§ 44

Was für jene untersten Stufen der Objektität des Willens die zwei erwähnten Künste leisten, das leistet für die höhere Stufe der vegetabilischen Natur gewissermaaßen die schöne Gartenkunst. Die landschaftliche Schönheit eines Fleckes beruht großentheils auf der Mannigfaltigkeit der auf ihm sich beisammenfindenden natürlichen Gegenstände, und sodann darauf, daß diese sich rein aussondern, deutlich hervortreten und doch in passender Verbindung und Abwechselung sich darstellen. Diese beiden Bedingungen sind es, denen die schöne Gartenkunst nachhilft: jedoch ist sie ihres Stoffes lange nicht so sehr Meister, wie die Baukunst des ihrigen, und daher ihre Wirkung beschränkt. Das Schöne, was sie vorzeigt, gehört fast ganz der Natur: sie selbst hat wenig dazu gethan: und andererseits kann sie gegen die Ungunst der Natur sehr wenig ausrichten, und wo ihr diese nicht vor-sondern entgegenarbeitet, sind ihre Leistungen gering.

Sofern also die Pflanzenwelt, welche ohne Vermittelung der Kunst sich überall zum ästhetischen Genüsse anbietet, Objekt der Kunst ist, gehört sie hauptsächlich der Landschaftsmalerei an. Im Gebiete dieser liegt mit ihr auch die ganze übrige erkenntnißlose Natur. – Beim Stillleben und gemalter bloßer Architektur, Ruinen, Kirche von innen u. dgl. ist die subjektive Seite des ästhetischen Genusses die überwiegende: d.h. unsere Freude daran liegt nicht hauptsächlich in der Auffassung der dargestellten Ideen unmittelbar, sondern mehr im subjektiven Korrelat dieser Auffassung, in dem reinen willenlosen Erkennen; da, indem der Maler uns die Dinge durch seine Augen sehn läßt, wir hier zugleich eine Mitempfindung und das Nachgefühl der tiefen Geistesruhe und des gänzlichen Schweigens des Willens erhalten, welche nothig waren, um die Erkenntniß so ganz in jene leblosen Gegenstände zu versenken und sie mit solcher Liebe, d.h. hier mit solchem Grade der Objektivität, aufzufassen. – Die Wirkung der eigentlichen Landschaftsmalerei ist nun zwar im Ganzen auch noch von dieser Art: allein weil die dargestellten Ideen, als höhere Stufen der Objektivation des Willens, schon bedeutsamer und vielsagender sind; so tritt die objektive Seite des ästhetischen Wohlgefallens schon mehr hervor und hält der subjektiven das Gleichgewicht, Das reine Erkennen als solches ist nicht mehr ganz die Hauptsache; sondern mit gleicher Macht wirkt die erkannte Idee, die Welt als Vorstellung auf einer bedeutenden Stufe der Objektivation des Willens.

Aber eine noch viel höhere Stufe offenbart die Thiermalerei und Thierbildhauerei, von welcher letzteren wir bedeutende antike Ueberreste haben, z.B. Pferde, in Venedig, auf Monte cavallo, auf den Elginschen Reliefs, auch zu Florenz, in Bronce und Marmor, eben daselbst der antike Eber, die heulenden Wölfe, ferner die Löwen am Arsenal zu Venedig, auch im Vatikan ein ganzer Saal voll meist antiker Thiere u.s.w. Bei diesen Darstellungen erhält nun die objektive Seite des ästhetischen Wohlgefallens ein entschiedenes Uebergewicht über die subjektive. Die Ruhe des diese Ideen erkennenden Subjekts, das den eigenen Willen beschwichtigt hat, ist zwar, wie bei jeder ästhetischen Betrachtung, vorhanden; aber ihre Wirkung wird nicht empfunden: denn uns beschäftigt die Unruhe und Heftigkeit des dargestellten Willens. Es ist jenes Wollen, welches auch unser Wesen ausmacht, das uns hier vor Augen tritt, in Gestalten, in denen seine Erscheinung nicht, wie in uns, durch die Besonnenheit beherrscht und gemildert ist, sondern sich in starkem Zügen und mit einer Deutlichkeit, die an das Grotteske und Monströse streift, darstellt, dafür aber auch ohne Verstellung, naiv und offen, frei zu Tage liegend, worauf gerade unser Interesse an den Thieren beruht. Das Charakteristische der Gattungen trat schon bei der Darstellung der Pflanzen hervor, zeigte sich jedoch nur in den Formen: hier wird es viel bedeutender und spricht sich nicht nur in der Gestalt, sondern in Handlung, Stellung und Geberde aus, obwohl immer nur noch als Charakter der Art, nicht des Individuums. – Dieser Erkenntniß der Ideen höherer Stufen, welche wir in der Malerei durch fremde Vermittelung empfangen, können wir auch unmittelbar theilhaft werden, durch rein kontemplative Anschauung der Pflanzen und Beobachtung der Thiere, und zwar letzterer in ihrem freien, natürlichen und behaglichen Zustande. Die objektive Betrachtung ihrer mannigfaltigen, wundersamen Gestalten und ihres Thuns und Treibens ist eine lehrreiche Lektion aus dem großen Buche der Natur, ist die Entzifferung der wahren Signatura rerum62: wir sehn in ihr die vielfachen Grade und Weisen der Manifestation des Willens, welcher, in allen Wesen der Eine und selbe, überall das Selbe will, was eben als Leben, als Daseyn, sich objektivirt, in so endloser Abwechselung, so verschiedenen Gestalten, die alle Akkommodationen zu den verschiedenen äußeren Bedingungen sind, vielen Variationen des selben Themas zu vergleichen. Sollten wir aber dem Betrachter den Aufschluß über ihr inneres Wesen auch für die Reflexion und in Einem Worte mittheilen; so würden wir am besten jene Sanskrit-Formel, die in den heiligen Büchern der Hindu so oft vorkommt und Mahavakya, d.h. das große Wort, genannt wird, dazu gebrauchen können: »Tat twam asi«, das heißt: »Dieses Lebende bist du.«

§ 45

Die Idee, in welcher der Wille den höchsten Grad seiner Objektivation erreicht, unmittelbar anschaulich darzustellen, ist endlich die große Aufgabe der Historienmalerei und der Skulptur. Die objektive Seite der Freude am Schönen ist hier durchaus überwiegend und die subjektive in den Hintergrund getreten. Ferner ist zu beachten, daß noch auf der nächsten Stufe unter dieser, in der Thiermalerei, das Charakteristische völlig Eins mit dem Schönen ist: der am meisten charakteristische Löwe, Wolf, Pferd, Schaaf, Stier, war auch allemal der schönste. Der Grund hievon ist, daß die Thiere nur Gattungscharakter, keinen Individualcharakter haben. Bei der Darstellung des Menschen sondert sich nun aber der Gattungscharakter vom Charakter des Individuums: jener heißt nun Schönheit (gänzlich im objektiven Sinn), dieser aber behält den Namen Charakter oder Ausdruck bei, und es tritt die neue Schwierigkeit ein, beide zugleich im nämlichen Individuo vollkommen darzustellen.

Menschliche Schönheit ist ein objektiver Ausdruck, welcher die vollkommenste Objektivation des Willens auf der höchsten Stufe seiner Erkennbarkeit bezeichnet, die Idee des Menschen überhaupt, vollständig ausgedrückt in der angeschauten Form. So sehr hier aber auch die objektive Seite des Schönen hervortritt; so bleibt die subjektive doch ihre stete Begleiterin: und eben weil kein Objekt uns so schnell zum rein ästhetischen Anschauen hinreißt, wie das schönste Menschenantlitz und Gestalt, bei deren Anblick uns augenblicklich ein unaussprechliches Wohlgefallen ergreift und über uns selbst und Alles was uns quält hinaushebt; so ist dieses nur dadurch möglich, daß diese allerdeutlichste und reinste Erkennbarkeit des Willens uns auch am leichtesten und schnellsten in den Zustand des reinen Erkennens versetzt, in welchem unsere Persönlichkeit, unser Wollen mit seiner steten Pein, verschwindet, so lange die rein ästhetische Freude anhält: daher sagt Goethe: »Wer die menschliche Schönheit erblickt, den kann nichts Uebles anwehen: er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Uebereinstimmung.« – Daß nun der Natur eine schöne Menschengestalt gelingt, müssen wir daraus erklären, daß der Wille, indem er sich auf dieser höchsten Stufe in einem Individuo objektivirt, durch glückliche Umstände und seine Kraft, alle die Hindernisse und den Widerstand vollkommen besiegt, welche ihm die Willenserscheinungen niedriger Stufen entgegensetzen, dergleichen die Naturkräfte sind, welchen er die Allen angehörende Materie immer erst abgewinnen und entreißen muß. Ferner hat die Erscheinung des Willens auf den obern Stufen immer die Mannigfaltigkeit in ihrer Form: schon der Baum ist nur ein systematisches Aggregat der zahllos wiederholten sprossenden Fasern: diese Zusammensetzung nimmt höher herauf immer mehr zu, und der menschliche Körper ist ein höchst kombinirtes System ganz verschiedener Theile, deren jeder ein dem Ganzen untergeordnetes, aber doch auch eigenthümliches Leben, vita propria, hat: daß nun alle diese Theile gerade auf die gehörige Weise dem Ganzen untergeordnet und einander nebengeordnet seien, harmonisch zur Darstellung des Ganzen konspiriren, nichts übermäßig, nichts verkümmert sei; – dies Alles sind die seltenen Bedingungen, deren Resultat die Schönheit, der vollkommen ausgeprägte Gattungscharakter ist. – So die Natur. Wie aber die Kunst? – Man meint, durch Nachahmung der Natur. – Woran soll aber der Künstler ihr gelungenes und nachzuahmendes Werk erkennen und es unter den mißlungenen herausfinden; wenn er nicht vor der Erfahrung das Schöne anticipirt? Hat überdies auch jemals die Natur einen in allen Theilen vollkommen schönen Menschen hervorgebracht? – Da hat man gemeint, der Künstler müsse die an viele Menschen einzeln vertheilten schönen Theile zusammensuchen und aus ihnen ein schönes Ganzes zusammensetzen: eine verkehrte und besinnungslose Meinung. Denn es fragt sich abermals, woran soll er erkennen, daß gerade diese Formen die schönen sind und jene nicht? – Auch sehn wir, wie weit in der Schönheit die alten deutschen Maler durch Nachahmung der Natur gekommen sind. Man betrachte ihre nackten Figuren, – Rein a posteriori und aus bloßer Erfahrung ist gar keine Erkenntniß des Schönen möglich: sie ist immer, wenigstens zum Theil, a priori, wiewohl von ganz anderer Art, als die uns a priori bewußten Gestaltungen des Satzes vom Grunde. Diese betreffen die allgemeine Form der Erscheinung als solcher, wie sie die Möglichkeit der Erkenntniß überhaupt begründet, das allgemeine, ausnahmslose Wie des Erscheinens, und aus dieser Erkenntniß geht Mathematik und reine Naturwissenschaft hervor: jene andere Erkenntnißart a priori hingegen, welche die Darstellung des Schönen möglich macht, betrifft, statt der Form, den Inhalt der Erscheinungen, statt des Wie, das Was des Erscheinens. Daß wir Alle die menschliche Schönheit erkennen, wenn wir sie sehn, im ächten Künstler aber dies mit solcher Klarheit geschieht, daß er sie zeigt, wie er sie nie gesehn hat, und die Natur in seiner Darstellung übertrifft; dies ist nur dadurch möglich, daß der Wille, dessen adäquate Objektivation, auf ihrer höchsten Stufe, hier beurtheilt und gefunden werden soll, ja wir selbst sind. Dadurch allein haben wir in der That eine Anticipation Dessen, was die Natur (die ja eben der Wille ist, der unser eigenes Wesen ausmacht) darzustellen sich bemüht; welche Anticipation im ächten Genius von dem Grade der Besonnenheit begleitet ist, daß er, indem er im einzelnen Dinge dessen Idee erkennt, gleichsam die Natur auf halbem Worte versteht und nun rein ausspricht, was sie nur stammelt, daß er die Schönheit der Form, welche ihr in tausend Versuchen mißlingt, dem harten Marmor aufdrückt, sie der Natur gegenüberstellt, ihr gleichsam zurufend: »Das war es, was du sagen wolltest!« und »Ja, Das war es!« hallt es aus dem Kenner wider. – Nur so konnte der geniale Grieche den Urtypus der menschlichen Gestalt finden und ihn als Kanon der Schule der Skulptur aufstellen; und auch allein vermöge einer solchen Anticipation ist es uns Allen möglich, das Schöne da, wo es der Natur im Einzelnen wirklich gelungen ist, zu erkennen. Diese Anticipation ist das Ideal: es ist die Idee, sofern sie, wenigstens zur Hälfte, a priori erkannt ist und, indem sie als solche dem a posteriori durch die Natur Gegebenen ergänzend entgegenkommt, für die Kunst praktisch wird. Die Möglichkeit solcher Anticipation des Schönen a priori im Künstler, wie seiner Anerkennung a posteriori im Kenner, liegt darin, daß Künstler und Kenner das Ansich der Natur, der sich objektivirende Wille, selbst sind. Denn nur vom Gleichen, wie Empedokles sagte, wird das Gleiche erkannt: nur Natur kann sich selbst verstehn; nur Natur wird sich selbst ergründen; aber auch nur vom Geist wird der Geist vernommen.63

Die verkehrte, wiewohl vom Xenophontischen Sokrates ausgesprochene Meinung (Stobaei Floril. Vol. 2, p. 384), daß die Griechen das aufgestellte Ideal menschlicher Schönheit ganz empirisch, durch Zusammenlesen einzelner schöner Theile, hier ein Knie, dort einen Arm entblößend und merkend, aufgefunden hätten, hat übrigens eine ihr ganz analoge im Betreff der Dichtkunst, nämlich die Annahme, daß z.B. Shakespeare die unzählig mannigfaltigen, so wahren, so gehaltenen, so aus der Tiefe herausgearbeiteten Charaktere in seinen Dramen, aus seiner eigenen Erfahrung im Weltleben sich gemerkt und dann wiedergegeben hätte. Die Unmöglichkeit und Absurdität solcher Annahme bedarf keiner Auseinandersetzung: es ist offenbar, daß der Genius, wie er die Werke der bildenden Kunst nur durch eine ahndende Anticipation des Schönen hervorbringt, so die Werke der Dichtkunst nur durch eine eben solche Anticipation des Charakteristischen; wenn gleich beide der Erfahrung bedürfen, als eines Schemas, woran allein jenes ihnen a priori dunkel Bewußte zur vollen Deutlichkeit hervorgerufen wird und die Möglichkeit besonnener Darstellung nunmehr eintritt.

Menschliche Schönheit wurde oben erklärt als die vollkommenste Objektivation des Willens auf der höchsten Stufe seiner Erkennbarkeit. Sie drückt sich aus durch die Form: und diese liegt im Raum allein und hat keine nothwendige Beziehung auf die Zeit, wie z.B. die Bewegung eine hat. Wir können insofern sagen: die adäquate Objektivation des Willens durch eine bloß räumliche Erscheinung ist Schönheit, im objektiven Sinn. Die Pflanze ist keine andere, als eine solche bloß räumliche Erscheinung des Willens; da keine Bewegung und folglich keine Beziehung auf die Zeit (abgesehn von ihrer Entwickelung) zum Ausdruck ihres Wesens gehört: ihre bloße Gestalt spricht ihr ganzes Wesen aus und legt es offen dar. Thier und Mensch aber bedürfen zur vollständigen Offenbarung des in ihnen erscheinenden Willens noch einer Reihe von Handlungen, wodurch jene Erscheinung in ihnen eine unmittelbare Beziehung auf die Zeit erhält. Dies Alles ist schon im vorigen Buch erörtert worden: an unsere gegenwärtige Betrachtung knüpft es sich durch Folgendes. Wie die bloß räumliche Erscheinung des Willens diesen auf jeder bestimmten Stufe vollkommen oder unvollkommen objektiviren kann, was eben Schönheit oder Häßlichkeit ausmacht; so kann auch die zeitliche Objektivation des Willens, d.i. die Handlung und zwar die unmittelbare, also die Bewegung, dem Willen, der sich in ihr objektivirt, rein und vollkommen entsprechen, ohne fremde Beimischung, ohne Ueberflüssiges, ohne Ermangelndes, nur gerade den bestimmten jedesmaligen Willensakt ausdrückend; – – oder auch dies Alles sich umgekehrt verhalten. Im ersten Fall geschieht die Bewegung mit Grazie; im andern ohne solche. Wie also Schönheit die entsprechende Darstellung des Willens überhaupt durch seine bloß räumliche Erscheinung ist; so ist Grazie die entsprechende Darstellung des Willens durch seine zeitliche Erscheinung, d.h. der vollkommen richtige und angemessene Ausdruck jedes Willensaktes, durch die ihn objektivirende Bewegung und Stellung. Da Bewegung und Stellung den Leib schon voraussetzen; so ist Winckelmanns Ausdruck sehr richtig und treffend, wenn er sagt: »Die Grazie ist das eigenthümliche Verhältniß der handelnden Person zur Handlung.« (Werke, Bd. I, S. 258.) Es ergiebt sich von selbst, daß Pflanzen zwar Schönheit, aber keine Grazie beigelegt werden kann, es sei denn im figürlichen Sinn; Thieren und Menschen aber Beides, Schönheit und Grazie. Die Grazie besteht, dem Gesagten zufolge, darin, daß jede Bewegung und Stellung auf die leichteste, angemessenste und bequemste Art ausgeführt werde und sonach der rein entsprechende Ausdruck ihrer Absicht, oder des Willensaktes sei, ohne Ueberflüssiges, was als zweckwidriges, bedeutungsloses Handtieren oder verdrehte Stellung, ohne Ermangelndes, was als hölzerne Steifheit sich darstellt. Die Grazie setzt ein richtiges Ebenmaaß aller Glieder, einen regelrechten, harmonischen Körperbau, als ihre Bedingung, voraus; da nur mittelst dieser die vollkommene Leichtigkeit und augenscheinliche Zweckmäßigkeit in allen Stellungen und Bewegungen möglich ist: also ist die Grazie nie ohne einen gewissen Grad der Schönheit des Körpers. Beide vollkommen und im Verein sind die deutlichste Erscheinung des Willens auf der obersten Stufe seiner Objektivation.

Es gehört, wie oben erwähnt, zum Auszeichnenden der Menschheit, daß bei ihr der Charakter der Gattung und der des Individuums auseinandertreten, so daß, wie im vorigen Buch gesagt, jeder Mensch gewissermaaßen eine ganz eigenthümliche Idee darstellt. Die Künste daher, deren Zweck die Darstellung der Idee der Menschheit ist, haben neben der Schönheit, als dem Charakter der Gattung, noch den Charakter des Individuums, welcher vorzugsweise Charakter genannt wird, zur Aufgabe; diesen jedoch auch nur wieder, sofern er nicht als etwas Zufälliges, dem Individuo in seiner Einzeinheit ganz und gar Eigenthümliches anzusehn ist, sondern als eine gerade in diesem Individuo besonders hervortretende Seite der Idee der Menschheit, zu deren Offenbarung die Darstellung desselben daher zweckdienlich ist. Also muß der Charakter, obzwar als solcher individuell, dennoch idealisch, d.h. mit Hervorhebung seiner Bedeutsamkeit in Hinsicht auf die Idee der Menschheit überhaupt (zu deren Objektivirung er auf seine Weise beiträgt) aufgefaßt und dargestellt werden: außerdem ist die Darstellung Porträt, Wiederholung des Einzelnen als solchen, mit allen Zufälligkeiten. Und selbst auch das Porträt soll, wie Winckelmann sagt, das Ideal des Individuums seyn.

Jener idealisch aufzufassende Charakter, der die Hervorhebung einer eigenthümlichen Seite der Idee der Menschheit ist, stellt sich nun sichtbar dar, theils durch die bleibende Physiognomie und Korporisation, theils durch vorübergehenden Affekt und Leidenschaft, Modifikation des Erkennens und Wollens gegenseitig durch einander, welches alles sich in Miene und Bewegung ausdrückt. Da das Individuum immer der Menschheit angehört und andererseits die Menschheit sich immer im Individuo und sogar mit eigenthümlicher idealer Bedeutsamkeit desselben offenbart; so darf weder die Schönheit durch den Charakter, noch dieser durch jene aufgehoben werden: weil Aufhebung des Gattungscharakters durch den des Individuums Karikatur, und Aufhebung des Individuellen durch den Gattungscharakter Bedeutungslosigkeit geben würde. Daher wird die Darstellung, indem sie auf Schönheit ausgeht, welches hauptsächlich die Skulptur thut, dennoch diese (d.i. den Gattungscharakter) immer in etwas durch den individuellen Charakter modificiren und die Idee der Menschheit immer auf eine bestimmte, individuelle Weise, eine besondere Seite derselben hervorhebend, ausdrücken; weil das menschliche Individuum als solches gewissermaaßen die Dignität einer eigenen Idee hat und der Idee der Menschheit es eben wesentlich ist, daß sie sich in Individuen von eigenthümlicher Bedeutsamkeit darstellt. Daher finden wir in den Werken der Alten die von ihnen deutlich aufgefaßte Schönheit nicht durch eine einzige, sondern durch viele, verschiedenen Charakter tragende Gestalten ausgedrückt, gleichsam immer von einer andern Seite gefaßt, und demzufolge anders dargestellt im Apoll, anders im Bakchus, anders im Herkules, anders im Antinous: ja, das Charakteristische kann das Schöne beschränken und endlich sogar bis zur Häßlichkeit hervortreten, im trunkenen Silen, im Faun u.s.w. Geht aber das Charakteristische bis zur wirklichen Aufhebung des Charakters der Gattung, also bis zum Unnatürlichen; so wird es Karikatur. – Noch viel weniger aber, als die Schönheit, darf die Grazie durch das Charakteristische beeinträchtigt werden: welche Stellung und Bewegung auch der Ausdruck des Charakters erfordert; so muß sie doch auf die der Person angemessenste, zweckmäßigste, leichteste Weise vollzogen werden. Dies wird nicht nur der Bildhauer und Maler, sondern auch jeder gute Schauspieler beobachten: sonst entsteht auch hier Karikatur, als Verzerrung, Verrenkung.

In der Skulptur bleiben Schönheit und Grazie die Hauptsache. Der eigentliche Charakter des Geistes, hervortretend in Affekt, Leidenschaft, Wechselspiel des Erkennens und Wollens, durch den Ausdruck des Gesichts und der Geberde allein darstellbar, ist vorzüglich Eigenthum der Malerei. Denn obwohl Augen und Farbe, welche außer dem Gebiet der Skulptur liegen, viel zur Schönheit beitragen; so sind sie doch für den Charakter noch weit wesentlicher. Ferner entfaltet sich die Schönheit vollständiger der Betrachtung aus mehreren Standpunkten: hingegen kann der Ausdruck, der Charakter, auch aus einem Standpunkt vollkommen aufgefaßt werden.

Weil Schönheit offenbar der Hauptzweck der Skulptur ist, hat Lessing die Thatsache, daß der Laokoon nicht schreiet, daraus zu erklären gesucht, daß das Schreien mit der Schönheit nicht zu vereinigen sei. Da dem Lessing dieser Gegenstand das Thema, oder wenigstens der Anknüpfungspunkt, eines eigenen Buches ward, auch vor und nach ihm so Vieles über denselben geschrieben ist; so möge es mir vergönnt seyn, hier episodisch meine Meinung darüber vorzutragen, obwohl eine so specielle Erörterung nicht eigentlich in den Zusammenhang unserer durchaus auf das Allgemeine gerichteten Betrachtung gehört.

§ 46

Daß Laokoon, in der berühmten Gruppe, nicht schreiet, ist offenbar, und die allgemeine, immer wiederkehrende Befremdung darüber muß daher rühren, daß in seiner Lage wir alle schreien würden: und so fordert es auch die Natur; da bei dem heftigsten physischen Schmerz und plötzlich eingetretener größter körperlicher Angst, alle Reflexion, die etwan ein schweigendes Dulden herbeiführen könnte, gänzlich aus dem Bewußtseyn verdrängt wird, und die Natur sich durch Schreien Luft macht, wodurch sie zugleich den Schmerz und die Angst ausdrückt, den Retter herbeiruft und den Angreifer schreckt. Schon Winckelmann vermißte daher den Ausdruck des Schreiens; aber indem er die Rechtfertigung des Künstlers suchte, machte er eigentlich den Laokoon zu einem Stoiker, der es seiner Würde nicht gemäß hält, secundum naturam zu schreien, sondern zu seinem Schmerz sich noch den nutzlosen Zwang auflegt, die Aeußerungen desselben zu verbeißen: Winckelmann sieht daher in ihm »den geprüften Geist eines großen Mannes, welcher mit Martern ringt und den Ausdruck der Empfindung zu unterdrücken und in sich zu verschließen sucht: er bricht nicht in lautes Geschrei aus, wie beim Virgil, sondern es entsteigen ihm nur bange Seufzer«, u.s.w., (Werke, Bd. 7, S. 98. – Das Selbe ausführlicher Bd. 6, S. 104 fg.). Diese Meinung Winckelmanns kritisirte nun Lessing in seinem Laokoon und verbesserte sie auf die oben angegebene Weise: an die Stelle des psychologischen Grundes setzte er den rein ästhetischen, daß die Schönheit, das Princip der alten Kunst, den Ausdruck des Schreiens nicht zulasse. Ein anderes Argument, welches er hinzufügt, daß nämlich nicht ein ganz vorübergehender und keiner Dauer fähiger Zustand im unbeweglichen Kunstwerk dargestellt werden dürfe, hat hundert Beispiele von vortrefflichen Figuren gegen sich, die in ganz flüchtigen Bewegungen, tanzend, ringend, haschend u.s.w. festgehalten sind. Ja, Goethe in dem Aufsatz über den Laokoon, welcher die Propyläen eröffnet (S. 8), hält die Wahl eines solchen ganz vorübergehenden Moments geradezu für nothwendig. – In unsern Tagen entschied nun Hirt (Hören, 1797, siebtes St.), Alles auf die höchste Wahrheit des Ausdrucks zurückführend, die Sache dahin, daß Laokoon nicht schreiet, weil er, schon im Begriff am Stickfluß zu sterben, nicht mehr schreien kann. Zuletzt hat Fernow (Römische Studien, Bd. I, S. 426 fg.) alle jene drei Meinungen erörtert und abgewogen, selbst jedoch keine neue hinzugethan, sondern jene drei vermittelt und vereinigt.

Ich kann nicht umhin mich zu verwundern, daß so nachdenkende und scharfsichtige Männer mühsam unzulängliche Gründe aus der Ferne herbeiziehn, psychologische, ja physiologische Argumente ergreifen, um eine Sache zu erklären, deren Grund ganz nahe liegt und dem Unbefangenen gleich offenbar ist, – und besonders daß Lessing, welcher der richtigen Erklärung so nahe kam, dennoch den eigentlichen Punkt keineswegs getroffen hat.

Vor aller psychologischen und physiologischen Untersuchung, ob Laokoon in seiner Lage schreien wird oder nicht, welches ich übrigens ganz und gar bejahen würde, ist in Hinsicht auf die Gruppe zu entscheiden, daß das Schreien in ihr nicht dargestellt werden durfte, allein aus dem Grunde, weil die Darstellung desselben gänzlich außer dem Gebiete der Skulptur liegt. Man konnte nicht aus Marmor einen schreienden Laokoon hervorbringen, sondern nur einen den Mund aufreißenden und zu schreien sich fruchtlos bemühenden, einen Laokoon, dem die Stimme im Halse stecken geblieben, vox faucibus haesit. Das Wesen, und folglich auch die Wirkung des Schreiens auf den Zuschauer, liegt ganz allein im Laut, nicht im Mundaufsperren. Dieses letztere, das Schreien nothwendig begleitende Phänomen muß erst durch den dadurch hervorgebrachten Laut motivirt und gerechtfertigt werden: dann ist es, als für die Handlung charakteristisch, zulässig, ja nothwendig, wenn es gleich der Schönheit Abbruch thut. Allein in der bildenden Kunst, der die Darstellung des Schreiens selbst ganz fremd und unmöglich ist, das gewaltsame, alle Züge und den übrigen Ausdruck störende Mittel zum Schreien, das Mundaufsperren darzustellen, wäre wirklich unverständig; weil man dann das im Uebrigen viele Aufopferungen fordernde Mittel vor die Augen brächte, während der Zweck desselben, das Schreien selbst, zusammt dessen Wirkung auf das Gemüth, ausbliebe. Ja, was noch mehr ist, man brächte dadurch den jedesmal lächerlichen Anblick einer ohne Wirkung bleibenden Anstrengung hervor, wirklich dem zu vergleichen, welchen sich ein Spaaßvogel verschaffte, indem er dem schlafenden Nachtwächter das Horn mit Wachs fest verstopfte, ihn dann mit Feuergeschrei weckte und sich an dessen fruchtlosen Anstrengungen zum Blasen ergötzte. – Wo hingegen die Darstellung des Schreiens im Gebiet der darstellenden Kunst liegt, ist es durchaus zulässig, weil es der Wahrheit dient, d.i. der vollständigen Darstellung der Idee. So in der Dichtkunst, welche zur anschaulichen Darstellung die Phantasie des Lesers in Anspruch nimmt: daher schreit bei Virgil der Laokoon wie ein Stier, der sich losgerissen, nachdem ihn die Axt getroffen: daher läßt Homer (Il., XX, 48-53) den Mars und die Minerva ganz entsetzlich schreien, ihrer Götterwürde sowohl, als Götterschönheit unbeschadet. Eben so in der Schauspielkunst: Laokoon auf der Bühne mußte schlechterdings schreien; auch läßt Sophokles den Philoktet schreien, und er wird auf der alten Bühne allerdings wirklich geschrien haben. Als eines ganz ähnlichen Falles, erinnere ich mich in London den berühmten Schauspieler Kemble, in einem aus dem Deutschen übersetzten Stück, Pizarro, den Amerikaner Rolla darstellen gesehn zu haben, einen Halbwilden, aber von sehr edlem Charakter: dennoch, als er verwundet wurde, schrie er laut und heftig auf, was von großer und vortrefflicher Wirkung war, weil es, als höchst charakteristisch, zur Wahrheit viel beitrug. – Hingegen ein gemalter oder steinerner stummer Schreier wäre noch viel lächerlicher, als gemalte Musik, die schon in Goethes Propyläen gerügt wird; da das Schreien dem übrigen Ausdruck und der Schönheit viel mehr Abbruch thut, als die Musik, welche meistens nur Hände und Arme beschäftigt und als eine die Person charakterisirende Handlung anzusehn ist, ja insofern ganz füglich gemalt werden kann, sobald sie nur keine gewaltsame Bewegung des Körpers, oder Verziehung des Mundes erfordert: so z.B. die heilige Cäcilia an der Orgel, Raphaels Violinspieler in der Gallerie Sciarra zu Rom u.a.m. – Weil nun also, wegen der Gränzen der Kunst, der Schmerz des Laokoon nicht durch Schreien ausgedrückt werden durfte, mußte der Künstler jeden andern Ausdruck, desselben in Bewegung setzen: dies hat er in der höchsten Vollendung geleistet, wie es Winckelmann (Werke, Bd. 6, S. 104 fg.) so meisterhaft schildert, dessen vortreffliche Beschreibung daher ihren vollen Werth und Wahrheit behält, sobald man nur vom Unterlegen Stoischer Gesinnung abstrahirt.64

§ 47

Weil Schönheit nebst Grazie der Hauptgegenstand der Skulptur ist, liebt sie das Nackte, und leidet Bekleidung nur sofern diese die Formen nicht verbirgt. Sie bedient sich der Draperie nicht als einer Verhüllung, sondern als einer mittelbaren Darstellung der Form, welche Darstellungsweise den Verstand sehr beschäftigt, indem er zur Anschauung der Ursache, nämlich der Form des Körpers, nur durch die allein unmittelbar gegebene Wirkung, den Faltenwurf, gelangt. Sonach ist in der Skulptur die Draperie gewissermaaßen Das, was in der Malerei die Verkürzung ist. Beide sind Andeutungen, aber nicht symbolische, sondern solche, welche, wenn sie gelungen sind, den Verstand unmittelbar zwingen, das Angedeutete, eben so als ob es wirklich gegeben wäre, anzuschauen.

Es sei mir erlaubt, hier beiläufig ein die redenden Künste betreffendes Gleichniß einzuschalten. Nämlich, wie die schöne Körperform bei der leichtesten, oder bei gar keiner Bekleidung am vortheilhaftesten sichtbar ist, und daher ein sehr schöner Mensch, wenn er zugleich Geschmack hätte und auch demselben folgen dürfte, am liebsten beinahe nackt, nur nach Weise der Antiken bekleidet, gehn würde; – eben so nun wird jeder schöne und gedankenreiche Geist sich immer auf die natürlichste, unumwundenste, einfachste Weise ausdrücken, bestrebt, wenn es irgend möglich ist, seine Gedanken Ändern mitzutheilen, um dadurch die Einsamkeit, die er in einer Welt wie diese empfinden muß, sich zu erleichtern: umgekehrt nun aber wird Geistesarmuth, Verworrenheit, Verschrobenheit sich in die gesuchtesten Ausdrücke und dunkelsten Redensarten kleiden, um so in schwierige und pomphafte Phrasen kleine, winzige, nüchterne, oder alltägliche Gedanken zu verhüllen, Demjenigen gleich, der, weil ihm die Majestät der Schönheit abgeht, diesen Mangel durch die Kleidung ersetzen will und unter barbarischem Putz, Flittern, Federn, Krausen, Puffen und Mantel, die Winzigkeit oder Häßlichkeit seiner Person zu verstehen sucht. So verlegen wie dieser, wenn er nackt gehn sollte, wäre mancher Autor, wenn man ihn zwänge, sein so pomphaftes, dunkles Buch in dessen kleinen, klaren Inhalt zu übersetzen.

§ 48

Die Historienmalerei hat nun neben der Schönheit und Grazie noch den Charakter zum Hauptgegenstand, worunter überhaupt zu verstehn ist die Darstellung des Willens auf der höchsten Stufe seiner Objektivation, wo das Individuum, als Hervorhebung einer besondern Seite der Idee der Menschheit, eigenthümliche Bedeutsamkeit hat und diese nicht durch die bloße Gestalt allein, sondern durch Handlung jeder Art und die sie veranlassenden und begleitenden Modifikationen des Erkennens und Wollens, sichtbar in Miene und Geberde, zu erkennen giebt. Indem die Idee der Menschheit in diesem Umfange dargestellt werden soll, muß die Entfaltung ihrer Vielseitigkeit in bedeutungsvollen Individuen vor die Augen gebracht werden, und diese wieder können in ihrer Bedeutsamkeit nur durch mannigfaltige Scenen, Vorgänge und Handlungen sichtbar gemacht werden. Diese ihre unendliche Aufgabe löst nun die Historienmalerei dadurch, daß sie Lebensscenen jeder Art, von großer und geringer Bedeutsamkeit, vor die Augen bringt. Weder irgend ein Individuum, noch irgend eine Handlung kann ohne Bedeutung seyn: in allen und durch alle entfaltet sich mehr und mehr die Idee der Menschheit. Darum ist durchaus kein Vorgang des Menschenlebens von der Malerei auszuschließen. Man thut folglich den vortrefflichen Malern der Niederländischen Schule großes Unrecht, wenn man bloß ihre technische Fertigkeit schätzt, im Uebrigen aber verachtend auf sie herabsieht, weil sie meistens Gegenstände aus dem gemeinen Leben darstellten, man hingegen nur die Vorfälle aus der Weltgeschichte, oder Biblischen Historie für bedeutsam hält. Man sollte zuvörderst bedenken, daß die innere Bedeutsamkeit einer Handlung von der äußern ganz verschieden ist und beide oft getrennt von einander einhergehn. Die äußere Bedeutsamkeit ist die Wichtigkeit einer Handlung in Beziehung auf die Folgen derselben für und in der wirklichen Welt; also nach dem Satz vom Grunde. Die innere Bedeutsamkeit ist die Tiefe der Einsicht in die Idee der Menschheit, welche sie eröffnet, indem sie die seltener hervortretenden Seiten jener Idee an das Licht zieht, dadurch, daß sie deutlich und entschieden sich aussprechende Individualitäten, mittelst zweckmäßig gestellter Umstände, ihre Eigenthümlichkeiten entfalten läßt. Nur die innere Bedeutsamkeit gilt in der Kunst: die äußere gilt in der Geschichte. Beide sind völlig unabhängig von einander, können zusammen eintreten, aber auch jede allein erscheinen. Eine für die Geschichte höchst bedeutende Handlung kann an innerer Bedeutsamkeit eine sehr alltägliche und gemeine seyn: und umgekehrt kann eine Scene aus dem alltäglichen Leben von großer innerer Bedeutsamkeit seyn, wenn in ihr menschliche Individuen und menschliches Thun und Wollen, bis auf die verborgensten Falten, in einem hellen und deutlichen Lichte erscheinen. Auch kann, bei sehr verschiedener äußerer Bedeutsamkeit, die innere die gleiche und selbe seyn, so z.B. es für diese gleich gelten, ob Minister über der Landkarte um Länder und Völker streiten, oder Bauern in der Schenke über Spielkarten und Würfeln sich gegenseitig ihr Recht darthun wollen; wie es gleichviel ist, ob man mit goldenen, oder mit hölzernen Figuren Schach spielt. Außerdem sind die Scenen und Vorgänge, welche das Leben so vieler Millionen von Menschen ausmachen, ihr Thun und Treiben, ihre Noth und ihre Freude, schon deshalb wichtig genug, um Gegenstand der Kunst zu seyn, und müssen, durch ihre reiche Mannigfaltigkeit, Stoff genug geben zur Entfaltung der vielseitigen Idee der Menschheit. Sogar erregt die Flüchtigkeit des Augenblicks, welchen die Kunst in einem solchen Bilde (heut zu Tage genre-Bild genannt) fixirt hat, eine leise, eigenthümliche Rührung: denn die flüchtige Welt, welche sich unaufhörlich umgestaltet, in einzelnen Vorgängen, die doch das Ganze vertreten, festzuhalten im dauernden Bilde, ist eine Leistung der Malerkunst, durch welche sie die Zeit selbst zum Stillstande zu bringen scheint, indem sie das Einzelne zur Idee seiner Gattung erhebt. Endlich haben die geschichtlichen und nach außen bedeutenden Vorwürfe der Malerei oft den Nachtheil, daß gerade das Bedeutsame derselben nicht anschaulich darstellbar ist, sondern hinzugedacht werden muß. In dieser Hinsicht muß überhaupt die nominale Bedeutung des Bildes von der realen unterschieden werden: jene ist die äußere, aber nur als Begriff hinzukommende Bedeutung; diese die Seite der Idee der Menschheit, welche durch das Bild für die Anschauung offenbar wird. Z.B. jene sei Moses von der Aegyptischen Prinzessin gefunden; ein für die Geschichte höchst wichtiger Moment: die reale Bedeutung hingegen, das der Anschauung wirklich Gegebene, ist ein Findelkind von einer vornehmen Frau aus seiner schwimmenden Wiege gerettet: ein Vorfall, der sich öfter ereignet haben mag. Das Kostüm allein kann hier jenen bestimmten historischen Fall dem Gelehrten kenntlich machen; aber das Kostüm ist nur für die nominale Bedeutung gültig, für die reale aber gleichgültig: denn diese letztere kennt nur den Menschen als solchen, nicht die willkürlichen Formen. Aus der Geschichte genommene Vorwürfe haben vor den aus der bloßen Möglichkeit genommenen und daher nicht individuell, sondern nur generell zu benennenden, nichts voraus: denn das eigentlich Bedeutsame in jenen ist doch nicht das Individuelle, nicht die einzelne Begebenheit als solche, sondern das Allgemeine in ihr, die Seite der Idee der Menschheit, die sich durch sie ausspricht. Andererseits sind aber auch bestimmte historische Gegenstände deshalb keineswegs zu verwerfen: nur geht die eigentlich künstlerische Ansicht derselben, sowohl im Maler als im Betrachter, nie auf das individuell Einzelne in ihnen, was eigentlich das Historische ausmacht, sondern auf das Allgemeine, das sich darin ausspricht, auf die Idee. Auch sind nur solche historische Gegenstände zu wählen, wo die Hauptsache wirklich darstellbar ist und nicht bloß hinzugedacht werden muß: sonst entfernt sich die nominale Bedeutung zu sehr von der realen: das bei dem Bilde bloß Gedachte wird das Wichtigste und thut dem Angeschauten Abbruch. Wenn schon auf der Bühne es nicht taugt, daß (wie im französischen Trauerspiele) die Hauptsache hinter der Scene vorgeht; so ist es im Bilde offenbar ein noch weit größerer Fehler. Entschieden nachtheilig wirken historische Vorwürfe nur dann, wann sie den Maler auf ein willkürlich und nicht nach Kunstzwecken, sondern nach andern gewähltes Feld beschränken, vollends aber wann dieses Feld an malerischen und bedeutenden Gegenständen arm ist, wenn es z.B. die Geschichte eines kleinen, abgesonderten, eigensinnigen, hierarchisch d.h. durch Wahn beherrschten, von den gleichzeitigen großen Völkern des Orients und Occidents verachteten Winkelvolks ist, wie die Juden. – Da ein Mal zwischen uns und allen alten Völkern die Völkerwanderung so liegt, wie zwischen der jetzigen Erdoberfläche und jener, deren Organisationen sich uns nur versteinert zeigen, der einstige Wechsel des Meeresbettes; so ist es überhaupt als ein großes Unglück anzusehn, daß das Volk, dessen gewesene Kultur der unserigen hauptsächlich zur Unterlage dienen sollte, nicht etwan die Inder, oder die Griechen, oder auch nur die Römer waren, sondern gerade diese Juden. Besonders aber war es für die genialen Maler Italiens, im 15. und 16. Jahrhundert, ein schlimmer Stern, daß sie in dem engen Kreise, an den sie für die Wahl der Vorwürfe willkürlich gewiesen waren, zu Miseren aller Art greifen mußten: denn das Neue Testament ist, seinem historischen Theile nach, für die Malerei fast noch ungünstiger als das Alte, und die darauf folgende Geschichte der Märtyrer und Kirchenlehrer gar ein unglücklicher Gegenstand. Jedoch hat man von den Bildern, deren Gegenstand das Geschichtliche, oder Mythologische des Judenthums und Christenthums ist, gar sehr diejenigen zu unterscheiden, in welchen der eigentliche, d.h. der ethische Geist des Christenthums für die Anschauung offenbart wird, durch Darstellung von Menschen, welche dieses Geistes voll sind. Diese Darstellungen sind in der That die höchsten und bewunderungswürdigsten Leistungen der Malerkunst: auch sind sie nur den größten Meistern dieser Kunst, besonders dem Raphael und dem Correggio, diesem zumal in seinen früheren Bildern, gelungen. Gemälde dieser Art sind eigentlich gar nicht den historischen beizuzählen: denn sie stellen meistens keine Begebenheit, keine Handlung dar; sondern sind bloße Zusammenstellungen von Heiligen, dem Erlöser selbst, oft noch als Kind, mit seiner Mutter, Engeln u.s.w. In ihren Mienen, besonders den Augen, sehn wir den Ausdruck, den Wiederschein, der vollkommensten Erkenntniß, derjenigen nämlich, welche nicht auf einzelne Dinge gerichtet ist, sondern die Ideen, also das ganze Wesen der Welt und des Lebens, vollkommen aufgefaßt hat, welche Erkenntniß in ihnen auf den Willen zurückwirkend, nicht, wie jene andere, Motive für denselben liefert, sondern im Gegentheil ein Quietiv alles Wollens geworden ist, aus welchem die vollkommene Resignation, die der Innerste Geist des Christenthums wie der Indischen Weisheit ist, das Aufgeben alles Wollens, die Zurückwendung, Aufhebung des Willens und mit ihm des ganzen Wesens dieser Welt, also die Erlösung, hervorgegangen ist. So sprachen jene ewig preiswürdigen Meister der Kunst durch ihre Werke die höchste Weisheit anschaulich aus. Und hier ist der Gipfel aller Kunst, welche, nachdem sie den Willen, in seiner adäquaten Objektität, den Ideen, durch alle Stufen verfolgt hat, von den niedrigsten, wo ihn Ursachen, dann wo ihn Reize und endlich wo ihn Motive so mannigfach bewegen und sein Wesen entfalten, nunmehr endigt mit der Darstellung seiner freien Selbstaufhebung durch das eine große Quietiv, welches ihm aufgeht aus der vollkommensten Erkenntniß seines eigenen Wesens65.

§ 49

Allen unsern bisherigen Betrachtungen über die Kunst liegt überall die Wahrheit zum Grunde, daß das Objekt der Kunst, dessen Darstellung der Zweck des Künstlers ist, dessen Erkenntniß folglich seinem Werk als Keim und Ursprung vorhergehn muß, – eine Idee, in Plato's Sinne, ist und durchaus nichts Anderes: nicht das einzelne Ding, das Objekt der gemeinen Auffassung; auch nicht der Begriff, das Objekt des vernünftigen Denkens und der Wissenschaft. Obgleich Idee und Begriff etwas Gemeinsames haben, darin, daß Beide als Einheiten eine Vielheit wirklicher Dinge vertreten; so wird doch die große Verschiedenheit Beider, aus dem was im ersten Buch über den Begriff und im gegenwärtigen über die Idee gesagt ist, deutlich und einleuchtend genug geworden seyn. Daß jedoch auch schon Plato diesen Unterschied rein aufgefaßt habe, will ich keineswegs behaupten: vielmehr sind manche seiner Beispiele von Ideen und seiner Erörterungen über dieselben bloß auf Begriffe anwendbar. Wir lassen inzwischen dieses auf sich beruhen und gehn unsern eigenen Weg, erfreut, so oft wir die Spur eines großen und edlen Geistes betreten, jedoch nicht seine Fußstapfen, sondern unser Ziel verfolgend. – Der Begriff ist abstrakt, diskursiv, innerhalb seiner Sphäre völlig unbestimmt, nur ihrer Gränze nach bestimmt, jedem der nur Vernunft hat erreichbar und faßlich, durch Worte ohne weitere Vermittelung mittheilbar, durch seine Definition ganz zu erschöpfen. Die Idee dagegen, allenfalls als adäquater Repräsentant des Begriffs zu definiren, ist durchaus anschaulich und, obwohl eine unendliche Menge einzelner Dinge vertretend, dennoch durchgängig bestimmt: vom Individuo als solchem wird sie nie erkannt, sondern nur von Dem, der sich über alles Wollen und alle Individualität zum reinen Subjekt des Erkennens erhoben hat: also ist sie nur dem Genius und sodann Dem, welcher durch, meistens von den Werken des Genius veranlaßte, Erhöhung seiner reinen Erkenntnißkraft, in einer genialen Stimmung ist, erreichbar: daher ist sie nicht schlechthin, sondern nur bedingt mittheilbar, indem die aufgefaßte und im Kunstwerk wiederholte Idee jeden nur nach Maaßgabe seines eigenen intellektualen Werthes anspricht; weshalb gerade die vortrefflichsten Werke jeder Kunst, die edelsten Erzeugnisse des Genius, der stumpfen Majorität der Menschen ewig verschlossene Bücher bleiben müssen und ihr unzugänglich sind, durch eine weite Kluft von ihr getrennt, gleich wie der Umgang der Fürsten dem Pöbel unzugänglich ist. Zwar lassen auch die Plattesten die anerkannt großen Werke auf Auktorität gelten, um nämlich ihre eigene Schwäche nicht zu verrathen: doch bleiben sie im Stillen stets bereit, ihr Verdammungsurtheil darüber auszusprechen, sobald man sie hoffen läßt, daß sie es können, ohne sich bloß zu stellen, wo dann ihr lang verhaltener Haß gegen alles Große und Schöne, das sie nie ansprach und eben dadurch demüthigte, und gegen die Urheber desselben, sich freudig Luft macht. Denn überhaupt um fremden Werth willig und frei anzuerkennen und gelten zu lassen, muß man eigenen haben. Hierauf gründet sich die Nothwendigkeit der Bescheidenheit bei allem Verdienst, wie auch der unverhältnißmäßig laute Ruhm dieser Tugend, welche allein, aus allen ihren Schwestern, von jedem der es wagt einen irgendwie ausgezeichneten Mann zu preisen, jedesmal seinem Lobe angehängt wird, um zu versöhnen und den Zorn der Werthlosigkeit zu stillen. Was ist denn Bescheidenheit Anderes, als geheuchelte Demuth, mittelst welcher man, in einer von niederträchtigem Neide strotzenden Welt, für Vorzüge und Verdienste die Verzeihung Derer erbetteln will, die keine haben? Denn wer sich keine anmaaßt, weil er wirklich keine hat, ist nicht bescheiden, sondern nur ehrlich.

Die Idee ist die, vermöge der Zeit- und Raumform unserer intuitiven Apprehension in die Vielheit zerfallene Einheit: hingegen der Begriff ist die, mittelst der Abstraktion unserer Vernunft, aus der Vielheit wieder hergestellte Einheit: sie kann bezeichnet werden als unitas post rem, jene als unitas ante rem, Endlich kann man den Unterschied zwischen Begriff und Idee noch gleichnißweise ausdrücken, indem man sagt: der Begriff gleicht einem todten Behältniß, in welchem, was man hineingelegt hat, wirklich neben einander liegt, aus welchem sich aber auch nicht mehr herausnehmen läßt (durch analytische Urtheile), als man hineingelegt hat (durch synthetische Reflexion): die Idee hingegen entwickelt in Dem, welcher sie gefaßt hat, Vorstellungen, die in Hinsicht auf den ihr gleichnamigen Begriff neu sind: sie gleicht einem lebendigen, sich entwickelnden, mit Zeugungskraft begabten Organismus, welcher hervorbringt, was nicht in ihm eingeschachtelt lag.

Allem Gesagten zufolge ist nun der Begriff, so nützlich er für das Leben, und so brauchbar, nothwendig und ergiebig er für die Wissenschaft ist, für die Kunst ewig unfruchtbar. Hingegen ist die aufgefaßte Idee die wahre und einzige Quelle jedes ächten Kunstwerkes. In ihrer kräftigen Ursprünglichkeit wird sie nur aus dem Leben selbst, aus der Natur, aus der Welt geschöpft, und auch nur von dem ächten Genius, oder von dem für den Augenblick bis zur Genialität Begeisterten. Nur aus solcher unmittelbaren Empfängniß entstehn ächte Werke, die unsterbliches Leben in sich tragen. Eben weil die Idee anschaulich ist und bleibt, ist sich der Künstler der Absicht und des Zieles seines Werkes nicht in abstracto bewußt; nicht ein Begriff, sondern eine Idee schwebt ihm vor: daher kann er von seinem Thun keine Rechenschaft geben: er arbeitet, wie die Leute sich ausdrücken, aus bloßem Gefühl und unbewußt, ja instinktmäßig. Hingegen Nachahmer, Manieristen, imitatores, servum pecus, gehn in der Kunst vom Begriff aus: sie merken sich was in ächten Werken gefällt und wirkt, machen sich es deutlich, fassen es im Begriff, also abstrakt, auf, und ahmen es nun, offen oder versteckt, mit kluger Absichtlichkeit nach. Sie saugen, gleich parasitischen Pflanzen, ihre Nahrung aus fremden Werken, und tragen, gleich den Polypen, die Farbe ihrer Nahrung. Ja, man könnte, im Vergleichen noch weiter gehend, behaupten, sie glichen Maschinen, die, was man hineinlegt, zwar sehr fein zerhacken und durch einander mengen, aber nie verdauen können, so daß sich die fremden Bestandtheile noch immer wiederfinden, aus der Mischung hervorsuchen und sondern ließen: der Genius allein gliche dagegen dem organischen, assimilirenden, umwandelnden und producirenden Leibe. Denn er wird von den Vorgängern und ihren Werken zwar erzogen und gebildet; aber befruchtet wird er nur vom Leben und der Welt selbst unmittelbar, durch den Eindruck des Anschaulichen: daher schadet auch die höchste Bildung doch nie seiner Originalität. Alle Nachahmer, alle Manieristen fassen das Wesen fremder musterhafter Leistungen im Begriffe auf; aber Begriffe können nie einem Werke inneres Leben ertheilen. Das Zeitalter, d.h. die jedesmalige stumpfe Menge, kennt selbst nur Begriffe und klebt daran, nimmt daher manierirte Werke mit schnellem und lautem Beifall auf: die selben Werke sind aber nach wenig Jahren schon ungenießbar, weil der Zeitgeist, d.h. die herrschenden Begriffe, sich geändert haben, auf denen allein jene wurzeln konnten. Nur die ächten Werke, welche aus der Natur, dem Leben, unmittelbar geschöpft sind, bleiben, wie diese selbst, ewig jung und stets urkräftig. Denn sie gehören keinem Zeitalter, sondern der Menschheit an: und wie sie eben deshalb von ihrem eigenen Zeitalter, welchem sich anzuschmiegen sie verschmähten, lau aufgenommen, und, weil sie die jedesmalige Verirrung desselben mittelbar und negativ aufdeckten, spät und ungern anerkannt wurden; so können sie dafür auch nicht veralten, sondern sprechen auch in der spätesten Zeit immer noch frisch und immer wieder neu an: dann sind sie auch dem Uebersehn- und Verkanntwerden nicht ferner ausgesetzt, da sie gekrönt und sanktionirt dastehn durch den Beifall der wenigen urtheilsfähigen Köpfe, die einzeln und sparsam in den Jahrhunderten erscheinen66 und ihre Stimmen ablegen, deren langsam wachsende Summe die Auktorität begründet, welche ganz allein jener Richterstuhl ist, den man meint, wenn man an die Nachwelt appellirt. Jene successiv erscheinenden Einzelnen sind es ganz allein: denn die Masse und Menge der Nachwelt wird allezeit eben so verkehrt und stumpf seyn und bleiben, wie die Masse und Menge der Mitwelt allezeit war und allezeit ist. – Man lese die Klagen großer Geister, aus jedem Jahrhundert, über ihre Zeitgenossen: stets lauten sie wie von heute; weil das Geschlecht immer das selbe ist. Zu jeder Zeit und in jeder Kunst vertritt Manier die Stelle des Geistes, der stets nur das Eigenthum Einzelner ist: die Manier aber ist das alte, abgelegte Kleid der zuletzt dagewesenen und erkannten Erscheinung des Geistes. Dem Allen gemäß wird, in der Regel, der Beifall der Nachwelt nicht anders, als auf Kosten des Beifalls der Mitwelt erworben; und umgekehrt.67

§ 50

Wenn nun der Zweck aller Kunst Mittheilung der aufgefaßten Idee ist, welche eben in solcher Vermittelung durch den Geist des Künstlers, in der sie von allem Fremdartigen gesäubert und isolirt erscheint, nunmehr auch Dem faßlich wird, der schwächere Empfänglichkeit und keine Produktivität hat; wenn ferner das Ausgehn vom Begriff in der Kunst verwerflich ist, so werden wir es nicht billigen können, wenn man ein Kunstwerk absichtlich und eingeständlich zum Ausdruck eines Begriffes bestimmt: dieses ist der Fall in der Allegorie. Eine Allegorie ist ein Kunstwerk, welches etwas Anderes bedeutet, als es darstellt. Aber das Anschauliche, folglich auch die Idee, spricht unmittelbar und ganz vollkommen sich selbst aus, und bedarf nicht der Vermittelung eines Ändern, wodurch es angedeutet werde. Was also, auf diese Weise, durch ein ganz Anderes angedeutet und repräsentirt wird, weil es nicht selbst vor die Anschauung gebracht werden kann, ist allemal ein Begriff. Durch die Allegorie soll daher immer ein Begriff bezeichnet und folglich der Geist des Beschauers von der dargestellten anschaulichen Vorstellung weg, auf eine ganz andere, abstrakte, nicht anschauliche, geleitet werden, die völlig außer dem Kunstwerke liegt: hier soll also Bild oder Statue leisten, was die Schrift, nur viel vollkommener, leistet. Was nun wir für den Zweck der Kunst erklären, Darstellung der nur anschaulich aufzufassenden Idee, ist hier nicht der Zweck. Für das, was aber hier beabsichtigt wird, ist auch gar keine große Vollendung des Kunstwerks erforderlich; sondern es reicht hin, daß man sehe, was das Ding seyn soll, da, sobald dies gefunden ist, der Zweck erreicht ist und der Geist nun auf eine ganz anderartige Vorstellung, auf einen abstrakten Begriff geführt wird, welcher das vorgesetzte Ziel war. Allegorien in der bildenden Kunst sind folglich nichts Anderes, als Hieroglyphen: der Kunstwerth, den sie übrigens als anschauliche Darstellungen haben mögen, kommt ihnen nicht als Allegorien, sondern anderweitig zu. Daß die Nacht von Correggio, der Genius des Ruhmes von Hannibal Carracci, die Hören von Poussin, sehr schöne Bilder sind, ist ganz davon zu trennen, daß sie Allegorien sind. Als Allegorien leisten sie nicht mehr, als eine Inschrift, ja eher weniger. Wir werden hier wieder an die oben gemachte Unterscheidung zwischen der realen und der nominalen Bedeutung eines Bildes erinnert. Die nominale ist hier eben das Allegorische als solches, z.B. der Genius des Ruhmes; die reale das wirklich Dargestellte: hier ein schöner geflügelter Jüngling, von schönen Knaben umflogen: dies spricht eine Idee aus: diese reale Bedeutung wirkt aber nur solange man die nominale, allegorische vergißt: denkt man an diese, so verläßt man die Anschauung, und ein abstrakter Begriff beschäftigt den Geist: der Uebergang von der Idee zum Begriff ist aber immer ein Fall. Ja, jene nominale Bedeutung, jene allegorische Absicht, thut oft der realen Bedeutung, der anschaulichen Wahrheit, Eintrag: so z.B. die widernatürliche Beleuchtung in der Nacht von Correggio, die, so schön auch ausgeführt, doch bloß allegorisch motivirt und real unmöglich ist. Wenn also ein allegorisches Bild auch Kunstwerth hat, so ist dieser von Dem, was es als Allegorie leistet, ganz gesondert und unabhängig: ein solches Kunstwerk dient zweien Zwecken zugleich, nämlich dem Ausdruck eines Begriffes und dem Ausdruck einer Idee: nur letzterer kann Kunstzweck seyn; der andere ist ein fremder Zweck, die spielende Ergötzlichkeit, ein Bild zugleich den Dienst einer Inschrift, als Hieroglyphe, leisten zu lassen, erfunden zu Gunsten Derer, welche das eigentliche Wesen der Kunst nie ansprechen kann. Es ist damit, wie wenn ein Kunstwerk zugleich ein nützliches Werkzeug ist, wo es auch zweien Zwecken dient: z.B. eine Statue, die zugleich Kandelaber oder Karyatide ist, oder ein Bas-Relief, der zugleich der Schild des Achills ist. Reine Freunde der Kunst werden weder das Eine noch das Andere billigen. Zwar kann ein allegorisches Bild auch gerade in dieser Eigenschaft lebhaften Eindruck auf das Gemüth hervorbringen: das Selbe würde dann aber, unter gleichen Umständen, auch eine Inschrift wirken. Z.B. wenn in dem Gemüth eines Menschen der Wunsch nach Ruhm dauernd und fest gewurzelt ist, indem er wohl gar den Ruhm als sein rechtmäßiges Eigenthum ansieht, das ihm nur solange vorenthalten wird, als er noch nicht die Dokumente seines Besitzes producirt hat: und dieser tritt nun vor den Genius des Ruhmes mit seinen Lorbeerkronen; so wird sein ganzes Gemüth dadurch angeregt und seine Kraft zur Thätigkeit aufgerufen; aber das Selbe würde auch geschehn, wenn er plötzlich das Wort »Ruhm« groß und deutlich an der Wand erblickte. Oder wenn ein Mensch eine Wahrheit kund gemacht hat, die entweder als Aussage für das praktische Leben, oder als Einsicht für die Wissenschaft wichtig ist, derselbe aber keinen Glauben fand; so wird ein allegorisches Bild, die Zeit darstellend, wie sie den Schleier aufhebt und nun die nackte Wahrheit sehn läßt, gewaltig auf ihn wirken; aber das Selbe würde auch die Devise »Le tems découvre la vérité« leisten. Denn was hier eigentlich wirkt, ist immer nur der abstrakte Gedanke, nicht das Angeschaute.

Ist nun, dem Gesagten gemäß, die Allegorie in der bildenden Kunst ein fehlerhaftes, einem der Kunst ganz fremden Zwecke dienendes Streben; so wird es vollends unerträglich, wenn es so weit abführt, daß die Darstellung gezwungener und gewaltsam herbeigezogener Deuteleien in das Alberne fällt. Dergleichen ist z.B. eine Schildkröte zur Andeutung weiblicher Eingezogenheit; das Herabblicken der Nemesis in den Busen ihres Gewandes, andeutend, daß sie auch ins Verborgene sieht; die Auslegung des Bellori, daß Hannibal Carracci die Wollust deswegen mit einem gelben Gewände bekleidet hat, weil er andeuten gewollt, daß ihre Freuden bald welken und gelb wie Stroh werden. – Wenn nun gar zwischen dem Dargestellten und dem dadurch angedeuteten Begriff durchaus keine auf Subsumtion unter jenen Begriff, oder auf Ideenassociation gegründete Verbindung ist; sondern Zeichen und Bezeichnetes ganz konventionell, durch positive, zufällig veranlaßte Satzung zusammenhängen: dann nenne ich diese Abart der Allegorie Symbol. So ist die Rose Symbol der Verschwiegenheit, der Lorbeer Symbol des Ruhmes, die Palme Symbol des Sieges, die Muschel Symbol der Pilgrimschaft, das Kreuz Symbol der christlichen Religion: dahin gehören auch alle Andeutungen durch bloße Farben unmittelbar, wie Gelb als Farbe der Falschheit, und Blau als Farbe der Treue. Dergleichen Symbole mögen im Leben oft von Nutzen seyn, aber der Kunst ist ihr Werth fremd: sie sind ganz wie Hieroglyphen, oder gar wie Chinesische Wortschrift anzusehn und stehn wirklich in einer Klasse mit den Wappen, mit dem Busch, der ein Wirthshaus andeutet, mit dem Schlüssel, an welchem man die Kammerherren, oder dem Leder, an welchem man die Bergleute erkennt. – Wenn endlich gewisse historische oder mythische Personen, oder personificirte Begriffe, durch ein für alle Mal festgesetzte Symbole kenntlich gemacht werden; so wären wohl diese eigentlich Embleme zu nennen: dergleichen sind die Thiere der Evangelisten, die Eule der Minerva, der Apfel des Paris, das Anker der Hoffnung u.s.w. Inzwischen versteht man unter Emblemen meistens jene sinnbildlichen, einfachen und durch ein Motto erläuterten Darstellungen, die eine moralische Wahrheit veranschaulichen sollen, davon es große Sammlungen, von J. Camerarius, Aleiatus und Ändern, giebt: sie machen den Uebergang zur poetischen Allegorie, davon weiter unten geredet wird. – Die Griechische Skulptur wendet sich an die Anschauung, darum ist sie ästhetisch; die Hindostanische wendet sich an den Begriff, daher ist sie bloß symbolisch.

Dieses auf unsere bisherigen Betrachtungen über das innere Wesen der Kunst gegründete und damit genau zusammenhängende Unheil über die Allegorie ist der Ansicht Winckelmanns gerade entgegengesetzt, welcher, weit entfernt, wie wir, die Allegorie für etwas dem Zweck der Kunst ganz fremdes und ihn oft störendes zu erklären, ihr überall das Wort redet, ja sogar (Werke, Bd. I, S. 55 fg.) den höchsten Zweck der Kunst in die »Darstellung allgemeiner Begriffe und nichtsinnlicher Dinge« setzt. Es bleibe jedem überlassen, der einen oder der andern Ansicht beizutreten. Nur wurde mir, bei diesen und ähnlichen, die eigentliche Metaphysik des Schönen betreffenden Ansichten Winckelmanns, die Wahrheit sehr deutlich, daß man die größte Empfänglichkeit und das richtigste Unheil über das Kunstschöne haben kann, ohne jedoch im Stande zu seyn, vom Wesen des Schönen und der Kunst abstrakte und eigentlich philosophische Rechenschaft zu geben: eben wie man sehr edel und tugendhaft seyn und ein sehr zartes, mit der Genauigkeit einer Goldwaage bei den einzelnen Fällen entscheidendes Gewissen haben kann, ohne deshalb im Stande zu seyn, die ethische Bedeutsamkeit der Handlungen philosophisch zu ergründen und in abstracto darzustellen.

Ein ganz anderes Verhältniß hat aber die Allegorie zur Poesie, als zur bildenden Kunst, und wenn gleich hier verwerflich, ist sie dort sehr zulässig und zweckdienlich. Denn in der bildenden Kunst leitet sie vom gegebenen Anschaulichen, dem eigentlichen Gegenstand aller Kunst, zu abstrakten Gedanken; in der Poesie ist aber das Verhältniß umgekehrt: hier ist das in Worten unmittelbar Gegebene der Begriff, und der nächste Zweck ist allemal von diesem auf das Anschauliche zu leiten, dessen Darstellung die Phantasie des Hörers übernehmen muß. Wenn in der bildenden Kunst vom unmittelbar Gegebenen auf ein Anderes geleitet wird, so muß dies immer ein Begriff seyn, weil hier nur das Abstrakte nicht unmittelbar gegeben werden kann; aber ein Begriff darf nie der Ursprung, und seine Mittheilung nie der Zweck eines Kunstwerkes seyn. Hingegen in der Poesie ist der Begriff das Material, das unmittelbar Gegebene, welches man daher sehr wohl verlassen darf, um ein gänzlich verschiedenes Anschauliches hervorzurufen, in welchem das Ziel erreicht wird. Im Zusammenhang einer Dichtung kann mancher Begriff, oder abstrakte Gedanke, unentbehrlich seyn, der gleichwohl an sich und unmittelbar gar keiner Anschaulichkeit fähig ist: dieser wird dann oft durch irgend ein unter ihn zu subsumirendes Beispiel zur Anschaulichkeit gebracht. Solches geschieht schon in jedem tropischen Ausdruck, und geschieht in jeder Metapher, Gleichniß, Parabel und Allegorie, welche alle nur durch die Länge und Ausführlichkeit ihrer Darstellung sich unterscheiden. In den redenden Künsten sind dieserwegen Gleichnisse und Allegorien von trefflicher Wirkung. Wie schön sagt Cervantes vom Schlaf, um auszudrücken, daß er uns allen geistigen und körperlichen Leiden entziehe, »er sei ein Mantel, der den ganzen Menschen bedeckt.« Wie schön drückt Kleist den Gedanken, daß Philosophen und Forscher das Menschengeschlecht aufklären, allegorisch aus, in dem Verse:

»Die, deren nächtliche Lampe den ganzen Erdball erleuchtet,«

Wie stark und anschaulich bezeichnet Homer die unheilbringende Ate, indem er sagt: »Sie hat zarte Füße, denn sie betritt nicht den harten Boden, sondern wandelt nur auf den Köpfen der Menschen« (Il., XIX, 91). Wie sehr wirkte die Fabel des Menenius Agrippa vom Magen und den Gliedern auf das ausgewanderte Römische Volk. Wie schön drückt Plato's schon erwähnte Allegorie von der Höhle, im Anfang des siebenten Buches der Republik, ein höchst abstraktes philosophisches Dogma aus. Ebenfalls ist als eine tiefsinnige Allegorie von philosophischer Tendenz die Fabel von der Persephone anzusehn, die dadurch, daß sie in der Unterwelt einen Granatapfel kostet, dieser anheimfällt: solches wird besonders einleuchtend durch die allem Lobe unerreichbare Behandlung dieser Fabel, welche Goethe dem Triumph der Empfindsamkeit als Episode eingeflochten hat. Drei ausführliche allegorische Werke sind mir bekannt: ein offenbares und eingeständliches ist der unvergleichliche Criticon des Balthasar Gracian, welcher in einem großen reichen Gewebe an einander geknüpfter, höchst sinnreicher Allegorien besteht, die hier zur heitern Einkleidung moralischer Wahrheiten dienen, welchen er eben dadurch die größte Anschaulichkeit ertheilt und uns durch den Reichthum seiner Erfindungen in Erstaunen setzt. Zwei versteckte aber sind der Don Quijote und Gulliver in Lilliput. Ersterer allegorisirt das Leben jedes Menschen, der nicht, wie die Ändern, bloß sein persönliches Wohl besorgen will, sondern einen objektiven, idealen Zweck verfolgt, welcher sich seines Denkens und Wollens bemächtigt hat; womit er sich dann in dieser Welt freilich sonderbar ausnimmt. Beim Gulliver darf man nur alles Physische geistig nehmen, um zu merken, was der satirical rogue, wie ihn Hamlet nennen würde, damit gemeint hat. – Indem nun also der poetischen Allegorie der Begriff immer das Gegebene ist, welches sie durch ein Bild anschaulich machen will, mag sie auch immerhin bisweilen durch ein gemaltes Bild ausgedrückt, oder unterstützt werden: dieses wird darum doch nicht als Werk der bildenden Kunst, sondern nur als bezeichnende Hieroglyphe betrachtet, und macht keinen Anspruch auf malerischen, sondern allein auf poetischen Werth. Solcher Art ist jene schöne allegorische Vignette Lavaters, die auf jeden edlen Verfechter der Wahrheit so herzstärkend wirken muß: eine Hand, die ein Licht haltend von einer Wespe gestochen wird, während oben an der Flamme sich Mücken verbrennen: darunter das Motto:

»Und ob's auch der Mücke den Flügel versengt,

Den Schädel und all sein Gehirnchen zersprengt;

Licht bleibet doch Licht!

Und wenn auch die grimmigste Wespe mich sticht,

Ich laß' es doch nicht.«

Hieher gehört ferner jener Grabstein mit dem ausgeblasenen, dampfenden Licht und der Umschrift:

»Wann's aus ist, wird es offenbar,

Ob's Talglicht, oder Wachslicht war.« –

Dieser Art endlich ist ein altdeutscher Stammbaum, auf welchem der letzte Sprößling der hoch hinaufreichenden Familie den Entschluß, sein Leben in gänzlicher Enthaltsamkeit und Keuschheit zu Ende zu führen und daher sein Geschlecht aussterben zu lassen, dadurch ausdrückte, daß er selbst an der Wurzel des vielzweigichten Baumes abgebildet, mit einer Scheere den Baum über sich abschneidet. Dahin gehören überhaupt die oben erwähnten, gewöhnlich Embleme genannten Sinnbilder, welche man auch bezeichnen könnte als kurze gemalte Fabeln mit ausgesprochener Moral. – Allegorien dieser Art sind immer den poetischen, nicht den malerischen beizuzählen und eben dadurch gerechtfertigt: auch bleibt hier die bildliche Ausführung immer Nebensache, und es wird von ihr nicht mehr gefordert, als daß sie die Sache nur kenntlich darstelle. Wie aber in der bildenden Kunst, so auch in der Poesie, geht die Allegorie in das Symbol über, wenn zwischen dem anschaulich Vorgeführten und dem damit bezeichneten Abstrakten kein anderer, als willkürlicher Zusammenhang ist. Weil eben alles Symbolische im Grunde auf Verabredung beruht, so hat unter andern Nachtheilen das Symbol auch den, daß seine Bedeutung mit der Zeit vergessen wird und es dann ganz verstummt: wer würde wohl, wenn man es nicht wüßte, errathen, warum der Fisch Symbol des Christentums ist? Nur ein Champollion: denn es ist durch und durch eine phonetische Hieroglyphe. Daher steht jetzt als poetische Allegorie die Offenbarung des Johannes ungefähr so da, wie die Reliefs mit magnus Deus sol Mithra, an denen man noch immer auslegt.68

§ 51

Wenn wir nun mit unsern bisherigen Betrachtungen über die Kunst im Allgemeinen von den bildenden Künsten uns zur Poesie wenden; so werden wir nicht zweifeln, daß auch sie die Absicht hat, die Ideen, die Stufen der Objektivation des Willens, zu offenbaren und sie mit der Deutlichkeit und Lebendigkeit, in welcher das dichterische Gemüth sie auffaßte, dem Hörer mitzutheilen. Ideen sind wesentlich anschaulich: wenn daher in der Poesie das unmittelbar durch Worte Mitgetheilte nur abstrakte Begriffe sind; so ist doch offenbar die Absicht, in den Repräsentanten dieser Begriffe den Hörer die Ideen des Lebens anschauen zu lassen, welches nur durch Beihülfe seiner eigenen Phantasie geschehn kann. Um aber diese dem Zweck entsprechend in Bewegung zu setzen, müssen die abstrakten Begriffe, welche das unmittelbare Material der Poesie wie der trockensten Prosa sind, so zusammengestellt werden, daß ihre Sphären sich dergestalt schneiden, daß keiner in seiner abstrakten Allgemeinheit beharren kann; sondern statt seiner ein anschaulicher Repräsentant vor die Phantasie tritt, den nun die Worte des Dichters immer weiter nach seiner Absicht modificiren. Wie der Chemiker aus völlig klaren und durchsichtigen Flüssigkeiten, indem er sie vereinigt, feste Niederschläge erhält; so versteht der Dichter aus der abstrakten, durchsichtigen Allgemeinheit der Begriffe, durch die Art wie er sie verbindet, das Konkrete, Individuelle, die anschauliche Vorstellung, gleichsam zu fällen. Denn nur anschaulich wird die Idee erkannt: Erkenntniß der Idee ist aber der Zweck aller Kunst. Die Meisterschaft in der Poesie, wie in der Chemie, macht fähig, allemal gerade den Niederschlag zu erhalten, welchen man eben beabsichtigt. Diesem Zweck dienen die vielen Epitheta in der Poesie, durch welche die Allgemeinheit jedes Begriffes eingeschränkt wird, mehr und mehr, bis zur Anschaulichkeit. Homer setzt fast zu jedem Hauptwort ein Beiwort, dessen Begriff die Sphäre des erstem Begriffes schneidet und sogleich beträchtlich vermindert, wodurch er der Anschauung schon so viel näher kommt: z.B.

En d' epes' Ôkeanô lampron phaos êelioio,

Helkon nykta melainan eti zeidôron arouran.

(Occidit vero in Oceanum splendidum lumen solis,

Trahens noctem nigram super almam terram.)

Und

»Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,

Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht«, –

schlägt aus wenigen Begriffen die ganze Wonne des südlichen Klimas vor die Phantasie nieder.

Ein ganz besonderes Hülfsmittel der Poesie sind Rhythmus und Reim. Von ihrer unglaublich mächtigen Wirkung weiß ich keine andere Erklärung zu geben, als daß unsere an die Zeit wesentlich gebundenen Vorstellungskräfte hiedurch eine Eigenthümlichkeit erhalten haben, vermöge welcher wir jedem regelmäßig wiederkehrenden Geräusch innerlich folgen und gleichsam mit einstimmen. Dadurch werden nun Rhythmus und Reim theils ein Bindemittel unserer Aufmerksamkeit, indem wir williger dem Vortrag folgen, theils entsteht durch sie in uns ein blindes, allem Urtheil vorhergängiges Einstimmen in das Vorgetragene, wodurch dieses eine gewisse emphatische, von allen Gründen unabhängige Ueberzeugungskraft erhält.

Vermöge der Allgemeinheit des Stoffes, dessen sich die Poesie, um die Ideen mitzutheilen, bedient, also der Begriffe, ist der Umfang ihres Gebietes sehr groß. Die ganze Natur, die Ideen aller Stufen sind durch sie darstellbar, indem sie, nach Maaßgabe der mitzutheilenden Idee, bald beschreibend, bald erzählend, bald unmittelbar dramatisch darstellend verfährt. Wenn aber, in der Darstellung der niederigeren Stufen der Objektität des Willens, die bildende Kunst sie meistens übertrifft, weil die erkenntnißlose und auch die bloß thierische Natur in einem einzigen wohlgefaßten Moment fast ihr ganzes Wesen offenbart; so ist dagegen der Mensch, soweit er sich nicht durch seine bloße Gestalt und Ausdruck der Miene, sondern durch eine Kette von Handlungen und sie begleitender Gedanken und Affekte ausspricht, der Hauptgegenstand der Poesie, der es hierin keine andere Kunst gleich thut, weil ihr dabei die Fortschreitung zu Statten kommt, welche den bildenden Künsten abgeht.

Offenbarung derjenigen Idee, welche die höchste Stufe der Objektität des Willens ist, Darstellung des Menschen in der zusammenhängenden Reihe seiner Bestrebungen und Handlungen ist also der große Vorwurf der Poesie. – Zwar lehrt auch Erfahrung, lehrt auch Geschichte den Menschen kennen; jedoch öfter die Menschen als den Menschen: d.h. sie geben mehr empirische Notizen vom Benehmen der Menschen gegen einander, woraus Regeln für das eigene Verhalten hervorgehn, als daß sie in das innere Wesen des Menschen tiefe Blicke thun ließen. Indessen bleibt auch dieses letztere keineswegs von ihnen ausgeschlossen: Jedoch, so oft es das Wesen der Menschheit selbst ist, das in der Geschichte, oder in der eigenen Erfahrung sich uns aufschließt: so haben wir diese, der Historiker jene schon mit künstlerischen Augen, schon poetisch, d.h. der Idee, nicht der Erscheinung, dem innern Wesen, nicht den Relationen nach aufgefaßt. Unumgänglich ist die eigene Erfahrung Bedingung zum Verständniß der Dichtkunst, wie der Geschichte: denn sie ist gleichsam das Wörterbuch der Sprache, welche Beide reden. Geschichte aber verhält sich zur Poesie eigentlich wie Porträtmalerei zur Historienmalerei: jene giebt das im Einzelnen, diese das im Allgemeinen Wahre: jene hat die Wahrheit der Erscheinung, und kann sie aus derselben beurkunden, diese hat die Wahrheit der Idee, die in keiner einzelnen Erscheinung zu finden, dennoch aus allen spricht. Der Dichter stellt mit Wahl und Absicht bedeutende Charaktere in bedeutenden Situationen dar: der Historiker nimmt Beide wie sie kommen. Ja, er hat die Begebenheiten und die Personen nicht nach ihrer innern, ächten, die Idee ausdrückenden Bedeutsamkeit anzusehn und auszuwählen; sondern nach der äußern, scheinbaren, relativen, in Beziehung auf die Verknüpfung, auf die Folgen, wichtigen Bedeutsamkeit. Er darf nichts an und für sich, seinem wesentlichen Charakter und Ausdrucke nach, sondern muß alles nach der Relation, in der Verkettung, im Einfluß auf das Folgende, ja besonders auf sein eigenes Zeitalter betrachten. Darum wird er eine wenig bedeutende, ja an sich gemeine Handlung eines Königs nicht übergehn: denn sie hat Folgen und Einfluß. Hingegen sind an sich höchst bedeutungsvolle Handlungen der Einzelnen, sehr ausgezeichnete Individuen, wenn sie keine Folgen, keinen Einfluß haben, von ihm nicht zu erwähnen. Denn seine Betrachtung geht dem Satz vom Grunde nach und ergreift die Erscheinung, deren Form dieser ist. Der Dichter aber faßt die Idee auf, das Wesen der Menschheit, außer aller Relation, außer aller Zeit, die adäquate Objektität des Dinges an sich auf ihrer höchsten Stufe. Wenn gleich nun auch, selbst bei jener dem Historiker nothwendigen Betrachtungsart, das innere Wesen, die Bedeutsamkeit der Erscheinungen, der Kern aller jener Schaalen, nie ganz verloren gehn kann und wenigstens von Dem, der ihn sucht, sich noch finden und erkennen läßt; so wird dennoch Dasjenige, was an sich, nicht in der Relation, bedeutend ist, die eigentliche Entfaltung der Idee, bei weitem richtiger und deutlicher in der Richtung sich finden, als in der Geschichte, jener daher, so paradox es klingt, viel mehr eigentliche, ächte, innere Wahrheit beizulegen seyn, als dieser. Denn der Historiker soll der individuellen Begebenheit genau nach dem Leben folgen, wie sie an den vielfach verschlungenen Ketten der Gründe und Folgen sich in der Zeit entwickelt; aber unmöglich kann er hiezu alle Data besitzen, Alles gesehn, oder Alles erkundet haben: er wird jeden Augenblick vom Original seines Bildes verlassen, oder ein falsches schiebt sich ihm unter, und dies so häufig, daß ich glaube annehmen zu dürfen, in aller Geschichte sei des Falschen mehr, als des Wahren. Der Dichter hingegen hat die Idee der Menschheit von irgend einer bestimmten, eben darzustellenden Seite aufgefaßt, das Wesen seines eigenen Selbst ist es, was sich in ihr ihm objektivirt: seine Erkenntniß ist, wie oben bei Gelegenheit der Skulptur auseinandergesetzt, halb a priori: sein Musterbild steht vor seinem Geiste, fest, deutlich, hell beleuchtet, kann ihn nicht verlassen: daher zeigt er uns im Spiegel seines Geistes die Idee rein und deutlich, und seine Schilderung ist, bis auf das Einzelne herab, wahr wie das Leben selbst69. Die großen alten Historiker sind daher im Einzelnen, wo die Data sie verlassen, z.B. in den Reden ihrer Helden, Dichter; ja, ihre ganze Behandlungsart des Stoffes nähert sich dem Epischen: dies aber eben giebt ihren Darstellungen die Einheit, und läßt sie die innere Wahrheit behalten, selbst da, wo die äußere ihnen nicht zugänglich, oder gar verfälscht war: und verglichen wir vorhin die Geschichte mit der Porträtmalerei, im Gegensatz der Poesie, welche der Historienmalerei entspräche; so finden wir Winckelmanns Ausspruch, daß das Porträt das Ideal des Individuums seyn soll, auch von den alten Historikern befolgt, da sie das Einzelne doch so darstellen, daß die sich darin aussprechende Seite der Idee der Menschheit hervortritt: die neuen dagegen, Wenige ausgenommen, geben meistens nur »ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer und höchstens eine Haupt- und Staatsaktion«. – Wer also die Menschheit, ihrem innern, in allen Erscheinungen und Entwickelungen identischen Wesen, ihrer Idee nach, erkennen will, dem werden die Werke der großen, unsterblichen Dichter ein viel treueres und deutlicheres Bild vorhalten, als die Historiker je vermögen; denn selbst die besten unter diesen sind als Dichter lange nicht die ersten und haben auch nicht freie Hände. Man kann das Verhältniß Beider, in dieser Rücksicht, auch durch folgendes Gleichniß erläutern. Der bloße, reine, nach den Datis allein arbeitende Historiker, gleicht Einem, der ohne alle Kenntniß der Mathematik, aus zufällig vorgefundenen Figuren, die Verhältnisse derselben durch Messen erforscht, dessen empirisch gefundene Angabe daher mit allen Fehlern der gezeichneten Figur behaftet ist: der Dichter hingegen gleicht dem Mathematiker, welcher jene Verhältnisse a priori konstruirt, in reiner Anschauung, und sie aussagt, nicht wie die gezeichnete Figur sie wirklich hat, sondern wie sie in der Idee sind, welche die Zeichnung versinnlichen soll. – Darum sagt Schiller:

»Was sich nie und nirgends hat begeben,

Das allein veraltet nie.«

Ich muß sogar, in Hinsicht auf die Erkenntniß des Wesens der Menschheit, den Biographien, vornehmlich den Autobiographien, einen großem Werth zugestehn, als der eigentlichen Geschichte, wenigstens wie sie gewöhnlich behandelt wird. Theils nämlich sind bei jenen die Data richtiger und vollständiger zusammenzubringen, als bei dieser; theils agiren in der eigentlichen Geschichte nicht sowohl Menschen, als Völker und Heere, und die Einzelnen, welche noch auftreten, erscheinen in so großer Entfernung, mit so vieler Umgebung und so großem Gefolge, dazu verhüllt in steife Staatskleider oder schwere, unbiegsame Harnische, daß es wahrlich schwer hält, durch alles Dieses hindurch die menschliche Bewegung zu erkennen. Hingegen zeigt das treu geschilderte Leben des Einzelnen, in einer engen Sphäre, die Handlungsweise der Menschen in allen ihren Nuancen und Gestalten, die Trefflichkeit, Tugend, ja die Heiligkeit Einzelner, die Verkehrtheit, Erbärmlichkeit, Tücke der Meisten, die Ruchlosigkeit Mancher. Dabei ist es ja, in der hier allein betrachteten Rücksicht, nämlich in Betreff der innern Bedeutung des Erscheinenden, ganz gleichgültig, ob die Gegenstände, um die sich die Handlung dreht, relativ betrachtet, Kleinigkeiten oder Wichtigkeiten, Bauerhöfe oder Königreiche sind: denn alle diese Dinge, an sich ohne Bedeutung, erhalten solche nur dadurch und insofern, als durch sie der Wille bewegt wird: bloß durch seine Relation zum Willen hat das Motiv Bedeutsamkeit; hingegen die Relation, die es als Ding zu andern solchen Dingen hat, kommt gar nicht in Betracht. Wie ein Kreis von einem Zoll Durchmesser und einer von 40 Millionen Meilen Durchmesser die selben geometrischen Eigenschaften vollständig haben, so sind die Vorgänge und die Geschichte eines Dorfes und die eines Reiches im Wesentlichen die selben; und man kann am Einen, wie am Ändern, die Menschheit studiren und kennen lernen. Auch hat man Unrecht zu meinen, die Autobiographien seien voller Trug und Verstellung. Vielmehr ist das Lügen (obwohl überall möglich) dort vielleicht schwerer, als irgendwo. Verstellung ist am leichtesten in der bloßen Unterredung; ja sie ist, so paradox es klingt, schon in einem Briefe im Grunde schwerer, weil da der Mensch, sich selber überlassen, in sich sieht und nicht nach außen, das Fremde und Ferne sich schwer nahe bringt und den Maaßstab des Eindrucks auf den Ändern nicht vor Augen hat; dieser Andere dagegen, gelassen, in einer dem Schreiber fremden Stimmung, den Brief übersieht, zu wiederholten Malen und verschiedenen Zeiten liest, und so die verborgene Absicht leicht herausfindet. Einen Autor lernt man auch als Menschen am leichtesten aus seinem Buche kennen, weil alle jene Bedingungen hier noch stärker und anhaltender wirken: und in einer Selbstbiographie sich zu verstellen, ist so schwer, daß es vielleicht keine einzige giebt, die nicht im Ganzen wahrer wäre, als jede andere geschriebene Geschichte, Der Mensch, der sein Leben aufzeichnet, überblickt es im Ganzen und Großen, das Einzelne wird klein, das Nahe entfernt sich, das Ferne kommt wieder nah, die Rücksichten schrumpfen ein: er sitzt sich selbst zur Beichte und hat sich freiwillig hingesetzt: der Geist der Lüge faßt ihn hier nicht so leicht: denn es liegt in jedem Menschen auch eine Neigung zur Wahrheit, die bei jeder Lüge erst überwältigt werden muß und die eben hier eine ungemein starke Stellung angenommen hat. Das Verhältniß zwischen Biographie und Völkergeschichte läßt sich durch folgendes Gleichniß anschaulich machen. Die Geschichte zeigt uns die Menschheit, wie uns eine Aussicht von einem hohen Berge die Natur zeigt: wir sehn Vieles auf ein Mal, weite Strecken, große Massen; aber deutlich wird nichts, noch seinem ganzen eigentlichen Wesen nach erkennbar. Dagegen zeigt uns das dargestellte Leben des Einzelnen den Menschen so, wie wir die Natur erkennen, wenn wir zwischen ihren Bäumen, Pflanzen, Felsen und Gewässern umhergehn. Wie aber durch die Landschaftsmalerei, in welcher der Künstler uns durch seine Augen in die Natur blicken läßt, uns die Erkenntniß ihrer Ideen und der zu dieser erforderte Zustand des willenlosen, reinen Erkennens sehr erleichtert wird; so hat für die Darstellung der Ideen, welche wir in Geschichte und Biographie suchen können, die Dichtkunst sehr Vieles vor Beiden voraus: denn auch hier hält uns der Genius den verdeutlichenden Spiegel vor, in welchem alles Wesentliche und Bedeutsame zusammengestellt und ins hellste Licht gesetzt uns entgegentritt, das Zufällige und Fremdartige aber ausgeschieden ist.70

Die Darstellung der Idee der Menschheit, welche dem Dichter obliegt, kann er nun entweder so ausführen, daß der Dargestellte zugleich auch der Darstellende ist: dieses geschieht in der lyrischen Poesie, im eigentlichen Liede, wo der Dichtende nur seinen eigenen Zustand lebhaft anschaut und beschreibt, wobei daher, durch den Gegenstand, dieser Gattung eine gewisse Subjektivität wesentlich ist; – oder aber der Darzustellende ist vom Darstellenden ganz verschieden, wie in allen andern Gattungen, wo mehr oder weniger der Darstellende hinter dem Dargestellten sich verbirgt und zuletzt ganz verschwindet. In der Romanze drückt der Darstellende seinen eigenen Zustand noch durch Ton und Haltung des Ganzen in etwas aus: viel objektiver als das Lied hat sie daher noch etwas Subjektives, dieses verschwindet schon mehr im Idyll, noch viel mehr im Roman, fast ganz im eigentlichen Epos, und bis auf die letzte Spur endlich im Drama, welches die objektiveste und in mehr als einer Hinsicht vollkommenste, auch schwierigste Gattung der Poesie ist. Die lyrische Gattung ist eben deshalb die leichteste, und wenn die Kunst sonst nur dem so seltenen ächten Genius angehört, so kann selbst der im Ganzen nicht sehr eminente Mensch, wenn in der That, durch starke Anregung von außen, irgend eine Begeisterung seine Geisteskräfte erhöht, ein schönes Lied zu Stande bringen: denn es bedarf dazu nur einer lebhaften Anschauung seines eigenen Zustandes im aufgeregten Moment, Dies beweisen viele einzelne Lieder übrigens unbekannt gebliebener Individuen, besonders die Deutschen Volkslieder, von denen wir im »Wunderhorn« eine treffliche Sammlung haben, und eben so unzählige Liebes- und andere Lieder des Volkes in allen Sprachen. Denn die Stimmung des Augenblickes zu ergreifen und im Liede zu verkörpern ist die ganze Leistung dieser poetischen Gattung, Dennoch bildet in der lyrischen Poesie achter Dichter sich das innere der ganzen Menschheit ab, und Alles, was Millionen gewesener, seiender, künftiger Menschen, in den selben, weil stets wiederkehrenden, Lagen, empfunden haben und empfinden werden, findet darin seinen entsprechenden Ausdruck. Weil jene Lagen, durch die beständige Wiederkehr, eben wie die Menschheit selbst, als bleibende dastehn und stets die selben Empfindungen hervorrufen, bleiben die lyrischen Produkte achter Dichter Jahrtausende hindurch richtig, wirksam und frisch. Ist doch überhaupt der Dichter der allgemeine Mensch: Alles, was irgend eines Menschen Herz bewegt hat, und was die menschliche Natur, in irgend einer Lage, aus sich hervortreibt, was irgendwo in einer Menschenbrust wohnt und brütet – ist sein Thema und sein Stoff; wie daneben auch die ganze übrige Natur. Daher kann der Dichter so gut die Wollust, wie die Mystik besingen, Anakreon, oder Angelus Silesius seyn, Tragödien, oder Komödien schreiben, die erhabene, oder die gemeine Gesinnung darstellen, – nach Laune und Beruf. Demnach darf Niemand dem Dichter vorschreiben, daß er edel und erhaben, moralisch, fromm, christlich, oder Dies oder Das seyn soll, noch weniger ihm vorwerfen, daß er Dies und nicht jenes sei. Er ist der Spiegel der Menschheit, und bringt ihr was sie fühlt und treibt zum Bewußtseyn.

Betrachten wir nun das Wesen des eigentlichen Liedes näher und nehmen dabei treffliche und zugleich reine Muster zu Beispielen, nicht solche, die sich schon einer andern Gattung, etwan der Romanze, der Elegie, der Hymne, dem Epigramm u.s.w. irgendwie nähern; so werden wir finden, daß das eigenthümliche Wesen des Liedes im engsten Sinne folgendes ist. – Es ist das Subjekt des Willens, d.h. das eigene Wollen, was das Bewußtseyn des Singenden füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Affekt, Leidenschaft, bewegter Gemüthszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewußt als Subjekts des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütterliche, sälige Ruhe nunmehr in Kontrast tritt mit dem Drange des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die Empfindung dieses Kontrastes, dieses Wechselspieles ist eigentlich was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was überhaupt den lyrischen Zustand ausmacht. In diesem tritt gleichsam das reine Erkennen zu uns heran, um uns vom Wollen und seinem Drange zu erlösen: wir folgen; doch nur auf Augenblicke: immer von Neuem entreißt das Wollen, die Erinnerung an unsere persönliche Zwecke, uns der ruhigen Beschauung; aber auch immer wieder entlockt uns dem Wollen die nächste schöne Umgebung, in welcher sich die reine willenlose Erkenntniß uns darbietet. Darum geht im Liede und der lyrischen Stimmung das Wollen (das persönliche Interesse der Zwecke) und das reine Anschauen der sich darbietenden Umgebung wundersam gemischt durch einander: es werden Beziehungen zwischen Beiden gesucht und imaginirt; die subjektive Stimmung, die Affektion des Willens, theilt der angeschauten Umgebung und diese wiederum jener ihre Farbe im Reflex mit: von diesem ganzen so gemischten und getheilten Gemüthszustande ist das ächte Lied der Abdruck. – Um sich diese abstrakte Zergliederung eines von aller Abstraktion sehr fernen Zustandes an Beispielen faßlich zu machen, kann man jedes der unsterblichen Lieder Goethes zur Hand nehmen: als besonders deutlich zu diesem Zweck will ich nur einige empfehlen: »Schäfers Klagelied«, »Willkommen und Abschied«, »An den Mond«, »Auf dem See«, »Herbstgefühl«, auch sind ferner die eigentlichen Lieder im »Wunderhorn« vortreffliche Beispiele: ganz besonders jenes, welches anhebt: »O Bremen, ich muß dich nun lassen.« – Als eine komische, richtig treffende Parodie des lyrischen Charakters ist mir ein Lied von Voß merkwürdig, in welchem er die Empfindung eines betrunkenen, vom Thurm herabfallenden Bleideckers schildert, der im Vorbeifallen die seinem Zustande sehr fremde, also der willensfreien Erkenntniß angehörige Bemerkung macht, daß die Thurmuhr eben halb zwölf weist. – Wer die dargelegte Ansicht des lyrischen Zustandes mit mir theilt, wird auch zugeben, daß derselbe eigentlich die anschauliche und poetische Erkenntniß jenes in meiner Abhandlung über den Satz vom Grunde aufgestellten, auch in dieser Schrift schon erwähnten Satzes sei, daß die Identität des Subjekts des Erkennens mit dem des Wollens, das Wunder kat' exochên genannt werden kann; so daß die poetische Wirkung des Liedes zuletzt eigentlich auf der Wahrheit jenes Satzes beruht. – Im Verlaufe des Lebens treten jene beiden Subjekte, oder, populär zu reden, Kopf und Herz, immer mehr aus einander: immer mehr sondert man seine subjektive Empfindung von seiner objektiven Erkenntniß. Im Kinde sind Beide noch ganz verschmolzen: es weiß sich von seiner Umgebung kaum zu unterscheiden, es verschwimmt mit ihr. Im Jüngling wirkt alle Wahrnehmung zunächst Empfindung und Stimmung, ja vermischt sich mit dieser; wie dies Byron sehr schön ausdrückt:

I live not in myself, but I become

Portion of that around me; und to me

High mountains are a feeling.71

Eben daher haftet der Jüngling so sehr an der anschaulichen Außenseite der Dinge; eben daher taugt er nur zur lyrischen Poesie, und erst der Mann zur dramatischen. Den Greis kann man sich höchstens noch als Epiker denken, wie Ossian, Homer: denn Erzählen gehört zum Charakter des Greises.

In den mehr objektiven Dichtungsarten, besonders dem Roman, Epos und Drama, wird der Zweck, die Offenbarung der Idee der Menschheit, besonders durch zwei Mittel erreicht: durch richtige und tiefgefaßte Darstellung bedeutender Charaktere und durch Erfindung bedeutsamer Situationen, an denen sie sich entfalten. Denn wie dem Chemiker nicht nur obliegt, die einfachen Stoffe und ihre Hauptverbindungen rein und acht darzustellen; sondern auch, sie dem Einfluß solcher Reagenzien auszusetzen, an welchen ihre Eigenthümlichkeiten deutlich und auffallend sichtbar werden; eben so liegt dem Dichter ob, nicht nur bedeutsame Charaktere wahr und treu, wie die Natur selbst, uns vorzuführen; sondern er muß, damit sie uns kenntlich werden, sie in solche Situationen bringen, in welchen ihre Eigenthümlichkeiten sich gänzlich entfalten und sie sich deutlich, in scharfen Umrissen darstellen, welche daher bedeutsame Situationen heißen. Im wirklichen Leben und in der Geschichte führt der Zufall nur selten Situationen von dieser Eigenschaft herbei, und sie stehn dort einzeln, verloren und verdeckt durch die Menge des Unbedeutsamen. Die durchgängige Bedeutsamkeit der Situationen soll den Roman, das Epos, das Drama vom wirklichen Leben unterscheiden, eben so sehr, als die Zusammenstellung und Wahl bedeutsamer Charaktere: bei Beiden ist aber die strengste Wahrheit unerläßliche Bedingung ihrer Wirkung, und Mangel an Einheit in den Charakteren, Widerspruch derselben gegen sich selbst, oder gegen das Wesen der Menschheit überhaupt, wie auch Unmöglichkeit, oder ihr nahe kommende Unwahrscheinlichkeit in den Begebenheiten, sei es auch nur in Nebenumständen, beleidigen in der Poesie eben so sehr, wie verzeichnete Figuren, oder falsche Perspektive, oder fehlerhafte Beleuchtung in der Malerei: denn wir verlangen, dort wie hier, den treuen Spiegel des Lebens, der Menschheit, der Welt, nur verdeutlicht durch die Darstellung und bedeutsam gemacht durch die Zusammenstellung. Da der Zweck aller Künste nur einer ist, Darstellung der Ideen, und ihr wesentlicher Unterschied nur darin liegt, welche Stufe der Objektivation des Willens die darzustellende Idee ist, wonach sich wieder das Material der Darstellung bestimmt; so lassen sich auch die von einander entferntesten Künste durch Vergleichung an einander erläutern. So z.B. um die Ideen, welche sich im Wasser aussprechen, vollständig aufzufassen, ist es nicht hinreichend, es im ruhigen Teich und im ebenmäßig fließenden Strohme zu sehn; sondern jene Ideen entfalten sich ganz erst dann, wann das Wasser unter allen Umständen und Hindernissen erscheint, die auf dasselbe wirkend, es zur vollen Aeußerung aller seiner Eigenschaften veranlassen. Darum finden wir es schön, wenn es herabstürzt, braust, schäumt, wieder in die Höhe springt, oder wenn es fallend zerstäubt, oder endlich, künstlich gezwungen, als Strahl emporstrebt: so unter verschiedenen Umständen sich verschieden bezeigend, behauptet es aber immer getreulich seinen Charakter: es ist ihm eben so natürlich aufwärts zu spritzen, als spiegelnd zu ruhen; es ist zum Einen wie zum Ändern gleich bereit, sobald die Umstände eintreten. Was nun der Wasserkünstler an der flüssigen Materie leistet, das leistet der Architekt an der starren, und eben dieses der epische oder dramatische Dichter an der Idee der Menschheit. Entfaltung und Verdeutlichung der im Objekt jeder Kunst sich aussprechenden Idee, des auf jeder Stufe sich objektivirenden Willens, ist der gemeinsame Zweck aller Künste. Das Leben des Menschen, wie es in der Wirklichkeit sich meistens zeigt, gleicht dem Wasser, wie es sich meistens zeigt, in Teich und Fluß; aber im Epos, Roman und Trauerspiel werden ausgewählte Charaktere in solche Umstände versetzt, an welchen sich alle ihre Eigenthümlichkeiten entfalten, die Tiefen des menschlichen Gemüths sich aufschließen und in außerordentlichen und bedeutungsvollen Handlungen sichtbar werden. So objektivirt die Dichtkunst die Idee des Menschen, welcher es eigenthümlich ist, sich in höchst individuellen Charakteren darzustellen.

Als der Gipfel der Dichtkunst, sowohl in Hinsicht auf die Größe der Wirkung, als auf die Schwierigkeit der Leistung, ist das Trauerspiel anzusehn und ist dafür anerkannt. Es ist für das Ganze unserer gesammten Betrachtung sehr bedeutsam und wohl zu beachten, daß der Zweck dieser höchsten poetischen Leistung die Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens ist, daß der namenlose Schmerz, der Jammer der Menschheit, der Triumph der Bosheit, die höhnende Herrschaft des Zufalls und der rettungslose Fall der Gerechten und Unschuldigen uns hier vorgeführt werden: denn hierin liegt ein bedeutsamer Wink über die Beschaffenheit der Welt und des Daseyns. Es ist der Widerstreit des Willens mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner Objektität, am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt. Am Leiden der Menschheit wird er sichtbar, welches nun herbeigeführt wird, theils durch Zufall und Irrthum, die als Beherrscher der Welt, und durch ihre bis zum Schein der Absichtlichkeit gehende Tücke als Schicksal personificirt, auftreten; theils geht er aus der Menschheit selbst hervor, durch die sich kreuzenden Willensbestrebungen der Individuen, durch die Bosheit und Verkehrtheit der Meisten. Ein und der selbe Wille ist es, der in ihnen allen lebt und erscheint, dessen Erscheinungen aber sich selbst bekämpfen und sich selbst zerfleischen. In diesem Individuo tritt er gewaltig, in jenem schwächer hervor, hier mehr, dort minder zur Besinnung gebracht und gemildert durch das Licht der Erkenntniß, bis endlich, in Einzelnen, diese Erkenntniß, geläutert und gesteigert durch das Leiden selbst, den Punkt erreicht, wo die Erscheinung, der Schleier der Maja, sie nicht mehr täuscht, die Form der Erscheinung, das principium individuationis, von ihr durchschaut wird, der auf diesem beruhende Egoismus eben damit erstirbt, wodurch nunmehr die vorhin so gewaltigen Motive ihre Macht verlieren, und statt ihrer die vollkommene Erkenntniß des Wesens der Welt, als Quietiv des Willens wirkend, die Resignation herbeiführt, das Aufgeben, nicht bloß des Lebens, sondern des ganzen Willens zum Leben selbst. So sehn wir im Trauerspiel zuletzt die Edelsten, nach langem Kampf und Leiden, den Zwecken, die sie bis dahin so heftig verfolgten, und allen den Genüssen des Lebens auf immer entsagen, oder es selbst willig und freudig aufgeben: so den standhaften Prinzen des Calderon; so das Gretchen im »Faust«; so den Hamlet, dem sein Horatio willig folgen möchte, welchen aber jener bleiben und noch eine Weile in dieser rauhen Welt mit Schmerzen athmen heißt, um Hamlets Schicksal aufzuklären und dessen Andenken zu reinigen; – so auch die Jungfrau von Orleans, die Braut von Messina: sie alle sterben durch Leiden geläutert, d.h. nachdem der Wille zu leben zuvor in ihnen erstorben ist; im »Mohammed« von Voltaire spricht sich Dieses sogar wörtlich aus in den Schlußworten, welche die sterbende Palmira dem Mohammed zuruft: »Die Welt ist für Tyrannen: Lebe Du!« – Hingegen beruht die Forderung der sogenannten poetischen Gerechtigkeit auf gänzlichem Verkennen des Wesens des Trauerspiels, ja selbst des Wesens der Welt. Mit Dreistigkeit tritt sie in ihrer ganzen Plattheit auf in den Kritiken, welche Dr. Samuel Johnson zu den einzelnen Stücken Shakespeares geliefert hat, indem er recht naiv über die durchgängige Vernachlässigung derselben klagt; welche allerdings vorhanden ist: denn was haben die Ophelien, die Desdemonen, die Kordelien verschuldet? – Aber nur die platte, optimistische, protestantisch-rationalistische, oder eigentlich jüdische Weltansicht wird die Forderung der poetischen Gerechtigkeit machen und an deren Befriedigung ihre eigene finden. Der wahre Sinn des Trauerspiels ist die tiefere Einsicht, daß was der Held abbüßt nicht seine Partikularsünden sind, sondern die Erbsünde, d.h. die Schuld des Daseyns selbst:

Pues el delito mayor

Del hombre es haber nacido.

(Da die größte Schuld des Menschen

Ist, daß er geboren ward.)

Wie Calderon es geradezu ausspricht.

Die Behandlungsart des Trauerspiels näher betreffend, will ich mir nur eine Bemerkung erlauben. Darstellung eines großen Unglücks ist dem Trauerspiel allein wesentlich. Die vielen verschiedenen Wege aber, auf welchen es vom Dichter herbeigeführt wird, lassen sich unter drei Artbegriffe bringen. Es kann nämlich geschehn durch außerordentliche, an die äußersten Gränzen der Möglichkeit streifende Bosheit eines Charakters, welcher der Urheber des Unglücks wird; Beispiele dieser Art sind: Richard III, Jago im »Othello«, Shylok im »Kaufmann von Venedig«, Franz Moor, Phädra des Euripides, Kreon in der »Antigone«, u. dgl. m. Es kann ferner geschehn durch blindes Schicksal, d.i. Zufall oder Irrthum: von dieser Art ist ein wahres Muster der König Oedipus des Sophokles, auch die Trachinerinnen, und überhaupt gehören die meisten Tragödien der Alten hieher: unter den Neuem sind Beispiele: »Romeo und Juliet«, »Tankred« von Voltaire, »Die Braut von Messina«. Das Unglück kann aber endlich auch herbeigeführt werden durch die bloße Stellung der Personen gegen einander, durch ihre Verhältnisse; so daß es weder eines ungeheuren Irrthums, oder eines unerhörten Zufalls, noch auch eines die Gränzen der Menschheit im Bösen erreichenden Charakters bedarf; sondern Charaktere wie sie in moralischer Hinsicht gewöhnlich sind, unter Umständen, wie sie häufig eintreten, sind so gegen einander gestellt, daß ihre Lage sie zwingt, sich gegenseitig, wissend und sehend, das größte Unheil zu bereiten, ohne daß dabei das Unrecht auf irgend einer Seite ganz allein sei. Diese letztere Art scheint mir den beiden andern weit vorzuziehn: denn sie zeigt uns das größte Unglück nicht als eine Ausnahme, nicht als etwas durch seltene Umstände, oder monströse Charaktere Herbeigeführtes, sondern als etwas aus dem Thun und den Charakteren der Menschen leicht und von selbst, fast als wesentlich Hervorgehendes, und führt es eben dadurch furchtbar nahe an uns heran. Und wenn wir in den beiden andern Arten das ungeheuere Schicksal und die entsetzliche Bosheit als schreckliche, aber nur aus großer Ferne von uns drohende Mächte erblicken, denen wir selbst wohl entgehn dürften, ohne zur Entsagung zu flüchten; so zeigt uns die letzte Gattung jene Glück und Leben zerstörenden Mächte von der Art, daß auch zu uns ihnen der Weg jeden Augenblick offen steht, und das größte Leiden herbeigeführt durch Verflechtungen, deren Wesentliches auch unser Schicksal annehmen könnte, und durch Handlungen, die auch wir vielleicht zu begehn fähig wären und also nicht über Unrecht klagen dürften: dann fühlen wir schaudernd uns schon mitten in der Hölle. Die Ausführung in dieser letztem Art hat aber auch die größte Schwierigkeit; da man darin mit dem geringsten Aufwand von Mitteln und Bewegungsursachen, bloß durch ihre Stellung und Vertheilung die größte Wirkung hervorzubringen hat: daher ist selbst in vielen der besten Trauerspiele diese Schwierigkeit umgangen. Als ein vollkommenes Muster dieser Art ist jedoch ein Stück anzuführen, welches von mehreren andern des selben großen Meisters in anderer Hinsicht weit übertroffen wird: es ist »Clavigo«, »Hamlet« gehört gewissermaaßen hieher, wenn man nämlich bloß auf sein Verhältniß zum Laërtes und zur Ophelia sieht; auch hat »Wallenstein« diesen Vorzug; »Faust« ist ganz dieser Art, wenn man bloß die Begebenheit mit dem Gretchen und ihrem Bruder, als die Haupthandlung, betrachtet; ebenfalls der »Cid« des Corneille, nur daß diesem der tragische Ausgang fehlt, wie ihn hingegen das analoge Verhältniß des Max zur Thekla hat.72

§ 52

Nachdem wir nun im Bisherigen alle schönen Künste, in derjenigen Allgemeinheit, die unserm Standpunkt angemessen ist, betrachtet haben, anfangend von der schönen Baukunst, deren Zweck als solcher die Verdeutlichung der Objektivation des Willens auf der niedrigsten Stufe seiner Sichtbarkeit ist, wo er sich als dumpfes, erkenntnißloses, gesetzmäßiges Streben der Masse zeigt und doch schon Selbstentzweiung und Kampf offenbart, nämlich zwischen Schwere und Starrheit; – und unsere Betrachtung beschließend mit dem Trauerspiel, welches, auf der höchsten Stufe der Objektivation des Willens, eben jenen seinen Zwiespalt mit sich selbst, in furchtbarer Größe und Deutlichkeit uns vor die Augen bringt; – so finden wir, daß dennoch eine schöne Kunst von unserer Betrachtung ausgeschlossen geblieben ist und bleiben mußte, da im systematischen Zusammenhang unserer Darstellung gar keine Stelle für sie passend war: es ist die Musik. Sie steht ganz abgesondert von allen andern. Wir erkennen in ihr nicht die Nachbildung, Wiederholung irgend einer Idee der Wesen in der Welt: dennoch ist sie eine so große und überaus herrliche Kunst, wirkt so mächtig auf das innerste des Menschen, wird dort so ganz und so tief von ihm verstanden, als eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft; – daß wir gewiß mehr in ihr zu suchen haben, als ein exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi, wofür sie Leibnitz ansprach73 und dennoch ganz Recht hatte, sofern er nur ihre unmittelbare und äußere Bedeutung, ihre Schaale, betrachtete. Wäre sie jedoch nichts weiter, so müßte die Befriedigung, welche sie gewährt, der ähnlich seyn, die wir beim richtigen Aufgehn eines Rechnungsexempels empfinden, und könnte nicht jene innige Freude seyn, mit der wir das tiefste innere unsers Wesens zur Sprache gebracht sehn. Auf unserm Standpunkte daher, wo die ästhetische Wirkung unser Augenmerk ist, müssen wir ihr eine viel ernstere und tiefere, sich auf das innerste Wesen der Welt und unsers Selbst beziehende Bedeutung zuerkennen, in Hinsicht auf welche die Zahlenverhältnisse, in die sie sich auflösen läßt, sich nicht als das Bezeichnete, sondern selbst erst als Zeichen verhalten. Daß sie zur Welt, in irgend einem Sinne, sich wie Darstellung zum Dargestellten, wie Nachbild zum Vorbilde verhalten muß, können wir aus der Analogie mit den übrigen Künsten schließen, denen allen dieser Charakter eigen ist, und mit deren Wirkung auf uns die ihrige im Ganzen gleichartig, nur stärker, schneller, nothwendiger, unfehlbarer ist. Auch muß jene ihre nachbildliche Beziehung zur Welt eine sehr innige, unendlich wahre und richtig treffende seyn, weil sie von jedem augenblicklich verstanden wird und eine gewisse Unfehlbarkeit dadurch zu erkennen giebt, daß ihre Form sich auf ganz bestimmte, in Zahlen auszudrückende Regeln zurückführen läßt, von denen sie gar nicht abweichen kann, ohne gänzlich aufzuhören Musik zu seyn. – Dennoch liegt der Vergleichungspunkt zwischen der Musik und der Welt, die Hinsicht, in welcher jene zu dieser im Verhältniß der Nachahmung oder Wiederholung steht, sehr tief verborgen. Man hat die Musik zu allen Zeiten geübt, ohne hierüber sich Rechenschaft geben zu können: zufrieden, sie unmittelbar zu verstehn, thut man Verzicht auf ein abstraktes Begreifen dieses unmittelbaren Verstehns selbst.

Indem ich meinen Geist dem Eindruck der Tonkunst, in ihren mannigfaltigen Formen, gänzlich hingab, und dann wieder zur Reflexion und zu dem in gegenwärtiger Schrift dargelegten Gange meiner Gedanken zurückkehrte, ward mir ein Aufschluß über ihr inneres Wesen und über die Art ihres, der Analogie nach nothwendig vorauszusetzenden, nachbildlichen Verhältnisses zur Welt, welcher mir selbst zwar völlig genügend und für mein Forschen befriedigend ist, auch wohl Demjenigen, der mir bisher gefolgt wäre und meiner Ansicht der Welt beigestimmt hätte, eben so einleuchtend seyn wird; welchen Aufschluß jedoch zu beweisen, ich als wesentlich unmöglich erkenne; da er ein Verhältniß der Musik, als einer Vorstellung, zu Dem, was wesentlich nie Vorstellung seyn kann, annimmt und festsetzt, und die Musik als Nachbild eines Vorbildes, welches selbst nie unmittelbar vorgestellt werden kann, angesehn haben will. Ich kann deshalb nichts weiter thun, als hier am Schlüsse dieses der Betrachtung der Künste hauptsächlich gewidmeten dritten Buches, jenen mir genügenden Aufschluß über die wunderbare Kunst der Töne vortragen, und muß die Beistimmung, oder Verneinung meiner Ansicht der Wirkung anheimstellen, welche auf jeden Leser theils die Musik, theils der ganze und eine von mir in dieser Schrift mitgetheilte Gedanken hat. Ueberdies halte ich es, um der hier zu gebenden Darstellung der Bedeutung der Musik mit achter Ueberzeugung seinen Beifall geben zu können, für nothwendig, daß man oft mit anhaltender Reflexion auf dieselbe der Musik zuhöre, und hiezu wieder ist erforderlich, daß man mit dem ganzen von mir dargestellten Gedanken schon sehr vertraut sei.

Die adäquate Objektivation des Willens sind die (Platonischen) Ideen; die Erkenntniß dieser durch Darstellung einzelner Dinge (denn solche sind die Kunstwerke selbst doch immer) anzuregen (welches nur unter einer diesem entsprechenden Veränderung im erkennenden Subjekt möglich ist), ist der Zweck aller andern Künste. Sie alle objektiviren also den Willen nur mittelbar, nämlich mittelst der Ideen: und da unsere Welt nichts Anderes ist, als die Erscheinung der Ideen in der Vielheit, mittelst Eingang in das principium individuationis (die Form der dem Individuo als solchem möglichen Erkenntniß); so ist die Musik, da sie die Ideen übergeht, auch von der erscheinenden Welt ganz unabhängig, ignorirt sie schlechthin, könnte gewissermaaßen, auch wenn die Welt gar nicht wäre, doch bestehn: was von den andern Künsten sich nicht sagen läßt. Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs, gleich den andern Künsten, das Abbild der Ideen, sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der andern Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen. Da es inzwischen der selbe Wille ist, der sich sowohl in den Ideen, als in der Musik, nur in jedem von Beiden auf ganz verschiedene Weise, objektivirt; so muß, zwar durchaus keine unmittelbare Aehnlichkeit, aber doch ein Parallelismus, eine Analogie seyn zwischen der Musik und zwischen den Ideen, deren Erscheinung in der Vielheit und Unvollkommenheit die sichtbare Welt ist. Die Nachweisung dieser Analogie wird als Erläuterung das Verständniß dieser durch die Dunkelheit des Gegenstandes schwierigen Erklärung erleichtern.

Ich erkenne in den tiefsten Tönen der Harmonie, im Grundbaß, die niedrigsten Stufen der Objektivation des Willens wieder, die unorganische Natur, die Masse des Planeten. Alle die hohen Töne, leicht beweglich und schneller verklingend, sind bekanntlich anzusehn als entstanden durch die Nebenschwingungen des tiefen Grundtones, bei dessen Anklang sie immer zugleich leise miterklingen, und es ist Gesetz der Harmonie, daß auf eine Baßnote nur diejenigen hohen Töne treffen dürfen, die wirklich schon von selbst mit ihr zugleich ertönen (ihre sons harmoniques ) durch die Nebenschwingungen. Dieses ist nun dem analog, daß die gesammten Körper und Organisationen der Natur angesehn werden müssen als entstanden durch die stufenweise Entwickelung aus der Masse des Planeten: diese ist, wie ihr Träger, so ihre Quelle: und das selbe Verhältniß haben die hohem Töne zum Grundbaß. – Die Tiefe hat eine Gränze, über welche hinaus kein Ton mehr hörbar ist: dies entspricht dem, daß keine Materie ohne Form und Qualität wahrnehmbar ist, d.h. ohne Aeußerung einer nicht weiter erklärbaren Kraft, in der eben sich eine Idee ausspricht, und allgemeiner, daß keine Materie ganz willenlos seyn kann: also wie vom Ton als solchem ein gewisser Grad der Höhe unzertrennlich ist, so von der Materie ein gewisser Grad der Willensäußerung. – Der Grundbaß ist uns also in der Harmonie, was in der Welt die unorganische Natur, die roheste Masse, auf der Alles ruht und aus der sich Alles erhebt und entwickelt. – Nun ferner in den gesammten die Harmonie hervorbringenden Ripienstimmen, zwischen dem Basse und der leitenden, die Melodie singenden Stimme, erkenne ich die gesammte Stufenfolge der Ideen wieder, in denen der Wille sich objektivirt. Die dem Baß näher stehenden sind die niedrigeren jener Stufen, die noch unorganischen, aber schon mehrfach sich äußernden Körper: die höher liegenden repräsentiren mir die Pflanzen- und die Thierwelt. – Die bestimmten Intervalle der Tonleiter sind parallel den bestimmten Stufen der Objektivation des Willens, den bestimmten Species in der Natur. Das Abweichen von der arithmetischen Richtigkeit der Intervalle, durch irgend eine Temperatur, oder herbeigeführt durch die gewählte Tonart, ist analog dem Abweichen des Individuums vom Typus der Species: ja die unreinen Mißtöne, die kein bestimmtes Intervall geben, lassen sich den monströsen Mißgeburten zwischen zwei Thierspecies, oder zwischen Mensch und Thier, vergleichen. – Allein diesen Baß- und Ripienstimmen, welche die Harmonie ausmachen, fehlt nun aber jener Zusammenhang in der Fortschreitung, den allein die obere, die Melodie singende Stimme hat, welche auch allein sich schnell und leicht in Modulationen und Läufen bewegt, während jene alle nur eine langsamere Bewegung, ohne einen in jeder für sich bestehenden Zusammenhang, haben. Am schwerfälligsten bewegt sich der tiefe Baß, der Repräsentant der rohesten Masse: sein Steigen und Fallen geschieht nur in großen Stufen, in Terzen, Quarten, Quinten, nie um einen Ton; er wäre denn ein, durch doppelten Kontrapunkt, versetzter Baß. Diese langsame Bewegung ist ihm auch physisch wesentlich: ein schneller Lauf oder Triller in der Tiefe läßt sich nicht ein Mal imaginiren. Schneller, jedoch noch ohne melodischen Zusammenhang und sinnvolle Fortschreitung, bewegen sich die hohem Ripienstimmen, welche der Thierwelt parallel laufen. Der unzusammenhängende Gang und die gesetzmäßige Bestimmung aller Ripienstimmen ist Dem analog, daß in der ganzen unvernünftigen Welt, vom Krystall bis zum vollkommensten Thier, kein Wesen ein eigentlich zusammenhängendes Bewußtsein hat, welches sein Leben zu einem sinnvollen Ganzen machte, auch keines eine Succession geistiger Entwickelungen erfährt, keines durch Bildung sich vervollkommnet, sondern Alles gleichmäßig zu jeder Zeit dasteht, wie es seiner Art nach ist, durch festes Gesetz bestimmt, – Endlich in der Melodie, in der hohen singenden, das Ganze leitenden und mit ungebundener Willkür in ununterbrochenem, bedeutungsvollem Zusammenhange eines Gedankens vom Anfang bis zum Ende fortschreitenden, ein Ganzes darstellenden Hauptstimme, erkenne ich die höchste Stufe der Objektivation des Willens wieder, das besonnene Leben und Streben des Menschen. Wie er allein, weil er vernunftbegabt ist, stets vor- und rückwärts sieht, auf den Weg seiner Wirklichkeit und der unzähligen Möglichkeiten, und so einen besonnenen und dadurch als Ganzes zusammenhängenden Lebenslauf vollbringt; – Dem also entsprechend, hat die Melodie allein einen bedeutungsvollen, absichtsvollen Zusammenhang vom Anfang bis zum Ende. Sie erzählt folglich die Geschichte des von der Besonnenheit beleuchteten Willens, dessen Abdruck in der Wirklichkeit die Reihe seiner Thaten ist; aber sie sagt mehr, sie erzählt seine geheimste Geschichte, malt jede Regung, jedes Streben, jede Bewegung des Willens, alles Das, was die Vernunft unter den weiten und negativen Begriff Gefühl zusammenfaßt und nicht weiter in ihre Abstraktionen aufnehmen kann. Daher auch hat es immer geheißen, die Musik sei die Sprache des Gefühls und der Leidenschaft, so wie Worte die Sprache der Vernunft: schon Plato erklärt sie als hê tôn melôn kinêsis memimêmenê, en tios pathênasin hotan psychê ginêtai (melodiarum motus, animi affectus imitans), De leg. VIII, und auch Aristoteles sagt: dia ti hoi rythmoi kai ta melê, phônê ousa, êthesin eoike; (cur numeri musici et modi, qui voces sunt, moribus similes sese exhibent?), Probl. c. 19.

Wie nun das Wesen des Menschen darin besteht, daß sein Wille strebt, befriedigt wird und von Neuem strebt, und so immerfort, ja, sein Glück und Wohlseyn nur Dieses ist, daß jener Uebergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch rasch vorwärts geht, da das Ausbleiben der Befriedigung Leiden, das des neuen Wunsches leeres Sehnen, languor, Langeweile ist; so ist, Dem entsprechend, das Wesen der Melodie ein stetes Abweichen, Abirren vom Grundton, auf tausend Wegen, nicht nur zu den harmonischen Stufen, zur Terz und Dominante, sondern zu jedem Ton, zur dissonanten Septime und zu den übermäßigen Stufen, aber immer folgt ein endliches Zurückkehren zum Grundton: auf allen jenen Wegen drückt die Melodie das vielgestaltete Streben des Willens aus, aber immer auch, durch das endliche Wiederfinden einer harmonischen Stufe, und noch mehr des Grundtones, die Befriedigung. Die Erfindung der Melodie, die Aufdeckung aller tiefsten Geheimnisse des menschlichen Wollens und Empfindens in ihr, ist das Werk des Genius, dessen Wirken hier augenscheinlicher, als irgendwo, fern von aller Reflexion und bewußter Absichtlichkeit liegt und eine Inspiration heißen könnte. Der Begriff ist hier, wie überall in der Kunst, unfruchtbar: der Komponist offenbart das innerste Wesen der Welt und spricht die tiefste Weisheit aus. In einer Sprache, die seine Vernunft nicht versteht; wie eine magnetische Somnambule Aufschlüsse giebt über Dinge, von denen sie wachend keinen Begriff hat. Daher ist in einem Komponisten, mehr als in irgend einem andern Künstler, der Mensch vom Künstler ganz getrennt und unterschieden. Sogar bei der Erklärung dieser wunderbaren Kunst zeigt der Begriff seine Dürftigkeit und seine Schranken: ich will indessen unsere Analogie durchzuführen suchen. – Wie nun schneller Uebergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch, Glück und Wohlseyn ist, so sind rasche Melodien, ohne große Abirrungen, fröhlich; langsame, auf schmerzliche Dissonanzen gerathende und erst durch viele Takte sich wieder zum Grundton zurückwindende sind, als analog der verzögerten, erschwerten Befriedigung, traurig. Die Verzögerung der neuen Willensregung, der languor, würde keinen andern Ausdruck haben können, als den angehaltenen Grundton, dessen Wirkung bald unerträglich wäre: diesem nähern sich schon sehr monotone, nichtssagende Melodien. Die kurzen, faßlichen Sätze rascher Tanzmusik scheinen nur vom leicht zu erreichenden, gemeinen Glück zu reden; dagegen das Allegro maestoso, in großen Sätzen, langen Gängen, weiten Abirrungen, ein größeres, edleres Streben, nach einem fernen Ziel, und dessen endliche Erreichung bezeichnet. Das Adagio spricht vom Leiden eines großen und edlen Strebens, welches alles kleinliche Glück verschmäht, Aber wie wundervoll ist die Wirkung von Moll und Dur! Wie erstaunlich, daß der Wechsel eines halben Tones, der Eintritt der kleinen Terz, statt der großen, uns sogleich und unausbleiblich ein banges, peinliches Gefühl aufdringt, von welchem uns das Dur wieder eben so augenblicklich erlöst. Das Adagio erlangt im Moll den Ausdruck des höchsten Schmerzes, wird zur erschütterndesten Wehklage. Tanzmusik in Moll scheint das Verfehlen des kleinlichen Glückes, das man lieber verschmähen sollte, zu bezeichnen, scheint vom Erreichen eines niedrigen Zweckes unter Mühsäligkeiten und Plackereien zu reden. – Die Unerschöpflichkeit möglicher Melodien entspricht der Unerschöpflichkeit der Natur an Verschiedenheit der Individuen, Physiognomien und Lebensläufen. Der Uebergang aus einer Tonart in eine ganz andere, da er den Zusammenhang mit dem Vorhergegangenen ganz aufhebt, gleicht dem Tode, sofern in ihm das Individuum endet; aber der Wille, der in diesem erschien, nach wie vor lebt, in andern Individuen erscheinend, deren Bewußtsein jedoch mit dem des erstem keinen Zusammenhang hat.

Man darf jedoch bei der Nachweisung aller dieser vorgeführten Analogien nie vergessen, daß die Musik zu ihnen kein direktes, sondern nur ein mittelbares Verhältniß hat; da sie nie die Erscheinung, sondern allein das innere Wesen, das Ansich aller Erscheinung, den Willen selbst, ausspricht. Sie drückt daher nicht diese oder jene einzelne und bestimmte Freude, diese oder jene Betrübniß, oder Schmerz, oder Entsetzen, oder Jubel, oder Lustigkeit, oder Gemüthsruhe aus; sondern die Freude, die Betrübniß, den Schmerz, das Entsetzen, den Jubel, die Lustigkeit, die Gemüthsruhe selbst, gewissermaaßen in abstracto, das Wesentliche derselben, ohne alles Beiwerk, also auch ohne die Motive dazu. Dennoch verstehn wir sie, in dieser abgezogenen Quintessenz vollkommen. Hieraus entspringt es, daß unsere Phantasie so leicht durch sie erregt wird und nun versucht, jene ganz unmittelbar zu uns redende, unsichtbare und doch so lebhaft bewegte Geisterwelt zu gestalten und sie mit Fleisch und Bein zu bekleiden, also dieselbe in einem analogen Beispiel zu verkörpern. Dies ist der Ursprung des Gesanges mit Worten und endlich der Oper, – deren Text eben deshalb diese untergeordnete Stellung nie verlassen sollte, um sich zur Hauptsache und die Musik zum bloßen Mittel seines Ausdrucks zu machen, als welches ein großer Mißgriff und eine arge Verkehrtheit ist. Denn überall drückt die Musik nur die Quintessenz des Lebens und seiner Vorgänge aus, nie diese selbst, deren Unterschiede daher auf jene nicht allemal einfließen. Gerade diese ihr ausschließlich eigene Allgemeinheit, bei genauester Bestimmtheit, giebt ihr den hohen Werth, welchen sie als Panakeion aller unserer Leiden hat. Wenn also die Musik zu sehr sich den Worten anzuschließen und nach den Begebenheiten zu modeln sucht, so ist sie bemüht, eine Sprache zu reden, welche nicht die ihrige ist. Von diesem Fehler hat Keiner sich so rein gehalten, wie Rossini: daher spricht seine Musik so deutlich und rein ihre eigene Sprache, daß sie der Worte gar nicht bedarf und daher auch mit bloßen Instrumenten ausgeführt ihre volle Wirkung thut.

Diesem allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die Musik als zwei verschiedene Ausdrücke der selben Sache ansehn, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Analogie Beider ist, dessen Erkenntniß erfordert wird, um jene Analogie einzusehn. Die Musik ist demnach, wenn als Ausdruck der Welt angesehn, eine im höchsten Grad allgemeine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den einzelnen Dingen. Ihre Allgemeinheit ist aber keineswegs jene leere Allgemeinheit der Abstraktion, sondern ganz anderer Art, und ist verbunden mit durchgängiger deutlicher Bestimmtheit. Sie gleicht hierin den geometrischen Figuren und den Zahlen, welche als die allgemeinen Formen aller möglichen Objekte der Erfahrung und auf alle a priori anwendbar, doch nicht abstrakt, sondern anschaulich und durchgängig bestimmt sind. Alle möglichen Bestrebungen, Erregungen und Aeußerungen des Willens, alle jene Vorgänge im innern des Menschen, welche die Vernunft in den weiten negativen Begriff Gefühl wirft, sind durch die unendlich vielen möglichen Melodien auszudrücken, aber immer in der Allgemeinheit bloßer Form, ohne den Stoff, immer nur nach dem Ansich, nicht nach der Erscheinung, gleichsam die innerste Seele derselben, ohne Körper. Aus diesem innigen Verhältniß, welches die Musik zum wahren Wesen aller Dinge hat, ist auch Dies zu erklären, daß wenn zu irgend einer Scene, Handlung, Vorgang, Umgebung, eine passende Musik ertönt, diese uns den geheimsten Sinn derselben aufzuschließen scheint und als der richtigste und deutlichste Kommentar dazu auftritt; imgleichen, daß es Dem, der sich dem Eindruck einer Symphonie ganz hingiebt, ist, als sähe er alle möglichen Vorgänge des Lebens und der Welt an sich vorüberziehn: dennoch kann er, wenn er sich besinnt, keine Aehnlichkeit angeben zwischen jenem Tonspiel und den Dingen, die ihm vorschwebten. Denn die Musik ist, wie gesagt, darin von allen andern Künsten verschieden, daß sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objektität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt. Man könnte demnach die Welt eben so wohl verkörperte Musik, als verkörperten Willen nennen: daraus also ist es erklärlich, warum Musik jedes Gemälde, ja jede Scene des wirklichen Lebens und der Welt, sogleich in erhöhter Bedeutsamkeit hervortreten läßt; freilich um so mehr, je analoger ihre Melodie dem innern Geiste der gegebenen Erscheinung ist. Hierauf beruht es, daß man ein Gedicht als Gesang, oder eine anschauliche Darstellung als Pantomime, oder Beides als Oper der Musik unterlegen kann. Solche einzelne Bilder des Menschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik untergelegt, sind nie mit durchgängiger Nothwendigkeit ihr verbunden, oder entsprechend; sondern sie stehn zu ihr nur im Verhältniß eines beliebigen Beispiels zu einem allgemeinen Begriff: sie stellen in der Bestimmtheit der Wirklichkeit Dasjenige dar, was die Musik in der Allgemeinheit bloßer Form aussagt. Denn die Melodien sind gewissermaaßen, gleich den allgemeinen Begriffen, ein Abstraktum der Wirklichkeit. Diese nämlich, also die Welt der einzelnen Dinge, liefert das Anschauliche, das Besondere und Individuelle, den einzelnen Fall, sowohl zur Allgemeinheit der Begriffe, als zur Allgemeinheit der Melodien, welche beide Allgemeinheiten einander aber in gewisser Hinsicht entgegengesetzt sind; indem die Begriffe nur die allererst aus der Anschauung abstrahirten Formen, gleichsam die abgezogene äußere Schaale der Dinge enthalten, also ganz eigentlich Abstrakta sind; die Musik hingegen den innersten aller Gestaltung vorhergängigen Kern, oder das Herz der Dinge giebt. Dies Verhältniß ließe sich recht gut in der Sprache der Scholastiker ausdrücken, indem man sagte: die Begriffe sind die universalia post rem, die Musik aber giebt die universalia ante rem, und die Wirklichkeit die universalia in re. Dem allgemeinen Sinn der einer Dichtung beigegebenen Melodie könnten noch andere, eben so beliebig gewählte Beispiele des in ihr ausgedrückten Allgemeinen in gleichem Grade entsprechen: daher paßt die selbe Komposition zu vielen Strophen, daher auch das Vaudeville. Daß aber überhaupt eine Beziehung zwischen einer Komposition und einer anschaulichen Darstellung möglich ist, beruht, wie gesagt, darauf, daß Beide nur ganz verschiedene Ausdrücke des selben innern Wesens der Welt sind. Wann nun im einzelnen Fall eine solche Beziehung wirklich vorhanden ist, also der Komponist die Willensregungen, welche den Kern einer Begebenheit ausmachen, in der allgemeinen Sprache der Musik auszusprechen gewußt hat: dann ist die Melodie des Liedes, die Musik der Oper ausdrucksvoll. Die vom Komponisten aufgefundene Analogie zwischen jenen Beiden muß aber aus der unmittelbaren Erkenntniß des Wesens der Welt, seiner Vernunft unbewußt, hervorgegangen und darf nicht, mit bewußter Absichtlichkeit, durch Begriffe vermittelte Nachahmung seyn: sonst spricht die Musik nicht das innere Wesen, den Willen selbst aus; sondern ahmt nur seine Erscheinung ungenügend nach; wie dies alle eigentlich nachbildende Musik thut, z.B. »Die Jahreszeiten« von Haydn, auch seine Schöpfung in vielen Stellen, wo Erscheinungen der anschaulichen Welt unmittelbar nachgeahmt sind; so auch in allen Bataillenstücken: welches gänzlich zu verwerfen ist.

Das unaussprechlich Innige aller Musik, vermöge dessen sie als ein so ganz vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vorüberzieht, so ganz verständlich und doch so unerklärlich ist, beruht darauf, daß sie alle Regungen unsers innersten Wesens wiedergiebt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern von ihrer Quaal. Imgleichen ist der ihr wesentliche Ernst, welcher das Lächerliche aus ihrem unmittelbar eigenen Gebiet ganz ausschließt, daraus zu erklären, daß ihr Objekt nicht die Vorstellung ist, in Hinsicht auf welche Täuschung und Lächerlichkeit allein möglich sind; sondern ihr Objekt unmittelbar der Wille ist und dieser wesentlich das Allerernsteste, als wovon Alles abhängt. – Wie inhaltsreich und bedeutungsvoll ihre Sprache sei, bezeugen sogar die Repetitionszeichen, nebst dem Da capo, als welche bei Werken in der Wortsprache unerträglich wären, bei jener hingegen sehr zweckmäßig und wohlthuend sind: denn um es ganz zu fassen, muß man es zwei Mal hören.

Wenn ich nun in dieser ganzen Darstellung der Musik bemüht gewesen bin, deutlich zu machen, daß sie in einer höchst allgemeinen Sprache das innere Wesen, das Ansich der Welt, welches wir, nach seiner deutlichsten Aeußerung, unter dem Begriff Willen denken, ausspricht, in einem einartigen Stoff, nämlich bloßen Tönen, und mit der größten Bestimmtheit und Wahrheit; wenn ferner, meiner Ansicht und Bestrebung nach, die Philosophie nichts Anderes ist, als eine vollständige und richtige Wiederholung und Aussprechung des Wesens der Welt, in sehr allgemeinen Begriffen, da nur in solchen eine überall ausreichende und anwendbare Uebersicht jenes ganzen Wesens möglich ist; so wird wer mir gefolgt und in meine Denkungsart eingegangen ist, es nicht so sehr paradox finden, wenn ich sage, daß gesetzt es gelänge eine vollkommen richtige, vollständige und in das Einzelne gehende Erklärung der Musik, also eine ausführliche Wiederholung dessen was sie ausdrückt in Begriffen zu geben, diese sofort auch eine genügende Wiederholung und Erklärung der Welt in Begriffen, oder einer solchen ganz gleichlautend, also die wahre Philosophie seyn würde, und daß wir folglich den oben angeführten Ausspruch Leibnitzens, der auf einem niedrigeren Standpunkt ganz richtig ist, im Sinn unserer höheren Ansicht der Musik folgendermaaßen parodiren können: Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi. Denn scire, wissen, heißt überall in abstrakte Begriffe abgesetzt haben. Da nun aber ferner, vermöge der vielfältig bestätigten Wahrheit des Leibnitzischen Ausspruchs, die Musik, abgesehn von ihrer ästhetischen oder innern Bedeutung, und bloß äußerlich und rein empirisch betrachtet, nichts Anderes ist, als das Mittel, größere Zahlen und zusammengesetztere Zahlenverhältnisse, die wir sonst nur mittelbar, durch Auffassung in Begriffen, erkennen können, unmittelbar und in concreto aufzufassen; so können wir nun durch Vereinigung jener beiden so verschiedenen und doch richtigen Ansichten der Musik, uns einen Begriff von der Möglichkeit einer Zahlenphilosophie machen, dergleichen die des Pythagoras und auch die der Chinesen im Y-king war, und sodann nach diesem Sinn jenen Spruch der Pythagoreer deuten, welchen Sextus Empirikus (adv. Math. L. VII) anführt: tô arithmô de ta pant' epeoiken (numero cuncta asstmilantur). Und wenn wir endlich diese Ansicht an unsere obige Deutung der Harmonie und Melodie bringen, so werden wir eine bloße Moralphilosophie ohne Erklärung der Natur, wie sie Sokrates einführen wollte, einer Melodie ohne Harmonie, welche Rousseau ausschließlich wollte, ganz analog finden, und im Gegensatz hievon wird eine bloße Physik und Metaphysik ohne Ethik einer bloßen Harmonie ohne Melodie entsprechen. – An diese beiläufigen Betrachtungen sei es mir vergönnt, noch einige die Analogie der Musik mit der erscheinenden Welt betreffende Bemerkungen zu knüpfen. Wir fanden im vorigen Buche, daß die höchste Stufe der Objektivation des Willens, der Mensch, nicht allein und abgerissen erscheinen konnte, sondern die unter ihm stehenden Stufen und diese immer wieder die tieferen voraussetzten: eben so nun ist die Musik, welche, eben wie die Welt, den Willen unmittelbar objektivirt, erst vollkommen in der vollständigen Harmonie. Die hohe leitende Stimme der Melodie bedarf, um ihren ganzen Eindruck zu machen, der Begleitung aller andern Stimmen, bis zum tiefsten Baß, welcher als der Ursprung aller anzusehn ist: die Melodie greift selbst als integrirender Theil in die Harmonie ein, wie auch diese in jene: und wie nur so, im vollstimmigen Ganzen, die Musik ausspricht, was sie auszusprechen bezweckt, so findet der eine und außerzeitliche Wille seine vollkommene Objektivation nur in der vollständigen Vereinigung aller der Stufen, welche in unzähligen Graden gesteigerter Deutlichkeit sein Wesen offenbaren. – Sehr merkwürdig ist noch folgende Analogie. Wir haben im vorigen Buche gesehn, daß, ungeachtet des Sichanpassens aller Willenserscheinungen zu einander, in Hinsicht auf die Arten, welches die teleologische Betrachtung veranlaßt, dennoch ein nicht aufzuhebender Widerstreit zwischen jenen Erscheinungen als Individuen bleibt, auf allen Stufen derselben sichtbar ist und die Welt zu einem beständigen Kampfplatz aller jener Erscheinungen des einen und selben Willens macht, dessen innerer Widerspruch mit sich selbst dadurch sichtbar wird. Auch diesem sogar ist etwas Entsprechendes in der Musik. Nämlich ein vollkommen reines harmonisches System der Töne ist nicht nur physisch, sondern sogar schon arithmetisch unmöglich. Die Zahlen selbst, durch welche die Töne sich ausdrücken lassen, haben unauflösbare Irrationalitäten: keine Skala läßt sich auch nur ausrechnen, innerhalb welcher jede Quinte sich zum Grundton verhielte wie 2 zu 3, jede große Terz wie 4 zu 5, jede kleine Terz wie 5 zu 6 u.s.w. Denn, sind die Töne zum Grundton richtig, so sind sie es nicht mehr zu einander; indem ja z.B. die Quinte die kleine Terz der Terz seyn müßte, u.s.w.: denn die Töne der Skala sind Schauspielern zu vergleichen, welche bald diese, bald jene Rolle zu spielen haben. Daher also läßt eine vollkommen richtige Musik sich nicht ein Mal denken, geschweige ausführen; und dieserhalb weicht jede mögliche Musik von der vollkommenen Reinheit ab: sie kann bloß die ihr wesentlichen Dissonanzen, durch Vertheilung derselben an alle Töne, d.i. durch Temperatur, verstecken. Man sehe hierüber Chladni's »Akustik«, § 30, und dessen »Kurze Uebersicht der Schall- und Klanglehre«, S. 12.74

Ich hätte noch manches hinzuzufügen über die Art, wie Musik percipirt wird, nämlich einzig und allein in und durch die Zeit, mit gänzlicher Ausschließung des Raumes, auch ohne Einfluß der Erkenntniß der Kausalität, also des Verstandes: denn die Töne machen schon als Wirkung und ohne daß wir auf ihre Ursache, wie bei der Anschauung, zurückgiengen, den ästhetischen Eindruck. – Ich will indessen diese Betrachtungen nicht noch mehr verlängern, da ich vielleicht schon so in diesem dritten Buche Manchem zu ausführlich gewesen bin, oder mich zu sehr auf das Einzelne eingelassen habe. Mein Zweck machte es jedoch nöthig, und man wird es um so weniger mißbilligen, wenn man die selten genugsam erkannte Wichtigkeit und den hohen Werth der Kunst sich vergegenwärtigt, erwägend, daß wenn, nach unserer Ansicht, die gesammte sichtbare Welt nur die Objektivation, der Spiegel des Willens ist, zu seiner Selbsterkenntniß, ja, wie wir bald sehn werden, zur Möglichkeit seiner Erlösung, ihn begleitend; und zugleich, daß die Welt als Vorstellung, wenn man sie abgesondert betrachtet, indem man vom Wollen losgerissen, nur sie allein das Bewußtseyn einnehmen läßt, die erfreulichste und die allein unschuldige Seite des Lebens ist; – wir die Kunst als die höhere Steigerung, die vollkommenere Entwickelung von allen Diesem anzusehn haben, da sie wesentlich eben das Selbe, nur koncentrirter, vollendeter, mit Absicht und Besonnenheit leistet, was die sichtbare Welt selbst, und sie daher, im vollen Sinne des Wortes, die Blüthe des Lebens genannt werden mag. Ist die ganze Welt als Vorstellung nur die Sichtbarkeit des Willens, so ist die Kunst die Verdeutlichung dieser Sichtbarkeit, die Camera obscura, welche die Gegenstände reiner zeigt und besser übersehn und zusammenfassen läßt, das Schauspiel im Schauspiel, die Bühne auf der Bühne im »Hamlet«.

Der Genuß alles Schönen, der Trost, den die Kunst gewährt, der Enthusiasmus des Künstlers, welcher ihn die Mühen des Lebens vergessen läßt, dieser eine Vorzug des Genius vor den Ändern, der ihn für das mit der Klarheit des Bewußtseyns in gleichem Maaße gesteigerte Leiden und für die öde Einsamkeit unter einem heterogenen Geschlechte allein entschädigt, – dieses Alles beruht darauf, daß, wie sich uns weiterhin zeigen wird, das Ansich des Lebens, der Wille, das Daseyn selbst, ein stetes Leiden und theils jämmerlich, theils schrecklich ist; dasselbe hingegen als Vorstellung allein, rein angeschaut, oder durch die Kunst wiederholt, frei von Quaal, ein bedeutsames Schauspiel gewährt. Diese rein erkennbare Seite der Welt und die Wiederholung derselben in irgend einer Kunst ist das Element des Künstlers. Ihn fesselt die Betrachtung des Schauspiels der Objektivation des Willens: bei demselben bleibt er stehn, wird nicht müde es zu betrachten und darstellend zu wiederholen, und trägt derweilen selbst die Kosten der Aufführung jenes Schauspiels, d.h. ist ja selbst der Wille, der sich also objektivirt und in stetem Leiden bleibt. Jene reine, wahre und tiefe Erkenntniß des Wesens der Welt wird ihm nun Zweck an sich: er bleibt bei ihr stehn. Daher wird sie ihm nicht, wie wir es im folgenden Buche bei dem zur Resignation gelangten Heiligen sehn werden, Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf immer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben, und ist ihm so noch nicht der Weg aus demselben, sondern nur einstweilen ein Trost in demselben; bis seine dadurch gesteigerte Kraft, endlich des Spieles müde, den Ernst ergreift. Als Sinnbild dieses Ueberganges kann man die heilige Cäcilie von Raphael betrachten. Zum Ernst also wollen nun auch wir uns im folgenden Buche wenden.