Bei erreichter Selbsterkenntniß Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben.

Tempore quo cognitio simul advenit, amor e medio supersurrexit.

Oupnek'hat, studio Anquetil Duperron,

vol. II, p. 216.

§ 53

Der letzte Theil unserer Betrachtung kündigt sich als der ernsteste an, da er die Handlungen der Menschen betrifft, den Gegenstand, der Jeden unmittelbar angeht, Niemanden fremd oder gleichgültig seyn kann, ja, auf welchen alles Andere zu beziehn, der Natur des Menschen so gemäß ist, daß er, bei jeder zusammenhängenden Untersuchung, den auf das Thun sich beziehenden Theil derselben immer als das Resultat ihres gesammten Inhalts, wenigstens sofern ihn derselbe interessirt, betrachten und daher diesem Theil, wenn auch sonst keinem andern, ernsthafte Aufmerksamkeit widmen wird. – In der angegebenen Beziehung würde man, nach der gewöhnlichen Art sich auszudrücken, den jetzt folgenden Theil unserer Betrachtung die praktische Philosophie, im Gegensatz der bisher abgehandelten theoretischen, nennen. Meiner Meinung nach aber ist alle Philosophie immer theoretisch, indem es ihr wesentlich ist, sich, was auch immer der nächste Gegenstand der Untersuchung sei, stets rein betrachtend zu verhalten und zu forschen, nicht vorzuschreiben. Hingegen praktisch zu werden, das Handeln zu leiten, den Charakter umzuschaffen, sind alte Ansprüche, die sie, bei gereifter Einsicht, endlich aufgeben sollte. Denn hier, wo es den Werth oder Unwerth eines Daseyns, wo es Heil oder Verdammniß gilt, geben nicht ihre todten Begriffe den Ausschlag, sondern das Innerste Wesen des Menschen selbst, der Dämon, der ihn leitet und der nicht ihn, sondern den er selbst gewählt hat, – wie Plato spricht, – sein intelligibler Charakter, – wie Kant sich ausdrückt. Die Tugend wird nicht gelehrt, so wenig wie der Genius: ja, für sie ist der Begriff so unfruchtbar und nur als Werkzeug zu gebrauchen, wie er es für die Kunst ist. Wir würden daher eben so thöricht seyn, zu erwarten, daß unsere Moralsysteme und Ethiken Tugendhafte, Edle und Heilige, als daß unsere Aesthetiken Dichter, Bildner und Musiker erweckten.

Die Philosophie kann nirgends mehr thun, als das Vorhandene deuten und erklären, das Wesen der Welt, welches in concreto, d.h. als Gefühl, Jedem verständlich sich ausspricht, zur deutlichen, abstrakten Erkenntniß der Vernunft bringen, Dieses aber in jeder möglichen Beziehung und von jedem Gesichtspunkt aus. Wie nun Dasselbe, in den drei vorhergegangenen Büchern, in der der Philosophie eigenthümlichen Allgemeinheit, von andern Gesichtspunkten aus zu leisten gesucht wurde; so soll im gegenwärtigen Buch auf gleiche Weise das Handeln des Menschen betrachtet werden; welche Seite der Welt wohl nicht nur, wie ich vorhin bemerkte, nach subjektivem, sondern auch nach objektivem Urtheil, als die wichtigste von allen befunden werden möchte. Ich werde dabei unserer bisherigen Betrachtungsweise völlig getreu bleiben, auf das bisher Vorgetragene als Voraussetzung mich stützen, ja eigentlich nur den einen Gedanken, welcher der Inhalt dieser ganzen Schrift ist, wie bisher an allen andern Gegenständen, jetzt eben so am Handeln des Menschen entwickeln und damit das Letzte thun, was ich vermag zu einer möglichst vollständigen Mittheilung desselben.

Der gegebene Gesichtspunkt und die angekündigte Behandlungsweise geben es schon an die Hand, daß man in diesem ethischen Buche keine Vorschriften, keine Pflichtenlehre zu erwarten hat; noch weniger soll ein allgemeines Moral-Princip, gleichsam ein Universal-Recept zur Hervorbringung aller Tugenden angegeben werden. Auch werden wir von keinem »unbedingten Sollen« reden, weil solches, wie im Anhang ausgeführt, einen Widerspruch enthält, noch auch von einem »Gesetz für die Freiheit«, welches sich im selben Fall befindet. Wir werden überhaupt ganz und gar nicht von Sollen reden: denn so redet man zu Kindern und zu Völkern in ihrer Kindheit, nicht aber zu Denen, welche die ganze Bildung einer mündig gewordenen Zeit sich angeeignet haben. Es ist doch wohl handgreiflicher Widerspruch, den Willen frei zu nennen und doch ihm Gesetze vorzuschreiben, nach denen er wollen soll; – »wollen soll« – hölzernes Eisen! In Folge unserer ganzen Ansicht aber ist der Wille nicht nur frei, sondern sogar allmächtig: aus ihm ist nicht nur sein Handeln, sondern auch seine Welt; und wie er ist, so erscheint sein Handeln, so erscheint seine Welt: seine Selbsterkenntniß sind Beide und sonst nichts: er bestimmt sich und eben damit Beide: denn außer ihm ist nichts, und sie sind er selbst: nur so ist er wahrhaft autonomisch; nach jeder andern Ansicht aber heteronomisch. Unser philosophisches Bestreben kann bloß dahin gehn, das Handeln des Menschen, die so verschiedenen, ja entgegengesetzten Maximen, deren lebendiger Ausdruck es ist, zu deuten und zu erklären, ihrem Innersten Wesen und Gehalt nach, im Zusammenhang mit unserer bisherigen Betrachtung und gerade so, wie wir bisher die übrigen Erscheinungen der Welt zu deuten, ihr Innerstes Wesen zur deutlichen, abstrakten Erkenntniß zu bringen gesucht haben. Unsere Philosophie wird dabei die selbe Immanenz behaupten, wie in der ganzen bisherigen Betrachtung: sie wird nicht, Kants großer Lehre zuwider, die Formen der Erscheinung, deren allgemeiner Ausdruck der Satz vom Grunde ist, als einen Springstock gebrauchen wollen, um damit die allein ihnen Bedeutung gebende Erscheinung selbst zu überfliegen und im gränzenlosen Gebiet leerer Fiktionen zu landen. Sondern diese wirkliche Welt der Erkennbarkeit, in der wir sind und die in uns ist, bleibt, wie der Stoff, so auch die Gränze unserer Betrachtung: sie, die so gehaltreich ist, daß auch die tiefste Forschung, deren der menschliche Geist fähig wäre, sie nicht erschöpfen könnte. Weil nun also die wirkliche, erkennbare Welt es auch unsern ethischen Betrachtungen, so wenig als den vorhergegangenen, nie an Stoff und Realität fehlen lassen wird; so werden wir nichts weniger nöthig haben, als zu inhaltsleeren, negativen Begriffen unsere Zuflucht zu nehmen, und dann etwan gar uns selbst glauben zu machen, wir sagten etwas, wenn wir, mit hohen Augenbrauen, vom »Absoluten«, vom »Unendlichen«, vom »Uebersinnlichen«, und was dergleichen bloße Negationen mehr sind (ouden esti, ê to tês oterêseôs onoma, meta amydras epinoias. – nihil est, nisi negationis nomen, cum obscura notione. Jul., or. 5), statt deren man kürzer Wolkenkukuksheim nephelokokkygia sagen könnte, redeten: zugedeckte, leere Schüsseln dieser Art werden wir nicht aufzutischen brauchen. – Endlich werden wir auch hier so wenig, wie im Bisherigen, Geschichten erzählen und solche für Philosophie ausgeben. Denn wir sind der Meinung, daß Jeder noch himmelweit von einer philosophischen Erkenntniß der Welt entfernt ist, der vermeint, das Wesen derselben irgendwie, und sei es noch so fein bemäntelt, historisch fassen zu können; welches aber der Fall ist, sobald in seiner Ansicht des Wesens an sich der Welt irgend ein Werden, oder Gewordenseyn, oder Werdenwerden sich vorfindet, irgend ein Früher oder Später die mindeste Bedeutung hat und folglich, deutlich oder versteckt, ein Anfangs-und ein Endpunkt der Welt, nebst dem Wege zwischen beiden gesucht und gefunden wird und das philosophirende Individuum wohl noch gar seine eigene Stelle auf diesem Wege erkennt. Solches historisches Philosophiren liefert in den meisten Fällen eine Kosmogonie, die viele Varietäten zuläßt, sonst aber auch ein Emanationssystem, Abfallslehre, oder endlich, wenn, aus Verzweiflung über fruchtlose Versuche auf jenen Wegen, auf den letzten Weg getrieben, umgekehrt eine Lehre vom steten Werden, Entsprießen, Entstehn, Hervortreten ans Licht aus dem Dunkeln, dem finstern Grund, Urgrund, Ungrund und was dergleichen Gefasels mehr ist, welches man übrigens am kürzesten abfertigt durch die Bemerkung, daß eine ganze Ewigkeit, d.h. eine unendliche Zeit, bis zum jetzigen Augenblick bereits abgelaufen ist, weshalb Alles, was da werden kann oder soll, schon geworden seyn muß. Denn alle solche historische Philosophie, sie mag auch noch so vornehm thun, nimmt, als wäre Kant nie dagewesen, die Zeit für eine Bestimmung der Dinge an sich, und bleibt daher bei dem stehn, was Kant die Erscheinung, im Gegensatz des Dinges an sich, und Plato das Werdende, nie Seiende, im Gegensatz des Seienden, nie Werdenden nennt, oder endlich was bei den Indern das Gewebe der Maja heißt: es ist eben die dem Satz vom Grunde anheimgegebene Erkenntniß, mit der man nie zum innern Wesen der Dinge gelangt, sondern nur Erscheinungen ins Unendliche verfolgt, sich ohne Ende und Ziel bewegt, dem Eichhörnchen im Rade zu vergleichen, bis man etwan endlich ermüdet, oben oder unten, bei irgend einem beliebigen Punkte stille steht und nun für denselben auch von Andern Respekt ertrotzen will. Die ächte philosophische Betrachtungsweise der Welt, d.h. diejenige, welche uns ihr inneres Wesen erkennen lehrt und so über die Erscheinung hinaus führt, ist gerade die, welche nicht nach dem Woher und Wohin und Warum, sondern immer und überall nur nach dem Was der Welt fragt, d.h. welche die Dinge nicht nach irgend einer Relation, nicht als werdend und vergehend, kurz, nicht nach einer der vier Gestalten des Satzes vom Grunde betrachtet; sondern umgekehrt, gerade Das, was nach Aussonderung dieser ganzen, jenem Satz nachgehenden Betrachtungsart noch übrig bleibt, das in allen Relationen erscheinende, selbst aber ihnen nicht unterworfene, immer sich gleiche Wesen der Welt, die Ideen derselben, zum Gegenstand hat. Von solcher Erkenntniß geht, wie die Kunst, so auch die Philosophie aus, ja, wie wir in diesem Buche finden werden, auch diejenige Stimmung des Gemüthes, welche allein zur wahren Heiligkeit und zur Erlösung von der Welt führt.

§ 54

Die drei ersten Bücher werden hoffentlich die deutliche und gewisse Erkenntniß herbeigeführt haben, daß in der Welt als Vorstellung dem Willen sein Spiegel aufgegangen ist, in welchem er sich selbst erkennt, mit zunehmenden Graden der Deutlichkeit und Vollständigkeit, deren höchster der Mensch ist, dessen Wesen aber seinen vollendeten Ausdruck erst durch die zusammenhängende Reihe seiner Handlungen erhält, deren selbstbewußten Zusammenhang die Vernunft, die ihn das Ganze stets in abstracto überblicken läßt, möglich macht.

Der Wille, welcher rein an sich betrachtet, erkenntnißlos und nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang ist, wie wir ihn noch in der unorganischen und vegetabilischen Natur und ihren Gesetzen, wie auch im vegetativen Theil unsers eigenen Lebens erscheinen sehn, erhält durch die hinzugetretene, zu seinem Dienst entwickelte Welt der Vorstellung die Erkenntniß von seinem Wollen und von dem was es sei, das er will, daß es nämlich nichts Anderes sei, als diese Welt, das Leben, gerade so wie es dasteht. Wir nannten deshalb die erscheinende Welt seinen Spiegel, seine Objektität: und da was der Wille will immer das Leben ist, eben weil dasselbe nichts weiter, als die Darstellung jenes Wollens für die Vorstellung ist; so ist es einerlei und nur ein Pleonasmus, wenn wir statt schlechthin zu sagen, »der Wille«, sagen »der Wille zum Leben.«

Da der Wille das Ding an sich, der Innere Gehalt, das Wesentliche der Welt ist; das Leben, die sichtbare Welt, die Erscheinung, aber nur der Spiegel des Willens; so wird diese den Willen so unzertrennlich begleiten, wie den Körper sein Schatten: und wenn Wille daist, wird auch Leben, Welt daseyn. Dem Willen zum Leben ist also das Leben gewiß, und solange wir von Lebenswillen erfüllt sind, dürfen wir für unser Daseyn nicht besorgt seyn, auch nicht beim Anblick des Todes. Wohl sehn wir das Individuum entstehn und vergehn: aber das Individuum ist nur Erscheinung, ist nur da für die im Satz vom Grunde, dem principio individuationis, befangene Erkenntniß: für diese freilich empfängt es sein Leben wie ein Geschenk, geht aus dem Nichts hervor, leidet dann durch den Tod den Verlust jenes Geschenks und geht ins Nichts zurück. Aber wir wollen ja eben das Leben philosophisch, d.h. seinen Ideen nach betrachten, und da werden wir finden, daß weder der Wille, das Ding an sich in allen Erscheinungen, noch das Subjekt des Erkennens, der Zuschauer aller Erscheinungen, von Geburt und von Tod irgend berührt werden. Geburt und Tod gehören eben zur Erscheinung des Willens, also zum Leben, und es ist diesem wesentlich, sich in Individuen darzustellen, welche entstehn und vergehn, als flüchtige, in der Form der Zeit auftretende Erscheinungen Desjenigen, was an sich keine Zeit kennt, aber gerade auf die besagte Weise sich darstellen muß, um sein eigentliches Wesen zu objektiviren. Geburt und Tod gehören auf gleiche Weise zum Leben und halten sich das Gleichgewicht als wechselseitige Bedingungen von einander, oder, wenn man etwan den Ausdruck liebt, als Pole der gesammten Lebenserscheinung. Die weiseste aller Mythologien, die Indische, drückt Dieses dadurch aus, daß sie gerade dem Gotte, welcher die Zerstörung, den Tod, symbolisirt (wie Brahma, der sündigste und niedrigste Gott des Triumurtis, die Zeugung, Entstehung und Wischnu die Erhaltung), daß sie, sage ich, gerade dem Schiwa, zugleich mit dem Halsband von Todtenköpfen, den Lingam zum Attribut giebt, dieses Symbol der Zeugung, welche also hier als Ausgleichung des Todes auftritt, wodurch angedeutet wird, daß Zeugung und Tod wesentliche Korrelate sind, die sich gegenseitig neutralisiren und aufheben. – Ganz die selbe Gesinnung war es, welche Griechen und Römer antrieb, die kostbaren Sarkophage gerade so zu verzieren, wie wir sie noch sehn, mit Festen, Tänzen, Hochzeiten, Jagden, Thierkämpfen, Bakchanalien, also mit Darstellungen des gewaltigsten Lebensdranges, welchen sie nicht nur in solchen Lustbarkeiten, sondern sogar in wollüstigen Gruppen, selbst bis zur Begattung zwischen Satyren und Ziegen, uns vorführen. Der Zweck war offenbar, vom Tode des betrauerten Individuums, mit dem größten Nachdruck auf das unsterbliche Leben der Natur hinzuweisen und dadurch, wenn gleich ohne abstraktes Wissen, anzudeuten, daß die ganze Natur die Erscheinung und auch die Erfüllung des Willens zum Leben ist. Die Form dieser Erscheinung ist Zeit, Raum und Kausalität, mittelst dieser aber Individuation, die es mit sich bringt, daß das Individuum entstehn und vergehn muß, was aber den Willen zum Leben, von dessen Erscheinung das Individuum gleichsam nur ein einzelnes Exempel oder Specimen ist, so wenig anficht, als das Ganze der Natur gekränkt wird durch den Tod eines Individuums. Denn nicht dieses, sondern die Gattung allein ist es, woran der Natur gelegen ist, und auf deren Erhaltung sie mit allem Ernst dringt, indem sie für dieselbe so verschwenderisch sorgt, durch die ungeheure Ueberzahl der Keime und die große Macht des Befruchtungstriebes. Hingegen hat das Individuum für sie keinen Werth und kann ihn nicht haben, da unendliche Zeit, unendlicher Raum und in diesen unendliche Zahl möglicher Individuen ihr Reich sind; daher sie stets bereit ist, das Individuum fallen zu lassen, welches demnach nicht nur auf tausendfache Weise, durch die unbedeutendesten Zufälle, dem Untergang ausgesetzt, sondern ihm schon ursprünglich bestimmt ist und ihm von der Natur selbst entgegengeführt wird, von dem Augenblick an, wo es der Erhaltung der Gattung gedient hat. Ganz naiv spricht hiedurch die Natur selbst die große Wahrheit aus, daß nur die Ideen, nicht die Individuen eigentliche Realität haben, d.h. vollkommene Objektität des Willens sind. Da nun der Mensch die Natur selbst, und zwar im höchsten Grade ihres Selbstbewußtseyns ist, die Natur aber nur der objektivirte Wille zum Leben ist; so mag der Mensch, wenn er diesen Gesichtspunkt gefaßt hat und dabei stehn bleibt, allerdings und mit Recht sich über seinen und seiner Freunde Tod trösten, durch den Rückblick auf das unsterbliche Leben der Natur, die er selbst ist. So folglich ist Schiwa mit dem Lingam, so jene antiken Sarkophage zu verstehn, die mit ihren Bildern des glühendesten Lebens dem klagenden Betrachter zurufen: Natura non contristatur.

Daß Zeugung und Tod als etwas zum Leben Gehöriges und dieser Erscheinung des Willens Wesentliches zu betrachten sind, geht auch daraus hervor, daß Beide sich uns als die nur höher potenzirten Ausdrücke Dessen, woraus auch das ganze übrige Leben besteht, darstellen. Dieses nämlich ist durch und durch nichts Anderes, als ein steter Wechsel der Materie, unter dem festen Beharren der Form: und eben das ist die Vergänglichkeit der Individuen, bei der Unvergänglichkeit der Gattung. Die beständige Ernährung und Reproduktion ist nur dem Grade nach von der Zeugung, und die beständige Exkretion nur dem Grade nach vom Tod verschieden. Ersteres zeigt sich am einfachsten und deutlichsten bei der Pflanze. Diese ist durch und durch nur die stete Wiederholung des selben Triebes, ihrer einfachsten Faser, die sich zu Blatt und Zweig gruppirt; ist ein systematisches Aggregat gleichartiger, einander tragender Pflanzen, deren beständige Wiedererzeugung ihr einziger Trieb ist: zur vollständigem Befriedigung desselben steigert sie sich, mittelst der Stufenleiter der Metamorphose, endlich bis zur Blüthe und Frucht, jenem Kompendium ihres Daseyns und Strebens, in welchem sie nun auf einem kurzem Wege Das erlangt, was ihr einziges Ziel ist, und nunmehr mit Einem Schlage tausendfach vollbringt, was sie bis dahin im Einzelnen wirkte: Wiederholung ihrer selbst. Ihr Treiben bis zur Frucht verhält sich zu dieser, wie die Schrift zur Buchdruckerei. Offenbar ist es beim Thiere ganz das Selbe. Der Ernährungsproceß ist ein stetes Zeugen, der Zeugungsproceß ein höher potenzirtes Ernähren; die Wollust bei der Zeugung die höher potenzirte Behaglichkeit des Lebensgefühls. Andererseits ist die Exkretion, das stete Aushauchen und Abwerfen von Materie, das Selbe, was in erhöhter Potenz der Tod, der Gegensatz der Zeugung, ist. Wie wir nun hiebei allezeit zufrieden sind, die Form zu erhalten, ohne die abgeworfene Materie zu betrauern; so haben wir uns auf gleiche Weise zu verhalten, wenn im Tode das Selbe in erhöhter Potenz und im Ganzen geschieht, was täglich und stündlich im Einzelnen bei der Exkretion vor sich geht: wie wir beim erstem gleichgültig sind, sollten wir beim andern nicht zurückbeben. Von diesem Standpunkt aus erscheint es daher eben so verkehrt, die Fortdauer seiner Individualität zu verlangen, welche durch andere Individuen ersetzt wird, als den Bestand der Materie seines Leibes, die stets durch neue ersetzt wird: es erscheint eben so thöricht, Leichen einzubalsamiren, als es wäre, seine Auswürfe sorgfältig zu bewahren. Was das an den individuellen Leib gebundene individuelle Bewußtseyn betrifft, so wird es täglich durch den Schlaf gänzlich unterbrochen. Der tiefe Schlaf ist vom Tode, in welchen er oft, z.B. beim Erfrieren, ganz stetig übergeht, für die Gegenwart seiner Dauer, gar nicht verschieden, sondern nur für die Zukunft, nämlich in Hinsicht auf das Erwachen. Der Tod ist ein Schlaf, in welchem die Individualität vergessen wird: alles Andere erwacht wieder, oder vielmehr ist wach geblieben.75

Vor Allem müssen wir deutlich erkennen, daß die Form der Erscheinung des Willens, also die Form des Lebens oder der Realität, eigentlich nur die Gegenwart ist, nicht Zukunft, noch Vergangenheit: diese sind nur im Begriff, sind nur im Zusammenhange der Erkenntniß da, sofern sie dem Satz vom Grunde folgt. In der Vergangenheit hat kein Mensch gelebt, und in der Zukunft wird nie einer leben; sondern die Gegenwart allein ist die Form alles Lebens, ist aber auch sein sicherer Besitz, der ihm nie entrissen werden kann. Die Gegenwart ist immer da, samt ihrem Inhalt: Beide stehn fest, ohne zu wanken; wie der Regenbogen auf dem Wasserfall. Denn dem Willen ist das Leben, dem Leben die Gegenwart sicher und gewiß. – Freilich, wenn wir zurückdenken an die verflossenen Jahrtausende, an die Millionen von Menschen, die in ihnen lebten; dann fragen wir: Was waren sie? Was ist aus ihnen geworden? – Aber wir dürfen dagegen nur die Vergangenheit unsers eigenen Lebens uns zurückrufen und ihre Scenen lebhaft in der Phantasie erneuern, und nun wieder fragen: Was war dies alles? Was ist aus ihm geworden? – Wie mit ihm, so ist es mit dem Leben jener Millionen. Oder sollten wir meinen, die Vergangenheit erhielte dadurch, daß sie durch den Tod besiegelt ist, ein neues Daseyn? Unsere eigene Vergangenheit, auch die nächste und der gestrige Tag, ist nur noch ein nichtiger Traum der Phantasie, und das Selbe ist die Vergangenheit aller jener Millionen. Was war? Was ist? – Der Wille, dessen Spiegel das Leben ist, und das willensfreie Erkennen, welches in jenem Spiegel ihn deutlich erblickt. Wer Dies noch nicht erkannt hat, oder nicht erkennen will, muß zu jener obigen Frage nach dem Schicksal vergangener Geschlechter, auch noch diese fügen: warum gerade er, der Fragende, so glücklich ist, diese kostbare, flüchtige, allein reale Gegenwart inne zu haben, während jene Hunderte von Menschengeschlechtern, ja auch die Helden und Weisen jener Zeiten, in die Nacht der Vergangenheit gesunken und dadurch zu Nichts geworden sind; er aber, sein unbedeutendes Ich, wirklich daist? – oder kürzer, wenn gleich sonderbar: warum dies Jetzt, sein Jetzt, – doch gerade jetzt ist und nicht auch schon längst war? – Er sieht, indem er so seltsam fragt, sein Daseyn und seine Zeit als unabhängig von einander an und jenes als in diese hineingeworfen: er nimmt eigentlich zwei Jetzt an, eines das dem Objekt, das andere, das dem Subjekt angehört, und wundert sich über den glücklichen Zufall ihres Zusammentreffens. In Wahrheit aber macht (wie in der Abhandlung über den Satz vom Grunde gezeigt ist) nur der Berührungspunkt des Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt, welches keine Gestaltung des Satzes vom Grunde zur Form hat, die Gegenwart aus. Nun ist aber alles Objekt der Wille, sofern er Vorstellung geworden, und das Subjekt ist das nothwendige Korrelat alles Objekts; reale Objekte giebt es aber nur in der Gegenwart: Vergangenheit und Zukunft enthalten bloße Begriffe und Phantasmen, daher ist die Gegenwart die wesentliche Form der Erscheinung des Willens und von dieser unzertrennlich. Die Gegenwart allein ist Das, was immer daist und unverrückbar feststeht. Empirisch aufgefaßt das Flüchtigste von Allem, stellt sie dem metaphysischen Blick, der über die Formen der empirischen Anschauung hinwegsieht, sich als das allein Beharrende dar, das Nunc stans der Scholastiker. Die Quelle und der Träger ihres Inhalts ist der Wille zum Leben, oder das Ding an sich, – welches wir sind. Das, was immerfort wird und vergeht, indem es entweder schon gewesen ist, oder noch kommen soll, gehört der Erscheinung als solcher an, vermöge ihrer Formen, welche das Entstehn und Vergehn möglich machen. Demnach denke man: Quid fuit? – Quod est. – Quid erit? – Quod fuit; und nehme es im strengen Sinn der Worte, verstehe also nicht simile, sondern idem. Denn dem Willen ist das Leben, dem Leben die Gegenwart gewiß. Daher auch kann Jeder sagen: »Ich bin ein für alle Mal Herr der Gegenwart, und durch alle Ewigkeit wird sie mich begleiten, wie mein Schatten: demnach wundere ich mich nicht, wo sie nur hergekommen sei, und wie es zugehe, daß sie gerade jetzt sei.« – Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise vergleichen: die stets sinkende Hälfte wäre die Vergangenheit, die stets steigende die Zukunft; oben aber der untheilbare Punkt, der die Tangente berührt, wäre die ausdehnungslose Gegenwart: wie die Tangente nicht mit fortrollt, so auch nicht die Gegenwart, der Berührungspunkt des Objekts, dessen Form die Zeit ist, mit dem Subjekt, das keine Form hat, weil es nicht zum Erkennbaren gehört, sondern Bedingung alles Erkennbaren ist. Oder: die Zeit gleicht einem unaufhaltsamen Strohm, und die Gegenwart einem Felsen, an dem sich jener bricht, aber nicht ihn mit fortreißt. Der Wille, als Ding an sich, ist so wenig, als das Subjekt der Erkenntniß, welches zuletzt doch in gewissem Betracht er selbst oder seine Aeußerung ist, dem Satze vom Grunde unterworfen; und wie dem Willen das Leben, seine eigene Erscheinung, gewiß ist, so ist es auch die Gegenwart, die einzige Form des wirklichen Lebens. Wir haben demnach nicht nach der Vergangenheit vor dem Leben, noch nach der Zukunft nach dem Tode zu forschen: vielmehr haben wir als die einzige Form, in welcher der Wille sich erscheint, die Gegenwart zu erkennen76; sie wird ihm nicht entrinnen, aber er ihr wahrlich auch nicht. Wen daher das Leben, wie es ist, befriedigt, wer es auf alle Weise bejaht, der kann es mit Zuversicht als endlos betrachten und die Todesfurcht als eine Täuschung bannen, welche ihm die ungereimte Furcht eingiebt, er könne der Gegenwart je verlustig werden, und ihm eine Zeit vorspiegelt ohne eine Gegenwart darin: eine Täuschung, welche in Hinsicht auf die Zeit Das ist, was in Hinsicht auf den Raum jene andere, vermöge welcher Jeder, in seiner Phantasie, die Stelle auf der Erdkugel, welche er gerade einnimmt, als das Oben und alles Uebrige als das Unten ansieht: eben so knüpft Jeder die Gegenwart an seine Individualität und meint, mit dieser verlösche alle Gegenwart; Vergangenheit und Zukunft seien nun ohne dieselbe. Wie aber auf der Erdkugel überall oben ist, so ist auch die Form alles Lebens Gegenwart, und den Tod fürchten, weil er uns die Gegenwart entreißt, ist nicht weiser, als fürchten, man könne von der runden Erdkugel, auf welcher man glücklicherweise nun gerade oben steht, hinuntergleiten. Der Objektivation des Willens ist die Form der Gegenwart wesentlich, welche als ausdehnungsloser Punkt die nach beiden Seiten unendliche Zeit schneidet und unverrückbar fest steht, gleich einem Immerwährenden Mittag, ohne kühlenden Abend; wie die wirkliche Sonne ohne Unterlaß brennt, während sie nur scheinbar in den Schooß der Nacht sinkt: daher, wenn ein Mensch den Tod als seine Vernichtung fürchtet, es nicht anders ist, als wenn man dächte, die Sonne könne am Abend klagen: »Wehe mir! ich gehe unter in ewige Nacht.« –77 Hingegen auch umgekehrt: wen die Lasten des Lebens drücken, wer zwar wohl das Leben möchte und es bejaht, aber die Quaalen desselben verabscheut, und besonders das harte Loos, das gerade ihm zugefallen ist, nicht länger tragen mag: ein solcher hat nicht vom Tode Befreiung zu hoffen und kann sich nicht durch Selbstmord retten; nur mit falschem Scheine lockt ihn der finstere kühle Orkus als Hafen der Ruhe. Die Erde wälzt sich vom Tage in die Nacht; das Individuum stirbt; aber die Sonne selbst brennt ohne Unterlaß ewigen Mittag. Dem Willen zum Leben ist das Leben gewiß: die Form des Lebens ist Gegenwart ohne Ende; gleichviel wie die Individuen, Erscheinungen der Idee, in der Zeit entstehn und vergehn, flüchtigen Träumen zu vergleichen. – Der Selbstmord erscheint uns also schon hier als eine vergebliche und darum thörichte Handlung: wenn wir in unserer Betrachtung weiter vorgedrungen seyn werden, wird er sich uns in einem noch ungünstigem Lichte darstellen.

Die Dogmen wechseln und unser Wissen ist trüglich; aber die Natur irrt nicht: ihr Gang ist sicher und sie verbirgt ihn nicht. Jedes ist ganz in ihr, und sie ist ganz in Jedem. In jedem Thier hat sie ihren Mittelpunkt: es hat seinen Weg sicher ins Daseyn gefunden, wie es ihn sicher hinausfinden wird: inzwischen lebt es furchtlos vor der Vernichtung und unbesorgt, getragen durch das Bewußtseyn, daß es die Natur selbst ist und wie sie unvergänglich. Der Mensch allein trägt in abstrakten Begriffen die Gewißheit seines Todes mit sich herum: diese kann ihn dennoch, was sehr seltsam ist, nur auf einzelne Augenblicke, wo ein Anlaß sie der Phantasie vergegenwärtigt, ängstigen. Gegen die mächtige Stimme der Natur vermag die Reflexion wenig. Auch in ihm, wie im Thiere, das nicht denkt, waltet als dauernder Zustand jene, aus dem Innersten Bewußtseyn, daß er die Natur, die Welt selbst ist, entspringende Sicherheit vor, vermöge welcher keinen Menschen der Gedanke des gewissen und nie fernen Todes merklich beunruhigt, sondern jeder dahinlebt, als müsse er ewig leben; was so weit geht, daß sich sagen ließe, keiner habe eine eigentlich lebendige Ueberzeugung von der Gewißheit seines Todes, da sonst zwischen seiner Stimmung und der des verurtheilten Verbrechers kein so großer Unterschied seyn könnte; sondern jeder erkenne zwar jene Gewißheit in abstracto und theoretisch an, lege sie jedoch, wie andere theoretische Wahrheiten, die aber auf die Praxis nicht anwendbar sind, bei Seite, ohne sie irgend in sein lebendiges Bewußtseyn aufzunehmen. Wer diese Eigenthümlichkeit der menschlichen Sinnesart wohl beachtet, wird einsehn, daß die psychologischen Erklärungsarten derselben, aus der Gewohnheit und dem Sichzufriedengeben über das Unvermeidliche, keineswegs ausreichen, sondern der Grund derselben der angegebene, tiefer liegende ist. Aus demselben ist es auch zu erklären, warum zu allen Zeiten, bei allen Völkern, Dogmen von Irgend einer Art von Fortdauer des Individuums nach dem Tode sich finden und in Ansehn stehn, da doch die Beweise dafür immer höchst unzulänglich seyn mußten, die für das Gegentheil aber stark und zahlreich, ja, dieses eigentlich keines Beweises bedarf, sondern vom gesunden Verstande als Thatsache erkannt wird und als solche bekräftigt durch die Zuversicht, daß die Natur so wenig lügt als irrt, sondern ihr Thun und Wesen offen darlegt, sogar naiv ausspricht, während nur wir selbst es durch Wahn verfinstern, um herauszudeuten was unserer beschränkten Ansicht eben zusagt.

Was wir aber jetzt zum deutlichen Bewußtsein gebracht haben, daß, wiewohl die einzelne Erscheinung des Willens zeitlich anfängt und zeitlich endet, der Wille selbst, als Ding an sich, hievon nicht getroffen wird, noch auch das Korrelat alles Objekts, das erkennende, nie erkannte Subjekt, und daß dem Willen zum Leben das Leben immer gewiß ist; – dies ist nicht jenen Lehren von der Fortdauer beizuzählen. Denn dem Willen, als Ding an sich betrachtet, wie auch dem reinen Subjekt des Erkennens, dem ewigen Weltauge, kommt so wenig ein Beharren als ein Vergehn zu, da dieses in der Zeit allein gültige Bestimmungen sind, jene aber außer der Zeit liegen. Daher kann der Egoismus des Individuums (dieser einzelnen vom Subjekt des Erkennens beleuchteten Willenserscheinung) für seinen Wunsch, sich eine unendliche Zeit hindurch zu behaupten, aus unserer dargelegten Ansicht so wenig Nahrung und Trost schöpfen, als er es könnte aus der Erkenntniß, daß nach seinem Tode doch die übrige Außenwelt in der Zeit fortbestehn wird, welches nur der Ausdruck eben der selben Ansicht, aber objektiv und daher zeitlich betrachtet, ist. Denn zwar ist Jeder nur als Erscheinung vergänglich, hingegen als Ding an sich zeitlos, also auch endlos; aber auch nur als Erscheinung ist er von den übrigen Dingen der Welt verschieden, als Ding an sich ist er der Wille der in Allem erscheint, und der Tod hebt die Täuschung auf, die sein Bewußtseyn von dem der Uebrigen trennt: dies ist die Fortdauer. Sein Nichtberührtwerden vom Tode, welches ihm nur als Ding an sich zukommt, fällt für die Erscheinung mit der Fortdauer der übrigen Außenwelt zusammen78. Daher auch kommt es, daß das innige und bloß gefühlte Bewußtseyn Dessen, was wir soeben zur deutlichen Erkenntniß erhoben haben, zwar, wie gesagt, verhindert, daß der Gedanke des Todes sogar dem vernünftigen Wesen das Leben nicht vergiftet, indem solches Bewußtseyn die Basis jenes Lebensmuthes ist, der alles Lebendige aufrecht erhält und munter fortleben läßt, als gäbe es keinen Tod, solange nämlich, als es das Leben im Auge hat und auf dieses gerichtet ist; aber hiedurch wird nicht verhindert, daß wann der Tod im Einzelnen und in der Wirklichkeit, oder auch nur in der Phantasie, an das Individuum herantritt und dieses nun ihn ins Auge fassen muß, es nicht von Todesangst ergriffen würde und auf alle Weise zu entfliehn suchte. Denn wie, solange seine Erkenntniß auf das Leben als solches gerichtet war, es in demselben auch die Unvergänglichkeit erkennen mußte, so muß, wann der Tod ihm vor die Augen tritt, es diesen erkennen für Das, was er ist, das zeitliche Ende der einzelnen zeitlichen Erscheinung. Was wir im Tode fürchten, ist keineswegs der Schmerz: denn theils liegt dieser offenbar diesseit des Todes; theils fliehn wir oft vor dem Schmerz zum Tode, eben so wohl als wir auch umgekehrt bisweilen den entsetzlichsten Schmerz übernehmen, um nur dem Tode, wiewohl er schnell und leicht wäre, noch eine Weile zu entgehn. Wir unterscheiden also Schmerz und Tod als zwei ganz verschiedene Uebel: was wir im Tode fürchten, ist in der That der Untergang des Individuums, als welcher er sich unverhohlen kund giebt, und da das Individuum der Wille zum Leben selbst in einer einzelnen Objektivation ist, sträubt sich sein ganzes Wesen gegen den Tod. – Wo nun solchermaaßen das Gefühl uns hülflos Preis giebt, kann jedoch die Vernunft eintreten und die widrigen Eindrücke desselben großentheils überwinden, indem sie uns auf einen hohem Standpunkt stellt, wo wir statt des Einzelnen nunmehr das Ganze im Auge haben. Darum könnte eine philosophische Erkenntniß des Wesens der Welt, die bis zu dem Punkt, auf welchem wir jetzt in unserer Betrachtung stehn, gekommen wäre, aber nicht weiter gienge, selbst schon auf diesem Standpunkte die Schrecken des Todes überwinden, in dem Maaß, als im gegebenen Individuum die Reflexion Macht hätte über das unmittelbare Gefühl. Ein Mensch, der die bisher vorgetragenen Wahrheiten seiner Sinnesart fest einverleibt hätte, nicht aber zugleich durch eigene Erfahrung, oder durch eine weitergehende Einsicht, dahin gekommen wäre, in allem Leben dauerndes Leiden als wesentlich zu erkennen; sondern der im Leben Befriedigung fände, dem vollkommen wohl darin wäre, und der, bei ruhiger Ueberlegung, seinen Lebenslauf, wie er ihn bisher erfahren, von endloser Dauer, oder von immer neuer Wiederkehr wünschte, und dessen Lebensmuth so groß wäre, daß er, gegen die Genüsse des Lebens, alle Beschwerde und Pein, der es unterworfen ist, willig und gern mit in den Kauf nähme; ein solcher stände »mit festen, markigen Knochen auf der wohlgegründeten, dauernden Erde« und hätte nichts zu fürchten: gewaffnet mit der Erkenntniß, die wir ihm beilegen, sähe er dem auf den Flügeln der Zeit heraneilenden Tode gleichgültig entgegen, ihn betrachtend als einen falschen Schein, ein ohnmächtiges Gespenst, Schwache zu schrecken, das aber keine Gewalt über den hat, der da weiß, daß ja er selbst jener Wille ist, dessen Objektivation oder Abbild die ganze Welt ist, dem daher das Leben allezeit gewiß bleibt und auch die Gegenwart, die eigentliche, alleinige Form der Erscheinung des Willens, den daher keine unendliche Vergangenheit oder Zukunft, in denen er nicht wäre, schrecken kann, da er diese als das eitle Blendwerk und Gewebe der Maja betrachtet, der daher so wenig den Tod zu fürchten hätte, wie die Sonne die Nacht. – Auf diesen Standpunkt stellt, im Bhagavat Gita, Krischna seinen angehenden Zögling den Ardschun, als dieser beim Anblick der schlagfertigen Heere (auf etwas ähnliche Art wie Xerxes) von Wehmuth ergriffen wird, verzagen und vom Kampf ablassen will, um den Untergang so vieler Tausende zu verhüten: Krischna stellt ihn auf jenen Standpunkt, und der Tod jener Tausende kann ihn nicht mehr aufhalten: er giebt das Zeichen zur Schlacht. – Diesen Standpunkt auch bezeichnet Goethes Prometheus, besonders wenn er sagt:

»Hier sitz ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde,

Ein Geschlecht, das mir gleich sei,

Zu leiden, zu weinen,

Zu genießen und zu freuen sich,

Und dein nicht zu achten,

Wie ich!«

Auf diesen Standpunkt könnte auch die Philosophie des Bruno und die des Spinoza denjenigen führen, dem ihre Fehler und Unvollkommenheiten die Ueberzeugung nicht störten oder schwächten. Eine eigentliche Ethik hat die des Bruno nicht, und die in der Philosophie des Spinoza geht gar nicht aus dem Wesen seiner Lehre hervor, sondern ist, obwohl an sich lobenswerth und schön, doch nur mittelst schwacher und handgreiflicher Sophismen daran geheftet. – Auf dem bezeichneten Standpunkt endlich würden wohl viele Menschen stehn, wenn ihre Erkenntniß mit ihrem Wollen gleichen Schritt hielte, d.h. wenn sie im Stande wären, frei von jedem Wahn, sich selbst klar und deutlich zu werden. Denn dieses ist, für die Erkenntniß, der Standpunkt der gänzlichen Bejahung des Willens zum Leben.

Der Wille bejaht sich selbst, besagt: indem in seiner Objektität, d.i. der Welt und dem Leben, sein eigenes Wesen Ihm als Vorstellung vollständig und deutlich gegeben wird, hemmt diese Erkenntniß sein Wollen keineswegs; sondern eben dieses so erkannte Leben wird auch als solches von ihm gewollt, wie bis dahin ohne Erkenntniß, als blinder Drang, so jetzt mit Erkenntniß, bewußt und besonnen. – Das Gegentheil hievon, die Verneinung des Willens zum Leben, zeigt sich, wenn auf jene Erkenntniß das Wollen endet, indem sodann nicht mehr die erkannten einzelnen Erscheinungen als Motive des Wollens wirken, sondern die ganze, durch Auffassung der Ideen erwachsene Erkenntniß des Wesens der Welt, die den Willen spiegelt, zum Quietiv des Willens wird und so der Wille frei sich selbst aufhebt. Diese ganz unbekannten und in diesem allgemeinen Ausdruck schwerlich verständlichen Begriffe werden hoffentlich deutlich werden, durch die bald folgende Darstellung der Phänomene, hier Handlungsweisen, in welchen sich einerseits die Bejahung, in ihren verschiedenen Graden, und andererseits die Verneinung ausspricht. Denn Beide gehn zwar von der Erkenntniß aus, aber nicht von einer abstrakten, die sich in Worten, sondern von einer lebendigen, die sich durch die That und den Wandel allein ausdrückt und unabhängig bleibt von den Dogmen, welche dabei, als abstrakte Erkenntniß, die Vernunft beschäftigen. Beide darzustellen und zur deutlichen Erkenntniß der Vernunft zu bringen, kann allein mein Zweck seyn, nicht aber eine oder die andere vorzuschreiben oder anzuempfehlen, welches so thöricht wie zwecklos wäre, da der Wille an sich der schlechthin freie, sich ganz allein selbst bestimmende ist und es kein Gesetz für ihn giebt. – Diese Freiheit und ihr Verhältniß zur Nothwendigkeit müssen wir jedoch zuvörderst und ehe wir zur besagten Auseinandersetzung schreiten, erörtern und genauer bestimmen, sodann auch noch über das Leben, dessen Bejahung und Verneinung unser Problem ist, einige allgemeine, auf den Willen und dessen Objekte sich beziehende Betrachtungen anstellen, durch welches Alles wir uns die beabsichtigte Erkenntniß der ethischen Bedeutung der Handlungsweisen, ihrem Innersten Wesen nach, erleichtern werden.

Da, wie gesagt, diese ganze Schrift nur die Entfaltung eines einzigen Gedankens ist; so folgt hieraus, daß alle ihre Theile die innigste Verbindung unter einander haben und nicht bloß ein jeder zum nächstvorhergehenden in nothwendiger Beziehung steht und daher zunächst nur ihn als dem Leser erinnerlich voraussetzt, wie es der Fall ist bei allen Philosophien, die bloß aus einer Reihe von Folgerungen bestehn; sondern daß jeder Theil des ganzen Werks jedem andern verwandt ist und ihn voraussetzt, weshalb verlangt wird, daß dem Leser nicht nur das zunächst Vorhergegangene, sondern auch jedes Frühere erinnerlich sei, so daß er es an das jedesmal Gegenwärtige, soviel Anderes auch dazwischen steht, zu knüpfen vermag; eine Zumuthung, die auch Plato, durch die vielverschlungenen Irrgänge seiner Dialogen, welche erst nach langen Episoden den Hauptgedanken, eben dadurch nun aufgeklärter, wiederaufnehmen, seinem Leser gemacht hat. Bei uns ist diese Zumuthung nothwendig, da die Zerlegung unsers einen und einzigen Gedankens in viele Betrachtungen, zwar zur Mittheilung das einzige Mittel, dem Gedanken selbst aber nicht eine wesentliche, sondern nur eine künstliche Form ist. – Zur Erleichterung der Darstellung und ihrer Auffassung dient die Sonderung von vier Hauptgesichtspunkten, in vier Büchern, und die sorgfältigste Verknüpfung des Verwandten und Homogenen: dennoch läßt der Stoff eine Fortschreitung in gerader Linie, dergleichen die historische ist, durchaus nicht zu, sondern macht eine mehr verschlungene Darstellung und eben diese ein wiederholtes Studium des Buchs nothwendig, durch welches allein der Zusammenhang jedes Theils mit jedem andern deutlich wird und nun erst alle zusammen sich wechselseitig beleuchten und vollkommen hell werden.79

§ 55

Daß der Wille als solcher frei sei, folgt schon daraus, daß er, nach unserer Ansicht, das Ding an sich, der Gehalt aller Erscheinung ist. Diese hingegen kennen wir als durchweg dem Satz vom Grunde unterworfen, in seinen vier Gestaltungen: und da wir wissen, daß Nothwendigkeit durchaus identisch ist mit Folge aus gegebenem Grunde, und Beides Wechselbegriffe sind; so ist Alles was zur Erscheinung gehört, d.h. Objekt für das als Individuum erkennende Subjekt ist, einerseits Grund, andererseits Folge, und in dieser letztern Eigenschaft durchweg nothwendig bestimmt, kann daher in keiner Beziehung anders seyn, als es ist. Der ganze Inhalt der Natur, Ihre gesammten Erscheinungen, sind also durchaus nothwendig, und die Nothwendigkeit jedes Theils, jeder Erscheinung, jeder Begebenheit, läßt sich jedesmal nachweisen, indem der Grund zu finden seyn muß, von dem sie als Folge abhängt. Dies leidet keine Ausnahme: es folgt aus der unbeschränkten Gültigkeit des Satzes vom Grunde. Andererseits nun aber ist uns diese nämliche Welt, in allen ihren Erscheinungen, Objektität des Willens, welcher, da er nicht selbst Erscheinung, nicht Vorstellung oder Objekt, sondern Ding an sich ist, auch nicht dem Satz vom Grunde, der Form alles Objekts, unterworfen, also nicht als Folge durch einen Grund bestimmt ist, also keine Nothwendigkeit kennt, d.h. frei ist. Der Begriff der Freiheit ist also eigentlich ein negativer, indem sein Inhalt bloß die Verneinung der Nothwendigkeit, d.h. des dem Satz vom Grund gemäßen Verhältnisses der Folge zu ihrem Grunde ist. – Hier liegt nun aufs Deutlichste vor uns der Einheitspunkt jenes großen Gegensatzes, die Vereinigung der Freiheit mit der Nothwendigkeit, wovon in neuerer Zeit oft, doch, so viel mir bekannt, nie deutlich und gehörig geredet worden, Jedes Ding ist als Erscheinung, als Objekt, durchweg nothwendig: dasselbe ist an sich Wille, und dieser ist völlig frei, für alle Ewigkeit. Die Erscheinung, das Objekt, ist nothwendig und unabänderlich in der Verkettung der Gründe und Folgen bestimmt, die keine Unterbrechung haben kann. Das Daseyn überhaupt aber dieses Objekts und die Art seines Daseyns, d.h. die Idee, welche in ihm sich offenbart, oder mit andern Worten, sein Charakter, ist unmittelbar Erscheinung des Willens. In Gemäßheit der Freiheit dieses Willens, könnte es also überhaupt nicht daseyn, oder auch ursprünglich und wesentlich ein ganz Anderes seyn; wo dann aber auch die ganze Kette, von der es ein Glied ist, die aber selbst Erscheinung des selben Willens ist, eine ganz andere wäre; aber ein Mal da und vorhanden, ist es in die Reihe der Gründe und Folgen eingetreten, in ihr stets nothwendig bestimmt und kann demnach weder ein Anderes werden, d.h. sich ändern, noch auch aus der Reihe austreten, d.h. verschwinden. Der Mensch ist, wie jeder andere Theil der Natur, Objektität des Willens: daher gilt alles Gesagte auch von ihm. Wie jedes Ding in der Natur seine Kräfte und Qualitäten hat, die auf bestimmte Einwirkung bestimmt reagiren und seinen Charakter ausmachen; so hat auch er seinen Charakter, aus dem die Motive seine Handlungen hervorrufen, mit Nothwendigkeit. In dieser Handlungsweise selbst offenbart sich sein empirischer Charakter, in diesem aber wieder sein intelligibler Charakter, der Wille an sich, dessen determinirte Erscheinung er ist. Aber der Mensch ist die vollkommenste Erscheinung des Willens, welche, um zu bestehn, wie im zweiten Buche gezeigt, von einem so hohen Grade von Erkenntniß beleuchtet werden mußte, daß in dieser sogar eine völlig adäquate Wiederholung des Wesens der Welt, unter der Form der Vorstellung, welches die Auffassung der Ideen, der reine Spiegel der Welt ist, möglich ward, wie wir sie im dritten Buche kennen gelernt haben. Im Menschen also kann der Wille zum völligen Selbstbewußtseyn, zum deutlichen und erschöpfenden Erkennen seines eigenen Wesens, wie es sich in der ganzen Welt abspiegelt, gelangen. Aus dem wirklichen Vorhandensein dieses Grades von Erkenntniß geht, wie wir im vorigen Buche sahen, die Kunst hervor. Am Ende unserer ganzen Betrachtung wird sich aber auch ergeben, daß durch die selbe Erkenntniß, indem der Wille sie auf sich selbst bezieht, eine Aufhebung und Selbstverneinung desselben, in seiner vollkommensten Erscheinung, möglich ist: so daß die Freiheit, welche sonst, als nur dem Ding an sich zukommend, nie in der Erscheinung sich zeigen kann, in solchem Fall auch in dieser hervortritt und, indem sie das der Erscheinung zum Grunde liegende Wesen aufhebt, während diese selbst in der Zeit noch fortdauert, einen Widerspruch der Erscheinung mit sich selbst hervorbringt und gerade dadurch die Phänomene der Heiligkeit und Selbstverleugnung darstellt. Jedoch kann dieses Alles erst am Ende dieses Buches ganz verständlich werden. – Vorläufig wird hiedurch nur allgemein angedeutet, wie der Mensch von allen andern Erscheinungen des Willens sich dadurch unterscheidet, daß die Freiheit, d.h. Unabhängigkeit vom Satze des Grundes, welche nur dem Willen als Ding an sich zukommt und der Erscheinung widerspricht, dennoch bei ihm möglicherweise auch in der Erscheinung eintreten kann, wo sie aber dann nothwendig als ein Widerspruch der Erscheinung mit sich selbst sich darstellt. In diesem Sinne kann nicht nur der Wille an sich, sondern sogar der Mensch allerdings frei genannt und dadurch von allen andern Wesen unterschieden werden. Wie dies aber zu verstehn sei, kann erst durch alles Nachfolgende deutlich werden, und für jetzt müssen wir noch gänzlich davon absehn. Denn zunächst ist der Irrthum zu verhüten, daß das Handeln des einzelnen, bestimmten Menschen keiner Nothwendigkeit unterworfen, d.h. die Gewalt des Motivs weniger sicher sei, als die Gewalt der Ursache, oder die Folge des Schlusses aus den Prämissen. Die Freiheit des Willens als Dinges an sich geht, sofern wir, wie gesagt, vom obigen immer nur eine Ausnahme betreffenden Fall absehn, keineswegs unmittelbar auf seine Erscheinung über, auch da nicht, wo diese die höchste Stufe der Sichtbarkeit erreicht, also nicht auf das vernünftige Thier mit individuellem Charakter, d.h. die Person. Diese ist nie frei, obwohl sie die Erscheinung eines freien Willens ist: denn eben von dessen freiem Wollen ist sie die bereits determinirte Erscheinung, und indem diese in die Form alles Objekts, den Satz vom Grunde, eingeht, entwickelt sie zwar die Einheit jenes Willens in eine Vielheit von Handlungen, die aber, wegen der außerzeitlichen Einheit jenes Wollens an sich, mit der Gesetzmäßigkeit einer Naturkraft sich darstellt. Da aber dennoch jenes freie Wollen es ist, was in der Person und ihrem ganzen Wandel sichtbar wird, sich zu diesem verhaltend wie der Begriff zur Definition; so ist auch jede einzelne That derselben dem freien Willen zuzuschreiben und kündigt sich dem Bewußtseyn unmittelbar als solche an: daher hält, wie im zweiten Buche gesagt, Jeder a priori (d.h. hier nach seinem ursprünglichen Gefühl) sich auch in den einzelnen Handlungen für frei, in dem Sinne, daß ihm, in jedem gegebenen Fall, jede Handlung möglich wäre, und erst a posteriori, aus der Erfahrung und dem Nachdenken über die Erfahrung, erkennt er, daß sein Handeln ganz nothwendig hervorgeht aus dem Zusammentreffen des Charakters mit den Motiven. Daher kommt es, daß jeder Roheste, seinem Gefühle folgend, die völlige Freiheit in den einzelnen Handlungen auf das heftigste vertheidigt, während die großen Denker aller Zeiten, ja sogar die tiefsinnigeren Glaubenslehren, sie geleugnet haben. Wem es aber deutlich geworden, daß das ganze Wesen des Menschen Wille und er selbst nur Erscheinung dieses Willens ist, solche Erscheinung aber den Satz vom Grund zur nothwendigen, selbst schon vom Subjekt aus erkennbaren Form hat, die für diesen Fall sich als Gesetz der Motivation gestaltet, dem wird ein Zweifel an der Unausbleiblichkeit der That, bei gegebenem Charakter und vorliegendem Motiv, so vorkommen, wie ein Zweifel an der Uebereinstimmung der drei Winkel des Dreiecks mit zwei rechten. – Die Nothwendigkeit des einzelnen Handelns hat Priestley in seiner »Doctrine of philosophical necessity« sehr genügend dargethan; aber das Zusammenbestehn dieser Nothwendigkeit mit der Freiheit des Willens an sich, d.h. außer der Erscheinung, hat zuerst Kant, dessen Verdienst hier besonders groß ist, nachgewiesen80, indem er den Unterschied zwischen intelligiblem und empirischem Charakter aufstellte, welchen ich ganz und gar beibehalte, da ersterer der Wille als Ding an sich, sofern er in einem bestimmten Individuo, in bestimmtem Grade erscheint, letzterer aber diese Erscheinung selbst ist, so wie sie sich in der Handlungsweise, der Zeit nach, und schon in der Korporisation, dem Räume nach, darstellt. Um das Verhältniß beider faßlich zu machen, ist der beste Ausdruck jener schon in der einleitenden Abhandlung gebrauchte, daß der intelligible Charakter jedes Menschen als ein außerzeitlicher, daher untheilbarer und unveränderlicher Willensakt zu betrachten sei, dessen in Zeit und Raum und allen Formen des Satzes vom Grunde entwickelte und auseinandergezogene Erscheinung der empirische Charakter ist, wie er sich in der ganzen Handlungsweise und im Lebenslaufe dieses Menschen erfahrungsmäßig darstellt. Wie der ganze Baum nur die stets wiederholte Erscheinung eines und des selben Triebes ist, der sich am einfachsten in der Faser darstellt und in der Zusammensetzung zu Blatt, Stiel, Ast, Stamm wiederholt und leicht darin zu erkennen ist; so sind alle Thaten des Menschen nur die stets wiederholte, in der Form etwas abwechselnde Aeußerung seines intelligiblen Charakters, und die aus der Summe derselben hervorgehende Induktion giebt seinen empirischen Charakter. – Ich werde hier übrigens nicht Kants meisterhafte Darstellung umarbeitend wiederholen, sondern setze sie als bekannt voraus.

Im Jahr 1840 habe ich das wichtige Kapitel der Willensfreiheit gründlich und ausführlich behandelt, in meiner gekrönten Preisschrift über dieselbe, und habe namentlich den Grund der Täuschung aufgedeckt, in Folge welcher man eine empirisch gegebene absolute Freiheit des Willens, also ein liberum arbitrium indifferentiae, im Selbstbewußtseyn, als Thatsache desselben, zu finden vermeint: denn gerade auf diesen Punkt war, sehr einsichtig, die Preisfrage gerichtet. Indem ich also den Leser auf jene Schrift, imgleichen auf § 10 der mit derselben zusammen, unter dem Titel »Die beiden Grundprobleme der Ethik«, herausgegebenen Preisschrift über die Grundlage der Moral verweise, lasse ich die in der ersten Auflage an dieser Stelle gegebene, noch unvollkommene Darstellung der Nothwendigkeit der Willensakte jetzt ausfallen, und will statt dessen die oben erwähnte Täuschung noch durch eine kurze Auseinandersetzung erläutern, welche das neunzehnte Kapitel unsers zweiten Bandes zu ihrer Voraussetzung hat und daher in der erwähnten Preisschrift nicht gegeben werden konnte.

Abgesehn davon, daß, weil der Wille, als das wahre Ding an sich, ein wirklich Ursprüngliches und Unabhängiges ist, auch im Selbstbewußtseyn das Gefühl der Ursprünglichkeit und Eigenmächtigkeit seine, obwohl hier schon determinirten Akte begleiten muß, – entsteht der Schein einer empirischen Freiheit des Willens (statt der transscendentalen, die ihm allein beizulegen ist), also einer Freiheit der einzelnen Thaten, aus der im neunzehnten Kapitel des zweiten Bandes, besonders unter Nr. 3, dargelegten gesonderten und subordinirten Stellung des Intellekts gegen den Willen. Der Intellekt nämlich erfährt die Beschlüsse des Willens erst a posteriori und empirisch. Demnach hat er, bei einer vorliegenden Wahl, kein Datum darüber, wie der Wille sich entscheiden werde. Denn der intelligible Charakter, vermöge dessen, bei gegebenen Motiven, nur eine Entscheidung möglich und diese demnach eine nothwendige ist, fällt nicht in die Erkenntniß des Intellekts, sondern bloß der empirische wird ihm, durch seine einzelnen Akte, successiv bekannt. Daher also scheint es dem erkennenden Bewußtseyn (Intellekt), daß, in einem vorliegenden Fall, dem Willen zwei entgegengesetzte Entscheidungen gleich möglich wären. Hiemit aber verhält es sich gerade so, wie wenn man, bei einer senkrecht stehenden, aus dem Gleichgewicht und ins Schwanken gerathenen Stange, sagt »sie kann nach der rechten, oder nach der linken Seite umschlagen«, welches »kann« doch nur eine subjektive Bedeutung hat und eigentlich besagt »hinsichtlich der uns bekannten Data«: denn objektiv ist die Richtung des Falls schon nothwendig bestimmt, sobald das Schwanken eintritt. So demnach ist auch die Entscheidung des eigenen Willens bloß für seinen Zuschauer, den eigenen Intellekt, indeterminirt, mithin nur relativ und subjektiv, nämlich für das Subjekt des Erkennens; hingegen an sich selbst und objektiv ist, bei jeder dargelegten Wahl, die Entscheidung sogleich determinirt und nothwendig. Nur kommt diese Determination erst durch die erfolgende Entscheidung ins Bewußtseyn. Sogar einen empirischen Beleg hiezu erhalten wir, wann irgend eine schwierige und wichtige Wahl uns vorliegt, jedoch erst unter einer Bedingung, die noch nicht eingetreten ist, sondern bloß zu hoffen steht; so daß wir vor der Hand nichts darin thun können, sondern uns passiv verhalten müssen. Jetzt überlegen wir, wozu wir uns entschließen werden, wann die Umstände eingetreten seyn werden, die uns eine freie Thätigkeit und Entscheidung gestatten. Meistens spricht nun für den einen der Entschlüsse mehr die weitsehende, vernünftige Ueberlegung, für den andern mehr die unmittelbare Neigung, Solange wir, gezwungen, passiv bleiben, scheint die Seite der Vernunft das Uebergewicht behalten zu wollen; allein wir sehn voraus, wie stark die andere Seite ziehn wird, wann die Gelegenheit zum Handeln daseyn wird. Bis dahin sind wir eifrig bemüht, durch kalte Meditation des pro et contra, die beiderseitigen Motive ins hellste Licht zu stellen, damit jedes mit seiner ganzen Gewalt auf den Willen wirken könne, wann der Zeitpunkt daseyn wird, und nicht etwan ein Fehler von Seiten des Intellekts den Willen verleite, sich anders zu entscheiden, als er würde, wenn Alles gleichmäßig einwirkte. Dies deutliche Entfalten der gegenseitigen Motive ist nun aber Alles, was der Intellekt bei der Wahl thun kann. Die eigentliche Entscheidung wartet er so passiv und mit der selben gespannten Neugier ab, wie die eines fremden Willens. Ihm müssen daher, von seinem Standpunkt aus, beide Entscheidungen als gleich möglich erscheinen: dies nun eben ist der Schein der empirischen Freiheit des Willens. In die Sphäre des Intellekts tritt die Entscheidung freilich ganz empirisch, als endlicher Ausschlag der Sache; dennoch ist sie hervorgegangen aus der Innern Beschaffenheit, dem intelligibeln Charakter, des individuellen Willens, in seinem Konflikt mit gegebenen Motiven, und daher mit vollkommener Nothwendigkeit. Der Intellekt kann dabei nichts weiter thun, als die Beschaffenheit der Motive allseitig und scharf beleuchten; nicht aber vermag er den Willen selbst zu bestimmen; da dieser Ihm ganz unzugänglich, ja sogar, wie wir gesehn haben, unerforschlich ist.

Könnte ein Mensch, unter gleichen Umständen, das eine Mal so, das andere Mal anders handeln; so müßte sein Wille selbst sich inzwischen geändert haben und daher in der Zeit liegen, da nur in dieser Veränderung möglich ist: dann aber müßte entweder der Wille eine bloße Erscheinung, oder die Zeit eine Bestimmung des Dinges an sich seyn. Demnach dreht jener Streit über die Freiheit des einzelnen Thuns, über das liberum arbitrium indifferentiae, sich eigentlich um die Frage, ob der Wille in der Zeit liege, oder nicht. Ist er, wie es sowohl Kants Lehre, als meine ganze Darstellung nothwendig macht, als Ding an sich, außer der Zeit und jeder Form des Satzes vom Grunde; so muß nicht allein das Individuum in gleicher Lage stets auf gleiche Weise handeln, und nicht nur jede böse That der feste Bürge für unzählige andere seyn, die es vollbringen muß und nicht lassen kann; sondern es ließe sich auch, wie Kant sagt, wenn nur der empirische Charakter und die Motive vollständig gegeben wären, des Menschen Verhalten, auf die Zukunft, wie eine Sonnen- oder Mondfinsterniß ausrechnen. Wie die Natur konsequent ist, so ist es der Charakter: ihm gemäß muß jede einzelne Handlung ausfallen, wie jedes Phänomen dem Naturgesetz gemäß ausfällt: die Ursache Im letztem Fall und das Motiv im erstem sind nur die Gelegenheitsursachen, wie im zweiten Buch gezeigt worden. Der Wille, dessen Erscheinung das ganze Seyn und Leben des Menschen ist, kann sich im einzelnen Fall nicht verleugnen, und was der Mensch im Ganzen will, wird er auch stets im Einzelnen wollen.

Die Behauptung einer empirischen Freiheit des Willens, eines liberi arbitrii indifferentiae, hängt auf das Genaueste damit zusammen, daß man das Wesen des Menschen in eine Seele setzte, die ursprünglich ein erkennendes, ja eigentlich ein abstrakt denkendes Wesen wäre und erst in Folge hievon auch ein wollendes, daß man also den Willen sekundärer Natur machte, statt daß, in Wahrheit, die Erkenntniß dies ist. Der Wille wurde sogar als ein Denkakt betrachtet und mit dem Urtheil identificirt, namentlich bei Cartesius und Spinoza. Danach nun wäre jeder Mensch Das, was er ist, erst in Folge seiner Erkenntniß geworden: er käme als moralische Null auf die Welt, erkennte die Dinge in dieser, und beschlösse darauf. Der oder Der zu seyn, so oder so zu handeln, könnte auch, in Folge neuer Erkenntniß, eine neue Handlungsweise ergreifen, also wieder ein Anderer werden. Ferner würde er danach zuvörderst ein Ding für gut erkennen und in Folge hievon es wollen; statt daß er zuvörderst es will und in Folge hievon es gut nennt. Meiner ganzen Grundansicht zufolge nämlich ist jenes Alles eine Umkehrung des wahren Verhältnisses. Der Wille ist das Erste und Ursprüngliche, die Erkenntniß bloß hinzugekommen, zur Erscheinung des Willens, als ein Werkzeug derselben, gehörig. Jeder Mensch ist demnach Das, was er ist, durch seinen Willen, und sein Charakter ist ursprünglich; da Wollen die Basis seines Wesens ist. Durch die hinzugekommene Erkenntniß erfährt er, im Laufe der Erfahrung, was er ist, d.h. er lernt seinen Charakter kennen. Er erkennt sich also in Folge und Gemäßheit der Beschaffenheit seines Willens; statt daß er, nach der alten Ansicht, will in Folge und Gemäßheit seines Erkennens. Nach dieser dürfte er nur überlegen, wie er am liebsten seyn möchte, und er wäre es: das ist ihre Willensfreiheit. Sie besteht also eigentlich darin, daß der Mensch sein eigenes Werk ist, am Lichte der Erkenntniß. Ich hingegen sage: er ist sein eigenes Werk vor aller Erkenntniß, und diese kommt bloß hinzu, es zu beleuchten. Darum kann er nicht beschließen, ein Solcher oder Solcher zu seyn, noch auch kann er ein Anderer werden; sondern er ist, ein für alle Mal, und erkennt successive was er ist. Bei Jenen will er was er erkennt; bei mir erkennt er was er will.

Die Griechen nannten den Charakter êthos und die Aeußerungen desselben, d.i. die Sitten êthê dieses Wort kommt aber von ethos, Gewohnheit: sie hatten es gewählt, um die Konstanz des Charakters metaphorisch durch die Konstanz der Gewohnheit auszudrücken. To gar êthos apo tou ethous echei tên epônymian. êthikê gar kaleitai dia to ethizesthai (a vocce ethos, i.e. consuetudo, êthos est appellatum: ethica ergo dicta est apo tou ethizesthai, sive ab assuescendo), sagt Aristoteles (Eth. magna, I, 6, S. 1186, und Eth. Eud., S. 1220, und Eth. Nic., S. 1103, ed. Ber.). Stobäos führt an: hoi de kata Zênôna tropikôs; êthos esti pêgê biou, aph' hês hai kata meros praxeis reousi (Stoici autem, Zenonis castra sequentes, metaphorice ethos definiunt vitae fontem, e quo singulae manant actiones.) II, Kap. 7. – In der Christlichen Glaubenslehre finden wir das Dogma von der Prädestination, in Folge der Gnadenwahl und Ungnadenwahl (Röm. 9, 11-24), offenbar aus der Einsicht entsprungen, daß der Mensch sich nicht ändert; sondern sein Leben und Wandel, d.i. sein empirischer Charakter, nur die Entfaltung des intelligibeln ist, die Entwickelung entschiedener, schon im Kinde erkennbarer, unveränderlicher Anlagen, daher gleichsam schon bei seiner Geburt sein Wandel fest bestimmt ist und sich bis ans Ende im Wesentlichen gleich bleibt. Diesem stimmen auch wir bei; aber freilich die Konsequenzen, welche aus der Vereinigung dieser ganz richtigen Einsicht mit den in der Jüdischen Glaubenslehre vorgefundenen Dogmen hervorgiengen und nun die allergrößte Schwierigkeit, den ewig unauflösbaren Gordischen Knoten gaben, um welchen sich die allermeisten Streitigkeiten der Kirche drehn, – übernehme ich nicht zu vertreten; da dieses sogar dem Apostel Paulus selbst wohl schwerlich gelungen ist, durch sein zu diesem Zweck aufgestelltes Gleichniß vom Töpfer: denn da wäre das Resultat zuletzt doch kein anderes als:

»Es fürchte die Götter

Das Menschengeschlecht!

Sie halten die Herrschaft

In ewigen Händen:

Und können sie brauchen

Wie's ihnen gefällt. –«

Dergleichen Betrachtungen sind aber eigentlich unserm Gegenstande fremd. Vielmehr werden jetzt über das Verhältniß zwischen dem Charakter und dem Erkennen, in welchem alle seine Motive liegen, einige Erörterungen zweckmäßig seyn.

Da die Motive, welche die Erscheinung des Charakters, oder das Handeln, bestimmen, durch das Medium der Erkenntniß auf ihn einwirken, die Erkenntniß aber veränderlich ist, zwischen Irrthum und Wahrheit oft hin und her schwankt, in der Regel jedoch im Fortgange des Lebens immer mehr berichtigt wird, freilich in sehr verschiedenen Graden; so kann die Handlungsweise eines Menschen merklich verändert werden, ohne daß man daraus auf eine Veränderung seines Charakters zu schließen berechtigt wäre. Was der Mensch eigentlich und überhaupt will, die Anstrebung seines Innersten Wesens und das Ziel, dem er ihr gemäß nachgeht, Dies können wir durch äußere Einwirkung auf ihn, durch Belehrung, nimmermehr ändern: sonst könnten wir ihn Umschaffen. Seneka sagt vortrefflich: velle non discitur; wobei er die Wahrheit seinen Stoikern vorzieht, welche lehrten, didaktên einai tên aretên (doceri posse virtutem). Von außen kann auf den Willen allein durch Motive gewirkt werden. Diese können aber nie den Willen selbst ändern: denn sie selbst haben Macht über ihn nur unter der Voraussetzung, daß er gerade ein solcher ist, wie er ist. Alles, was sie können, ist also, daß sie die Richtung seines Strebens ändern, d.h. machen, daß er Das, was er unveränderlich sucht, auf einem andern Wege suche, als bisher. Daher kann Belehrung, verbesserte Erkenntniß, also Einwirkung von außen, zwar ihn lehren, daß er in den Mitteln irrte, und kann demnach machen, daß er das Ziel, dem er, seinem Innern Wesen gemäß, ein Mal nachstrebt, auf einem ganz andern Wege, sogar in einem ganz andern Objekt als vorher verfolge: niemals aber kann sie machen, daß er etwas wirklich Anderes wolle, als er bisher gewollt hat; sondern dies bleibt unveränderlich, denn er ist ja nur dieses Wollen selbst, welches sonst aufgehoben werden müßte. Jenes Erstere inzwischen, die Modifikabilität der Erkenntniß und dadurch des Thuns, geht so weit, daß er seinen stets unveränderlichen Zweck, er sei z.B. Mohammeds Paradies, ein Mal in der wirklichen Welt, ein ander Mal in einer imaginären Welt zu erreichen sucht, die Mittel hienach abmessend und daher das erste Mal Klugheit, Gewalt und Betrug, das andere Mal Enthaltsamkeit, Gerechtigkeit, Almosen, Wallfahrt nach Mekka anwendend. Sein Streben selbst hat sich aber deshalb nicht geändert, noch weniger er selbst. Wenn also auch allerdings sein Handeln sehr verschieden zu verschiedenen Zeiten sich darstellt, so ist sein Wollen doch ganz das selbe geblieben. Velle non discitur.

Zur Wirksamkeit der Motive ist nicht bloß ihr Vorhandenseyn, sondern auch ihr Erkanntwerden erfordert: denn, nach einem schon ein Mal erwähnten sehr guten Ausdruck der Scholastiker, causa finalis movet non secundum suum esse reale; sed secundum esse cognitum. Damit z.B. das Verhältniß, welches, in einem gegebenen Menschen, Egoismus und Mitleid zu einander haben, hervortrete, ist es nicht hinreichend, daß derselbe etwan Reichthum besitze und fremdes Elend sehe; sondern er muß auch wissen, was sich mit dem Reichthum machen läßt, sowohl für sich, als für Andere; und nicht nur muß fremdes Leiden sich ihm darstellen, sondern er muß auch wissen, was Leiden, aber auch was Genuß sei. Vielleicht wußte er bei einem ersten Anlaß dieses Alles nicht so gut, wie bei einem zweiten; und wenn er nun bei gleichem Anlaß verschieden handelt, so liegt dies nur daran, daß die Umstände eigentlich andere waren, nämlich dem Theil nach, der von seinem Erkennen derselben abhängt, wenn sie gleich die selben zu seyn scheinen. – Wie das Nichtkennen wirklich vorhandener Umstände ihnen die Wirksamkeit nimmt, so können andererseits ganz imaginäre Umstände wie reale wirken, nicht nur bei einer einzelnen Täuschung, sondern auch im Ganzen und auf die Dauer. Wird z.B. ein Mensch fest überredet, daß jede Wohlthat ihm im künftigen Leben hundertfach vergolten wird; so gilt und wirkt eine solche Ueberzeugung ganz und gar wie ein sicherer Wechsel auf sehr lange Sicht, und er kann aus Egoismus geben, wie er, bei anderer Einsicht, aus Egoismus nehmen würde. Geändert hat er sich nicht: velle non discitur. Vermöge dieses großen Einflusses der Erkenntniß auf das Handeln bei unveränderlichem Willen, geschieht es, daß erst allmälig der Charakter sich entwickelt und seine verschiedenen Züge hervortreten. Daher zeigt er sich in jedem Lebensalter verschieden, und auf eine heftige, wilde Jugend kann ein gesetztes, mäßiges, männliches Alter folgen. Besonders wird das Böse des Charakters mit der Zeit immer mächtiger hervortreten; bisweilen aber auch werden Leidenschaften, denen man in der Jugend nachgab, später freiwillig gezügelt, bloß weil die entgegengesetzten Motive erst jetzt in die Erkenntniß getreten sind. Daher auch sind wir Alle Anfangs unschuldig, welches bloß heißt, daß weder wir, noch Andere das Böse unserer eigenen Natur kennen: erst an den Motiven tritt es hervor, und erst mit der Zeit treten die Motive in die Erkenntniß. Zuletzt lernen wir uns selbst kennen, als ganz Andere, als wofür wir uns a priori hielten, und oft erschrecken wir dann über uns selbst.

Reue entsteht nimmermehr daraus, daß (was unmöglich) der Wille, sondern daraus, daß die Erkenntniß sich geändert hat. Das Wesentliche und Eigentliche von Dem, was ich jemals gewollt, muß ich auch noch wollen: denn ich selbst bin dieser Wille, der außer der Zeit und der Veränderung liegt. Ich kann daher nie bereuen, was ich gewollt, wohl aber was ich gethan habe; weil ich, durch falsche Begriffe geleitet, etwas Anderes that, als meinem Willen gemäß war. Die Einsicht hierin, bei richtigerer Erkenntniß, ist die Reue. Dies erstreckt sich nicht etwan bloß auf die Lebensklugheit, auf die Wahl der Mittel und die Beurtheilung der Angemessenheit des Zwecks zu meinem eigentlichen Willen; sondern auch auf das eigentlich Ethische. So kann ich z.B. egoistischer gehandelt haben, als meinem Charakter gemäß ist, irre geführt durch übertriebene Vorstellungen von der Noth, in der ich selbst war, oder auch von der List, Falschheit, Bosheit Anderer, oder auch dadurch, daß ich übereilt, d.h. ohne Ueberlegung handelte, bestimmt, nicht durch in abstracto deutlich erkannte, sondern durch bloß anschauliche Motive, durch den Eindruck der Gegenwart und durch den Affekt, den er erregte, und der so stark war, daß ich nicht eigentlich den Gebrauch meiner Vernunft hatte; die Rückkehr der Besinnung ist dann aber auch hier nur berichtigte Erkenntniß, aus welcher Reue hervorgehn kann, die sich dann allemal durch Gutmachen des Geschehenen, so weit es möglich ist, kund giebt. Doch ist zu bemerken, daß man, um sich selbst zu täuschen, sich scheinbare Uebereilungen vorbereitet, die eigentlich heimlich überlegte Handlungen sind. Denn wir betrügen und schmeicheln Niemanden durch so feine Kunstgriffe, als uns selbst. – Auch der umgekehrte Fall des Angeführten kann eintreten: mich kann ein zu gutes Zutrauen zu Andern, oder Unkenntniß des relativen Werthes der Güter des Lebens, oder irgend ein abstraktes Dogma, den Glauben an welches ich nunmehr verloren habe, verleiten, weniger egoistisch zu handeln, als meinem Charakter gemäß ist, und mir dadurch Reue anderer Art zu bereiten. Immer also ist die Reue berichtigte Erkenntniß des Verhältnisses der That zur eigentlichen Absicht. – Wie dem Willen, sofern er seine Ideen im Raum allein, d.h. durch die bloße Gestalt offenbart, die schon von andern Ideen, hier Naturkräften, beherrschte Materie sich widersetzt und selten die Gestalt, welche hier zur Sichtbarkeit strebte, vollkommen rein und deutlich, d.h. schön, hervorgehn läßt; so findet ein analoges Hinderniß der in der Zeit allein, d.h. durch Handlungen sich offenbarende Wille, an der Erkenntniß, die ihm selten die Data ganz richtig angiebt, wodurch dann die That nicht ganz genau dem Willen entsprechend ausfällt und daher Reue vorbereitet. Die Reue geht also immer aus berichtigter Erkenntniß, nicht aus der Aenderung des Willens hervor, als welche unmöglich ist. Gewissensangst über das Begangene ist nichts weniger als Reue, sondern Schmerz über die Erkenntniß seiner selbst an sich, d.h. als Wille. Sie beruht gerade auf der Gewißheit, daß man den selben Willen noch immer hat. Wäre er geändert und daher die Gewissensangst bloße Reue, so höbe diese sich selbst auf: denn das Vergangene könnte dann weiter keine Angst erwecken, da es die Aeußerungen eines Willens darstellte, welcher nicht mehr der des Reuigen wäre. Wir werden weiter unten die Bedeutung der Gewissensangst ausführlich erörtern.

Der Einfluß, den die Erkenntniß, als das Medium der Motive, zwar nicht auf den Willen selbst, aber auf sein Hervortreten in den Handlungen hat, begründet auch den Hauptunterschied zwischen dem Thun der Menschen und dem der Thiere, indem die Erkenntnißweise Beider verschieden ist. Das Thier nämlich hat nur anschauliche, der Mensch, durch die Vernunft, auch abstrakte Vorstellungen, Begriffe. Obgleich nun Thier und Mensch mit gleicher Nothwendigkeit durch die Motive bestimmt werden, so hat doch der Mensch eine vollkommene Wahlentscheidung vor dem Thiere voraus, welche auch oft für eine Freiheit des Willens in den einzelnen Thaten angesehn worden, obwohl sie nichts Anderes ist, als die Möglichkeit eines ganz durchgekämpften Konflikts zwischen mehreren Motiven, davon das stärkere ihn dann mit Nothwendigkeit bestimmt. Hiezu nämlich müssen die Motive die Form abstrakter Gedanken angenommen haben; weil nur mittelst dieser eine eigentliche Deliberation, d.h. Abwägung entgegengesetzter Gründe zum Handeln, möglich ist. Beim Thier kann die Wahl nur zwischen anschaulich vorliegenden Motiven Statt haben, weshalb dieselbe auf die enge Sphäre seiner gegenwärtigen, anschaulichen Apprehension beschränkt ist. Daher kann die Nothwendigkeit der Bestimmung des Willens durch das Motiv, welche der der Wirkung durch die Ursache gleich ist, allein bei Thieren anschaulich und unmittelbar dargestellt werden, weil hier auch der Zuschauer die Motive so unmittelbar, wie ihre Wirkung, vor Augen hat; während beim Menschen die Motive fast immer abstrakte Vorstellungen sind, deren der Zuschauer nicht theilhaft wird, und sogar dem Handelnden selbst die Nothwendigkeit ihres Wirkens sich hinter ihrem Konflikt verbirgt. Denn nur in abstracto können mehrere Vorstellungen, als Urtheile und Ketten von Schlüssen, im Bewußtsein neben einander liegen und dann frei von aller Zeitbestimmung gegen einander wirken, bis das stärkere die übrigen überwältigt und den Willen bestimmt. Dies ist die vollkommene Wahlentscheidung, oder Deliberationsfähigkeit, welche der Mensch vor dem Thiere voraus hat, und wegen welcher man ihm Willensfreiheit beigelegt hat, vermeinend, sein Wollen sei ein bloßes Resultat der Operationen des Intellekts, ohne daß ein bestimmter Trieb demselben zur Basis diene; während, in Wahrheit, die Motivation nur wirkt auf der Grundlage und unter der Voraussetzung seines bestimmten Triebes, welcher bei Ihm individuell, d.h. ein Charakter ist. Eine ausführlichere Darstellung jener Deliberationsfähigkeit und der durch sie herbeigeführten Verschiedenheit der menschlichen und thierischen Willkür findet man in den »Beiden Grundproblemen der Ethik« (1. Auflage, S. 35 ff.), worauf ich also hier verweise. Uebrigens gehört diese Deliberationsfähigkeit des Menschen auch zu den Dingen, die sein Daseyn so sehr viel quaalvoller, als das des Thieres machen; wie denn überhaupt unsere größten Schmerzen nicht in der Gegenwart, als anschauliche Vorstellungen oder unmittelbares Gefühl, liegen: sondern in der Vernunft, als abstrakte Begriffe, quälende Gedanken, von denen das allein in der Gegenwart und daher in beneidenswerther Sorglosigkeit lebende Thier völlig frei ist.

Die dargelegte Abhängigkeit der menschlichen Deliberationsfähigkeit vom Vermögen des Denkens in abstracto, also auch des Urtheilens und Schließens, scheint es gewesen zu seyn, welche sowohl den Cartesius, als den Spinoza verleitet hat, die Entscheidungen des Willens zu identificiren mit dem Vermögen zu bejahen und zu verneinen (Urtheilskraft), woraus Cartesius ableitete, daß der, bei ihm indifferent freie, Wille die Schuld auch alles theoretischen Irrthums trage: Spinoza hingegen, daß der Wille durch die Motive, wie das Urtheil durch die Gründe nothwendig bestimmt werde;81 welches letztere übrigens seine Richtigkeit hat, jedoch als eine wahre Konklusion aus falschen Prämissen auftritt. –

Die nachgewiesene Verschiedenheit der Art wie das Thier, von der wie der Mensch durch die Motive bewegt wird, erstreckt ihren Einfluß auf das Wesen Beider sehr weit und trägt das Meiste bei zu dem durchgreifenden und augenfälligen Unterschied des Daseyns Beider. Während nämlich das Thier immer nur durch eine anschauliche Vorstellung motivirt wird, ist der Mensch bestrebt diese Art der Motivation gänzlich auszuschließen und allein durch abstrakte Vorstellungen sich bestimmen zu lassen, wodurch er sein Vorrecht der Vernunft zu möglichstem Vortheil benutzt und, unabhängig von der Gegenwart, nicht den vorübergehenden Genuß oder Schmerz wählt oder flieht, sondern die Folgen Beider bedenkt. In den meisten Fällen, von den ganz unbedeutenden Handlungen abgesehn, bestimmen uns abstrakte, gedachte Motive, nicht gegenwärtige Eindrücke. Daher ist uns jede einzelne Entbehrung für den Augenblick ziemlich leicht, aber jede Entsagung entsetzlich schwer: denn jene trifft nur die vorübereilende Gegenwart, diese aber die Zukunft und schließt daher unzählige Entbehrungen in sich, deren Aequivalent sie ist. Die Ursache unseres Schmerzes, wie unserer Freude, liegt daher meistens nicht in der realen Gegenwart; sondern bloß in abstrakten Gedanken: diese sind es, welche uns oft unerträglich fallen, Quaalen schaffen, gegen welche alle Leiden der Thierheit sehr klein sind, da über dieselben auch unser eigener physischer Schmerz oft gar nicht empfunden wird, ja, wir bei heftigen geistigen Leiden uns physische verursachen, bloß um dadurch die Aufmerksamkeit von jenen abzulenken auf diese: daher rauft man, im größten geistigen Schmerze, sich die Haare aus, schlägt die Brust, zerfleischt das Antlitz, wälzt sich auf dem Boden; welches Alles eigentlich nur gewaltsame Zerstreuungsmittel von einem unerträglich fallenden Gedanken sind. Eben weil der geistige Schmerz, als der viel größere, gegen den physischen unempfindlich macht, wird dem Verzweifelnden, oder von krankhaftem Unmuth Verzehrten, der Selbstmord sehr leicht, auch wenn er früher, im behaglichen Zustande, vor dem Gedanken daran zurückbebte. Imgleichen reiben die Sorge und Leidenschaft, also das Gedankenspiel, den Leib öfter und mehr auf, als die physischen Beschwerden. Dem also gemäß sagt Epiktetos mit Recht: Tarassei tous anthrôtous ou ta pragmata, alla ta peri tôn pragmatôn dogmata (Perturbant homines non res ipsae, sed de rebus decreta) (V.) und Seneka: Plura sunt, quae nos terrent, quam quae premunt, et saepius opinione quam re laboramus (Ep.5). Auch Eulenspiegel persiflirte die menschliche Natur ganz vortrefflich, indem er bergauf gehend lachte, aber bergab gehend weinte. Ja, Kinder die sich wehe gethan, weinen oft nicht über den Schmerz, sondern erst, wenn man sie beklagt, über den dadurch erregten Gedanken des Schmerzes. So große Unterschiede im Handeln und im Leiden fließen aus der Verschiedenheit der thierischen und menschlichen Erkenntnißweise. Ferner ist das Hervortreten des deutlichen und entschiedenen Individualcharakters, der hauptsächlich den Menschen vom Thier, welches fast nur Gattungscharakter hat, unterscheidet, ebenfalls durch die, nur mittelst der abstrakten Begriffe mögliche, Wahl zwischen mehreren Motiven bedingt. Denn allein nach vorhergegangener Wahl sind die in verschiedenen Individuen verschieden ausfallenden Entschlüsse ein Zeichen des individuellen Charakters derselben, der bei Jedem ein anderer ist; während das Thun des Thieres nur von der Gegenwart, oder Abwesenheit des Eindrucks abhängt, vorausgesetzt, daß derselbe überhaupt ein Motiv für seine Gattung ist. Daher endlich ist beim Menschen allein der Entschluß, nicht aber der bloße Wunsch, ein gültiges Zeichen seines Charakters, für ihn selbst und für Andere. Der Entschluß aber wird allein durch die That gewiß, für ihn selbst, wie für Andere. Der Wunsch ist bloß nothwendige Folge des gegenwärtigen Eindrucks, sei es des äußern Reizes, oder der Innern vorübergehenden Stimmung, und ist daher so unmittelbar nothwendig und ohne Ueberlegung, wie das Thun der Thiere: daher auch drückt er, eben wie dieses, bloß den Gattungscharakter aus, nicht den individuellen, d.h. deutet bloß an, was der Mensch überhaupt, nicht was das den Wunsch fühlende Individuum zu thun fähig wäre. Die That allein ist, weil sie, schon als menschliche Handlung, immer einer gewissen Ueberlegung bedarf, und weil der Mensch in der Regel seiner Vernunft mächtig, also besonnen ist, d.h. sich nach gedachten, abstrakten Motiven entscheidet, der Ausdruck der intelligibeln Maxime seines Handelns, das Resultat seines Innersten Wollens, und stellt sich hin als ein Buchstabe zu dem Worte, das seinen empirischen Charakter bezeichnet, welcher selbst nur der zeitliche Ausdruck seines intelligibeln Charakters ist. Daher beschweren, bei gesundem Gemüthe, nur Thaten das Gewissen, nicht Wünsche und Gedanken. Denn nur unsere Thaten halten uns den Spiegel unsers Willens vor. Die schon oben erwähnte, völlig unüberlegt und wirklich im blinden Affekt begangene That ist gewissermaaßen ein Mittelding zwischen bloßem Wunsch und Entschluß: daher kann sie durch wahre Reue, die sich aber auch als That zeigt, wie ein verzeichneter Strich, ausgelöscht werden aus dem Bilde unsers Willens, welches unser Lebenslauf ist. – Uebrigens mag hier, als ein sonderbares Gleichniß, die Bemerkung Platz finden, daß das Verhältniß zwischen Wunsch und That eine ganz zufällige, aber genaue Analogie hat mit dem zwischen elektrischer Vertheilung und elektrischer Mittheilung.

Zufolge dieser gesammten Betrachtung über die Freiheit des Willens und was sich auf sie bezieht, finden wir, obwohl der Wille an sich selbst und außer der Erscheinung frei, ja allmächtig zu nennen ist, denselben in seinen einzelnen, von Erkenntniß beleuchteten Erscheinungen, also in Menschen und Thieren, durch Motive bestimmt, gegen welche der jedesmalige Charakter, immer auf gleiche Weise, gesetzmäßig und nothwendig reagirt. Den Menschen sehn wir, vermöge der hinzugekommenen abstrakten oder Vernunft-Erkenntniß, eine Wahlentscheidung vor dem Thiere voraushaben, die ihn aber nur zum Kampfplatz des Konflikts der Motive macht, ohne ihn ihrer Herrschaft zu entziehn, und daher zwar die Möglichkeit der vollkommenen Aeußerung des individuellen Charakters bedingt, keineswegs aber als Freiheit des einzelnen Wollens, d.h. Unabhängigkeit vom Gesetze der Kausalität anzusehn ist, dessen Nothwendigkeit sich über den Menschen, wie über Jede andere Erscheinung erstreckt. Bis auf den angegebenen Punkt also, und nicht weiter, geht der Unterschied, welchen die Vernunft, oder die Erkenntniß mittelst Begriffen, zwischen dem menschlichen Wollen und dem thierischen herbeiführt. Allein welches ganz andere, bei der Thierheit unmögliche Phänomen des menschlichen Willens hervorgehn kann, wenn der Mensch die gesammte, dem Satz vom Grund unterworfene Erkenntniß der einzelnen Dinge als solcher verläßt und mittelst Erkenntniß der Ideen das principium individuationis durchschaut, wo alsdann ein wirkliches Hervortreten der eigentlichen Freiheit des Willens als Dinges an sich möglich wird, durch welches die Erscheinung in einen gewissen Widerspruch mit sich selbst tritt, den das Wort Selbstverleugnung bezeichnet, ja zuletzt das Ansich ihres Wesens sich aufhebt; – diese eigentliche und einzige unmittelbare Aeußerung der Freiheit des Willens an sich, auch in der Erscheinung, kann hier noch nicht deutlich dargestellt werden, sondern wird ganz zuletzt der Gegenstand unserer Betrachtung seyn.

Nachdem uns aber, durch die gegenwärtigen Auseinandersetzungen, die Unveränderlichkeit des empirischen Charakters, als welcher die bloße Entfaltung des außerzeitlichen intelligibeln ist, wie auch die Nothwendigkeit, mit der aus seinem Zusammentreffen mit den Motiven die Handlungen hervorgehn, deutlich geworden ist: haben wir zuvörderst eine Folgerung zu beseitigen, welche zu Gunsten der verwerflichen Neigungen sich sehr leicht daraus ziehn ließe. Da nämlich unser Charakter als die zeitliche Entfaltung eines außerzeitlichen und mithin untheilbaren und unveränderlichen Willensaktes, oder eines intelligibeln Charakters, anzusehn ist, durch welchen alles Wesentliche, d.h. der ethische Gehalt unsers Lebenswandels, unveränderlich bestimmt ist und sich demgemäß in seiner Erscheinung, dem empirischen Charakter, ausdrücken muß, während nur das Unwesentliche dieser Erscheinung, die äußere Gestaltung unsers Lebenslaufes, abhängt von den Gestalten, unter welchen die Motive sich darstellen; so könnte man schließen, daß es vergebliche Mühe wäre, an einer Besserung seines Charakters zu arbeiten, oder der Gewalt böser Neigungen zu widerstreben, daher es gerathener wäre, sich dem Unabänderlichen zu unterwerfen und jeder Neigung, sei sie auch böse, sofort zu willfahren. – Allein es hat hiemit ganz und gar das selbe Bewandtniß, wie mit der Theorie vom unabwendbaren Schicksal, und der daraus gemachten Folgerung, die man agros logos, in neuerer Zeit Türkenglaube, nennt, deren richtige Widerlegung, wie sie Chrysippos gegeben haben soll, Cicero darstellt im Buche de fato, Kap. 12, 13.

Obwohl nämlich Alles als vom Schicksal unwiderruflich vorherbestimmt angesehn werden kann, so ist es dies doch eben nur mittelst der Kette der Ursachen. Daher in keinem Fall bestimmt seyn kann, daß eine Wirkung ohne ihre Ursache eintrete. Nicht die Begebenheit schlechthin also ist vorherbestimmt, sondern dieselbe als Erfolg vorhergängiger Ursachen: also ist nicht der Erfolg allein, sondern auch die Mittel, als deren Erfolg er einzutreten bestimmt ist, vom Schicksal beschlossen. Treten demnach die Mittel nicht ein, dann auch sicherlich nicht der Erfolg: Beides immer nach der Bestimmung des Schicksals, die wir aber auch immer erst hinterher erfahren.

Wie die Begebenheiten immer dem Schicksal, d.h. der endlosen Verkettung der Ursachen, so werden unsere Thaten immer unserm intelligibeln Charakter gemäß ausfallen; aber wie wir jenes nicht vorherwissen, so ist uns auch keine Einsicht a priori in diesen gegeben; sondern nur a posteriori, durch die Erfahrung, lernen wir, wie die Andern, so auch uns selbst kennen. Brachte der intelligible Charakter es mit sich, daß wir einen guten Entschluß nur nach langem Kampf gegen eine böse Neigung fassen konnten; so muß dieser Kampf vorhergehn und abgewartet werden. Die Reflexion über die Unveränderlichkeit des Charakters, über die Einheit der Quelle, aus welcher alle unsere Thaten fließen, darf uns nicht verleiten, zu Gunsten des einen noch des andern Theiles, der Entscheidung des Charakters vorzugreifen: am erfolgenden Entschluß werden wir sehn, welcher Art wir sind, und uns an unsern Thaten spiegeln. Hieraus eben erklärt sich die Befriedigung, oder die Seelenangst, mit der wir auf den zurückgelegten Lebensweg zurücksehn: Beide kommen nicht daher, daß jene vergangenen Thaten noch ein Daseyn hätten: sie sind vergangen, gewesen und jetzt nichts mehr; aber ihre große Wichtigkeit für uns kommt aus ihrer Bedeutung, kommt daher, daß diese Thaten der Abdruck des Charakters, der Spiegel des Willens sind, in welchen schauend wir unser Innerstes Selbst, den Kern unsers Willens erkennen. Weil wir dies also nicht vorher, sondern erst nachher erfahren, kommt es uns zu, in der Zeit zu streben und zu kämpfen, eben damit das Bild, welches wir durch unsere Thaten wirken, so ausfalle, daß sein Anblick uns möglichst beruhige, nicht beängstige. Die Bedeutung aber solcher Beruhigung, oder Seelenangst, wird, wie gesagt, weiter unten untersucht werden. Hieher gehört hingegen noch folgende für sich bestehende Betrachtung.

Neben dem intelligibeln und dem empirischen Charakter ist noch ein drittes, von beiden Verschiedenes zu erwähnen, der erworbene Charakter, den man erst im Leben, durch den Weltgebrauch, erhält, und von dem die Rede ist, wenn man gelobt wird als ein Mensch, der Charakter hat, oder getadelt als charakterlos. – Zwar könnte man meinen, daß, da der empirische Charakter, als Erscheinung des intelligibeln, unveränderlich und, wie jede Naturerscheinung, in sich konsequent ist, auch der Mensch eben deshalb immer sich selbst gleich und konsequent erscheinen müßte und daher nicht nöthig hätte, durch Erfahrung und Nachdenken, sich künstlich einen Charakter zu erwerben. Dem ist aber anders, und wiewohl man immer der Selbe ist, so versteht man jedoch sich selbst nicht jederzeit, sondern verkennt sich oft, bis man die eigentliche Selbstkenntniß in gewissem Grade erworben hat. Der empirische Chrakter ist, als bloßer Naturtrieb, an sich unvernünftig: ja, seine Aeußerungen werden noch dazu durch die Vernunft gestört, und zwar um so mehr, je mehr Besonnenheit und Denkkraft der Mensch hat. Denn diese halten ihm immer vor, was dem Menschen überhaupt, als Gattungscharakter, zukommt und im Wollen, wie im Leisten, demselben möglich ist. Hiedurch wird ihm die Einsicht in Dasjenige, was allein von dem Allen er, vermöge seiner Individualität, will und vermag, erschwert. Er findet in sich zu allen, noch so verschiedenen menschlichen Anstrebungen und Kräften die Anlagen; aber der verschiedene Grad derselben in seiner Individualität wird ihm nicht ohne Erfahrung klar: und wenn er nun zwar zu den Bestrebungen greift, die seinem Charakter allein gemäß sind, so fühlt er doch, besonders in einzelnen Momenten und Stimmungen, die Anregung zu gerade entgegengesetzten, damit unvereinbaren, die, wenn er jenen ersteren ungestört nachgehn will, ganz unterdrückt werden müssen. Denn, wie unser physischer Weg auf der Erde immer nur eine Linie, keine Fläche ist; so müssen wir im Leben, wenn wir Eines ergreifen und besitzen wollen, unzähliges Anderes, rechts und links, entsagend, liegen lassen. Können wir uns dazu nicht entschließen, sondern greifen, wie Kinder auf dem Jahrmarkt, nach Allem was uns im Vorübergehn reizt; dann ist dies das verkehrte Bestreben, die Linie unsers Wegs in eine Fläche zu verwandeln: wir laufen sodann im Zickzack, irrlichterliren hin und her und gelangen zu nichts. – Oder, um ein anderes Gleichniß zu gebrauchen, wie, nach Hobbes' Rechtslehre, ursprünglich Jeder auf jedes Ding ein Recht hat, aber auf keines ein ausschließliches; letzteres jedoch auf einzelne Dinge erlangen kann, dadurch, daß er seinem Recht auf alle übrigen entsagt, wogegen die Andern in Hinsicht auf das von ihm erwählte das gleiche thun; gerade so ist es im Leben, wo wir irgend eine bestimmte Bestrebung, sei sie nach Genuß, Ehre, Reichthum, Wissenschaft, Kunst, oder Tugend, nur dann recht mit Ernst und mit Glück verfolgen können, wann wir alle ihr fremden Ansprüche aufgeben, auf alles Andere verzichten. Darum ist das bloße Wollen und auch Können an sich noch nicht zureichend, sondern ein Mensch muß auch wissen, was er will, und wissen, was er kann: erst so wird er Charakter zeigen, und erst dann kann er etwas Rechtes vollbringen. Bevor er dahin gelangt, ist er, ungeachtet der natürlichen Konsequenz des empirischen Charakters, doch charakterlos, und obwohl er im Ganzen sich treu bleiben und seine Bahn durchlaufen muß, von seinem Dämon gezogen; so wird er doch keine schnurgerechte, sondern eine zitternde, ungleiche Linie beschreiben, schwanken, abweichen, umkehren, sich Reue und Schmerz bereiten: dies Alles, weil er, im Großen und Kleinen, so Vieles als dem Menschen möglich und erreichbar vor sich sieht, und noch nicht weiß, was davon allein ihm gemäß und ihm ausführbar, ja, auch nur ihm genießbar ist. Er wird daher Manchen um eine Lage und Verhältnisse beneiden, die doch nur dessen Charakter, nicht dem seinigen, angemessen sind, und in denen er sich unglücklich fühlen würde, wohl gar es nicht ein Mal aushaken könnte. Denn wie dem Fische nur im Wasser, dem Vogel nur in der Luft, dem Maulwurf nur unter der Erde wohl ist, so jedem Menschen nur in der ihm angemessenen Atmosphäre; wie denn z.B. die Hofluft nicht Jedem respirabel ist. Aus Mangel an genügsamer Einsicht in alles Dieses wird Mancher allerlei mißlingende Versuche machen, wird seinem Charakter im Einzelnen Gewalt anthun, und im Ganzen ihm doch wieder nachgeben müssen: und was er so, gegen seine Natur, mühsam erlangt, wird ihm keinen Genuß geben; was er so erlernt, wird todt bleiben; ja sogar in ethischer Hinsicht wird eine nicht aus reinem, unmittelbarem Antriebe, sondern aus einem Begriff, einem Dogma entsprungene, für seinen Charakter zu edle That, durch nachfolgende egoistische Reue, alles Verdienst verlieren, selbst in seinen eigenen Augen. Velle non discitur. Wie wir der Unbiegsamkeit der fremden Charaktere erst durch die Erfahrung inne werden und bis dahin kindisch glauben, durch unvernünftige Vorstellungen, durch Bitten und Flehen, durch Beispiel und Edelmuth könnten wir irgend Einen dahin bringen, daß er von seiner Art lasse, seine Handlungsweise ändere, von seiner Denkungsart abgehe, oder gar seine Fähigkeiten erweitere; so geht es uns auch mit uns selbst. Wir müssen erst aus Erfahrung lernen, was wir wollen und was wir können: bis dahin wissen wir es nicht, sind charakterlos und müssen oft durch harte Stöße von außen auf unsern eigenen Weg zurückgeworfen werden. – Haben wir es aber endlich gelernt, dann haben wir erlangt, was man in der Welt Charakter nennt, den erworbenen Charakter. Dieses ist demnach nichts Anderes, als möglichst vollkommene Kenntniß der eigenen Individualität: es ist das abstrakte, folglich deutliche Wissen von den unabänderlichen Eigenschaften seines eigenen empirischen Charakters und von dem Maaß und der Richtung seiner geistigen und körperlichen Kräfte, also von den gesammten Stärken und Schwächen der eigenen Individualität. Dies setzt uns in den Stand, die an sich ein Mal unveränderliche Rolle der eigenen Person, die wir vorhin regellos naturalisirten, jetzt besonnen und methodisch durchzuführen und die Lücken, welche Launen oder Schwächen darin verursachen, nach Anleitung fester Begriffe auszufüllen. Die durch unsere individuelle Natur ohnehin nothwendige Handlungsweise haben wir jetzt auf deutlich bewußte, uns stets gegenwärtige Maximen gebracht, nach denen wir sie so besonnen durchführen, als wäre es eine erlernte, ohne hiebei je irre zu werden durch den vorübergehenden Einfluß der Stimmung, oder des Eindrucks der Gegenwart, ohne gehemmt zu werden durch das Bittere oder Süße einer im Wege angetroffenen Einzelheit, ohne Zaudern, ohne Schwanken, ohne Inkonsequenzen. Wir werden nun nicht mehr, als Neulinge, warten, versuchen, umhertappen, um zu sehn, was wir eigentlich wollen und was wir vermögen; sondern wir wissen es ein für alle Mal, haben bei jeder Wahl nur allgemeine Sätze auf einzelne Fälle anzuwenden und gelangen gleich zum Entschluß. Wir kennen unsern Willen im Allgemeinen und lassen uns nicht durch Stimmung, oder äußere Aufforderung verleiten, im Einzelnen zu beschließen, was ihm im Ganzen entgegen ist. Wir kennen eben so die Art und das Maaß unserer Kräfte und unserer Schwächen, und werden uns dadurch viele Schmerzen ersparen. Denn es giebt eigentlich gar keinen Genuß anders, als im Gebrauch und Gefühl der eigenen Kräfte, und der größte Schmerz ist wahrgenommener Mangel an Kräften, wo man ihrer bedarf. Haben wir nun erforscht, wo unsere Stärken und wo unsere Schwächen liegen; so werden wir unsere hervorstechenden natürlichen Anlagen ausbilden, gebrauchen, auf alle Weise zu nutzen suchen und immer uns dahin wenden, wo diese taugen und gelten, aber durchaus und mit Selbstüberwindung die Bestrebungen vermeiden, zu denen wir von Natur geringe Anlagen haben; werden uns hüten. Das zu versuchen, was uns doch nicht gelingt. Nur wer dahin gelangt ist, wird stets mit voller Besonnenheit ganz er selbst seyn, und wird nie von sich selbst im Stiche gelassen werden, weil er immer wußte, was er sich selber zumuthen konnte. Er wird alsdann oft der Freude theilhaft werden, seine Stärken zu fühlen, und selten den Schmerz erfahren, an seine Schwächen erinnert zu werden, welches letztere Demüthigung ist, die vielleicht den größten Geistesschmerz verursacht: daher man es viel besser ertragen kann, sein Mißgeschick, als sein Ungeschick deutlich ins Auge zu fassen. – Sind wir nun also vollkommen bekannt mit unsern Stärken und Schwächen; so werden wir auch nicht versuchen, Kräfte zu zeigen, die wir nicht haben, werden nicht mit falscher Münze spielen, weil solche Spiegelfechterei doch endlich ihr Ziel verfehlt. Denn da der ganze Mensch nur die Erscheinung seines Willens ist; so kann nichts verkehrter seyn, als, von der Reflexion ausgehend, etwas Anderes seyn zu wollen, als man ist: denn es ist ein unmittelbarer Widerspruch des Willens mit sich selbst. Nachahmung fremder Eigenschaften und Eigenthümlichkeiten ist viel schimpflicher, als das Tragen fremder Kleider: denn es ist das Urtheil der eigenen Werthlosigkeit von sich selbst ausgesprochen. Kenntniß seiner eigenen Gesinnung und seiner Fähigkeiten jeder Art und ihrer unabänderlichen Gränzen ist in dieser Hinsicht der sicherste Weg, um zur möglichsten Zufriedenheit mit sich selbst zu gelangen. Denn es gilt von den inneren Umständen, was von den äußeren, daß es nämlich für uns keinen wirksamem Trost giebt, als die volle Gewißheit der unabänderlichen Nothwendigkeit. Uns quält ein Uebel, das uns betroffen, nicht so sehr, als der Gedanke an die Umstände, durch die es hätte abgewendet werden können; daher nichts wirksamer zu unserer Beruhigung ist, als das Betrachten des Geschehenen aus dem Gesichtspunkte der Nothwendigkeit, aus welchem alle Zufälle sich als Werkzeuge eines waltenden Schicksals darstellen und wir mithin das eingetretene Uebel als durch den Konflikt innerer und äußerer Umstände unausweichbar herbeigezogen erkennen, also der Fatalismus. Wir jammern oder toben auch eigentlich nur so lange, als wir hoffen dadurch entweder auf Andere zu wirken, oder uns selbst zu unerhörter Anstrengung anzuregen. Aber Kinder und Erwachsene wissen sich sehr wohl zufrieden zu geben, sobald sie deutlich einsehn, daß es durchaus nicht anders ist:

thymon eni stêthessi philon damasantes anankê.

(Animo in pectoribus nostro domito necessitate.)

Wir gleichen den eingefangenen Elephanten, die viele Tage entsetzlich toben und ringen, bis sie sehn, daß es fruchtlos ist, und dann plötzlich gelassen ihren Nacken dem Joch bieten, auf immer gebändigt. Wir sind wie der König David, der, so lange sein Sohn noch lebte, unablässig den Jehovah mit Bitten bestürmte und sich verzweifelnd geberdete; sobald aber der Sohn todt war, nicht weiter daran dachte. Daher kommt es, daß unzählige bleibende Uebel, wie Krüppelhaftigkeit, Armuth, niederer Stand, Häßlichkeit, widriger Wohnort, von Unzähligen ganz gleichgültig ertragen und gar nicht mehr gefühlt werden, gleich vernarbten Wunden, bloß weil diese wissen, daß innere oder äußere Nothwendigkeit hier nichts zu ändern übrig läßt; während Glücklichere nicht einsehn, wie man es ertragen kann. Wie nun mit der äußern, so mit der Innern Nothwendigkeit versöhnt nichts so fest, als eine deutliche Kenntniß derselben. Haben wir, wie unsere guten Eigenschaften und Stärken, so unsere Fehler und Schwächen ein für alle Mal deutlich erkannt, dem gemäß uns unser Ziel gesteckt und über das Unerreichbare uns zufrieden gegeben; so entgehn wir dadurch am sichersten, so weit es unsere Individualität zuläßt, dem bittersten aller Leiden, der Unzufriedenheit mit uns selbst, welche die unausbleibliche Folge der Unkenntniß der eigenen Individualität, des falschen Dünkels und daraus entstandener Vermessenheit ist. Auf die bittern Kapitel der anempfohlenen Selbsterkenntniß leidet vortreffliche Anwendung der Ovidsche Vers:

Optimus ille animi vindex laedentia pectus

Vincula qui rupit, dedoluitque semel.

Soviel über den erworbenen Charakter, der zwar nicht sowohl für die eigentliche Ethik, als für das Weltleben wichtig ist, dessen Erörterung sich jedoch der des intelligibeln und des empirischen Charakters als die dritte Art nebenordnete, über welche ersteren wir uns in eine etwas ausführliche Betrachtung einlassen mußten, um uns deutlich zu machen, wie der Wille in allen seinen Erscheinungen der Nothwendigkeit unterworfen ist, während er dennoch an sich selbst frei, ja allmächtig genannt werden kann.

§ 56

Diese Freiheit, diese Allmacht, als deren Aeußerung und Abbild die ganze sichtbare Welt, ihre Erscheinung, dasteht und den Gesetzen gemäß, welche die Form der Erkenntniß mit sich bringt, sich fortschreitend entwickelt, – kann nun auch, und zwar da, wo ihr, in ihrer vollendetesten Erscheinung, die vollkommen adäquate Kenntniß ihres eigenen Wesens aufgegangen ist, von Neuem sich äußern, indem sie nämlich entweder auch hier, auf dem Gipfel der Besinnung und des Selbstbewußtseyns, das Selbe will, was sie blind und sich selbst nicht kennend wollte, wo dann die Erkenntniß, wie im Einzelnen, so im Ganzen, für sie stets Motiv bleibt; oder aber auch umgekehrt, diese Erkenntniß wird ihr ein Quietiv, welches alles Wollen beschwichtigt und aufhebt. Dies ist die schon oben im Allgemeinen aufgestellte Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben, welche, als in Hinsicht auf den Wandel des Individuums allgemeine, nicht einzelne Willensäußerung, nicht die Entwickelung des Charakters störend modificirt, noch in einzelnen Handlungen ihren Ausdruck findet; sondern entweder durch immer stärkeres Hervortreten der ganzen bisherigen Handlungsweise, oder umgekehrt, durch Aufhebung derselben, lebendig die Maxime ausspricht, welche, nach nunmehr erhaltener Erkenntniß, der Wille frei ergriffen hat. – Die deutlichere Entwicklung von allem Diesen, der Hauptgegenstand dieses letzten Buches, ist uns jetzt durch die dazwischen getretenen Betrachtungen über Freiheit, Nothwendigkeit und Charakter schon etwas erleichtert und vorbereitet: sie wird es aber noch mehr werden, nachdem wir, jene abermals hinausschiebend, zuvörderst unsere Betrachtung auf das Leben selbst, dessen Wollen oder Nichtwollen die große Frage ist, werden gerichtet haben, und zwar so, daß wir im Allgemeinen zu erkennen suchen, was dem Willen selbst, der ja überall dieses Lebens Innerstes Wesen ist, eigentlich durch seine Bejahung werde, auf welche Art und wie weit sie ihn befriedigt, ja befriedigen kann; kurz, was wohl im Allgemeinen und Wesentlichen als sein Zustand in dieser seiner eigenen und ihm in jeder Beziehung angehörenden Welt anzusehn sei.

Zuvörderst wünsche ich, daß man hier sich diejenige Betrachtung zurückrufe, mit welcher wir das zweite Buch beschlossen, veranlaßt durch die dort aufgeworfene Frage, nach dem Ziel und Zweck des Willens; statt deren Beantwortung sich uns vor Augen stellte, wie der Wille, auf allen Stufen seiner Erscheinung, von der niedrigsten bis zur höchsten, eines letzten Zieles und Zweckes ganz entbehrt, immer strebt, weil Streben sein alleiniges Wesen ist, dem kein erreichtes Ziel ein Ende macht, das daher keiner endlichen Befriedigung fähig ist, sondern nur durch Hemmung aufgehalten werden kann, an sich aber ins Unendliche geht. Wir sahen dies an der einfachsten aller Naturerscheinungen, der Schwere, die nicht aufhört zu streben und nach einem ausdehnungslosen Mittelpunkt, dessen Erreichung ihre und der Materie Vernichtung wäre, zu drängen, nicht aufhört, wenn auch schon das ganze Weltall zusammengeballt wäre. Wir sehn es in den andern einfachen Naturerscheinungen: das Feste strebt, sei es durch Schmelzen oder durch Auflösung, nach Flüssigkeit, wo allein seine chemischen Kräfte frei werden: Starrheit ist ihre Gefangenschaft, in der sie von der Kälte gehalten werden. Das Flüssige strebt nach Dunstgestalt, in welche es, sobald es nur von allem Druck befreit ist, sogleich übergeht. Kein Körper ist ohne Verwandtschaft, d.i. ohne Streben, oder ohne Sucht und Begier, wie Jakob Böhme sagen würde. Die Elektricität pflanzt ihre innere Selbstentzweiung ins Unendliche fort, wenn gleich die Masse des Erdballs die Wirkung verschlingt. Der Galvanismus ist, so lange die Säule lebt, ebenfalls ein zwecklos unaufhörlich erneuerter Akt der Selbstentzweiung und Versöhnung. Eben ein solches rastloses, nimmer befriedigtes Streben ist das Daseyn der Pflanze, ein unaufhörliches Treiben, durch immer höher gesteigerte Formen, bis der Endpunkt, das Saamenkorn, wieder der Anfangspunkt wird: dies ins Unendliche wiederholt: nirgends ein Ziel, nirgends endliche Befriedigung, nirgends ein Ruhepunkt. Zugleich werden wir uns aus dem zweiten Buch erinnern, daß überall die mannigfaltigen Naturkräfte und organischen Formen einander die Materie streitig machen, an der sie hervortreten wollen, indem Jedes nur besitzt was es dem Andern entrissen hat, und so ein steter Kampf um Leben und Tod unterhalten wird, aus welchem eben hauptsächlich der Widerstand hervorgeht, durch welchen jenes, das Innerste Wesen jedes Dinges ausmachende Streben überall gehemmt wird, vergeblich drängt, doch von seinem Wesen nicht lassen kann, sich durchquält, bis diese Erscheinung untergeht, wo dann andere ihren Platz und ihre Materie gierig ergreifen.

Wir haben längst dieses den Kern und das Ansich jedes Dinges ausmachende Streben als das selbe und nämliche erkannt, was in uns, wo es sich am deutlichsten, am Lichte des vollesten Bewußtseins manifestirt, Wille heißt. Wir nennen dann seine Hemmung durch ein Hindernis, welches sich zwischen ihn und sein einstweiliges Ziel stellt, Leiden; hingegen sein Erreichen des Ziels Befriedigung, Wohlseyn, Glück. Wir können diese Benennungen auch auf jene, dem Grade nach schwachem, dem Wesen nach identischen Erscheinungen der erkenntnißlosen Welt übertragen. Diese sehn wir alsdann in stetem Leiden begriffen und ohne bleibendes Glück. Denn alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, so lange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens. Das Streben sehn wir überall vielfach gehemmt, überall kämpfend; so lange also immer als Leiden: kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maaß und Ziel des Leidens.

Was wir aber so nur mit geschärfter Aufmerksamkeit und mit Anstrengung in der erkenntnißlosen Natur entdecken, tritt uns deutlich entgegen in der erkennenden, im Leben der Thierheit, dessen stetes Leiden leicht nachzuweisen ist. Wir wollen aber, ohne auf dieser Zwischenstufe zu verweilen, uns dahin wenden, wo, von der hellsten Erkenntniß beleuchtet. Alles aufs deutlichste hervortritt, im Leben des Menschen. Denn wie die Erscheinung des Willens vollkommener wird, so wird auch das Leiden mehr und mehr offenbar. In der Pflanze ist noch keine Sensibilität, also kein Schmerz: ein gewiß sehr geringer Grad von Beiden wohnt den untersten Thieren, den Infusorien und Radiarien ein: sogar in den Insekten ist die Fähigkeit zu empfinden und zu leiden noch beschränkt: erst mit dem vollkommenen Nervensystem der Wirbelthiere tritt sie in hohem Grade ein, und in immer höherem, je mehr die Intelligenz sich entwickelt. In gleichem Maaße also, wie die Erkenntniß zur Deutlichkeit gelangt, das Bewußtseyn sich steigert, wächst auch die Quaal, welche folglich ihren höchsten Grad im Menschen erreicht, und dort wieder um so mehr, je deutlicher erkennend, je intelligenter der Mensch ist: der, in welchem der Genius lebt, leidet am meisten. In diesem Sinne, nämlich in Beziehung auf den Grad der Erkenntniß überhaupt, nicht auf das bloße abstrakte Wissen, verstehe und gebrauche ich hier jenen Spruch des Koheleth: Qui auget scientiam, auget et dolorem. – Dieses genaue Verhältniß zwischen dem Grade des Bewußtseins und dem des Leidens hat durch eine anschauliche und augenfällige Darstellung überaus schön in einer Zeichnung ausgedrückt jener philosophische Maler, oder malende Philosoph, Tischbein. Die obere Hälfte seines Blattes stellt Weiber dar, denen ihre Kinder entführt werden, und die, in verschiedenen Gruppen und Stellungen, den tiefen mütterlichen Schmerz, Angst, Verzweiflung, mannigfaltig ausdrücken; die untere Hälfte des Blattes zeigt, in ganz gleicher Anordnung und Gruppirung, Schaafe, denen die Lämmer weggenommen werden: so daß jedem menschlichen Kopf, jeder menschlichen Stellung der obern Blatthälfte, da unten ein thierisches Analogen entspricht und man nun deutlich sieht, wie sich der im dumpfen thierischen Bewußtseyn mögliche Schmerz verhält zu der gewaltigen Quaal, welche erst durch die Deutlichkeit der Erkenntniß, die Klarheit des Bewußtseyns, möglich ward.

Wir wollen dieserwegen im menschlichen Daseyn das innere und wesentliche Schicksal des Willens betrachten. Jeder wird leicht im Leben des Thieres das Nämliche, nur schwächer, in verschiedenen Graden ausgedrückt wiederfinden und zur Genüge auch an der leidenden Thierheit sich überzeugen können, wie wesentlich alles Leben Leiden ist.

§ 57

Auf jeder Stufe, welche die Erkenntniß beleuchtet, erscheint sich der Wille als Individuum. Im unendlichen Raum und unendlicher Zeit findet das menschliche Individuum sich als endliche, folglich als eine gegen Jene verschwindende Größe, in sie hineingeworfen und hat, wegen ihrer Unbegränztheit, immer nur ein relatives, nie ein absolutes Wann und Wo seines Daseyns: denn sein Ort und seine Dauer sind endliche Theile eines Unendlichen und Gränzenlosen. – Sein eigentliches Daseyn ist nur in der Gegenwart, deren ungehemmte Flucht in die Vergangenheit ein steter Uebergang in den Tod, ein stetes Sterben ist; da sein vergangenes Leben, abgesehn von dessen etwanigen Folgen für die Gegenwart, wie auch von dem Zeugniß über seinen Willen, das darin abgedrückt ist, schon völlig abgethan, gestorben und nichts mehr ist: daher auch es ihm vernünftigerweise gleichgültig seyn muß, ob der Inhalt jener Vergangenheit Quaalen oder Genüsse waren. Die Gegenwart aber wird beständig unter seinen Händen zur Vergangenheit: die Zukunft ist ganz ungewiß und immer kurz. So ist sein Daseyn, schon von der formellen Seite allein betrachtet, ein stetes Hinstürzen der Gegenwart in die todte Vergangenheit, ein stetes Sterben. Sehn wir es nun aber auch von der physischen Seite an; so ist offenbar, daß wie bekanntlich unser Gehn nur ein stets gehemmtes Fallen ist, das Leben unsers Leibes nur ein fortdauernd gehemmtes Sterben, ein immer aufgeschobener Tod ist: endlich ist eben so die Regsamkeit unsers Geistes eine fortdauernd zurückgeschobene Langeweile. Jeder Athemzug wehrt den beständig eindringenden Tod ab, mit welchem wir auf diese Weise in jeder Sekunde kämpfen, und dann wieder, in großem Zwischenräumen, durch jede Mahlzeit, jeden Schlaf, jede Erwärmung u.s.w. Zuletzt muß er siegen: denn ihm sind wir schon durch die Geburt anheimgefallen, und er spielt nur eine Weile mit seiner Beute, bevor er sie verschlingt. Wir setzen indessen unser Leben mit großem Antheil und vieler Sorgfalt fort, so lange als möglich, wie man eine Seifenblase so lange und so groß als möglich aufbläst, wiewohl mit der festen Gewißheit, daß sie platzen wird.

Sahen wir schon in der erkenntnißlosen Natur das innere Wesen derselben als ein beständiges Streben, ohne Ziel und ohne Rast; so tritt uns bei der Betrachtung des Thieres und des Menschen dieses noch viel deutlicher entgegen. Wollen und Streben ist sein ganzes Wesen, einem unlöschbaren Durst gänzlich zu vergleichen. Die Basis alles Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folglich schon ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt. Fehlt es ihm hingegen an Objekten des Wollens, indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wieder wegnimmt; so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile: d.h. sein Wesen und sein Daseyn selbst wird ihm zur unerträglichen Last. Sein Leben schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her, zwischen dem Schmerz und der Langenweile, welche Beide in der That dessen letzte Bestandtheile sind. Dieses hat sich sehr seltsam auch dadurch aussprechen müssen, daß, nachdem der Mensch alle Leiden und Quaalen in die Hölle versetzt hatte, für den Himmel nun nichts übrig blieb, als eben Langeweile.

Das stete Streben aber, welches das Wesen jeder Erscheinung des Willens ausmacht, erhält auf den hohem Stufen der Objektivation seine erste und allgemeinste Grundlage dadurch, daß hier der Wille sich erscheint als ein lebendiger Leib, mit dem eisernen Gebot, ihn zu nähren: und was diesem Gebote die Kraft giebt, ist eben, daß dieser Leib nichts Anderes, als der objektivirte Wille zum Leben selbst ist. Der Mensch, als die vollkommenste Objektivation jenes Willens, ist demgemäß auch das bedürftigste unter allen Wesen: er ist konkretes Wollen und Bedürfen durch und durch, ist ein Konkrement von tausend Bedürfnissen. Mit diesen steht er auf der Erde, sich selber überlassen, über Alles in Ungewißheit, nur nicht über seine Bedürftigkeit und seine Noch: demgemäß füllt die Sorge für die Erhaltung jenes Daseyns, unter so schweren, sich jeden Tag von Neuem meldenden Forderungen, in der Regel, das ganze Menschenleben aus. An sie knüpft sich sodann unmittelbar die zweite Anforderung, die der Fortpflanzung des Geschlechts. Zugleich bedrohen ihn von allen Seiten die verschiedenartigsten Gefahren, denen zu entgehn es beständiger Wachsamkeit bedarf. Mit behutsamem Schritt und ängstlichem Umherspähen verfolgt er seinen Weg: denn tausend Zufälle und tausend Feinde lauern ihm auf. So gieng er in der Wildniß, und so geht er im civilisirten Leben; es giebt für ihn keine Sicherheit:

Qualibus in tenebris vitae, quantisque periclis

Degitur hocc' aevi, quodcunque est!

Lucr., II. 15.

Das Leben der Allermeisten ist auch nur ein steter Kampf um diese Existenz selbst, mit der Gewißheit ihn zuletzt zu verlieren. Was sie aber in diesem so mühsäligen Kampfe ausdauern läßt, ist nicht sowohl die Liebe zum Leben, als die Furcht vor dem Tode, der jedoch als unausweichbar im Hintergrunde steht und jeden Augenblick herantreten kann. – Das Leben selbst ist ein Meer voller Klippen und Strudel, die der Mensch mit der größten Behutsamkeit und Sorgfalt vermeidet, obwohl er weiß, daß, wenn es ihm auch gelingt, mit aller Anstrengung und Kunst sich durchzuwinden, er eben dadurch mit jedem Schritt dem größten, dem totalen, dem unvermeidlichen und unheilbaren Schiffbruch näher kommt, ja gerade auf ihn zusteuert, – dem Tode: dieser ist das endliche Ziel der mühsäligen Fahrt und für ihn schlimmer als alle Klippen, denen er auswich.

Nun ist es aber sogleich sehr bemerkenswerth, daß einerseits die Leiden und Quaalen des Lebens leicht so anwachsen können, daß selbst der Tod, in der Flucht vor welchem das ganze Leben besteht, wünschenswerth wird und man freiwillig zu ihm eilt; und andererseits wieder, daß sobald Noth und Leiden dem Menschen eine Rast vergönnen, die Langeweile gleich so nahe ist, daß er des Zeitvertreibes nothwendig bedarf. Was alle Lebenden beschäftigt und in Bewegung erhält, ist das Streben nach Daseyn. Mit dem Daseyn aber, wenn es ihnen gesichert ist, wissen sie nichts anzufangen: daher ist das Zweite, was sie in Bewegung setzt, das Streben, die Last des Daseyns los zu werden, es unfühlbar zu machen, »die Zeit zu tödten«, d.h. der Langenweile zu entgehn. Demgemäß sehn wir, daß fast alle vor Noth und Sorgen geborgene Menschen, nachdem sie nun endlich alle andern Lasten abgewälzt haben, jetzt sich selbst zur Last sind und nun jede durchgebrachte Stunde für Gewinn achten, also jeden Abzug von eben jenem Leben, zu dessen möglichst langer Erhaltung sie bis dahin alle Kräfte aufboten. Die Langeweile aber ist nichts weniger, als ein gering zu achtendes Uebel: sie malt zuletzt wahre Verzweiflung auf das Gesicht. Sie macht, daß Wesen, welche einander so wenig lieben, wie die Menschen, doch so sehr einander suchen, und wird dadurch die Quelle der Geselligkeit. Auch werden überall gegen sie, wie gegen andere allgemeine Kalamitäten, öffentliche Vorkehrungen getroffen, schon aus Staatsklugheit; weil dieses Uebel, so gut als sein entgegengesetztes Extrem, die Hungersnoth, die Menschen zu den größten Zügellosigkeiten treiben kann: panem et Circenses braucht das Volk. Das strenge Philadelphische Pönitenziarsystem macht, mittelst Einsamkeit und Unthätigkeit, bloß die Langeweile zum Strafwerkzeug: und es ist ein so fürchterliches, daß es schon die Züchtlinge zum Selbstmord geführt hat. Wie die Noth die beständige Geißel des Volkes ist, so die Langeweile die der vornehmen Welt. Im bürgerlichen Leben ist sie durch den Sonntag, wie die Noth durch die sechs Wochentage repräsentirt.

Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort. Der Wunsch ist, seiner Natur nach, Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfniß wieder ein: wo nicht, so folgt Oede, Leere, Langeweile, gegen welche der Kampf eben so quälend ist, wie gegen die Noth. – Daß Wunsch und Befriedigung sich ohne zu kurze und ohne zu lange Zwischenräume folgen, verkleinert das Leiden, welches Beide geben, zum geringsten Maaße und macht den glücklichsten Lebenslauf aus. Denn Das, was man sonst den schönsten Theil, die reinsten Freuden des Lebens nennen möchte, eben auch nur, weil es uns aus dem realen Daseyn heraushebt und uns in antheilslose Zuschauer desselben verwandelt, also das reine Erkennen, dem alles Wollen fremd bleibt, der Genuß des Schönen, die ächte Freude an der Kunst, dies ist, weil es schon seltene Anlagen erfordert, nur höchst Wenigen und auch diesen nur als ein vorübergehender Traum vergönnt: und dann macht eben diese Wenigen die höhere intellektuelle Kraft für viel größere Leiden empfänglich, als die Stumpferen je empfinden können, und stellt sie überdies einsam unter merklich von ihnen verschiedene Wesen: wodurch sich denn auch Dieses ausgleicht. Dem bei weitem größten Theile der Menschen aber sind die rein intellektuellen Genüsse nicht zugänglich; der Freude, die im reinen Erkennen liegt, sind sie fast ganz unfähig: sie sind gänzlich auf das Wollen verwiesen. Wenn daher irgend etwas ihren Antheil abgewinnen, ihnen interessant seyn soll, so muß es (dies liegt auch schon in der Wortbedeutung) irgendwie ihren Willen anregen, sei es auch nur durch eine ferne und nur in der Möglichkeit liegende Beziehung auf ihn; er darf aber nie ganz aus dem Spiele bleiben, weil ihr Daseyn bei Weitem mehr im Wollen als im Erkennen liegt: Aktion und Reaktion ist ihr einziges Element. Die naiven Aeußerungen dieser Beschaffenheit kann man aus Kleinigkeiten und alltäglichen Erscheinungen abnehmen: so z.B. schreiben sie an sehenswerthen Orten, die sie besuchen, ihre Namen hin, um so zu reagiren, um auf den Ort zu wirken, da er nicht auf sie wirkte: ferner können sie nicht leicht ein fremdes, seltenes Thier bloß betrachten, sondern müssen es reizen, necken, mit ihm spielen, um nur Aktion und Reaktion zu empfinden; ganz besonders aber zeigt jenes Bedürfniß der Willensanregung sich an der Erfindung und Erhaltung des Kartenspieles, welches recht eigentlich der Ausdruck der kläglichen Seite der Menschheit ist.

Aber was auch Natur, was auch das Glück gethan haben mag; wer man auch sei, und was man auch besitze; der dem Leben wesentliche Schmerz läßt sich nicht abwälzen:

Pêleidês d' ômôxen, idôn eis ouranon euryn.

(Pelides autem ejulavit, intuitus in coelum latum.)

Und wieder:

Zênos men pais êa Kronionos, autar oizyn

Eichon apeiresiên.

(Jovis quidem filius eram Saturnii; verum aerumnam

Habebam infinitam.)

Die unaufhörlichen Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leisten nichts weiter, als daß es seine Gestalt verändert. Diese ist ursprünglich Mangel, Noth, Sorge um die Erhaltung des Lebens. Ist es, was sehr schwer hält, geglückt, den Schmerz in dieser Gestalt zu verdrängen, so stellt er sogleich sich in tausend andern ein, abwechselnd nach Alter und Umständen, als Geschlechtstrieb, leidenschaftliche Liebe, Eifersucht, Neid, Haß, Angst, Ehrgeiz, Geldgeiz, Krankheit u.s.w. u.s.w. Kann er endlich in keiner andern Gestalt Eingang finden, so kommt er im traurigen, grauen Gewand des Ueberdrusses und der Langenweile, gegen welche dann mancherlei versucht wird. Gelingt es endlich diese zu verscheuchen, so wird es schwerlich geschehn, ohne dabei den Schmerz in einer der vorigen Gestalten wieder einzulassen und so den Tanz von vorne zu beginnen; denn zwischen Schmerz und Langerweile wird jedes Menschenleben hin und her geworfen. So niederschlagend diese Betrachtung ist, so will ich doch nebenher auf eine Seite derselben aufmerksam machen, aus der sich ein Trost schöpfen, ja vielleicht gar eine Stoische Gleichgültigkeit gegen das vorhandene eigene Uebel erlangen läßt. Denn unsere Ungeduld über dieses entsteht großentheils daraus, daß wir es als zufällig erkennen, als herbeigeführt durch eine Kette von Ursachen, die leicht anders seyn könnte. Denn über die unmittelbar nothwendigen und ganz allgemeinen Uebel, z.B. Nothwendigkeit des Alters und des Todes und vieler täglichen Unbequemlichkeiten, pflegen wir uns nicht zu betrüben. Es ist vielmehr die Betrachtung der Zufälligkeit der Umstände, die gerade auf uns ein Leiden brachten, was diesem den Stachel giebt. Wenn wir nun aber erkannt haben, daß der Schmerz als solcher dem Leben wesentlich und unausweichbar ist, und nichts weiter als seine bloße Gestalt, die Form unter der er sich darstellt, vom Zufall abhängt, daß also unser gegenwärtiges Leiden eine Stelle ausfüllt, in welche, ohne dasselbe, sogleich ein anderes träte, das Jetzt von jenem ausgeschlossen wird, daß demnach, im Wesentlichen, das Schicksal uns wenig anhaben kann; so könnte eine solche Reflexion, wenn sie zur lebendigen Ueberzeugung würde, einen bedeutenden Grad Stoischen Gleichmuths herbeiführen und die ängstliche Besorgniß um das eigene Wohl sehr vermindern. In der That aber mag eine so viel vermögende Herrschaft der Vernunft über das unmittelbar gefühlte Leiden selten oder nie sich finden.

Uebrigens könnte man durch jene Betrachtung über die Unvermeidlichkeit des Schmerzes und über das Verdrängen des einen durch den andern und das Herbeiziehn des neuen durch den Austritt des vorigen, sogar auf die paradoxe, aber nicht ungereimte Hypothese geleitet werden, daß in jedem Individuum das Maaß des ihm wesentlichen Schmerzes durch seine Natur ein für alle Mal bestimmt wäre, welches Maaß weder leer bleiben, noch überfüllt werden könnte, wie sehr auch die Form des Leidens wechseln mag. Sein Leiden und Wohlseyn wäre demnach gar nicht von außen, sondern eben nur durch jenes Maaß, jene Anlage, bestimmt, welche zwar durch das physische Befinden einige Ab- und Zunahme zu verschiedenen Zeiten erfahren möchte, im Ganzen aber doch die selbe bliebe und nichts Anderes wäre, als was man sein Temperament nennt, oder genauer, der Grad in welchem er, wie Plato es im ersten Buch der Republik ausdrückt, eukolos oder dyskolos, d.i. leichten oder schweren Sinnes wäre. – Für diese Hypothese spricht nicht nur die bekannte Erfahrung, daß große Leiden alle kleineren gänzlich unfühlbar machen, und umgekehrt, bei Abwesenheit großer Leiden, selbst die kleinsten Unannehmlichkeiten uns quälen und verstimmen; sondern die Erfahrung lehrt auch, daß, wenn ein großes Unglück, bei dessen bloßen Gedanken wir schauderten, nun wirklich eingetreten ist, dennoch unsere Stimmung, sobald wir den ersten Schmerz überstanden haben, im Ganzen ziemlich unverändert dasteht; und auch umgekehrt, daß nach dem Eintritt eines lang ersehnten Glückes, wir uns im Ganzen und anhaltend nicht merklich wohler und behaglicher fühlen als vorher. Bloß der Augenblick des Eintritts jener Veränderungen bewegt uns ungewöhnlich stark als tiefer Jammer, oder lauter Jubel; aber Beide verschwinden bald, weil sie auf Täuschung beruhten. Denn sie entstehn nicht über den unmittelbar gegenwärtigen Genuß oder Schmerz, sondern nur über die Eröffnung einer neuen Zukunft, die darin anticipirt wird. Nur dadurch, daß Schmerz oder Freude von der Zukunft borgten, konnten sie so abnorm erhöht werden, folglich nicht auf die Dauer. – Für die aufgestellte Hypothese, der zufolge, wie im Erkennen, so auch im Gefühl des Leidens oder Wohlseyns ein sehr großer Theil subjektiv und a priori bestimmt wäre, können noch als Belege die Bemerkungen angeführt werden, daß der menschliche Frohsinn, oder Trübsinn, augenscheinlich nicht durch äußere Umstände, durch Reichthum oder Stand, bestimmt wird; da wir wenigstens eben so viele frohe Gesichter unter den Armen, als unter den Reichen antreffen: ferner, daß die Motive, auf welche der Selbstmord erfolgt, so höchst verschieden sind; indem wir kein Unglück angeben können, das groß genug wäre, um ihn nur mit vieler Wahrscheinlichkeit, bei jedem Charakter, herbeizuführen, und wenige, die so klein wären, daß nicht ihnen gleichwiegende ihn schon veranlaßt hätten. Wenn nun gleich der Grad unserer Heiterkeit oder Traurigkeit nicht zu allen Zeiten der selbe ist; so werden wir, dieser Ansicht zufolge, es nicht dem Wechsel äußerer Umstände, sondern dem des Innern Zustandes, des physischen Befindens, zuschreiben. Denn, wann eine wirkliche, wiewohl immer nur temporäre, Steigerung unserer Heiterkeit, selbst bis zur Freudigkeit, eintritt; so pflegt sie ohne allen äußern Anlaß sich einzufinden. Zwar sehn wir oft unsern Schmerz nur aus einem bestimmten äußern Verhältniß hervorgehn, und sind sichtbarlich nur durch dieses gedrückt und betrübt: wir glauben dann, daß wenn nur dieses gehoben wäre, die größte Zufriedenheit eintreten müßte. Allein dies ist Täuschung. Das Maaß unsers Schmerzes und Wohlseyns im Ganzen ist, nach unserer Hypothese, für jeden Zeitpunkt subjektiv bestimmt, und in Beziehung auf dasselbe ist jenes äußere Motiv zur Betrübniß nur was für den Leib ein Vesikatorium, zu dem sich alle, sonst vertheilten bösen Säfte hinziehn. Der in unserm Wesen, für diese Zeitperiode, begründete und daher unabwälzbare Schmerz wäre, ohne jene bestimmte äußere Ursache des Leidens, an hundert Punkten vertheilt und erschiene in Gestalt von hundert kleinen Verdrießlichkeiten und Grillen über Dinge, die wir jetzt ganz übersehn, weil unsere Kapacität für den Schmerz schon durch jenes Hauptübel ausgefüllt ist, welches alles sonst zerstreute Leiden auf einen Punkt koncentrirt hat. Diesem entspricht auch die Beobachtung, daß, wenn eine große, uns beklemmende Besorgniß endlich, durch den glücklichen Ausgang, uns von der Brust gehoben wird, alsbald an ihre Stelle eine andere tritt, deren ganzer Stoff schon vorher dawar, jedoch nicht als Sorge ins Bewußtseyn kommen konnte, weil dieses keine Kapacität dafür übrig hatte, weshalb dieser Sorgestoff bloß als dunkle unbemerkte Nebelgestalt an dessen Horizonts äußerstem Ende stehn blieb. Jetzt aber, da Platz geworden, tritt sogleich dieser fertige Stoff heran und nimmt den Thron der herrschenden (prytaneuousa) Besorgniß des Tages ein: wenn er nun auch, der Materie nach, sehr viel leichter ist, als der Stoff jener verschwundenen Besorgniß; so weiß er doch sich so aufzublähen, daß er ihr an scheinbarer Größe gleichkommt und so als Hauptbesorgniß des Tages den Thron vollkommen ausfüllt.

Unmäßige Freude und sehr heftiger Schmerz finden sich immer nur in der selben Person ein: denn Beide bedingen sich wechselseitig und sind auch gemeinschaftlich durch große Lebhaftigkeit des Geistes bedingt. Beide werden, wie wir soeben fanden, nicht durch das rein Gegenwärtige, sondern durch Anti-cipation der Zukunft hervorgebracht. Da aber der Schmerz dem Leben wesentlich ist und auch seinem Grade nach durch die Natur des Subjekts bestimmt ist, daher plötzliche Veränderungen, weil sie immer äußere sind, seinen Grad eigentlich nicht ändern können; so liegt dem übermäßigen Jubel oder Schmerz immer ein Irrthum und Wahn zum Grunde: folglich ließen jene beiden Ueberspannungen des Gemüths sich durch Einsicht vermeiden. Jeder unmäßige Jubel (exultatio, insolens laetitia) beruht immer auf dem Wahn, etwas im Leben gefunden zu haben, was gar nicht darin anzutreffen ist, nämlich dauernde Befriedigung der quälenden, sich stets neu gebärenden Wünsche, oder Sorgen. Von jedem einzelnen Wahn dieser Art muß man später unausbleiblich zurüchgebracht werden und ihn dann, wann er verschwindet, mit eben so bittern Schmerzen bezahlen, als sein Eintritt Freude verursachte. Er gleicht insofern durchaus einer Höhe, von der man nur durch Fall wieder herab kann; daher man sie vermeiden sollte: und jeder plötzliche, übermäßige Schmerz ist eben nur der Fall von so einer Höhe, das Verschwinden eines solchen Wahnes, und daher durch ihn bedingt. Man könnte folglich Beide vermeiden, wenn man es über sich vermöchte, die Dinge stets im Ganzen und in ihrem Zusammenhang völlig klar zu übersehn und sich standhaft zu hüten, ihnen die Farbe wirklich zu leihen, die man wünschte, daß sie hätten. Die Stoische Ethik gieng hauptsächlich darauf aus, das Gemüth von allem solchen Wahn und dessen Folgen zu befreien, und ihm statt dessen unerschütterlichen Gleichmuth zu geben. Von dieser Einsicht ist Horatius erfüllt, in der bekannten Ode:

Aequam memento rebus in arduis

Servare mentem, non secus m bonis

Ab insolenti temperatam

Laetitia. –

Meistens aber verschließen wir uns der, einer bittern Arzenei zu vergleichenden Erkenntniß, daß das Leiden dem Leben wesentlich ist und daher nicht von außen auf uns einströmt, sondern Jeder die unversiegbare Quelle desselben in seinem eigenen Innern herumträgt. Wir suchen vielmehr zu dem nie von uns weichenden Schmerz stets eine äußere einzelne Ursache, gleichsam einen Vorwand; wie der Freie sich einen Götzen bildet, um einen Herrn zu haben. Denn unermüdlich streben wir von Wunsch zu Wunsch, und wenn gleich jede erlangte Befriedigung, soviel sie auch verhieß, uns doch nicht befriedigt, sondern meistens bald als beschämender Irrthum dasteht, sehn wir doch nicht ein, daß wir mit dem Faß der Danaiden schöpfen; sondern eilen zu immer neuen Wünschen:

Sed, dum abest quod avemus, id exsuperare videtur

Caetera; post aliud, quum contigit illud, avemus;

Et sitis aequo, tenet vitai semper hiantes.

(Lucr. III, 1095.)

So geht es denn entweder ins Unendliche, oder, was seltener ist und schon eine gewisse Kraft des Charakters voraussetzt, bis wir auf einen Wunsch treffen, der nicht erfüllt und doch nicht aufgegeben werden kann: dann haben wir gleichsam was wir suchten, nämlich etwas, das wir jeden Augenblick, statt unsers eigenen Wesens, als die Quelle unserer Leiden anklagen können, und wodurch wir nun mit unserm Schicksal entzweit, dafür aber mit unserer Existenz versöhnt werden, indem die Erkenntniß sich wieder entfernt, daß dieser Existenz selbst das Leiden wesentlich und wahre Befriedigung unmöglich sei. Die Folge dieser letzten Entwickelungsart ist eine etwas melancholische Stimmung, das beständige Tragen eines einzigen, großen Schmerzes und daraus entstehende Geringschätzung aller kleineren Leiden oder Freuden; folglich eine schon würdigere Erscheinung, als das stete Haschen nach immer andern Truggestalten, welches viel gewöhnlicher ist.

§ 58

Alle Befriedigung, oder was man gemeinhin Glück nennt, ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durchaus nie positiv. Es ist nicht eine ursprünglich und von selbst auf uns kommende Beglückung, sondern muß immer die Befriedigung eines Wunsches seyn. Denn Wunsch, d.h. Mangel, ist die vorhergehende Bedingung jedes Genusses. Mit der Befriedigung hört aber der Wunsch und folglich der Genuß auf. Daher kann die Befriedigung oder Beglückung nie mehr seyn, als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Noth: denn dahin gehört nicht nur jedes wirkliche, offenbare Leiden, sondern auch jeder Wunsch, dessen Importunität unsere Ruhe stört, ja sogar auch die ertödtende Langeweile, die uns das Daseyn zur Last macht. – Nun aber ist es so schwer, irgend etwas zu erreichen und durchzusetzen: jedem Vorhaben stehn Schwierigkeiten und Bemühungen ohne Ende entgegen, und bei jedem Schritt häufen sich die Hindernisse. Wann aber endlich Alles überwunden und erlangt ist, so kann doch nie etwas Anderes gewonnen seyn, als daß man von irgend einem Leiden, oder einem Wunsche, befreit ist, folglich nur sich so befindet, wie vor dessen Eintritt. – Unmittelbar gegeben ist uns immer nur der Mangel, d.h. der Schmerz. Die Befriedigung aber und den Genuß können wir nur mittelbar erkennen, durch Erinnerung an das vorhergegangene Leiden und Entbehren, welches bei seinem Eintritt aufhörte. Daher kommt es, daß wir der Güter und Vortheile, die wir wirklich besitzen, gar nicht recht inne werden, noch sie schätzen, sondern nicht anders meinen, als eben es müsse so seyn: denn sie beglücken immer nur negativ, Leiden abhaltend. Erst nachdem wir sie verloren haben, wird uns ihr Werth fühlbar: denn der Mangel, das Entbehren, das Leiden ist das Positive, sich unmittelbar Ankündigende. Daher auch freut uns die Erinnerung überstandener Noth, Krankheit, Mangel u. dgl., weil solche das einzige Mittel die gegenwärtigen Güter zu genießen ist. Auch ist nicht zu leugnen, daß in dieser Hinsicht und auf diesem Standpunkt des Egoismus, der die Form des Lebenswollens ist, der Anblick oder die Schilderung fremder Leiden uns auf eben jenem Wege Befriedigung und Genuß giebt, wie es Lukretius schön und offenherzig ausspricht, im Anfang des zweiten Buches:

Suave, mari magno, turbantibus aequora ventis,

E terra magnum alterius spectare laborem:

Non, quia vexari quemquam est jucunda voluptas;

Sed, quibus ipse malis careas, quia cernere suave est.

Jedoch wird sich uns weiterhin zeigen, daß diese Art der Freude, durch so vermittelte Erkenntniß seines Wohlseyns, der Quelle der eigentlichen positiven Bosheit sehr nahe liegt.

Daß alles Glück nur negativer, nicht positiver Natur ist, daß es eben deshalb nicht dauernde Befriedigung und Beglückung seyn kann, sondern immer nur von einem Schmerz oder Mangel erlöst, auf welchen entweder ein neuer Schmerz, oder auch languor, leeres Sehnen und Langeweile folgen muß; dies findet einen Beleg auch in jenem treuen Spiegel des Wesens der Welt und des Lebens, in der Kunst, besonders in der Poesie. Jede epische, oder dramatische Dichtung nämlich kann immer nur ein Ringen, Streben und Kämpfen um Glück, nie aber das bleibende und vollendete Glück selbst darstellen. Sie führt ihren Helden durch tausend Schwierigkeiten und Gefahren bis zum Ziel: sobald es erreicht ist, läßt sie schnell den Vorhang fallen. Denn es bliebe ihr jetzt nichts übrig, als zu zeigen, daß das glänzende Ziel, in welchem der Held das Glück zu finden wähnte, auch ihn nur geneckt hatte, und er nach dessen Erreichung nicht besser daran war, als zuvor. Weil ein achtes, bleibendes Glück nicht möglich ist, kann es kein Gegenstand der Kunst seyn. Zwar ist der Zweck des Idylls wohl eigentlich die Schilderung eines solchen: allein man sieht auch, daß das Idyll als solches sich nicht halten kann. Immer wird es dem Dichter unter den Händen entweder episch, und ist dann nur ein sehr unbedeutendes Epos, aus kleinen Leiden, kleinen Freuden und kleinen Bestrebungen zusammengesetzt: dies ist der häufigste Fall; oder aber es wird zur bloß beschreibenden Poesie, schildert die Schönheit der Natur, d.h. eigentlich das reine willensfreie Erkennen, welches freilich auch in der That das einzige reine Glück ist, dem weder Leiden noch Bedürfniß vorhergeht, noch auch Reue, Leiden, Leere, Ueberdruß nothwendig folgt: nur kann dieses Glück nicht das ganze Leben füllen, sondern bloß Augenblicke desselben. – Was wir in der Poesie sehn, finden wir in der Musik wieder, in deren Melodie wir ja die allgemein ausgedrückte innerste Geschichte des sich selbst bewußten Willens, das geheimste Leben, Sehnen, Leiden und Freuen, das Ebben und Fluthen des menschlichen Herzens wiedererkannt haben. Die Melodie ist immer ein Abweichen vom Grundton, durch tausend wunderliche Irrgänge, bis zur schmerzlichsten Dissonanz, darauf sie endlich den Grundton wiederfindet, der die Befriedigung und Beruhigung des Willens ausdrückt, mit welchem aber nachher weiter nichts mehr zu machen ist und dessen längeres Anhalten nur lästige und nichtssagende Monotonie wäre, der Langenweile entsprechend.

Alles was diese Betrachtungen deutlich machen sollten, die Unerreichbarkeit dauernder Befriedigung und die Negativität alles Glückes, findet seine Erklärung in Dem, was am Schlusse des zweiten Buches gezeigt ist: daß nämlich der Wille, dessen Objektivation das Menschenleben wie jede Erscheinung ist, ein Streben ohne Ziel und ohne Ende ist. Das Gepräge dieser Endlosigkeit finden wir auch allen Theilen seiner gesammten Erscheinung aufgedrückt, von der allgemeinsten Form dieser, der Zeit und dem Raum ohne Ende an, bis zur vollendetesten aller Erscheinungen, dem Leben und Streben des Menschen. – Man kann drei Extreme des Menschenlebens theoretisch annehmen und sie als Elemente des wirklichen Menschenlebens betrachten. Erstlich, das gewaltige Wollen, die großen Leidenschaften (Radscha-Guna). Es tritt hervor in den großen historischen Charakteren; es ist geschildert im Epos und Drama: es kann sich aber auch in der kleinen Sphäre zeigen, denn die Größe der Objekte mißt sich hier nur nach dem Grade, in welchem sie den Willen bewegen, nicht nach ihren äußeren Verhältnissen. Sodann zweitens das reine Erkennen, das Auffassen der Ideen, bedingt durch Befreiung der Erkenntniß vom Dienste des Willens: das Leben des Genius (Satwa-Guna). Endlich drittens, die größte Lethargie des Willens und damit der an ihn gebundenen Erkenntniß, leeres Sehnen, lebenerstarrende Langeweile (Tama-Guna). Das Leben des Individuums, weit entfernt in einem dieser Extreme zu verharren, berührt sie nur selten, und ist meistens nur ein schwaches und schwankendes Annähern zu dieser oder jener Seite, ein dürftiges Wollen kleiner Objekte, stets wiederkehrend und so der Langenweile entrinnend. – Es ist wirklich unglaublich, wie nichtssagend und bedeutungsleer, von außen gesehn, und wie dumpf und besinnungslos, von innen empfunden, das Leben der allermeisten Menschen dahinfließt. Es ist ein mattes Sehnen und Quälen, ein träumerisches Taumeln durch die vier Lebensalter hindurch zum Tode, unter Begleitung einer Reihe trivialer Gedanken. Sie gleichen Uhrwerken, welche aufgezogen werden und gehn, ohne zu wissen warum; und jedesmal, daß ein Mensch gezeugt und geboren worden, ist die Uhr des Menschenlebens aufs Neue aufgezogen, um jetzt ihr schon zahllose Male abgespieltes Leierstück abermals zu wiederholen, Satz vor Satz und Takt vor Takt, mit unbedeutenden Variationen. – Jedes Individuum, jedes Menschengesicht und dessen Lebenslauf ist nur ein kurzer Traum mehr des unendlichen Naturgeistes, des beharrlichen Willens zum Leben, ist nur ein flüchtiges Gebilde mehr, das er spielend hinzeichnet auf sein unendliches Blatt, Raum und Zeit, und eine gegen diese verschwindend kleine Weile bestehn läßt, dann auslöscht, neuen Platz zu machen. Dennoch, und hier liegt die bedenkliche Seite des Lebens, muß jedes dieser flüchtigen Gebilde, dieser schaalen Einfälle, vom ganzen Willen zum Leben, in aller seiner Heftigkeit, mit vielen und tiefen Schmerzen und zuletzt mit einem lange gefürchteten, endlich eintretenden bittern Tode bezahlt werden. Darum macht uns der Anblick eines Leichnams so plötzlich ernst.

Das Leben jedes Einzelnen ist, wenn man es im Ganzen und Allgemeinen übersieht und nur die bedeutsamsten Züge heraushebt, eigentlich immer ein Trauerspiel; aber im Einzelnen durchgegangen, hat es den Charakter des Lustspiels. Denn das Treiben und die Plage des Tages, die rastlose Neckerei des Augenblicks, das Wünschen und Fürchten der Woche, die Unfälle jeder Stunde, mittelst des stets auf Schabernack bedachten Zufalls, sind lauter Komödienscenen. Aber die nie erfüllten Wünsche, das vereitelte Streben, die vom Schicksal unbarmherzig zertretenen Hoffnungen, die unsäligen Irrthümer des ganzen Lebens, mit dem steigenden Leiden und Tode am Schlüsse, geben immer ein Trauerspiel. So muß, als ob das Schicksal zum Jammer unsers Daseyns noch den Spott fügen gewollt, unser Leben alle Wehen des Trauerspiels enthalten, und wir dabei doch nicht ein Mal die Würde tragischer Personen behaupten können, sondern, im breiten Detail des Lebens, unumgänglich läppische Lustspielcharaktere seyn.

So sehr nun aber auch große und kleine Plagen jedes Menschenleben füllen und in steter Unruhe und Bewegung erhalten, so vermögen sie doch nicht die Unzulänglichkeit des Lebens zur Erfüllung des Geistes, das Leere und Schaale des Daseyns zu verdecken, oder die Langeweile auszuschließen, die immer bereit ist jede Pause zu füllen, welche die Sorge läßt. Daraus ist es entstanden, daß der menschliche Geist, noch nicht zufrieden mit den Sorgen, Bekümmernissen und Beschäftigungen, die ihm die wirkliche Welt auflegt, sich in der Gestalt von tausend verschiedenen Superstitionen noch eine imaginäre Welt schafft, mit dieser sich dann auf alle Weise zu thun macht und Zeit und Kräfte an ihr verschwendet, sobald die wirkliche ihm die Ruhe gönnen will, für die er gar nicht empfänglich ist. Dieses ist daher auch ursprünglich am meisten der Fall bei den Völkern, welchen die Milde des Himmelstriches und Bodens das Leben leicht macht, vor allen bei den Hindus, dann bei den Griechen, Römern, und später bei den Italiänern, Spaniern u.s.w. – Dämonen, Götter und Heilige schafft sich der Mensch nach seinem eigenen Bilde; diesen müssen dann unablässig Opfer, Gebete, Tempelverzierungen, Gelübde und deren Lösung, Wallfahrten, Begrüßungen, Schmückung der Bilder u.s.w. dargebracht werden. Ihr Dienst verwebt sich überall mit der Wirklichkeit, ja verdunkelt diese: jedes Ereigniß des Lebens wird dann als Gegenwirkung jener Wesen aufgenommen: der Umgang mit ihnen füllt die halbe Zeit des Lebens aus, unterhält beständig die Hoffnung und wird, durch den Reiz der Täuschung, oft interessanter, als der mit wirklichen Wesen. Er ist der Ausdruck und das Symptom der doppelten Bedürftigkeit des Menschen, theils nach Hülfe und Beistand, und theils nach Beschäftigung und Kurzweil: und wenn er auch dem erstem Bedürfniß oft gerade entgegenarbeitet, indem, bei vorkommenden Unfällen und Gefahren, kostbare Zeit und Kräfte, statt auf deren Abwendung, auf Gebete und Opfer unnütz verwendet werden; so dient er dem zweiten Bedürfniß dafür desto besser, durch jene phantastische Unterhaltung mit einer erträumten Geisterwelt: und dies ist der gar nicht zu verachtende Gewinn aller Superstitionen.

§ 59

Haben wir nunmehr durch die allerallgemeinsten Betrachtungen, durch Untersuchung der ersten elementaren Grundzüge des Menschenlebens, uns insofern a priori überzeugt, daß dasselbe, schon der ganzen Anlage nach, keiner wahren Glücksäligkeit fähig, sondern wesentlich ein vielgestaltetes Leiden und ein durchweg unsäliger Zustand ist; so könnten wir jetzt diese Ueberzeugung viel lebhafter in uns erwecken, wenn wir, mehr a posteriori verfahrend, auf die bestimmteren Fälle eingehn, Bilder vor die Phantasie bringen und in Beispielen den namenlosen Jammer schildern wollten, den Erfahrung und Geschichte darbieten, wohin man auch blicken und in welcher Rücksicht man auch forschen mag. Allein das Kapitel würde ohne Ende seyn und uns von dem Standpunkt der Allgemeinheit entfernen, welcher der Philosophie wesentlich ist. Zudem könnte man leicht eine solche Schilderung für eine bloße Deklamation über das menschliche Elend, wie sie schon oft dagewesen ist, halten und sie als solche der Einseitigkeit beschuldigen, weil sie von einzelnen Thatsachen ausgienge. Von solchem Vorwurf und Verdacht ist daher unsere ganz kalte und philosophische, vom Allgemeinen ausgehende und a priori geführte Nachweisung des im Wesen des Lebens begründeten unumgänglichen Leidens frei. Die Bestätigung a posteriori aber ist überall leicht zu haben. Jeder, welcher aus den ersten Jugendträumen erwacht ist, eigene und fremde Erfahrung beachtet, sich im Leben, in der Geschichte der Vergangenheit und des eigenen Zeitalters, endlich in den Werken der großen Dichter umgesehn hat, wird, wenn nicht irgend ein unauslöschlich eingeprägtes Vorurtheil seine Urtheilskraft lahmt, wohl das Resultat erkennen, daß diese Menschenwelt das Reich des Zufalls und des Irrthums ist, die unbarmherzig darin schalten, im Großen, wie im Kleinen, neben welchen aber noch Thorheit und Bosheit die Geißel schwingen: daher es kommt, daß jedes Bessere nur mühsam sich durchdrängt, das Edle und Weise sehr selten zur Erscheinung gelangt und Wirksamkeit oder Gehör findet, aber das Absurde und Verkehrte im Reiche des Denkens, das Platte und Abgeschmackte im Reiche der Kunst, das Böse und Hinterlistige im Reiche der Thaten, nur durch kurze Unterbrechungen gestört, eigentlich die Herrschaft behaupten; hingegen das Treffliche jeder Art immer nur eine Ausnahme, ein Fall aus Millionen ist, daher auch, wenn es sich in einem dauernden Werke kund gegeben, dieses nachher, nachdem es den Groll seiner Zeitgenossen überlebt hat, isolirt dasteht, aufbewahrt wird, gleich einem Meteorstein, aus einer andern Ordnung der Dinge, als die hier herrschende ist, entsprungen. – Was aber das Leben des Einzelnen betrifft, so ist jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte: denn jeder Lebenslauf ist, in der Regel, eine fortgesetzte Reihe großer und kleiner Unfälle, die zwar jeder möglichst verbirgt, weil er weiß, daß Andere selten Theilnahme oder Mitleid, fast immer aber Befriedigung durch die Vorstellung der Plagen, von denen sie gerade jetzt verschont sind, dabei empfinden müssen; – aber vielleicht wird nie ein Mensch, am Ende seines Lebens, wenn er besonnen und zugleich aufrichtig ist, wünschen, es nochmals durchzumachen, sondern, eher als das, viel lieber gänzliches Nichtsein erwählen. Der wesentliche Inhalt des weltberühmten Monologs im »Hamlet« ist, wenn zusammengefaßt, dieser: Unser Zustand ist ein so elender, daß gänzliches Nichtseyn ihm entschieden vorzuziehn wäre. Wenn nun der Selbstmord uns dieses wirklich darböte, so daß die Alternative »Seyn oder Nichtseyn« im vollen Sinn des Wortes vorläge; dann wäre er unbedingt zu erwählen, als eine höchst wünschenswerthe Vollendung (a consummation devoutly to be wish'd). Allein in uns ist etwas, das uns sagt, dem sei nicht so; es sei damit nicht aus, der Tod sei keine absolute Vernichtung. – Imgleichen ist, was schon der Vater der Geschichte anführt82, auch wohl seitdem nicht widerlegt worden, daß nämlich kein Mensch existirt hat, der nicht mehr als ein Mal gewünscht hätte, den folgenden Tag nicht zu erleben. Danach möchte die so oft beklagte Kürze des Lebens vielleicht gerade das Beste daran seyn. – Wenn man nun endlich noch Jedem die entsetzlichen Schmerzen und Quaalen, denen sein Leben beständig offen steht, vor die Augen bringen wollte; so würde ihn Grausen ergreifen: und wenn man den verstocktesten Optimisten durch die Krankenhospitäler, Lazarethe und chirurgische Marterkammern, durch die Gefängnisse, Folterkammern und Sklavenställe, über Schlachtfelder und Gerichtsstätten führen, dann alle die finstern Behausungen des Elends, wo es sich vor den Blicken kalter Neugier verkriecht, ihm öffnen und zum Schluß ihn in den Hungerthurm des Ugolino blicken lassen wollte; so würde sicherlich auch er zuletzt einsehn, welcher Art dieser meilleur des mondes possibles ist. Woher denn anders hat Dante den Stoff zu seiner Hölle genommen, als aus dieser unserer wirklichen Welt? Und doch ist es eine recht ordentliche Hölle geworden. Hingegen als er an die Aufgabe kam, den Himmel und seine Freuden zu schildern, da hatte er eine unüberwindliche Schwierigkeit vor sich; weil eben unsere Welt gar keine Materialien zu so etwas darbietet. Daher blieb ihm nichts übrig, als, statt der Freuden des Paradieses, die Belehrung, die ihm dort von seinem Ahnherrn, seiner Beatrix und verschiedenen Heiligen ertheilt worden, uns wiederzugeben. Hieraus aber erhellt genugsam, welcher Art diese Welt ist. Freilich ist am Menschenleben, wie an jeder schlechten Waare, die Außenseite mit falschem Schimmer überzogen: immer verbirgt sich was leidet; hingegen was Jeder an Prunk und Glanz erschwingen kann, trägt er zur Schau, und je mehr ihm innere Zufriedenheit abgeht, desto mehr wünscht er, in der Meinung Anderer als ein Beglückter dazustehn: so weit geht die Thorheit, und die Meinung Anderer ist ein Hauptziel des Strebens eines Jeden, obgleich die gänzliche Nichtigkeit desselben schon dadurch sich ausdrückt, daß in fast allen Sprachen Eitelkeit, vanitas, ursprünglich Leerheit und Nichtigkeit bedeutet. – Allein auch unter allem diesen Blendwerk können die Quaalen des Lebens sehr leicht so anwachsen, und es geschieht ja täglich, daß der sonst über Alles gefürchtete Tod mit Begierde ergriffen wird. Ja, wenn das Schicksal seine ganze Tücke zeigen will, so kann selbst diese Zuflucht dem Leidenden versperrt und er, unter den Händen ergrimmter Feinde, grausamen, langsamen Martern ohne Rettung hingegeben bleiben. Vergebens ruft dann der Gequälte seine Götter um Hülfe an: er bleibt seinem Schicksal ohne Gnade Preis gegeben. Diese Rettungslosigkeit ist aber eben nur der Spiegel der Unbezwinglichkeit seines Willens, dessen Objektität seine Person ist. – So wenig eine äußere Macht diesen Willen ändern oder aufheben kann, so wenig auch kann irgend eine fremde Macht ihn von den Quaalen befreien, die aus dem Leben hervorgehn, welches die Erscheinung jenes Willens ist. Immer ist der Mensch auf sich selbst zurückgewiesen, wie in jeder, so in der Hauptsache. Vergebens macht er sich Götter, um von ihnen zu erbetteln und zu erschmeicheln was nur die eigene Willenskraft herbeizuführen vermag. Hatte das Alte Testament die Welt und den Menschen zum Werk eines Gottes gemacht; so sah das Neue Testament, um zu lehren, daß Heil und Erlösung aus dem Jammer dieser Welt nur von ihr selbst ausgehn kann, sich genöthigt, jenen Gott Mensch werden zu lassen. Des Menschen Wille ist und bleibt es, wovon Alles für ihn abhängt. Saniassis, Märtyrer, Heilige jedes Glaubens und Namens, haben freiwillig und gern jede Marter erduldet, weil in ihnen der Wille zum Leben sich aufgehoben hatte; dann aber war sogar die langsame Zerstörung seiner Erscheinung ihnen willkommen. Doch ich will der fernem Darstellung nicht vorgreifen. – Uebrigens kann ich hier die Erklärung nicht zurückhalten, daß mir der Optimismus, wo er nicht etwan das gedankenlose Reden Solcher ist, unter deren platten Stirnen nichts als Worte herbergen, nicht bloß als eine absurde, sondern auch als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart erscheint, als ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit. – Man denke nur ja nicht etwan, daß die Christliche Glaubenslehre dem Optimismus günstig sei; da im Gegentheil in den Evangelien Welt und Uebel beinahe als synonyme Ausdrücke gebraucht werden.83

§ 60

Nachdem wir nunmehr die beiden Auseinandersetzungen, deren Dazwischentreten nothwendig war, nämlich über die Freiheit des Willens an sich, zugleich mit der Nothwendigkeit seiner Erscheinung, sodann über sein Loos in der sein Wesen abspiegelnden Welt, auf deren Erkenntniß er sich zu bejahen oder zu verneinen hat, vollendet haben; können wir diese Bejahung und Verneinung selbst, die wir oben nur allgemein aussprachen und erklärten, jetzt zu größerer Deutlichkeit erheben, indem wir die Handlungsweisen, in welchen allein sie ihren Ausdruck finden, darstellen und ihrer Innern Bedeutung nach betrachten.

Die Bejahung des Willens ist das von keiner Erkenntniß gestörte beständige Wollen selbst, wie es das Leben der Menschen im Allgemeinen ausfüllt. Da schon der Leib des Menschen die Objektität des Willens, wie er auf dieser Stufe und in diesem Individuo erscheint, ist; so ist sein in der Zeit sich entwickelndes Wollen gleichsam die Paraphrase des Leibes, die Erläuterung der Bedeutung des Ganzen und seiner Theile, ist eine andere Darstellungsweise des selben Dinges an sich, dessen Erscheinung auch schon der Leib ist. Daher können wir, statt Bejahung des Willens, auch Bejahung des Leibes sagen. Das Grundthema aller mannigfaltigen Willensakte ist die Befriedigung der Bedürfnisse, welche vorn Daseyn des Leibes in seiner Gesundheit unzertrennlich sind, schon in ihm ihren Ausdruck haben und sich zurückführen lassen auf Erhaltung des Individuums und Fortpflanzung des Geschlechts. Allein mittelbar erhalten hiedurch die verschiedenartigsten Motive Gewalt über den Willen und bringen die mannigfaltigsten Willensakte hervor. Jeder von diesen ist nur eine Probe, ein Exempel, des hier erscheinenden Willens überhaupt: welcher Art diese Probe sei, welche Gestalt das Motiv habe und ihr mittheile, ist nicht wesentlich; sondern nur, daß überhaupt gewollt wird, und mit welchem Grade der Heftigkeit, ist hier die Sache. Der Wille kann nur an den Motiven sichtbar werden, wie das Auge nur am Lichte seine Sehkraft äußert. Das Motiv überhaupt steht vor dem Willen als vielgestaltiger Proteus: es verspricht stets völlige Befriedigung, Löschung des Willensdurstes; ist es aber erreicht, so steht es gleich in anderer Gestalt da und bewegt in dieser aufs Neue den Willen, immer seinem Grade der Heftigkeit und seinem Verhältniß zur Erkenntniß gemäß, die eben durch diese Proben und Exempel als empirischer Charakter offenbar werden.

Der Mensch findet, vom Eintritt seines Bewußtseins an, sich als wollend, und in der Regel bleibt seine Erkenntniß in beständiger Beziehung zu seinem Willen. Er sucht erst die Objekte seines Wollens, dann die Mittel zu diesen, vollständig kennen zu lernen. Jetzt weiß er, was er zu thun hat, und nach anderm Wissen strebt er, in der Regel, nicht. Er handelt und treibt: das Bewußtsein, immer nach dem Ziele seines Wollens hinzuarbeiten, hält ihn aufrecht und thätig: sein Denken betrifft die Wahl der Mittel. So ist das Leben fast aller Menschen: sie wollen, wissen was sie wollen, streben danach mit so vielem Gelingen, als sie vor Verzweiflung, und so vielem Mißlingen, als sie vor Langerweile und deren Folgen schützt. Daraus geht eine gewisse Heiterkeit, wenigstens Gelassenheit hervor, an welcher Reichthum oder Armuth eigentlich nichts ändern: denn der Reiche und der Arme genießen nicht was sie haben, da dies, wie gezeigt, nur negativ wirkt; sondern was sie durch ihr Treiben zu erlangen hoffen. Sie treiben vorwärts, mit vielem Ernst, ja mit wichtiger Miene: so treiben auch die Kinder ihr Spiel. – Es ist immer eine Ausnahme, wenn so ein Lebenslauf eine Störung erleidet dadurch, daß aus einem vom Dienste des Willens unabhängigen und auf das Wesen der Welt überhaupt gerichteten Erkennen, entweder die ästhetische Aufforderung zur Beschaulichkeit, oder die ethische zur Entsagung hervorgeht. Die Meisten jagt die Noth durchs Leben, ohne sie zur Besinnung kommen zu lassen. Hingegen entzündet sich oft der Wille zu einem die Bejahung des Leibes weit übersteigenden Grade, welchen dann heftige Affekte und gewaltige Leidenschaften zeigen, in welchen das Individuum nicht bloß sein eigenes Daseyn bejaht, sondern das der übrigen verneint und aufzuheben sucht, wo es ihm im Wege steht.

Die Erhaltung des Leibes durch dessen eigene Kräfte ist ein so geringer Grad der Bejahung des Willens, daß, wenn es freiwillig bei ihm bliebe, wir annehmen könnten, mit dem Tode dieses Leibes sei auch der Wille erloschen, der in ihm erschien. Allein schon die Befriedigung des Geschlechtstriebes geht über die Bejahung der eigenen Existenz, die eine so kurze Zeit füllt, hinaus, bejaht das Leben über den Tod des Individuums, in eine unbestimmte Zeit hinaus. Die Natur, immer wahr und konsequent, hier sogar naiv, legt ganz offen die innere Bedeutung des Zeugungsaktes vor uns dar. Das eigene Bewußtsein, die Heftigkeit des Triebes, lehrt uns, daß in diesem Akt sich die entschiedenste Bejahung des Willens zum Leben, rein und ohne weitem Zusatz (etwan von Verneinung fremder Individuen) ausspricht; und nun in der Zeit und Kausalreihe, d.h. in der Natur, erscheint als Folge des Akts ein neues Leben: vor den Erzeuger stellt sich der Erzeugte, in der Erscheinung von jenem verschieden, aber an sich, oder der Idee nach, mit ihm identisch. Daher ist es dieser Akt, durch den die Geschlechter der Lebenden sich jedes zu einem Ganzen verbinden und als solches perpetuiren. Die Zeugung ist in Beziehung auf den Erzeuger nur der Ausdruck, das Symptom, seiner entschiedenen Bejahung des Willens zum Leben: in Beziehung auf den Erzeugten ist sie nicht etwan der Grund des Willens, der in ihm erscheint, da der Wille an sich weder Grund noch Folge kennt; sondern sie ist, wie alle Ursache, nur Gelegenheitsursache der Erscheinung dieses Willens zu dieser Zeit an diesem Ort. Als Ding an sich ist der Wille des Erzeugers und der des Erzeugten nicht verschieden; da nur die Erscheinung, nicht das Ding an sich, dem principio individuationis unterworfen ist. Mit jener Bejahung über den eigenen Leib hinaus, und bis zur Darstellung eines neuen, ist auch Leiden und Tod, als zur Erscheinung des Lebens gehörig, aufs Neue mitbejaht und die durch die vollkommenste Erkenntnißfähigkeit herbeigeführte Möglichkeit der Erlösung diesmal für fruchtlos erklärt. Hier liegt der tiefe Grund der Schaam über das Zeugungsgeschäft. – – Diese Ansicht ist mythisch dargestellt in dem Dogma der Christlichen Glaubenslehre, daß wir alle des Sündenfalles Adams (der offenbar nur die Befriedigung der Geschlechtslust ist) theilhaft und durch denselben des Leidens und des Todes schuldig sind. Jene Glaubenslehre geht hierin über die Betrachtung nach dem Satz vom Grunde hinaus und erkennt die Idee des Menschen, deren Einheit, aus ihrem Zerfallen in unzählige Individuen, durch das alle zusammenhaltende Band der Zeugung wiederhergestellt wird. Diesem zufolge sieht sie jedes Individuum einerseits als identisch mit dem Adam, dem Repräsentanten der Bejahung des Lebens, an, und insofern als der Sünde (Erbsünde), dem Leiden und dem Tode anheimgefallen: andererseits zeigt ihr die Erkenntniß der Idee auch jedes Individuum als identisch mit dem Erlöser, dem Repräsentanten der Verneinung des Willens zum Leben, und insofern seiner Selbstaufopferung theilhaft, durch sein Verdienst erlöst, und gerettet aus den Banden der Sünde und des Todes, d.i. der Welt (Röm. 5, 12-21).

Eine andere mythische Darstellung unserer Ansicht von der Geschlechtsbefriedigung als der Bejahung des Willens zum Leben über das individuelle Leben hinaus, als einer erst dadurch konsummirten Anheimfallung an dasselbe, oder gleichsam als einer erneuerten Verschreibung an das Leben, ist der Griechische Mythos von der Proserpina, der die Rückkehr aus der Unterwelt noch möglich war, so lange sie die Früchte der Unterwelt nicht gekostet, die aber durch den Genuß des Granatapfels jener gänzlich anheimfällt. Aus Goethes unvergleichlicher Darstellung dieses Mythos spricht jener Sinn desselben sehr deutlich, besonders wann, sogleich nach dem Genuß des Granatapfels, plötzlich der unsichtbare Chor der Parzen einfällt:

»Du bist unser!

Nüchtern solltest wiederkehren:

Und der Biß des Apfels macht dich unser!«

Triumph der Empfindsamkeit, IV.

Bemerkenswerth ist es, daß Klemens Alexandrinus (Strom., III, c. 15) die Sache durch das selbe Bild und den selben Ausdruck bezeichnet: Hoi men eunouchisantes heautous apo pasês hamartias, dia tên basileian tôn ouranôn, makarioi houtoi eisin, hoi tou kosmou nêsteuontes. (Qui se castrarunt ab omni peccato, propter regnum coelorum, ii sunt beati, a mundo jejunantes.)

Als die entschiedene, stärkste Bejahung des Lebens bestätigt sich der Geschlechtstrieb auch dadurch, daß er dem natürlichen Menschen, wie dem Thier, der letzte Zweck, das höchste Ziel seines Lebens ist. Selbsterhaltung ist sein erstes Streben, und sobald er für diese gesorgt hat, strebt er nur nach Fortpflanzung des Geschlechts: mehr kann er als bloß natürliches Wesen nicht anstreben. Auch die Natur, deren inneres Wesen der Wille zum Leben selbst ist, treibt mit aller ihrer Kraft den Menschen, wie das Thier, zur Fortpflanzung. Danach hat sie mit dem Individuum ihren Zweck erreicht und ist ganz gleichgültig gegen dessen Untergang, da ihr, als dem Willen zum Leben, nur an der Erhaltung der Gattung gelegen, das Individuum ihr nichts ist. – Weil im Geschlechtstrieb das innere Wesen der Natur, der Wille zum Leben, sich am stärksten ausspricht, sagten die alten Dichter und Philosophen – Hesiodos und Parmenides – sehr bedeutungsvoll, der Eros sei das Erste, das Schaffende, das Princip, aus dem alle Dinge hervorgiengen. (Man sehe Aristot. Metaph., I, 4.) Pherekydes hat gesagt: Eis erôta metabeblêsthai ton Dia, mellonta dêmiourgein. (Jovem, cum mundum fabricare vellet, in cupidinem sese transformasse.) Proclus ad Plat. Tim., L. III. – Eine ausführliche Behandlung dieses Gegenstandes haben wir neuerlich erhalten von G. F. Schoemann, »De cupidine cosmogonico«, 1852. Auch die Maja der Inder, deren Werk und Gewebe die ganze Scheinwelt ist, wird durch amor paraphrasirt.

Die Genitalien sind viel mehr als irgend ein anderes äußeres Glied des Leibes bloß dem Willen und gar nicht der Erkenntniß unterworfen: ja, der Wille zeigt sich hier fast so unabhängig von der Erkenntniß, wie in den, auf Anlaß bloßer Reize, dem vegetativen Leben, der Reproduktion, dienenden Theilen, in welchen der Wille blind wirkt, wie in der erkenntnißlosen Natur. Denn die Zeugung ist nur die auf ein neues Individuum übergehende Reproduktion, gleichsam die Reproduktion auf der zweiten Potenz, wie der Tod nur die Exkretion auf der zweiten Potenz ist. – Diesem allen zufolge sind die Genitalien der eigentliche Brennpunkt des Willens und folglich der entgegengesetzte Pol des Gehirns, des Repräsentanten der Erkenntniß, d.i. der andern Seite der Welt, der Welt als Vorstellung. Jene sind das lebenerhaltende, der Zeit endloses Leben zusichernde Princip; in welcher Eigenschaft sie bei den Griechen im Phallus, bei den Hindu im Lingam verehrt wurden, welche also das Symbol der Bejahung des Willens sind. Die Erkenntniß dagegen giebt die Möglichkeit der Aufhebung des Wollens, der Erlösung durch Freiheit, der Ueberwindung und Vernichtung der Welt.

Wir haben schon am Anfang dieses vierten Buches ausführlich betrachtet, wie der Wille zum Leben in seiner Bejahung sein Verhältniß zum Tode anzusehn hat, dieser nämlich ihn nicht anficht, weil er als etwas selbst schon im Leben Begriffenes und dazu Gehöriges dasteht, dem sein Gegensatz, die Zeugung, völlig das Gleichgewicht hält und dem Willen zum Leben, trotz dem Tode des Individuums, auf alle Zeit das Leben sichert und verbürgt; welches auszudrücken die Inder dem Todesgott Schiwa den Lingam zum Attribut gaben. Wir haben daselbst auch ausgeführt, wie der mit vollkommener Besonnenheit auf dem Standpunkt entschiedener Bejahung des Lebens Stehende dem Tode furchtlos entgegensieht. Daher hier nichts mehr davon. Ohne klare Besonnenheit stehn die meisten Menschen auf diesem Standpunkt und bejahen fortdauernd das Leben. Als Spiegel dieser Bejahung steht die Welt da, mit unzähligen Individuen, in endloser Zeit und endlosem Raum, und endlosem Leiden, zwischen Zeugung und Tod ohne Ende. – Es ist hierüber jedoch von keiner Seite weiter eine Klage zu erheben: denn der Wille führt das große Trauer- und Lustspiel auf eigene Kosten auf, und ist auch sein eigener Zuschauer. Die Welt ist gerade eine solche, weil der Wille, dessen Erscheinung sie ist, ein solcher ist, weil er so will. Für die Leiden ist die Rechtfertigung die, daß der Wille auch auf diese Erscheinung sich selbst bejaht; und diese Bejahung ist gerechtfertigt und ausgeglichen dadurch, daß er die Leiden trägt. Es eröffnet sich uns schon hier ein Blick auf die ewige Gerechtigkeit, im Ganzen; wir werden sie weiterhin näher und deutlicher auch im Einzelnen erkennen. Doch wird zuvor noch von der zeitlichen oder menschlichen Gerechtigkeit geredet werden müssen84.

§ 61

Wir erinnern uns aus dem zweiten Buch, daß in der ganzen Natur, auf allen Stufen der Objektivation des Willens, nothwendig ein beständiger Kampf zwischen den Individuen aller Gattungen war, und eben dadurch sich ein innerer Widerstreit des Willens zum Leben gegen sich selbst ausdrückte. Auf der höchsten Stufe der Objektivation wird, wie alles Andere, auch jenes Phänomen sich in erhöhter Deutlichkeit darstellen und sich daher weiter entziffern lassen. Zu diesem Zweck wollen wir zunächst dem Egoismus, als dem Ausgangspunkt alles Kampfes, in seiner Quelle nachspüren.

Wir haben Zeit und Raum, weil nur durch sie und in ihnen Vielheit des Gleichartigen möglich ist, das principium individuationis genannt. Sie sind die wesentlichen Formen der natürlichen, d.h. dem Willen entsprossenen Erkenntniß. Daher wird überall der Wille sich in der Vielheit von Individuen erscheinen. Aber diese Vielheit trifft nicht ihn, den Willen als Ding an sich, sondern nur seine Erscheinungen: er ist in jeder von diesen ganz und ungetheilt vorhanden und erblickt um sich herum das zahllos wiederholte Bild seines eigenen Wesens. Dieses selbst aber, also das wirklich Reale, findet er unmittelbar nur in seinem Innern. Daher will Jeder Alles für sich, will Alles besitzen, wenigstens beherrschen, und was sich ihm widersetzt, möchte er vernichten. Hiezu kommt, bei den erkennenden Wesen, daß das Individuum Träger des erkennenden Subjekts und dieses Träger der Welt ist; d.h. daß die ganze Natur außer ihm, also auch alle übrigen Individuen, nur in seiner Vorstellung existiren, er sich ihrer stets nur als seiner Vorstellung, also bloß mittelbar und als eines von seinem eigenen Wesen und Daseyn Abhängigen bewußt ist; da mit seinem Bewußtsein ihm nothwendig auch die Welt untergeht, d.h. ihr Seyn und Nichtsein gleichbedeutend und ununterscheidbar wird. Jedes erkennende Individuum ist also in Wahrheit und findet sich als den ganzen Willen zum Leben, oder das Ansich der Welt selbst, und auch als die ergänzende Bedingung der Welt als Vorstellung, folglich als einen Mikrokosmos, der dem Makrokosmos gleich zu schätzen ist. Die immer und überall wahrhafte Natur selbst giebt ihm, schon ursprünglich und unabhängig von aller Reflexion, diese Erkenntniß einfach und unmittelbar gewiß. Aus den angegebenen beiden nothwendigen Bestimmungen nun erklärt es sich, daß jedes in der gränzenlosen Welt gänzlich verschwindende und zu Nichts verkleinerte Individuum dennoch sich zum Mittelpunkt der Welt macht, seine eigene Existenz und Wohlseyn vor allem Andern berücksichtigt, ja, auf dem natürlichen Standpunkte, alles Andere dieser aufzuopfern bereit ist, bereit ist die Welt zu vernichten, um nur sein eigenes Selbst, diesen Tropfen im Meer, etwas länger zu erhalten. Diese Gesinnung ist der Egoismus, der jedem Dinge in der Natur wesentlich ist. Eben er aber ist es, wodurch der innere Widerstreit des Willens mit sich selbst zur fürchterlichen Offenbarung gelangt. Denn dieser Egoismus hat seinen Bestand und Wesen in jenem Gegensatz des Mikrokosmos und Makrokosmos, oder darin, daß die Objektivation des Willens das principium individuationis zur Form hat und dadurch der Wille in unzähligen Individuen sich auf gleiche Weise erscheint und zwar in jedem derselben nach beiden Seiten (Wille und Vorstellung) ganz und vollständig. Während also jedes sich selber als der ganze Wille und das ganze Vorstellende unmittelbar gegeben ist, sind die übrigen ihm zunächst nur als seine Vorstellungen gegeben; daher geht ihm sein eigenes Wesen und dessen Erhaltung allen andern zusammen vor. Auf seinen eigenen Tod blickt Jeder als auf der Welt Ende, während er den seiner Bekannten als eine ziemlich gleichgültige Sache vernimmt, wenn er nicht etwan persönlich dabei betheiligt ist. In dem auf den höchsten Grad gesteigerten Bewußtsein, dem menschlichen, muß, wie die Erkenntniß, der Schmerz, die Freude, so auch der Egoismus den höchsten Grad erreicht haben und der durch ihn bedingte Widerstreit der Individuen auf das entsetzlichste hervortreten. Dies sehn wir denn auch überall vor Augen, im Kleinen wie im Großen, sehn es bald von der schrecklichen Seite, im Leben großer Tyrannen und Bösewichter und in weltverheerenden Kriegen, bald von der lächerlichen Seite, wo es das Thema des Lustspiels ist und ganz besonders im Eigendünkel und Eitelkeit hervortritt, welche, so wie kein Anderer, Rochefoucault aufgefaßt und in abstracto dargestellt hat: wir sehn es in der Weitgeschichte und in der eigenen Erfahrung. Aber am deutlichsten tritt es hervor, sobald irgend ein Haufen Menschen von allem Gesetz und Ordnung entbunden ist: da zeigt sich sogleich aufs Deutlichste das bellum omnium contra omnes, welches Hobbes, im ersten Kapitel de cive, trefflich geschildert hat. Es zeigt sich, wie nicht nur Jeder dem Andern zu entreißen sucht was er selbst haben will; sondern sogar oft Einer, um sein Wohlseyn durch einen unbedeutenden Zuwachs zu vermehren, das ganze Glück oder Leben des Andern zerstört. Dies ist der höchste Ausdruck des Egoismus, dessen Erscheinungen, in dieser Hinsicht, nur noch übertroffen werden von denen der eigentlichen Bosheit, die ganz uneigennützig den Schaden und Schmerz Anderer, ohne allen eigenen Vortheil, sucht; davon bald die Rede seyn wird. – Mit dieser Aufdeckung der Quelle des Egoismus vergleiche man die Darstellung desselben, in meiner Preisschrift über das Fundament der Moral, § 14.

Eine Hauptquelle des Leidens, welches wir oben als allem Leben wesentlich und unvermeidlich gefunden haben, Ist, sobald es wirklich und in bestimmter Gestalt eintritt, jene Eris, der Kampf aller Individuen, der Ausdruck des Widerspruchs, mit welchem der Wille zum Leben im Innern behaftet ist, und der durch das principium individuationis zur Sichtbarkeit gelangt: ihn unmittelbar und grell zu veranschaulichen sind Thierkämpfe das grausame Mittel. In diesem ursprünglichen Zwiespalt liegt eine unversiegbare Quelle des Leidens, trotz den Vorkehrungen, die man dagegen getroffen hat, und welche wir sogleich näher betrachten werden.