklich macht auf diesem Schauplatz der Sünde, des Leidens und des Todes der Optimismus eine so seltsame Figur, daß man ihn für Ironie halten müßte, hätte man nicht an der von Hume, wie oben erwähnt, so ergötzlich aufgedeckten geheimen Quelle desselben (nämlich heuchelnde Schmeichelei, mit beleidigendem Vertrauen auf ihren Erfolg) eine hinreichende Erklärung seines Ursprungs.

Sogar aber läßt sich den handgreiflich sophistischen Beweisen Leibnitzens, daß diese Welt die beste unter den möglichen sei, ernstlich und ehrlich der Beweis entgegenstellen, daß siedle schlechteste unter den möglichen sei. Denn Möglich heißt nicht was Einer etwan sich vorphantasiren mag, sondern was wirklich existiren und bestehn kann. Nun ist diese Welt so eingerichtet, wie sie seyn mußte, um mit genauer Noth bestehn zu können: wäre sie aber noch ein wenig schlechter, so könnte sie schon nicht mehr bestehn. Folglich ist eine schlechtere, da sie nicht bestehn könnte, gar nicht möglich, sie selbst also unter den möglichen die schlechteste. Denn nicht bloß wenn die Planeten mit den Köpfen gegen einander rennten, sondern auch wenn von den wirklich eintretenden Perturbationen ihres Laufes irgend eine, statt sich durch andere allmälig wieder auszugleichen, in der Zunahme beharrte, würde die Welt bald ihr Ende erreichen: die Astronomen wissen, von wie zufälligen Umständen, nämlich zumeist vom irrationalen Verhältniß der Umlaufszeiten zu einander, Dieses abhängt, und haben mühsam herausgerechnet, daß es immer noch gut abgehn wird, mithin die Welt so eben stehn und gehn kann. Wir wollen, wiewohl Neuton entgegengesetzter Meinung war, hoffen, daß sie sich nicht verrechnet haben, und mithin das in so einem Planetensystem verwirklichte mechanische perpetuum mobile nicht auch, wie die übrigen, zuletzt in Stillstand gerathen werde. – Unter der festen Rinde des Planeten nun wieder hausen die gewaltigen Naturkräfte, welche, sobald ein Zufall ihnen Spielraum gestattet, jene, mit allem Lebenden darauf, zerstören müssen; wie dies auf dem unserigen wenigstens schon drei Mal eingetreten ist und wahrscheinlich noch öfter eintreten wird. Ein Erdbeben von Lissabon, von Haity, eine Verschüttung von Pompeji sind nur kleine, schalkhafte Anspielungen auf die Möglichkeit. – Eine geringe, chemisch gar nicht ein Mal nachweisbare Alteration der Atmosphäre verursacht Cholera, gelbes Fieber, schwarzen Tod u.s.w., welche Millionen Menschen wegraffen; eine etwas größere würde alles Leben auslöschen. Eine sehr mäßige Erhöhung der Wärme würde alle Flüsse und Quellen austrocknen. – Die Thiere haben an Organen und Kräften genau und knapp so viel erhalten, wie zur Herbeischaffung ihres Lebensunterhalts und Auffütterung der Brut, unter äußerster Anstrengung, ausreicht; daher ein Thier, wenn es ein Glied, oder auch nur den vollkommenen Gebrauch desselben, verliert, meistens umkommen muß. Selbst vom Menschengeschlecht, so mächtige Werkzeuge es an Verstand und Vernunft auch hat, leben neun Zehntel in beständigem Kampfe mit dem Mangel, stets am Rand des Untergangs, sich mit Noth und Anstrengung über demselben balancirend. Also durchweg, wie zum Bestande des Ganzen, so auch zu dem jedes Einzelwesens sind die Bedingungen knapp und kärglich gegeben, aber nichts darüber: daher geht das individuelle Leben in unaufhörlichem Kampfe um die Existenz selbst hin; während bei jedem Schritt ihm Untergang droht. Eben weil diese Drohung so oft vollzogen wird, mußte, durch den unglaublich großen Ueberschuß der Keime, dafür gesorgt seyn, daß der Untergang der Individuen nicht den der Geschlechter herbeiführe, als an welchen allein der Natur ernstlich gelegen ist. – Die Welt ist folglich so schlecht, wie sie möglicherweise seyn kann, wenn sie überhaupt noch seyn soll. W. z.B. w. – Die Versteinerungen der den Planeten ehemals bewohnenden, ganz anderartigen Thiergeschlechter liefern uns, als Rechnungsprobe, die Dokumente von Welten, deren Bestand nicht mehr möglich war, die mithin noch etwas schlechter waren, als die schlechteste unter den möglichen.

Der Optimismus ist im Grunde das unberechtigte Selbstlob des eigentlichen Urhebers der Welt, des Willens zum Leben, der sich wohlgefällig in seinem Werke spiegelt: und demgemäß ist er nicht nur eine falsche, sondern auch eine verderbliche Lehre. Denn er stellt uns das Leben als einen wünschenswerthen Zustand, und als Zweck desselben das Glück des Menschen dar. Davon ausgehend glaubt dann Jeder den gerechtesten Anspruch auf Glück und Genuß zu haben: werden nun diese, wie es zu geschehn pflegt, ihm nicht zu Theil; so glaubt er, ihm geschehe Unrecht, ja, er verfehle den Zweck seines Daseyns; – während es viel richtiger ist, Arbeit, Entbehrung, Noth und Leiden, gekrönt durch den Tod, als Zweck unsers Lebens zu betrachten (wie dies Brahmanismus und Buddhaismus, und auch das ächte Christenthum thun); weil diese es sind, die zur Verneinung des Willens zum Leben leiten. Im Neuen Testamente ist die Welt dargestellt als ein Jammerthal, das Leben als ein Läuterungsproceß, und ein Marterinstrument ist das Symbol des Christenthums. Daher beruhte, als Leibnitz, Shaftesbury, Bolingbroke und Pope mit dem Optimismus hervortraten, der Anstoß, den man allgemein daran nahm, hauptsächlich darauf, daß der Optimismus mit dem Christenthum unvereinbar sei; wie dies Voltaire, in der Vorrede zu seinem vortrefflichen Gedichte Le désastre de Lisbonne, welches ebenfalls ausdrücklich gegen den Optimismus gerichtet ist, berichtet und erläutert. Was diesen großen Mann, den ich, den Schmähungen feiler Deutscher Tintenklexer gegenüber, so gern lobe, entschieden höher als Rousseau stellt, indem es die größere Tiefe seines Denkens bezeugt, sind drei Einsichten, zu denen er gelangt war: 1) die von der überwiegenden Größe des Uebels und vom Jammer des Daseyns, davon er tief durchdrungen ist; 2) die von der strengen Necessitation der Willensakte; 3) die von der Wahrheit des Locke'schen Satzes, daß möglicherweise das Denkende auch materiell seyn könne; während Rousseau alles Dieses durch Deklamationen bestreitet, in seiner Profession de foi du vicaire Savoyard, einer flachen, protestantischen Pastorenphilosophie; wie er denn auch, in eben diesem Geiste, gegen das soeben erwähnte, schöne Gedicht Voltaire's mit einem schiefen, seichten und logisch falschen Räsonnement, zu Gunsten des Optimismus, polemisirt, in seinem, bloß diesem Zweck gewidmeten, langen Briefe an Voltaire, vom 18. August 1756. Ja, der Grundzug und das prôton pseudos der ganzen Philosophie Rousseau's ist Dieses, daß er an die Stelle der christlichen Lehre von der Erbsünde und der ursprünglichen Verderbtheit des Menschengeschlechts, eine ursprüngliche Güte und unbegränzte Perfektibilität desselben setzt, welche bloß durch die Civilisation und deren Folgen auf Abwege gerathen wäre, und nun darauf seinen Optimismus und Humanismus gründet.

Wie gegen den Optimismus Voltaire, im Candide, den Krieg in seiner scherzhaften Manier führt, so hat es in seiner ernsten und tragischen Byron gethan, in seinem unsterblichen Meisterwerke Kain, weshalb er auch durch die Invektiven des Obskuranten Friedrich Schlegel verherrlicht worden ist. – Wollte ich nun schließlich, zur Bekräftigung meiner Ansicht, die Aussprüche großer Geister aller Zeiten in diesem, dem Optimismus entgegengesetzten Sinne, hersetzen; so würde der Anführungen kein Ende seyn; da fast jeder derselben seine Erkenntniß des Jammers dieser Welt in starken Worten ausgesprochen hat. Also nicht zur Bestätigung, sondern bloß zur Verzierung dieses Kapitels mögen am Schlusse desselben einige Aussprüche dieser Art Platz finden.

Zuvörderst sei hier erwähnt, daß die Griechen, so weit sie auch von der Christlichen und Hochasiatischen Weltansicht entfernt waren und entschieden auf dem Standpunkt der Bejahung des Willens standen, dennoch von dem Elend des Daseyns tief ergriffen waren. Dies bezeugt schon die Erfindung des Trauerspiels, welche ihnen angehört. Einen andern Beleg dazu giebt uns die, nachmals oft erwähnte, zuerst von Herodot (V, 4) erzählte Sitte der Thrakier, den Neugeborenen mit Wehklagen zu bewillkommnen, und alle Uebel, denen er jetzt entgegengehe, herzuzählen; dagegen den Todten mit Freude und Scherz zu bestatten, weil er so vielen und großen Leiden nunmehr entgangen sei; welches in einem schönen, von Plutarch (De audiend. poët. in fine) uns aufbehaltenen Verse, so lautet:

Ton phynta thrênein, eis hos' erchetai kaka;

Ton d' au thanonta kai ponôn pepaumenon

Chairontas euphêmountas ekpempein domôn.

(Lugere genitum, tanta qui intrarit mala:

At morte si quis finiisset miserias,

Hunc laude amicos atque laetitia exsequi.)

Nicht historischer Verwandtschaft, sondern moralischer Identität der Sache ist es beizumessen, daß die Mexikaner das Neugeborene mit den Worten bewillkommneten: »Mein Kind, du bist zum Dulden geboren: also dulde, leide und schweig«. Und dem selben Gefühle folgend hat Swift (wie Walter Scott in dessen Leben berichtet) schon früh die Gewohnheit angenommen, seinen Geburtstag nicht als einen Zeitpunkt der Freude, sondern der Betrübniß zu begehn, und an demselben die Bibelstelle zu lesen, in welcher Hiob den Tag bejammert und verflucht, an welchem es in seines Vaters Hause hieß: es sei ein Sohn geboren.

Bekannt und zum Abschreiben zu lang ist die Stelle in der Apologie des Sokrates, wo Plato diesen weisesten der Sterblichen sagen läßt, daß der Tod, selbst wenn er uns auf immer das Bewußtsein raubte, ein wundervoller Gewinn seyn würde, da ein tiefer, traumloser Schlaf jedem Tage, auch des beglücktesten Lebens, vorzuziehn sei.

Ein Spruch des Herakleitos lautete:

Tô oun biô onoma men bios, ergon de thanatos.

(Vitae nomen quidem est vita, opus autem mors.

Etymologicum magnum, voce bios; auch Eustath. ad Iliad., I, p. 31.)

Berühmt ist der schöne Vers des Theognis:

Archên men mê phynai epichthonioisin ariston,

Mêd' eisidein augas oxeos êeliou;

Phynta d' hopôs ôkista pylas Aidao perêsai,

Kai keisthai pollên gên epamêsamenon.

(Optima sors homini natum non esse, nec unquam

Adspexisse diem, flammiferumque jubar.

Altera jam genitum demitti protinus Orco,

Et pressum multa mergere corpus humo.)

Sophokles, im Oedipus zu Kolona (1225), hat folgende Abkürzung desselben:

Mê phynai ton hapanta ni-

ka logon; to d' epei phanê,

bênai keithen, hothen per hêkei,

poly deuteron, hôs tachista.

(Natum non esse sortes vincit alias omnes: proxima autem est, ubi quis in lucem editus fuerit, eodem redire, unde venit, quam ocissime.)

Euripides sagt:

Pas d' odynêros bios anthrôpôn,

K' ouk esti ponôn anapausis.

(Omnis hominum vita est plena dolore,

Nec datur laborum remissio.

Hippol. 189.)

Und hat es doch schon Homer gesagt:

Ou men gar ti pou estin oizyrôteron andros

Pantôn, hossa de gaian epi pneei te kai herpei.

(Non enim quidquam alicubi est calamitosius homine

Omnium, quotquot super terram spirantque et moventur.

Il. XVII, 446.)

Selbst Plinius sagt: Quapropter hoc primum quisque in remediis animi sui habeat, ex omnibus bonis, quae homini natura tribuit, nullum melius esse tempestiva morte. (Hist. nat. 28, 2.)

Shakespeare legt dem alten König Heinrich IV. die Worte in den Mund:

O heaven! that one might read the book of fate,

And see the revolution of the times,

– – – – – how chances mock,

And changes fill the cup of alteration

With divers liquors! O, if this were seen,

The happiest youth, – viewing his progress through,

What perils past, what crosses to ensue, –

Would shut the book, and sit him down and die.75

Endlich Byron:

Count o'er the joys thine hours have seen,

Count o'er thy days from anguish free,

And know, whatever thou hast been,

'Tis something better not to be.76

Auch Balthasar Gracian bringt den Jammer unsers Daseyns uns mit den schwärzesten Farben vor die Augen im Criticon, Parte I, Crisi 5, gleich im Anfang, und Crisi 7, am Schluß, wo er das Leben als eine tragische Farce ausführlich darstellt.

Keiner jedoch hat diesen Gegenstand so gründlich und erschöpfend behandelt, wie, in unsern Tagen, Leopardi. Er ist von demselben ganz erfüllt und durchdrungen: überall ist der Spott und Jammer dieser Existenz sein Thema, auf jeder Seite seiner Werke stellt er ihn dar, jedoch in einer solchen Mannigfaltigkeit von Formen und Wendungen, mit solchem Reichthum an Bildern, daß er nie Ueberdruß erweckt, vielmehr durchweg unterhaltend und erregend wirkt.

Kapitel 47. Zur Ethik

Hier ist nun die große Lücke, welche in diesen Ergänzungen dadurch entsteht, daß ich die Moral im engem Sinne bereits abgehandelt habe in den unter dem Titel: »Die Grundprobleme der Ethik« herausgegebenen zwei Preisschriften, die Bekanntschaft mit welchen ich, wie gesagt, voraussetze, um unnütze Wiederholungen zu vermeiden. Daher bleibt mir hier nur eine kleine Nachlese vereinzelter Betrachtungen, die dort, wo der Inhalt, der Hauptsache nach, von den Akademien vorgeschrieben war, nicht zur Sprache kommen konnten, und zwar am wenigsten die, welche einen höhern Standpunkt erfordern, als den Allen gemeinsamen, auf welchem ich dort stehn zu bleiben genöthigt war. Demzufolge wird es den Leser nicht befremden, dieselben hier in einer sehr fragmentarischen Zusammenstellung zu finden. Diese nun wieder hat ihre Fortsetzung erhalten im achten und neunten Kapitel des zweiten Bandes der Parerga. –

Daß moralische Untersuchungen ungleich wichtiger sind, als physikalische, und überhaupt als alle andern, folgt daraus, daß sie fast unmittelbar das Ding an sich betreffen, nämlich diejenige Erscheinung desselben, an der es, vom Lichte der Erkenntniß unmittelbar getroffen, sein Wesen offenbart als Wille. Physikalische Wahrheiten hingegen bleiben ganz auf dem Gebiete der Vorstellung, d.i. der Erscheinung, und zeigen bloß, wie die niedrigsten Erscheinungen des Willens sich in der Vorstellung gesetzmäßig darstellen. – Ferner bleibt die Betrachtung der Welt von der physischen Seite, so weit und so glücklich man sie auch verfolgen mag, in ihren Resultaten für uns trostlos; auf der moralischen Seite allein ist Trost zu finden; indem hier die Tiefen unsers eigenen Innern sich der Betrachtung aufthun.

Meine Philosophie ist aber die einzige, welche der Moral ihr volles und ganzes Recht angedeihen läßt: denn nur wenn das Wesen des Menschen sein eigener Wille, mithin er, im strengsten Sinne, sein eigenes Werk ist, sind seine Thaten wirklich ganz sein und ihm zuzurechnen. Sobald er hingegen einen andern Ursprung hat, oder das Werk eines von ihm verschiedenen Wesens ist, fällt alle seine Schuld zurück auf diesen Ursprung, oder Urheber. Denn operari sequitur esse.

Die Kraft, welche das Phänomen der Welt hervorbringt, mithin die Beschaffenheit derselben bestimmt, in Verbindung zu setzen mit der Moralität der Gesinnung, und dadurch eine moralische Weltordnung als Grundlage der physischen nachzuweisen, – dies ist seit Sokrates das Problem der Philosophie gewesen. Der Theismus leistete es auf eine kindliche Weise, welche der herangereiften Menschheit nicht genügen konnte. Daher stellte sich ihm der Pantheismus, sobald er irgend es wagen durfte, entgegen, und wies nach, daß die Natur die Kraft, vermöge welcher sie hervortritt, in sich selbst trägt. Dabei mußte nun aber die Ethik verloren gehn. Spinoza versucht zwar, stellenweise, sie durch Sophismen zu retten, meistens aber giebt er sie geradezu auf und erklärt, mit einer Dreistigkeit, die Erstaunen und Unwillen hervorruft, den Unterschied zwischen Recht und Unrecht, und überhaupt zwischen Gutem und Bösem, für bloß konventionell, also an sich selbst nichtig (z.B. Eth., IV, prop. 37, schol. 2). Ueberhaupt ist Spinoza, nachdem ihn, über hundert Jahre hindurch, unverdiente Geringschätzung getroffen hatte, durch die Reaktion im Pendelschwung der Meinung, in diesem Jahrhundert wieder überschätzt worden, – Aller Pantheismus nämlich muß an den unabweisbaren Forderungen der Ethik, und nächst dem am Uebel und dem Leiden der Welt, zuletzt scheitern. Ist die Welt eine Theophanie; so ist Alles, was der Mensch, ja, auch das Thier thut, gleich göttlich und vortrefflich: nichts kann zu tadeln und nichts vor dem Andern zu loben seyn: also keine Ethik. Daher eben ist man in Folge des erneuerten Spinozismus unserer Tage, also des Pantheismus, in der Ethik so tief herabgesunken und so platt geworden, daß man aus ihr eine bloße Anleitung zu einem gehörigen Staats- und Familienleben machte, als in welchem, also im methodischen, vollendeten, genießenden und behaglichen Philisterthum, der letzte Zweck des menschlichen Daseyns bestehn sollte. Zu dergleichen Plattheiten hat der Pantheismus freilich erst dadurch geführt, daß man (das e quovis ligno fit Mercurius arg mißbrauchend) einen gemeinen Kopf, Hegel, durch die allbekannten Mittel, zu einem großen Philosophen falschmünzte und eine Schaar Anfangs subornirter, dann bloß bornirter Jünger desselben das große Wort erhielt. Dergleichen Attentate gegen den menschlichen Geist bleiben nicht ungestraft: die Saat ist aufgegangen. Im gleichen Sinne wurde dann behauptet, die Ethik solle nicht das Thun der Einzelnen, sondern das der Volksmassen zum Stoff haben, nur dieses sei ein Thema ihrer würdig. Nichts kann verkehrter seyn, als diese auf dem plattesten Realismus beruhende Ansicht. Denn in jedem Einzelnen erscheint der ganze ungetheilte Wille zum Leben, das Wesen an sich, und der Mikrokosmos ist dem Makrokosmos gleich. Die Massen haben nicht mehr Inhalt als jeder Einzelne. Nicht vom Thun und Erfolg, sondern vom Wollen handelt es sich in der Ethik, und das Wollen selbst geht stets nur im Individuo vor. Nicht das Schicksal der Völker, welches nur in der Erscheinung daist, sondern das des Einzelnen entscheidet sich moralisch. Die Völker sind eigentlich bloße Abstraktionen: die Individuen allein existiren wirklich, – So also verhält sich der Pantheismus zur Ethik. – Die Uebel aber und die Quaal der Welt stimmten schon nicht zum Theismus: daher dieser durch allerlei Ausreden, Theodiceen, sich zu helfen suchte, welche jedoch den Argumenten Hume's und Voltaire's unrettbar unterlagen. Der Pantheismus nun aber ist jenen schlimmen Seiten der Welt gegenüber vollends unhaltbar. Nur dann nämlich, wann man die Welt ganz von außen und allein von der physikalischen Seite betrachtet und nichts Anderes, als die sich immer wieder herstellende Ordnung und dadurch komparative Unvergänglichkeit des Ganzen im Auge behält, geht es allenfalls, doch immer nur sinnbildlich an, sie für einen Gott zu erklären. Tritt man aber ins Innere, nimmt also die subjektive und die moralische Seite hinzu, mit ihrem Uebergewicht von Noth, Leiden und Quaal, von Zwiespalt, Bosheit, Verruchtheit und Verkehrtheit; da wird man bald mit Schrecken inne, daß man nichts weniger, als eine Theophanie vor sich hat. – Ich nun aber habe gezeigt und habe es zumal in der Schrift »Vom Willen in der Natur« bewiesen, daß die in der Natur treibende und wirkende Kraft identisch ist mit dem Willen in uns. Dadurch tritt nun wirklich die moralische Weltordnung in unmittelbaren Zusammenhang mit der das Phänomen der Welt hervorbringenden Kraft. Denn der Beschaffenheit des Willens muß seine Erscheinung genau entsprechen: hierauf beruht die, §§ 63, 64 des ersten Bandes, gegebene Darstellung der ewigen Gerechtigkeit, und die Welt, obgleich aus eigener Kraft bestehend, erhält durchweg eine moralische Tendenz. Sonach ist jetzt allererst das seit Sokrates angeregte Problem wirklich gelöst und die Forderung der denkenden, auf das Moralische gerichteten Vernunft befriedigt. – Nie jedoch habe ich mich vermessen, eine Philosophie aufzustellen, die keine Fragen mehr übrig ließe. In diesem Sinne ist Philosophie wirklich unmöglich: sie wäre Allwissenheitslehre. Aber est quadam prodire tenus, si non datur ultra: es giebt eine Gränze, bis zu welcher das Nachdenken vordringen und so weit die Nacht unsers Daseyns erhellen kann, wenn gleich der Horizont stets dunkel bleibt. Diese Gränze erreicht meine Lehre im Willen zum Leben, der, auf seine eigene Erscheinung, sich bejaht oder verneint. Darüber aber noch hinausgehn wollen ist, in meinen Augen, wie über die Atmosphäre hinausfliegen wollen. Wir müssen dabei stehn bleiben; wenn gleich aus gelösten Problemen neue hervorgehn. Zudem aber ist darauf zu verweisen, daß die Gültigkeit des Satzes vom Grunde sich auf die Erscheinung beschränkt: dies war das Thema meiner ersten, schon 1813 herausgegebenen Abhandlung über jenen Satz. –

Jetzt gehe ich an die Ergänzungen einzelner Betrachtungen, und will damit anfangen, meine § 67 des ersten Bandes gegebene Erklärung des Weinens, daß es nämlich aus dem Mitleid, dessen Gegenstand man selbst ist, entspringt, durch ein Paar klassischer Dichterstellen zu belegen. – Am Schlusse des achten Gesanges der Odyssee bricht Odysseus, der bei seinen vielen Leiden nie weinend dargestellt wird, in Thränen aus, als er, noch ungekannt, beim Phäaken-König vom Sänger Demodokos sein früheres Heldenleben und Thaten besingen hört, indem dieses Andenken an seine glänzende Lebenszeit in Kontrast tritt mit seinem gegenwärtigen Elend. Also nicht dieses selbst unmittelbar, sondern die objektive Betrachtung desselben, das Bild seiner Gegenwart, hervorgehoben durch die Vergangenheit, ruft seine Thränen hervor: er fühlt Mitleid mit sich selbst. – Die selbe Empfindung läßt Euripides den unschuldig verdammten und sein eigenes Schicksal beweinenden Hippolytos aussprechen:

Pheu eith; ên emauton prosblepein enantion

stanth', hôs edakrys', hoia paschomen kaka.

(1084.)

(Heu, si liceret mihi, me ipsum extrinsecus spectare, quantopere deflerem mala, quae patior.)

Endlich mag, als Beleg zu meiner Erklärung, hier noch eine Anekdote Platz finden, die ich der Englischen Zeitung »Herald« vom 16. Juli 1836 entnehme. Ein Klient, als er vor Gericht die Darlegung seines Falls durch seinen Advokaten angehört hatte, brach in einen Strohm von Thränen aus und rief: »Nicht halb so viel glaubte ich gelitten zu haben, bis ich es heute hier angehört habe!« –

Wie, bei der Unveränderlichkeit des Charakters, d.h. des eigentlichen Grundwollens des Menschen, eine wirklich moralische Reue dennoch möglich sei, habe ich zwar § 55 des ersten Bandes dargelegt, will jedoch noch die folgende Erläuterung hinzufügen, der ich ein Paar Definitionen voranschicken muß. – Neigung ist jede stärkere Empfänglichkeit des Willens für Motive einer gewissen Art. Leidenschaft ist eine so starke Neigung, daß die sie anregenden Motive eine Gewalt über den Willen ausüben, welche stärker ist, als die jedes möglichen, ihnen entgegenwirkenden Motivs, wodurch ihre Herrschaft über den Willen eine absolute wird, dieser folglich gegen sie sich passiv, leidend verhält. Hiebei ist jedoch zu bemerken, daß Leidenschaften den Grad, wo sie der Definition vollkommen entsprechen, selten erreichen, vielmehr als bloße Approximationen zu demselben ihren Namen führen; daher es alsdann doch noch Gegenmotive giebt, die ihre Wirkung allenfalls zu hemmen vermögen, wenn sie nur deutlich ins Bewußtseyn treten. Der Affekt ist eine eben so unwiderstehliche, jedoch nur vorübergehende Erregung des Willens, durch ein Motiv, welches seine Gewalt nicht durch eine tief wurzelnde Neigung, sondern bloß dadurch erhält, daß es, plötzlich eintretend, die Gegenwirkung aller andern Motive, für den Augenblick, ausschließt, indem es in einer Vorstellung besteht, die, durch ihre übermäßige Lebhaftigkeit, die andern völlig verdunkelt, oder gleichsam durch ihre zu große Nähe sie ganz verdeckt, so daß sie nicht ins Bewußtseyn treten und auf den Willen wirken können, wodurch daher die Fähigkeit der Ueberlegung und damit die intellektuelle Freiheit78 in gewissem Grade aufgehoben wird. Demnach verhält sich der Affekt zur Leidenschaft wie die Fieberphantasie zum Wahnsinn.

Eine moralische Reue ist nun dadurch bedingt, daß, vor der That, die Neigung zu dieser dem Intellekt nicht freien Spielraum ließ, indem sie ihm nicht gestattete, die ihr entgegenstehenden Motive deutlich und vollständig ins Auge zu fassen, vielmehr ihn immer wieder auf die zu ihr auffordernden hinlenkte. Diese nun aber sind, nach vollbrachter That, durch diese selbst neutralisirt, mithin unwirksam geworden. Jetzt bringt die Wirklichkeit die entgegenstehenden Motive, als bereits eingetretene Folgen der That, vor den Intellekt, der nunmehr erkennt, daß sie die starkem gewesen wären, wenn er sie nur gehörig ins Auge gefaßt und erwogen hätte. Der Mensch wird also inne, daß er gethan hat, was seinem Willen eigentlich nicht gemäß war: diese Erkenntniß ist die Reue. Denn er hat nicht mit völliger intellektueller Freiheit gehandelt, indem nicht alle Motive zur Wirksamkeit gelangten. Was die der That entgegenstehenden ausschloß, war, bei der übereilten, der Affekt, bei der überlegten, die Leidenschaft. Oft hat es auch daran gelegen, daß seine Vernunft ihm die Gegenmotive zwar in abstracto vorhielt, aber nicht von einer hinlänglich starken Phantasie unterstützt wurde, die ihm den vollen Gehalt und die wahre Bedeutung derselben in Bildern vorgehalten hätte. Beispiele zu dem Gesagten sind die Fälle, wo Rachsucht, Eifersucht, Habsucht zum Morde riechen: nachdem er vollbracht ist, sind diese erloschen, und jetzt erheben Gerechtigkeit, Mitleid, Erinnerung früherer Freundschaft, ihre Stimme und sagen Alles, was sie vorhin gesagt haben würden, wenn man sie hätte zum Worte kommen lassen. Da tritt die bittere Reue ein, welche spricht: »Wär' es nicht geschehn, es geschähe nimmermehr.« Eine unvergleichliche Darstellung derselben liefert die berühmte, alte Schottische, auch von Herder übersetzte Ballade: »Edward, Edward!« – Auf analoge Art kann die Vernachlässigung des eigenen Wohls eine egoistische Reue herbeiführen: z.B. wann eine übrigens unrathsame Ehe geschlossen ist, in Folge verliebter Leidenschaft, welche jetzt eben dadurch erlischt, wonach nun erst die Gegenmotive des persönlichen Interesses, der verlorenen Unabhängigkeit u.s.w. ins Bewußtseyn treten und so reden, wie sie vorher geredet haben würden, wenn man sie hätte zum Worte kommen lassen. – Alle dergleichen Handlungen entspringen demnach im Grunde aus einer relativen Schwäche des Intellekts, sofern nämlich dieser sich vom Willen da übermeistern läßt, wo er, ohne sich von ihm stören zu lassen, seine Funktion des Vorhaltens der Motive hätte unerbittlich vollziehn sollen. Die Vehemenz des Willens ist dabei nur mittelbar die Ursache, sofern sie nämlich den Intellekt hemmt und dadurch sich Reue bereitet. – Die der Leidenschaftlichkeit entgegengesetzte Vernünftigkeit des Charakters, sôphrosynê, besteht eigentlich darin, daß der Wille nie den Intellekt dermaaßen überwältigt, daß er ihn verhindere, seine Funktion der deutlichen, vollständigen und klaren Darlegung der Motive, in abstracto für die Vernunft, in concreto für die Phantasie, richtig auszuüben. Dies kann nun sowohl auf der Mäßigkeit und Gelindigkeit des Willens, als auf der Stärke des Intellekts beruhen. Es ist nur erfordert, daß der letztere relativ, für den vorhandenen Willen, stark genug sei, also Beide im angemessenen Verhältniß zu einander stehn. –

Den, § 62 des ersten Bandes, wie auch in der Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 17, dargelegten Grundzügen der Rechtslehre sind noch folgende Erläuterungen beizufügen.

Die, welche, mit Spinoza, leugnen, daß es außer dem Staat ein Recht gebe, verwechseln die Mittel, das Recht geltend zu machen, mit dem Rechte. Des Schutzes ist das Recht freilich nur im Staate versichert, aber es selbst ist von diesem unabhängig vorhanden. Denn durch Gewalt kann es bloß unterdrückt, nie aufgehoben werden. Demgemäß ist der Staat nichts weiter als eine Schutzanstalt, nothwendig geworden durch die mannigfachen Angriffe, welchen der Mensch ausgesetzt ist und die er nicht einzeln, sondern nur im Verein mit Andern abzuwehren vermag. Sonach bezweckt der Staat:

1) Zuvörderst Schutz nach außen, welcher nöthig werden kann sowohl gegen leblose Naturkräfte, oder auch wilde Thiere, als gegen Menschen, mithin gegen andere Völkerschaften; wiewohl dieser Fall der häufigste und wichtigste ist: denn der schlimmste Feind des Menschen ist der Mensch: homo homini lupus. Indem, in Folge dieses Zwecks, die Völker den Grundsatz, stets nur defensiv, nie aggressiv gegen einander sich verhalten zu wollen, mit Worten, wenn auch nicht mit der That, aufstellen, erkennen sie das Völkerrecht. Dieses ist im Grunde nichts Anderes, als das Naturrecht, auf dem ihm allein geblichenen Gebiet seiner praktischen Wirksamkeit, nämlich zwischen Volk und Volk, als wo es allein walten muß, weil sein stärkerer Sohn, das positive Recht, da es eines Richters und Vollstreckers bedarf, nicht sich geltend machen kann. Demgemäß besteht dasselbe in einem gewissen Grad von Moralität im Verkehr der Völker mit einander, dessen Aufrechthaltung Ehrensache der Menschheit ist. Der Richterstuhl der Processe auf Grund desselben ist die öffentliche Meinung.

2) Schutz nach innen, also Schutz der Mitglieder eines Staates gegen einander, mithin Sicherung des Privatrechts, mittelst Aufrechthaltung eines rechtlichen Zustandes, welcher darin besteht, daß die koncentrirten Kräfte Aller jeden Einzelnen schützen, woraus ein Phänomen hervorgeht, als ob Alle rechtlich, d.h. gerecht wären, also Keiner den Andern verletzen wollte.

Aber, wie durchgängig in menschlichen Dingen die Beseitigung eines Uebels einem neuen den Weg zu eröffnen pflegt; so führt die Gewährung jenes zwiefachen Schutzes das Bedürfniß eines dritten herbei, nämlich:

3) Schutz gegen den Beschützer, d.h. gegen Den, oder Die, welchen die Gesellschaft die Handhabung des Schutzes übertragen hat, also Sicherstellung des öffentlichen Rechtes. Diese scheint am vollkommensten dadurch erreichbar, daß man die Dreieinigkeit der schützenden Macht, also die Legislative, die Judikative und die Exekutive von einander sondert und trennt, so daß jede von Andern und unabhängig von den übrigen verwaltet wird. – Der große Werth, ja die Grundidee des Königthums scheint mir darin zu liegen, daß, weil Menschen Menschen bleiben, Einer so hoch gestellt, ihm so viel Macht, Reichthum, Sicherheit und absolute Unverletzlichkeit gegeben werden muß, daß ihm für sich nichts zu wünschen, zu hoffen und zu fürchten bleibt; wodurch der ihm, wie Jedem, einwohnende Egoismus, gleichsam durch Neutralisation, vernichtet wird, und er nun, gleich als wäre er kein Mensch, befähigt ist, Gerechtigkeit zu üben und nicht mehr sein, sondern allein das öffentliche Wohl im Auge zu haben. Dies ist der Ursprung des gleichsam übermenschlichen Wesens, welches überall die Königswürde begleitet und sie so himmelweit von der bloßen Präsidentur unterscheidet. Daher muß sie auch erblich, nicht wählbar seyn: theils damit Keiner im König seines Gleichen sehn könne; theils damit dieser für seine Nachkommen nur dadurch sorgen kann, daß er für das Wohl des Staates sorgt, als welches mit dem seiner Familie ganz Eines ist.

Wenn man dem Staat, außer dem hier dargelegten Zweck des Schutzes, noch andere andichtet; so kann dies leicht den wahren in Gefahr setzen.

Das Eigenthumsrecht entsteht, nach meiner Darstellung, allein durch die Bearbeitung der Dinge. Diese schon oft ausgesprochene Wahrheit findet eine beachtenswerthe Bestätigung darin, daß sie sogar in praktischer Hinsicht geltend gemacht wird, in einer Aeußerung des Nordamerikanischen Ex-Präsidenten Quincy Adams, welche zu finden ist in der Quarterly Review von 1840, Nr. 130, wie auch, Französisch, in der Bibliothèque universelle de Genêve 1840, Juillet, No. 55. Ich will sie hier Deutsch wiedergeben: »Einige Moralisten haben das Recht der Europäer, in den Landstrichen der Amerikanischen Urvölker sich niederzulassen, in Zweifel gezogen. Aber haben sie die Frage reiflich erwogen? In Bezug auf den größten Theil des Landes, beruht das Eigenthumsrecht der Indianer selbst auf einer zweifelhaften Grundlage. Allerdings würde das Naturrecht ihnen ihre angebauten Felder, ihre Wohngebäude, hinreichendes Land für ihren Unterhalt und Alles, was persönliche Arbeit einem Jeden noch außerdem verschafft hätte, zusichern. Aber welches Recht hat der Jäger auf den weiten Wald, den er, seine Beute verfolgend, zufällig durchlaufen hat?« u.s.f. – Eben so haben Die, welche in unsern Tagen sich veranlaßt sahen, den Kommunismus mit Gründen zu bekämpfen (z.B. der Erzbischof von Paris, in einem Hirtenbriefe, im Juni 1851), stets das Argument vorangestellt, daß das Eigenthum der Ertrag der Arbeit, gleichsam nur die verkörperte Arbeit sei. – Dies beweist abermals, daß das Eigenthumsrecht allein durch die auf die Dinge verwendete Arbeit zu begründen ist, indem es nur in dieser Eigenschaft freie Anerkennung findet und sich moralisch geltend macht.

Einen ganz anderartigen Beleg der selben Wahrheit liefert die moralische Thatsache, daß, während das Gesetz die Wilddieberei eben so schwer, in manchen Ländern sogar noch schwerer, als den Gelddiebstahl bestraft, dennoch die bürgerliche Ehre, welche durch diesen unwiederbringlich verloren geht, durch jene eigentlich nicht verwirkt wird, sondern der »Wilderer«, sofern er nichts Anderes sich hat zu Schulden kommen lassen, zwar mit einem Makel behaftet ist, aber doch nicht, wie der Dieb, als unehrlich betrachtet und von Allen gemieden wird. Denn die Grundsätze der bürgerlichen Ehre beruhen auf dem moralischen und nicht auf dem bloß positiven Recht: das Wild aber ist kein Gegenstand der Bearbeitung, also auch nicht des moralisch gültigen Besitzes: das Recht darauf ist daher gänzlich ein positives und wird moralisch nicht anerkannt.

Dem Strafrecht sollte, nach meiner Ansicht, das Princip zum Grunde liegen, daß eigentlich nicht der Mensch, sondern nur die That gestraft wird, damit sie nicht wiederkehre: der Verbrecher ist bloß der Stoff, an dem die That gestraft wird; damit dem Gesetze, welchem zu Folge die Strafe eintritt, die Kraft abzuschrecken bleibe. Dies bedeutet der Ausdruck: »Er ist dem Gesetze verfallen.« Nach Kants Darstellung, die auf ein jus talionis hinausläuft, ist es nicht die That, sondern der Mensch, welcher gestraft wird. – Auch das Pönitentiarsystem will nicht sowohl die That, als den Menschen strafen, damit er nämlich sich bessere: dadurch setzt es den eigentlichen Zweck der Strafe, Abschreckung von der That, zurück, um den sehr problematischen der Besserung zu erreichen. Ueberall aber ist es eine mißliche Sache, durch ein Mittel zwei verschiedene Zwecke erreichen zu wollen; wie viel mehr, wenn beide, in irgend einem Sinne, entgegengesetzte sind. Erziehung ist eine Wohlthat, Strafe soll ein Uebel seyn: das Pönitentiargefängniß soll Beides zugleich leisten. – So groß ferner auch der Antheil seyn mag, den Rohheit und Unwissenheit, im Verein mit der äußern Bedrängniß, an vielen Verbrechen haben; so darf man jene doch nicht als die Hauptursache derselben betrachten; indem Unzählige in der selben Rohheit und unter ganz ähnlichen Umständen lebend, keine Verbrechen begehn. Die Hauptsache fällt also doch auf den persönlichen, moralischen Charakter zurück: dieser aber ist, wie ich in der Preisschrift über die Freiheit des Willens dargethan habe, schlechterdings unveränderlich. Daher ist eigentliche moralische Besserung gar nicht möglich; sondern nur Abschreckung von der That. Daneben läßt sich Berichtigung der Erkenntniß und Erweckung der Arbeitslust allerdings erreichen: es wird sich zeigen, wie weit dies wirken kann. Ueberdies erhellt aus dem von mir im Text aufgestellten Zweck der Strafe, daß, wo möglich, das scheinbare Leiden derselben das wirkliche übersteigen solle: die einsame Einsperrung leistet aber das Umgekehrte. Die große Pein derselben hat keine Zeugen und wird von Dem, der sie noch nicht erfahren hat, keineswegs anticipirt, schreckt also nicht ab. Sie bedroht den durch Mangel und Noth zum Verbrechen Versuchten mit dem entgegengesetzten Pol des menschlichen Elends, mit der Langenweile; aber, wie Goethe richtig bemerkt:

Wird uns eine rechte Quaal zu Theil,

Dann wünschen wir uns Langeweil.

Die Aussicht darauf wird ihn daher so wenig abschrecken, wie der Anblick der palastartigen Gefängnisse, welche von den ehrlichen Leuten für die Spitzbuben erbaut werden. Will man aber diese Pönitentiargefängnisse als Erziehungsanstalten betrachten; so ist zu bedauern, daß der Eintritt dazu nur durch Verbrechen erlangt wird; statt daß sie hätten diesen zuvorkommen sollen. –

Daß, wie Beccaria gelehrt hat, die Strafe ein richtiges Verhältniß zum Verbrechen haben soll, beruht nicht darauf, daß sie eine Buße für dasselbe wäre; sondern darauf, daß das Pfand dem Werthe Dessen, wofür es haftet, angemessen seyn muß. Daher ist Jeder berechtigt, als Garantie der Sicherheit seines Lebens fremdes Leben zum Pfände zu fordern; nicht aber eben so für die Sicherheit seines Eigenthums, als für welches fremde Freiheit u. s. w. Pfand genug ist. Zur Sicherstellung des Lebens der Bürger ist daher die Todesstrafe schlechterdings nothwendig. Denen, welche sie aufheben möchten, ist zu antworten: »Schafft erst den Mord aus der Welt: dann soll die Todesstrafe nachfolgen«. Auch sollte sie den entschiedenen Mordversuch eben so wie den Mord selbst treffen: denn das Gesetz will die That strafen, nicht den Erfolg rächen. Ueberhaupt giebt der zu verhütende Schaden den richtigen Maaßstab für die anzudrohende Strafe, nicht aber giebt ihn der moralische Unwerth der verbotenen Handlung. Daher kann das Gesetz, mit Recht, auf das Fallenlassen eines Blumentopfes vom Fenster Zuchthausstrafe, auf das Tabakrauchen im Walde, während des Sommers, Karrenstrafe setzen, dasselbe jedoch im Winter erlaubt seyn lassen. Aber, wie in Polen, auf das Schießen eines Auerochsen den Tod zu setzen, ist zu viel, da die Erhaltung des Geschlechts der Auerochsen nicht mit Menschenleben erkauft werden darf. Neben der Große des zu verhütenden Schadens kommt, bei Bestimmung des Maaßes der Strafe, die Stärke der zur verbotenen Handlung antreibenden Motive in Betracht. Ein ganz anderer Maaßstab würde für die Strafe gelten, wenn Buße, Vergeltung, jus talionis, der wahre Grund derselben wäre. Aber der Kriminalkodex soll nichts Anderes seyn, als ein Verzeichniß von Gegenmotiven zu möglichen verbrecherischen Handlungen: daher muß jedes derselben die Motive zu diesen letzteren entschieden überwiegen, und zwar um so mehr, je größer der Nachtheil ist, welcher aus der zu verhütenden Handlung entspringen würde, je stärker die Versuchung dazu und je schwieriger die Ueberführung des Thäters; – stets unter der richtigen Voraussetzung, daß der Wille nicht frei, sondern durch Motive bestimmbar ist; – außerdem ihm gar nicht beizukommen wäre. – Soviel zur Rechtslehre. –

In meiner Preisschrift über die Freiheit des Willens habe ich (S. 50 ff.) die Ursprünglichkeit und Unveränderlichkeit des angeborenen Charakters, aus welchem der moralische Gehalt des Lebenswandels hervorgeht, nachgewiesen. Sie steht als Thatsache fest. Aber um die Probleme in ihrer Größe zu erfassen, ist es nöthig, die Gegensätze bisweilen hart an einander zu stellen. An diesen also vergegenwärtige man sich, wie unglaublich groß der angeborene Unterschied zwischen Mensch und Mensch ausfällt, im Moralischen und im Intellektuellen. Hier Edelmuth und Weisheit; dort Bosheit und Dummheit. Dem Einen leuchtet die Güte des Herzens aus den Augen, oder auch der Stämpel des Genies thront auf seinem Antlitz. Der niederträchtigen Physiognomie eines Andern ist das Gepräge moralischer Nichtswürdigkeit und intellektueller Stumpfheit, von den Händen der Natur selbst, unverkennbar und unauslöschlich aufgedrückt: er sieht darein, als müßte er sich seines Daseyns schämen. Diesem Aeußern aber entspricht wirklich das Innere. Unmöglich können wir annehmen, daß solche Unterschiede, die das ganze Wesen des Menschen umgestalten und durch nichts aufzuheben sind, welche ferner, im Konflikt mit den Umständen, seinen Lebenslauf bestimmen, ohne Schuld oder Verdienst der damit Behafteten vorhanden seyn könnten und das bloße Werk des Zufalls wären. Schon hieraus ist evident, daß der Mensch, in gewissem Sinne, sein eigenes Werk seyn muß. Nun aber können wir andererseits den Ursprung jener Unterschiede empirisch nachweisen in der Beschaffenheit der Eltern; und noch dazu ist das Zusammentreffen und die Verbindung dieser Eltern offenbar das Werk höchst zufälliger Umstände gewesen. – Durch solche Betrachtungen nun werden wir mächtig hingewiesen auf den Unterschied zwischen der Erscheinung und dem Wesen an sich der Dinge, als welcher allein die Lösung jenes Problems enthalten kann. Nur mittelst der Formen der Erscheinung offenbart sich das Ding an sich: was daher aus diesem selbst hervorgeht, muß dennoch in jenen Formen, also auch am Bande der Ursächlichkeit auftreten: demzufolge wird es hier sich uns darstellen als das Werk einer geheimen, uns unbegreiflichen Leitung der Dinge, deren bloßes Werkzeug der äußere, erfahrungsmäßige Zusammenhang wäre, in welchem inzwischen Alles was geschieht durch Ursachen herbeigeführt, also nothwendig und von außen bestimmt eintritt, während der wahre Grund davon im Innern des also erscheinenden Wesens liegt. Freilich können wir hier die Lösung des Problems nur ganz von Weitem absehn, und gerathen, indem wir ihm nachdenken, in einen Abgrund von Gedanken, recht eigentlich, wie Hamlet sagt, thoughts beyond the reaches of our souls. Ueber diese geheime, ja selbst nur gleichnißweise zu denkende Leitung der Dinge habe ich meine Gedanken dargelegt in dem Aufsatz »Ueber die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen«, im ersten Bande der Parerga. –

Im § 14 meiner Preisschrift über die Grundlage der Moral findet man eine Darstellung des Egoismus, seinem Wesen nach, als deren Ergänzung folgender Versuch, seine Wurzel aufzudecken, zu betrachten ist. – Die Natur selbst widerspricht sich geradezu, je nachdem sie vom Einzelnen oder vom Allgemeinen aus, von innen oder von außen, vom Centro oder von der Peripherie aus redet. Ihr Centrum nämlich hat sie in jedem Individuo: denn jedes ist der ganze Wille zum Leben. Daher, sei dasselbe auch nur ein Insekt, oder ein Wurm, die Natur selbst aus ihm also redet: »Ich allein bin Alles in Allem: an meiner Erhaltung ist Alles gelegen, das Uebrige mag zu Grunde gehn, es ist eigentlich nichts.« So redet die Natur vom besondern Standpunkte, also von dem des Selbstbewußtseyns aus, und hierauf beruht der Egoismus jedes Lebenden. Hingegen vom allgemeinen Standpunkt aus, – welches der des Bewußtseyns von andern Dingen, also der des objektiven Erkennens ist, das für den Augenblick absieht von dem Individuo, an dem die Erkenntniß haftet, – also von außen, von der Peripherie aus, redet die Natur so: »Das Individuum ist nichts und weniger als nichts. Millionen Individuen zerstöre ich tagtäglich, zum Spiel und Zeitvertreib: ich gebe ihr Geschick dem launigsten und muthwilligsten meiner Kinder preis, dem Zufall, der nach Belieben auf sie Jagd macht. Millionen neuer Individuen schaffe ich jeden Tag, ohne alle Verminderung meiner hervorbringenden Kraft; so wenig, wie die Kraft eines Spiegels erschöpft wird, durch die Zahl der Sonnenbilder, die er nach einander auf die Wand wirft. Das Individuum ist nichts.« – Nur wer diesen offenbaren Widerspruch der Natur wirklich zu vereinen und auszugleichen weiß, hat eine wahre Antwort auf die Frage nach der Vergänglichkeit oder Unvergänglichkeit seines eigenen Selbst. Ich glaube in den ersten vier Kapiteln dieses vierten Buches der Ergänzungen eine förderliche Anleitung zu solcher Erkenntniß gegeben zu haben. Das Obige läßt übrigens sich auch folgendermaaßen erläutern. Jedes Individuum, indem es nach innen blickt, erkennt in seinem Wesen, welches sein Wille ist, das Ding an sich, daher das überall allein Reale. Demnach erfaßt es sich als den Kern und Mittelpunkt der Welt, und findet sich unendlich wichtig. Blickt es hingegen nach außen; so ist es auf dem Gebiete der Vorstellung, der bloßen Erscheinung, wo es sich sieht als ein Individuum unter unendlich vielen Individuen, sonach als ein höchst Unbedeutendes, ja gänzlich Verschwindendes. Folglich ist jedes, auch das unbedeutendeste Individuum, jedes Ich, von innen gesehn, Alles in Allem; von außen gesehn hingegen, ist es nichts, oder doch so viel wie nichts. Hierauf also beruht der große Unterschied zwischen Dem, was nothwendig Jeder in seinen eigenen Augen, und Dem, was er in den Augen aller Andern ist, mithin der Egoismus, den Jeder Jedem vorwirft. –

In Folge dieses Egoismus ist unser Aller Grundirrthum dieser, daß wir einander gegenseitig Nicht-Ich sind. Hingegen ist gerecht, edel, menschenfreundlich seyn, nichts Anderes, als meine Metaphysik in Handlungen übersetzen. – Sagen, daß Zeit und Raum bloße Formen unserer Erkenntniß, nicht Bestimmungen der Dinge an sich sind, ist das Selbe, wie sagen, daß die Metempsychosenlehre, »Du wirst einst als Der, den du jetzt verletzest, wiedergeboren werden und die gleiche Verletzung erleiden«, identisch ist mit der oft erwähnten Brahmanenformel Tat twam asi, »Dies bist Du«. – Aus der unmittelbaren und intuitiven Erkenntniß der metaphysischen Identität aller Wesen geht, wie ich öfter, besonders § 22 der Preisschrift über die Grundlage der Moral, gezeigt habe, alle ächte Tugend hervor. Sie ist aber deswegen nicht die Folge einer besondern Ueberlegenheit des Intellekts; vielmehr ist selbst der schwächste hinreichend, das principium individuationis zu durchschauen, als worauf es dabei ankommt. Demgemäß kann man den vortrefflichsten Charakter sogar bei einem schwachen Verstande finden, und ist ferner die Erregung unsers Mitleids von keiner Anstrengung unsers Intellekts begleitet. Es scheint vielmehr, daß die erforderte Durchschauung des principii individuationis in Jedem vorhanden seyn würde, wenn nicht sein Wille sich ihr widersetzte, als welcher, vermöge seines unmittelbaren, geheimen und despotischen Einflusses auf den Intellekt, sie meistens nicht aufkommen läßt; so daß alle Schuld zuletzt doch auf den Willen zurückfällt; wie es auch der Sache angemessen ist.

Die oben berührte Lehre von der Metempsychose entfernt sich bloß dadurch von der Wahrheit, daß sie in die Zukunft verlegt, was schon jetzt ist. Sie läßt nämlich mein inneres Wesen an sich selbst erst nach meinem Tode in Andern daseyn, während, der Wahrheit nach, es schon jetzt auch in ihnen lebt, und der Tod bloß die Täuschung, vermöge deren ich dessen nicht inne werde, aufhebt; gleichwie das zahllose Heer der Sterne allezeit über unserm Haupte leuchtet, aber uns erst sichtbar wird, wann die eine nahe Erdensonne untergegangen ist. Von diesem Standpunkt aus erscheint meine individuelle Existenz, so sehr sie auch, jener Sonne gleich, mir Alles überstrahlt, im Grunde doch nur als ein Hinderniß, welches zwischen mir und der Erkenntniß des wahren Umfangs meines Wesens steht. Und weil jedes Individuum, in seiner Erkenntniß, diesem Hindernisse unterliegt; so ist es eben die Individuation, welche den Willen zum Leben über sein eigenes Wesen im Irrthum erhält: sie ist die Maja des Brahmanismus. Der Tod ist eine Widerlegung dieses Irrthums und hebt ihn auf. Ich glaube, wir werden im Augenblicke des Sterbens inne, daß eine bloße Täuschung unser Daseyn auf unsere Person beschränkt hatte. Sogar empirische Spuren hievon lassen sich nachweisen in manchen dem Tode, durch Aufhebung der Koncentration des Bewußtseyns im Gehirn, verwandten Zuständen, unter denen der magnetische Schlaf der hervorstechendeste ist, als in welchem, wenn er die höheren Grade erreicht, unser Daseyn, über unsere Person hinaus und in andern Wesen, sich durch mancherlei Symptome kund giebt, am auffallendesten durch unmittelbare Theilnahme an den Gedanken eines andern Individuums, zuletzt sogar durch die Fähigkeit, das Abwesende, Entfernte, ja, das Zukünftige zu erkennen, also durch eine Art von Allgegenwart.

Auf dieser metaphysischen Identität des Willens, als des Dinges an sich, bei der zahllosen Vielheit seiner Erscheinungen, beruhen überhaupt drei Phänomene, welche man unter den gemeinsamen Begriff der Sympathie bringen kann: 1) das Mitleid, welches, wie ich dargethan habe, die Basis der Gerechtigkeit und Menschenliebe, caritas, ist; 2) die Geschlechtsliebe mit eigensinniger Auswahl, amor, welche das Leben der Gattung ist, das seinen Vorrang vor dem der Individuen geltend macht; 3) die Magie, zu welcher auch der animalische Magnetismus und die sympathetischen Kuren gehören. Demnach ist Sympathie zu definiren: das empirische Hervortreten der metaphysischen Identität des Willens, durch die physische Vielheit seiner Erscheinungen hindurch, wodurch sich ein Zusammenhang kund giebt, der gänzlich verschieden ist von dem durch die Formen der Erscheinung vermittelten, den wir unter dem Satze vom Grunde begreifen.