Kapitel 14. Ueber die Gedankenassociation

Die Gegenwart der Vorstellungen und Gedanken in unserm Bewußtseyn ist dem Satze vom Grund, in seinen verschiedenen Gestalten, so streng unterworfen, wie die Bewegung der Körper dem Gesetze der Kausalität. So wenig ein Körper ohne Ursache in Bewegung gerathen kann, ist es möglich, daß ein Gedanke ohne Anlaß ins Bewußtseyn trete. Dieser Anlaß ist nun entweder ein äußerer, also ein Eindruck auf die Sinne; oder ein innerer, also selbst wieder ein Gedanke, der einen andern herbeiführt, vermöge der Association. Diese wieder beruht entweder auf einem Verhältniß von Grund und Folge zwischen beiden; oder aber auf Aehnlichkeit, auch bloßer Analogie; oder endlich auf Gleichzeitigkeit ihrer ersten Auffassung, welche wieder in der räumlichen Nachbarschaft ihrer Gegenstände ihren Grund haben kann. Die beiden letztern Fälle bezeichnet das Wort à propos. Für den intellektuellen Werth eines Kopfes ist das Vorherrschen des einen dieser drei Bänder der Gedankenassociation vor den andern charakteristisch: das zuerst genannte wird in den denkenden und gründlichen, das zweite in den witzigen, geistreichen, poetischen, das letzte in den beschränkten Köpfen vorherrschen. Nicht weniger charakteristisch ist der Grad der Leichtigkeit, mit welcher ein Gedanke andere, in irgend einer Beziehung zu ihm stehende, hervorruft: sie macht die Regsamkeit des Geistes aus. Aber die Unmöglichkeit des Eintritts eines Gedankens ohne seinen genügenden Anlaß, selbst beim stärksten Willen ihn hervorzurufen, bezeugen alle die Fälle, wo wir vergeblich bemüht sind, uns auf etwas zu besinnen, und nun den ganzen Vorrath unserer Gedanken durchprobiren, um irgend einen zu finden, der mit dem gesuchten associirt sei: finden wir jenen, so ist auch dieser da. Stets sucht wer eine Erinnerung hervorrufen will, zunächst nach einem Faden, an dem sie durch die Gedankenassociation hängt. Hierauf beruht die Mnemonik: sie will zu allen aufzubewahrenden Begriffen, Gedanken, oder Worten, uns mit leicht zu findenden Anlässen versehn. Das Schlimme jedoch ist, daß doch auch diese Anlässe selbst erst wiedergefunden werden müssen und hiezu wieder eines Anlasses bedürfen. Wie viel bei der Erinnerung der Anlaß leistet, läßt sich daran nachweisen, daß Einer, der in einem Anekdotenbuch fünfzig Anekdoten gelesen und dann es weggelegt hat, gleich darauf bisweilen nicht auf eine einzige sich besinnen kann: kommt jedoch ein Anlaß, oder fällt ihm ein Gedanke ein, der irgend eine Analogie mit einer jener Anekdoten hat; so fällt diese ihm sogleich ein; und so gelegentlich alle fünfzig. Das Selbe gilt von Allem, was man liest. – Im Grund beruht unser unmittelbares, d.h. nicht durch mnemonische Künste vermitteltes, Wortgedächtniß, und mit diesem unsere ganze Sprachfähigkeit, auf der unmittelbaren Gedankenassociation. Denn das Erlernen der Sprache besteht darin, daß wir, auf immer, einen Begriff mit einem Worte so zusammenketten, daß bei diesem Begriff stets zugleich dieses Wort, und bei diesem Wort dieser Begriff uns einfällt. Den selben Proceß haben wir nachmals bei Erlernung jeder neuen Sprache zu wiederholen. Erlernen wir jedoch eine Sprache bloß zum passiven, nicht zum aktiven Gebrauch, d.h. zum Lesen, nicht zum Sprechen, wie z.B. meistens das Griechische; so ist die Verkettung einseitig, indem beim Wort uns der Begriff, nicht aber durchweg beim Begriff das Wort einfällt. Der selbe Hergang, wie bei der Sprache, wird im Einzelnen augenfällig bei Erlernung jedes neuen Eigennamens. Bisweilen aber trauen wir uns nicht zu, mit dem Gedanken an diese Person, oder Stadt, Fluß, Berg, Pflanze, Thier u.s.w. den Namen derselben unmittelbar so fest zu verknüpfen, daß er ihn von selbst herbeizöge: alsdann helfen wir uns mnemonisch und verknüpfen das Bild der Person, oder Sache, mit irgend einer anschaulichen Eigenschaft, deren Name im ihrigen vorkommt. Jedoch ist dies nur ein einstweiliges Gerüst zur Stützung: späterhin lassen wir es fallen, indem die Gedankenassociation eine unmittelbare wird.

Das Suchen nach einem Faden der Erinnerung zeigt sich in eigenthümlicher Art, wenn es ein Traum ist, den wir beim Erwachen vergessen haben, als wo wir vergeblich nach Dem suchen, was noch vor wenigen Minuten uns mit der Macht der hellsten Gegenwart beschäftigte, jetzt aber ganz entwichen ist; weshalb wir dann nach irgend einem zurückgebliebenen Eindruck haschen, an dem das Fädchen hienge, welches, vermöge der Association, jenen Traum wieder in unser Bewußtsein zurückziehn könnte. Selbst aus dem magnetisch-somnambulen Schlafe soll bisweilen Erinnerung möglich seyn, durch ein im Wachen vorgefundenes sinnliches Zeichen: nach Kieser, »Tellurismus«, Bd. II, § 271. Auf der selben Unmöglichkeit des Eintritts eines Gedankens ohne seinen Anlaß beruht es, daß, wenn wir uns vorsetzen, zu einer bestimmten Zeit irgend etwas zu thun, dieses nur dadurch geschehn kann, daß wir entweder bis dahin an nichts Anderes denken, oder aber zur bestimmten Zeit durch irgend etwas daran erinnert werden, welches entweder ein äußerer, dazu vorherbereiteter Eindruck, oder auch ein selbst wieder gesetzmäßig herbeigeführter Gedanke seyn kann. Beides gehört dann in die Klasse der Motive. – Jeden Morgen, beim Erwachen, ist das Bewußtseyn eine tabula rasa, die sich aber schnell wieder füllt. Zunächst nämlich ist es die jetzt wieder eintretende Umgebung des vorigen Abends, welche uns an das erinnert, was wir unter eben dieser Umgebung gedacht haben: daran knüpfen sich die Ereignisse des vorigen Tages, und so ruft ein Gedanke schnell den andern hervor, bis Alles, was uns gestern beschäftigte, wieder daist. Darauf, daß dies gehörig geschehe, beruht die Gesundheit des Geistes, im Gegensatz des Wahnsinns, der, wie im dritten Buche gezeigt wird, eben darin besteht, daß große Lücken im Zusammenhange der Rückerinnerung Statt haben. Wie gänzlich aber der Schlaf den Faden der Erinnerung unterbricht, so daß dieser an jedem Morgen wieder angeknüpft werden muß, sehn wir an einzelnen Unvollkommenheiten dieser Operation: z.B. eine Melodie, welche Abends uns zum Ueberdruß im Kopfe herumgieng, können wir bisweilen am andern Morgen nicht wiederfinden.

Eine Ausnahme zu dem Gesagten scheinen die Fälle zu liefern, wo ein Gedanke, oder ein Bild der Phantasie, uns plötzlich und ohne bewußten Anlaß in den Sinn kommt. Meistens ist dies jedoch Täuschung, die darauf beruht, daß der Anlaß so gering, der Gedanke selbst aber so hell und interessant war, daß er jenen augenblicklich aus dem Bewußtsein verdrängte: bisweilen aber mag ein solcher urplötzlicher Eintritt einer Vorstellung innere körperliche Eindrücke, entweder der Theile des Gehirns auf einander, oder auch des organischen Nervensystems auf das Gehirn zur Ursache haben.

Ueberhaupt ist in der Wirklichkeit der Gedankenproceß unsers Innern nicht so einfach, wie die Theorie desselben; da hier vielerlei ineinandergreift. Vergleichen wir, um uns die Sache zu veranschaulichen, unser Bewußtsein mit einem Wasser von einiger Tiefe; so sind die deutlich bewußten Gedanken bloß die Oberfläche: die Masse hingegen ist das Undeutliche, die Gefühle, die Nachempfindung der Anschauungen und des Erfahrenen überhaupt, versetzt mit der eigenen Stimmung unsers Willens, welcher der Kern unsers Wesens ist. Diese Masse des ganzen Bewußtseyns ist nun, mehr oder weniger, nach Maaßgabe der intellektuellen Lebendigkeit, in steter Bewegung, und was in Folge dieser auf die Oberfläche steigt, sind die klaren Bilder der Phantasie, oder die deutlichen, bewußten, in Worten ausgedrückten Gedanken und die Beschlüsse des Willens. Selten liegt der ganze Proceß unsers Denkens und Beschließens auf der Oberfläche, d.h. besteht in einer Verkettung deutlich gedachter Urtheile; obwohl wir dies anstreben, um uns und Andern Rechenschaft geben zu können: gewöhnlich aber geschieht in der dunkeln Tiefe die Rumination des von außen erhaltenen Stoffes, durch welche er zu Gedanken umgearbeitet wird; und sie geht beinahe so unbewußt vor sich, wie die Umwandelung der Nahrung in die Säfte und Substanz des Leibes. Daher kommt es, daß wir oft vom Entstehn unserer tiefsten Gedanken keine Rechenschaft geben können: sie sind die Ausgeburt unsers geheimnißvollen Innern. Urtheile, Einfälle, Beschlüsse steigen unerwartet und zu unserer eigenen Verwunderung aus jener Tiefe auf. Ein Brief bringt uns unvermuthete, wichtige Nachrichten, in Folge deren eine Verwirrung unserer Gedanken und Motive eintritt: wir entschlagen uns der Sache einstweilen und denken nicht wieder daran; aber am andern, oder dem dritten, vierten Tage steht bisweilen das ganze Verhältniß, mit dem was wir dabei zu thun haben, deutlich vor uns. Das Bewußtsein ist die bloße Oberfläche unsers Geistes, von welchem, wie vom Erdkörper, wir nicht das Innere, sondern nur die Schaale kennen.

Was aber die Gedankenassociation selbst, deren Gesetze oben dargelegt worden, in Thätigkeit versetzt, ist, in letzter Instanz, oder im Geheimen unsers Innern, der Wille, welcher seinen Diener, den Intellekt, antreibt, nach Maaßgabe seiner Kräfte, Gedanken an Gedanken zu reihen, das Aehnliche, das Gleichzeitige zurückzurufen, Gründe und Folgen zu erkennen: denn im Interesse des Willens liegt, daß überhaupt gedacht werde, damit man möglichst orientirt sei, für alle vorkommenden Fälle. Daher ist die Gestalt des Satzes vom Grunde, welche die Gedankenassociation beherrscht und thätig erhält, im letzten Grunde, das Gesetz der Motivation; weil Das, was das Sensorium lenkt und es bestimmt, in dieser oder jener Richtung, der Analogie, oder sonstigen Gedankenassociation, nachzugehn, der Wille des denkenden Subjekts ist. Wie nun also hier die Gesetze des Ideennexus doch nur auf der Basis des Willens bestehn; so besteht der Kausalnexus der Körper in der realen Welt eigentlich auch nur auf der Basis des in den Erscheinungen dieser sich äußernden Willens; weshalb die Erklärung aus Ursachen nie eine absolute und erschöpfende ist, sondern zurückweist auf Naturkräfte als ihre Bedingung, deren Wesen eben der Wille als Ding an sich ist; – wobei ich freilich das folgende Buch anticipirt habe.

Weil nun aber die äußern (sinnlichen) Anlässe der Gegenwart unserer Vorstellungen eben so wohl wie die innern (der Gedankenassociation), und beide unabhängig von einander, beständig auf das Bewußtseyn einwirken; so entstehn hieraus die häufigen Unterbrechungen unsers Gedankenlaufs, welche eine gewisse Zerstückelung und Verwirrung unsers Denkens herbeiführen, die zu den nicht zu beseitigenden Unvollkommenheiten desselben gehört, welche wir jetzt in einem eigenen Kapitel betrachten wollen.

Kapitel 15. Von den wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts

Unser Selbstbewußtseyn hat nicht den Raum, sondern allein die Zeit zur Form: deshalb geht unser Denken nicht, wie unser Anschauen, nach drei Dimensionen vor sich, sondern bloß nach einer, also auf einer Linie, ohne Breite und Tiefe. Hieraus entspringt die größte der wesentlichen Unvollkommenheiten unsers Intellekts. Wir können nämlich Alles nur successive erkennen und nur Eines zur Zeit uns bewußt werden, ja, auch dieses Einen nur unter der Bedingung, daß wir derweilen alles Andere vergessen, also uns desselben gar nicht bewußt sind, mithin es so lange aufhört für uns dazuseyn. In dieser Eigenschaft ist unser Intellekt einem Teleskop mit einem sehr engen Gesichtsfelde zu vergleichen; weil eben unser Bewußtseyn kein stehendes, sondern ein fließendes ist. Der Intellekt apprehendirt nämlich nur successiv und muß, um das Eine zu ergreifen, das Andere fahren lassen, nichts, als die Spuren von ihm zurückbehaltend, welche immer schwächer werden. Der Gedanke, der mich jetzt lebhaft beschäftigt, muß mir, nach einer kurzen Weile, ganz entfallen seyn: tritt nun noch eine wohldurchschlafene Nacht dazwischen; so kann es kommen, daß ich ihn nie wiederfinde; es sei denn, daß er an mein persönliches Interesse, d.h. an meinen Willen geknüpft wäre, als welcher stets das Feld behauptet.

Auf dieser Unvollkommenheit des Intellekts beruht das Rhapsodische und oft Fragmentarische unsers Gedankenlaufs, welches ich bereits am Schlusse des vorigen Kapitels berührt habe, und aus diesem entsteht die unvermeidliche Zerstreuung unsers Denkens. Theils nämlich dringen äußere Sinneseindrücke störend und unterbrechend auf dasselbe ein, ihm jeden Augenblick das Fremdartigste aufzwingend, theils zieht am Bande der Association ein Gedanke den andern herbei und wird nun selbst von ihm verdrängt; theils endlich ist auch der Intellekt selbst nicht ein Mal fähig sich sehr lange und anhaltend auf einen Gedanken zu heften: sondern wie das Auge, wenn es lange auf einen Gegenstand hinstarrt, ihn bald nicht mehr deutlich sieht, indem die Umrisse in einander fließen, sich verwirren und endlich Alles dunkel wird; so wird auch, durch lange fortgesetztes Grübeln über eine Sache, allmälig das Denken verworren, stumpft sich ab und endigt in völliger Dumpfheit. Daher müssen wir jede Meditation oder Deliberation, welche glücklicherweise ungestört geblieben, aber doch nicht zu Ende geführt worden, auch wenn sie die wichtigste und uns angelegenste Sache betrifft, nach einer gewissen Zeit, deren Maaß individuell ist, vor der Hand aufgeben und ihren uns so interessanten Gegenstand aus dem Bewußtsein entlassen, um uns, so schwer die Sorge darüber auch auf uns lastet, jetzt mit unbedeutenden und gleichgültigen Dingen zu beschäftigen. Während dieser Zeit nun ist jener wichtige Gegenstand für uns nicht mehr vorhanden: er ist jetzt, wie die Wärme im kalten Wasser, latent. Wenn wir ihn nun, zur andern Zeit, wieder aufnehmen; so kommen wir an ihn wie an eine neue Sache, in der wir uns von Neuem, wiewohl schneller, orientiren, und auch der angenehme, oder widrige Eindruck derselben auf unsern Willen tritt von Neuem ein. Inzwischen kommen wir selbst nicht ganz unverändert zurück. Denn mit der physischen Mischung der Säfte und Spannung der Nerven, welche, nach Stunden, Tagen und Jahreszeiten, stets wechselt, ändert sich auch unsere Stimmung und Ansicht: zudem haben die in der Zwischenzeit dagewesenen fremdartigen Vorstellungen einen Nachklang zurückgelassen, dessen Ton auf die folgenden Einfluß hat. Daher erscheint uns die selbe Sache zu verschiedenen Zeiten, Morgens, Abends, Nachmittags, oder am andern Tage, oft sehr verschieden: entgegengesetzte Ansichten derselben drängen sich jetzt auf und vermehren unsern Zweifel. Darum spricht man vom Beschlafen einer Angelegenheit und fordert zu großen Entschlüssen lange Ueberlegungszeit. Wenn nun gleich diese Beschaffenheit unsers Intellekts, als aus der Schwäche desselben entspringend, ihre offenbaren Nachtheile hat; so gewährt sie andererseits den Vortheil, daß wir, nach der Zerstreuung und der physischen Umstimmung, als komparativ Andere, frisch und fremd zu unserer Angelegenheit zurückkehren und so sie mehrmals in stark verändertem Lichte erblicken können. – Aus diesem allen ist ersichtlich, daß das menschliche Bewußtseyn und Denken, seiner Natur nach, nothwendig fragmentarisch ist, weshalb die theoretischen oder praktischen Ergebnisse, welche durch die Zusammensetzung solcher Fragmente erlangt werden, meistens mangelhaft ausfallen. Dabei gleicht unser denkendes Bewußtseyn einer Laterna magica, in deren Fokus nur Ein Bild zur Zeit erscheinen kann und jedes, auch wenn es das Edelste darstellt, doch bald verschwinden muß, um dem Heterogensten, ja Gemeinsten Platz zu machen. – In praktischen Angelegenheiten werden die wichtigsten Pläne und Beschlüsse im Allgemeinen festgestellt: diesen aber ordnen andere, als Mittel zum Zweck, sich unter, diesen wieder andere und so bis zum Einzelnen, in concreto Auszuführenden herab. Nun aber kommen sie nicht in der Reihe ihrer Dignität zur Ausführung, sondern während die Pläne im Großen und Allgemeinen uns beschäftigen, müssen wir mit den kleinsten Einzelheiten und der Sorge des Augenblicks kämpfen. Dadurch wird unser Bewußtsein noch desultorischer. Ueberhaupt machen theoretische Geistesbeschäftigungen zu praktischen Angelegenheiten und diese wieder zu jenen unfähig.

In Folge des dargestellten unvermeidlich Zerstreuten und Fragmentarischen alles unsers Denkens, und des dadurch herbeigeführten Gemisches der heterogensten Vorstellungen, welches auch dem edelsten menschlichen Geiste anhängt, haben wir eigentlich nur eine halbe Besinnung und tappen mit dieser im Labyrinth unsers Lebenswandels und im Dunkel unserer Forschungen umher: helle Augenblicke erleuchten dabei wie Blitze unsern Weg. Aber was läßt sich überhaupt von Köpfen erwarten, unter denen selbst der weiseste allnächtlich der Tummelplatz der abenteuerlichsten und unsinnigsten Träume ist und von diesen kommend seine Meditationen wieder aufnehmen soll? Offenbar ist ein so großen Beschränkungen unterliegendes Bewußtsein zur Ergründung des Räthsels der Welt wenig geeignet, und ein solches Bestreben müßte Wesen höherer Art, deren Intellekt nicht die Zeit zur Form, und deren Denken daher wahre Ganzheit und Einheit hätte, seltsam und erbärmlich erscheinen. Ja, es ist sogar zu bewundern, daß wir durch das so höchst heterogene Gemisch der Vorstellungs- und Denkfragmente jeder Art, welche sich beständig in unserm Kopfe durchkreuzen, nicht völlig verworren werden, sondern uns stets noch wieder darin zurechtfinden und Alles aneinanderzupassen vermögen. Offenbar muß doch ein einfacher Faden daseyn, auf dem sich Alles aneinanderreiht: was ist aber dieser? – Das Gedächtniß allein reicht dazu nicht aus; da es wesentliche Beschränkungen hat, von denen ich bald reden werde, und überdies höchst unvollkommen und treulos ist. Das logische Ich, oder gar die transscendentale synthetische Einheit der Apperception, – sind Ausdrücke und Erläuterungen, welche nicht leicht dienen werden, die Sache faßlich zu machen, vielmehr wird Manchem dabei einfallen:

»Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel.«

Kants Satz: »das Ich denke muß alle unsere Vorstellungen begleiten«, ist unzureichend: denn das Ich ist eine unbekannte Größe, d.h. sich selber ein Geheimniß. – Das, was dem Bewußtsein Einheit und Zusammenhang giebt, indem es, durchgehend durch dessen sämmtliche Vorstellungen, seine Unterlage, sein bleibender Träger ist, kann nicht selbst durch das Bewußtseyn bedingt, mithin keine Vorstellung seyn: vielmehr muß es das Prius des Bewußtseins und die Wurzel des Baumes seyn, davon jenes die Frucht ist. Dieses, sage ich, ist der Wille: er allein ist unwandelbar und schlechthin identisch, und hat, zu seinen Zwecken, das Bewußtseyn hervorgebracht. Daher ist auch er es, welcher ihm Einheit giebt und alle Vorstellungen und Gedanken desselben zusammenhält, gleichsam als durchgehender Grundbaß sie begleitend. Ohne ihn hätte der Intellekt nicht mehr Einheit des Bewußtseyns, als ein Spiegel, in welchem sich successiv bald Dieses bald jenes darstellt, oder doch höchstens nur soviel wie ein Konvexspiegel, dessen Strahlen in einen imaginären Punkt hinter seiner Oberfläche zusammenlaufen. Nun aber ist der Wille allein das Beharrende und Unveränderliche im Bewußtseyn. Er ist es, welcher alle Gedanken und Vorstellungen, als Mittel zu seinen Zwecken, zusammenhält, sie mit der Farbe seines Charakters, seiner Stimmung und seines Interesses tingirt, die Aufmerksamkeit beherrscht und den Faden der Motive, deren Einfluß auch Gedächtniß und Ideenassociation zuletzt in Thätigkeit setzt, in der Hand hält: von ihm ist im Grunde die Rede, so oft »Ich« in einem Urtheil vorkommt. Er also ist der wahre, letzte Einheitspunkt des Bewußtseins und das Band aller Funktionen und Akte desselben: er gehört aber nicht selbst zum Intellekt, sondern ist nur dessen Wurzel, Ursprung und Beherrscher.

Aus der Form der Zeit und der einfachen Dimension der Vorstellungsreihe, vermöge welcher der Intellekt, um Eines aufzufassen, alles Andere fallen lassen muß, folgt, wie seine Zerstreuung, auch seine Vergeßlichkeit. Das Meiste von Dem, was er fallen gelassen, nimmt er nie wieder auf; zumal da die Wiederaufnahme an den Satz vom Grunde gebunden ist, also eines Anlasses bedarf, den die Gedankenassociation und Motivation erst zu liefern hat; welcher Anlaß jedoch um so entfernter und geringer seyn darf, je mehr unsere Empfindlichkeit dafür durch das Interesse des Gegenstandes erhöht ist. Nun aber ist das Gedächtniß, wie ich schon in der Abhandlung über den Satz vom Grunde gezeigt habe, kein Behältniß, sondern eine bloße Uebungsfähigkeit im Hervorbringen beliebiger Vorstellungen, die daher stets durch Wiederholung in Uebung erhalten werden müssen; da sie sonst sich allmälig verlieren. Demzufolge ist das Wissen auch des gelehrtesten Kopfes doch nur virtualiter vorhanden, als eine im Hervorbringen gewisser Vorstellungen erlangte Uebung: actualiter hingegen ist auch er auf eine einzige Vorstellung beschränkt und nur dieser einen sich zur Zeit bewußt. Hieraus entsteht ein seltsamer Kontrast zwischen Dem, was er potentiâ und Dem, was er actu weiß, d.h. zwischen seinem Wissen und seinem jedesmaligen Denken: Ersteres ist eine unübersehbare, stets etwas chaotische Masse, Letzteres ein einziger deutlicher Gedanke. Das Verhältniß gleicht dem, zwischen den zahllosen Sternen des Himmels und dem engen Gesichtsfelde des Teleskops: es tritt auffallend hervor, wann er, auf einen Anlaß, irgend eine Einzelheit aus seinem Wissen zur deutlichen Erinnerung bringen will, wo Zeit und Mühe erfordert wird, es aus jenem Chaos hervorzusuchen. Die Schnelligkeit hierin ist eine besondere Gabe, aber sehr von Tag und Stunde abhängig: daher versagt bisweilen das Gedächtniß seinen Dienst, selbst in Dingen, die es zur andern Zeit leicht, zur Hand hat. Diese Betrachtung fordert uns auf, in unsern Studien mehr nach Erlangung richtiger Einsicht, als nach Vermehrung der Gelehrsamkeit zu streben, und zu beherzigen, daß die Qualität des Wissens wichtiger ist, als die Quantität desselben. Diese ertheilt den Büchern bloß Dicke, jene Gründlichkeit und zugleich Stil: denn sie ist eine intensive Größe, während die andere eine bloß extensive ist. Sie besteht in der Deutlichkeit und Vollständigkeit der Begriffe, nebst der Reinheit und Richtigkeit der ihnen zum Grunde liegenden anschaulichen Erkenntnisse; daher das ganze Wissen, in allen seinen Theilen von ihr durchdrungen wird und demgemäß werthvoll, oder gering ist. Mit kleiner Quantität, aber guter Qualität desselben leistet man mehr, als mit sehr großer Quantität, bei schlechter Qualität. –

Die vollkommenste und genügendeste Erkenntniß ist die anschauende; aber sie ist auf das ganz Einzelne, das Individuelle beschränkt. Die Zusammenfassung des Vielen und Verschiedenen in eine Vorstellung ist nur möglich durch den Begriff, d.h. durch das Weglassen der Unterschiede, mithin ist dieser eine sehr unvollkommene Art des Vorstellens. Freilich kann auch das Einzelne unmittelbar als ein Allgemeines aufgefaßt werden, wenn es nämlich zur (Platonischen) Idee erhoben wird: bei diesem Vorgang aber, den ich im dritten Buch analysirt habe, tritt auch schon der Intellekt aus den Schranken der Individualität und mithin der Zeit heraus: auch ist es nur eine Ausnahme.

Diese innern und wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts werden noch erhöht durch eine ihm gewissermaaßen äußerliche, aber unausbleibliche Störung, nämlich durch den Einfluß, welchen auf alle seine Operationen der Wille ausübt, sobald er beim Resultat derselben irgend betheiligt ist. Jede Leidenschaft, ja, jede Neigung oder Abneigung, tingirt die Objekte der Erkenntniß mit ihrer Farbe. Am alltäglichsten ist die Verfälschung, welche Wunsch und Hoffnung an der Erkenntniß ausüben, indem sie uns das kaum Mögliche als wahrscheinlich und beinahe gewiß vorspiegeln und zur Auffassung des Entgegenstehenden uns fast unfähig machen: auf ähnliche Weise wirkt die Furcht; auf analoge jede vorgefaßte Meinung, jede Parteilichkeit und, wie gesagt, jedes Interesse, jede Regung und jeder Hang des Willens.

Zu allen diesen Unvollkommenheiten des Intellekts kommt endlich noch die, daß er, mit dem Gehirn, altert, d.h. wie alle physiologischen Funktionen, in den spätem Jahren seine Energie verliert; wodurch dann alle seine Unvollkommenheiten sehr zunehmen.

Die hier dargelegte mangelhafte Beschaffenheit des Intellekts wird uns indessen nicht wundern, wenn wir auf seinen Ursprung und seine Bestimmung zurücksehn, wie ich solche im zweiten Buche nachgewiesen habe. Zum Dienst eines individuellen Willens hat ihn die Natur hervorgebracht: daher ist er allein bestimmt, die Dinge zu erkennen, sofern sie die Motive eines solchen Willens abgeben; nicht aber, sie zu ergründen, oder ihr Wesen an sich aufzufassen. Der menschliche Intellekt ist nur eine höhere Steigerung des thierischen: und wie dieser ganz auf die Gegenwart beschränkt ist, so trägt auch der unserige starke Spuren dieser Beschränkung. Daher ist unser Gedächtniß und Rückerinnerung etwas sehr Unvollkommenes: wie wenig von Dem, was wir gethan, erlebt, gelernt, gelesen haben, können wir uns zurückrufen! und selbst dies Wenige meistens nur mühsam und unvollständig. Aus dem selben Grunde wird es uns so sehr schwer, uns vom Eindrucke der Gegenwart frei zu erhalten. – Bewußtlosigkeit ist der ursprüngliche und natürliche Zustand aller Dinge, mithin auch die Basis, aus welcher, in einzelnen Arten der Wesen, das Bewußtseyn, als die höchste Efflorescenz derselben, hervorgeht, weshalb auch dann jene immer noch vorwaltet. Demgemäß sind die meisten Wesen ohne Bewußtseyn: sie wirken dennoch nach den Gesetzen ihrer Natur, d.h. ihres Willens. Die Pflanzen haben höchstens ein ganz schwaches Analogen von Bewußtseyn, die untersten Thiere bloß eine Dämmerung desselben. Aber auch nachdem es sich, durch die ganze Thierreihe, bis zum Menschen und seiner Vernunft gesteigert hat, bleibt die Bewußtlosigkeit der Pflanze, von der es ausgieng, noch immer die Grundlage, und ist zu spüren in der Nothwendigkeit des Schlafes, wie eben auch in allen hier dargelegten, wesentlichen und großen Unvollkommenheiten jedes durch physiologische Funktionen hervorgebrachten Intellekts: von einem andern aber haben wir keinen Begriff.

Die hier nachgewiesenen wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts werden nun aber, im einzelnen Falle, stets noch durch unwesentliche erhöht. Nie ist der Intellekt, in jeder Hinsicht, was er möglicherweise seyn könnte: die ihm möglichen Vollkommenheiten stehn einander so entgegen, daß sie sich ausschließen. Daher kann Keiner Plato und Aristoteles, oder Shakespeare und Neuton, oder Kant und Goethe zugleich seyn. Die Unvollkommenheiten des Intellekts hingegen vertragen sich sehr wohl zusammen; weshalb er, in der Wirklichkeit, meistens tief unter Dem bleibt, was er seyn könnte. Seine Funktionen hängen von so gar vielen Bedingungen ab, welche wir, in der Erscheinung, in der sie uns allein gegeben sind, nur als anatomische und physiologische erfassen können, daß ein auch nur in einer Richtung entschieden excellirender Intellekt zu den seltensten Naturerscheinungen gehört; daher eben die Produktionen eines solchen Jahrtausende hindurch aufbewahrt werden, ja, jede Reliquie eines so begünstigten Individuums zum köstlichsten Kleinod wird. Von einem solchen Intellekt bis zu dem, der sich dem Blödsinn nähert, sind der Abstufungen unzählige. Diesen gemäß fällt nun zunächst der geistige Gesichtskreis eines Jeden sehr verschieden aus, nämlich von dem der bloßen Auffassung der Gegenwart, die selbst das Thier hat, zu dem, der doch auch die nächste Stunde, zu dem, der den Tag umfaßt, selbst noch den morgenden, die Woche, das Jahr, das Leben, die Jahrhunderte, Jahrtausende, bis zu dem eines Bewußtseyns, welches fast beständig den, wenn auch undeutlich dämmernden Horizont der Unendlichkeit gegenwärtig hat, dessen Gedanken daher einen diesem angemessenen Charakter annehmen. – Ferner zeigt jener Unterschied der Intelligenzen sich in der Schnelligkeit ihres Denkens, auf welche sehr viel ankommt, und die so verschieden und allmälig abgestuft seyn mag, wie die der Punkte des Radius einer sich drehenden Scheibe. Die Ferne der Folgen und Gründe, zu der das Denken eines Jeden reichen kann, scheint mit der Schnelligkeit des Denkens in einem gewissen Verhältniß zu stehn, indem die größte Spannung der Denkkraft überhaupt nur eine ganz kurze Zeit hindurch anhalten könne, und doch nur während sie dauert ein Gedanke in seiner vollkommenen Einheit sich durchdenken ließe; weshalb es dann darauf ankommt, wie weit der Intellekt ihn in solcher kurzen Zeit verfolgen, also wie viel Weges er in ihr zurücklegen kann. Andererseits mag, bei Manchem, die Schnelligkeit durch das längere Anhalten jener Zeit des vollkommen einheitlichen Denkens ersetzt werden. Wahrscheinlich macht das langsame und anhaltende Denken den mathematischen Kopf, die Schnelle des Denkens das Genie: dieses ist ein Flug, jenes ein sicheres Gehn auf festem Boden, Schritt vor Schritt. Daß man jedoch mit diesem letzteren auch in den Wissenschaften, sobald es nicht mehr auf bloße Größen, sondern auf das Verstehn des Wesens der Erscheinungen ankommt, nicht ausreicht, beweist z.B. Neuton's Farbenlehre, und später Biot's Gefasel über Farbenringe, welches jedoch mit der ganzen atomistischen Betrachtungsweise des Lichts bei den Franzosen, mit ihren molécules de lumière und überhaupt mit ihrer fixen Idee, Alles in der Natur auf bloß mechanische Wirkungen zurückführen zu wollen, zusammenhängt. – Endlich zeigt der in Rede stehende große individuelle Unterschied der Intelligenzen sich vorzüglich im Grade der Klarheit des Verständnisses und demnach in der Deutlichkeit des gesammten Denkens. Dem Einen ist schon Das Verstehn, was dem Andern erst einigermaaßen Merken ist; jener ist schon fertig und am Ziel, wo Dieser erst am Anfang ist; jenem ist schon Das die Lösung, was Diesem erst das Problem. Dies beruht auf der Qualität des Denkens und Wissens, welche bereits oben erwähnt wurde. Wie in Zimmern der Grad der Helle verschieden ist, so in den Köpfen. Diese Qualität des ganzen Denkens spürt man, sobald man nur wenige Seiten eines Schriftstellers gelesen hat. Denn da hat man sogleich mit seinem Verstande und in seinem Sinn zu verstehn gehabt: daher, ehe man noch weiß, was er Alles gedacht hat, man schon sieht, wie er denkt, nämlich welches die formelle Beschaffenheit, die Textur seines Denkens sei, die sich in Allem worüber er denkt, gleich bleibt, und deren Abdruck der Gedankengang und der Stil ist. An diesem empfindet man sogleich den Schritt und Tritt, die Gelenkigkeit und Leichtigkeit, wohl gar die Beflügelung seines Geistes, oder, umgekehrt, dessen Schwerfälligkeit, Steifheit, Lahmheit und bleierne Beschaffenheit. Denn wie die Sprache der Abdruck des Geistes eines Volks, so ist der Stil der unmittelbare Abdruck des Geistes eines Schriftstellers, die Physiognomie desselben. Man werfe das Buch weg, bei dem man merkt, daß man in eine dunklere Region geräth, als die eigene ist; es sei denn, daß man bloß Thatsachen, nicht Gedanken aus ihm zu empfangen habe. Außerdem aber wird nur der Schriftsteller uns Gewinn bringen, dessen Verstehn schärfer und deutlicher ist, als das eigene, der unser Denken beschleunigt, nicht es hemmt, wie der stumpfe Kopf, der den Krötengang seines Denkens mitzumachen uns nöthigen will; also jener, mit dessen Kopfe einstweilen zu denken, uns fühlbare Erleichterung und Förderung gewährt, bei dem wir uns getragen fühlen wohin wir allein nicht gelangen konnten. Goethe sagte mir ein Mal, daß wenn er eine Seite im Kant lese, ihm zu Muthe würde, als träte er in ein helles Zimmer. Die schlechten Köpfe sind es nicht bloß dadurch, daß sie schief sind und mithin falsch urtheilen; sondern zunächst durch die Undeutlichkeit ihres gesammten Denkens, als welches dem Sehn durch ein schlechtes Fernrohr, in welchem alle Umrisse undeutlich und wie verwischt erscheinen und die verschiedenen Gegenstände in einander laufen, zu vergleichen ist. Die Forderung der Deutlichkeit der Begriffe, vor welcher der schwache Verstand solcher Köpfe zurückbebt, machen diese daher selbst nicht an ihn; sondern sie behelfen sich mit einem Helldunkel, in welchem sich zu beruhigen sie gern nach Worten greifen, zumal nach solchen, die unbestimmte, sehr abstrakte, ungewöhnliche und schwer zu erklärende Begriffe bezeichnen, wie z.B. Unendliches und Endliches, Sinnliches und Uebersinnliches, die Idee des Seyns, Vernunft-Ideen, das Absolute, die Idee des Guten, das Göttliche, die sittliche Freiheit, Selbsterzeugungskraft, die absolute Idee, Subjekt-Objekt u.s.w. Mit dergleichen werfen sie getrost um sich, meinen wirklich, das drücke Gedanken aus, und muthen Jedem zu, sich damit zufrieden zu stellen: denn der höchste ihnen absehbare Gipfel der Weisheit ist eben, für jede mögliche Frage dergleichen fertige Worte in Bereitschaft zu haben. Dies unsägliche Genügen an Worten ist für die schlechten Köpfe durchaus charakteristisch: es beruht eben auf ihrer Unfähigkeit zu deutlichen Begriffen, sobald diese über die trivialsten und einfachsten Verhältnisse hinausgehn sollen, mithin auf der Schwäche und Trägheit ihres Intellekts, ja, auf dem geheimen Bewußtseyn dieser, welches bei Gelehrten verbunden ist mit der früh erkannten, harten Nothwendigkeit, sich für denkende Wesen auszugeben, welcher Anforderung in allen Fällen zu begegnen, sie einen solchen Vorrath fertiger Worte geeignet halten. Wirklich belustigend muß es seyn, einen Philosophieprofessor dieses Schlages auf dem Katheder zu sehn, der bona fide einen dergleichen gedankenleeren Wortkram vorträgt, ganz ehrlich, im Wahn, dies seien eben Gedanken, und vor ihm die Studenten, welche eben so bona fide, d.h. im selben Wahn, andächtig zuhören und nachschreiben; während doch im Grunde weder der Eine noch die Andern über die Worte hinausgehn, vielmehr diese, nebst dem hörbaren Kratzen der Federn, das einzige Reale bei der Sache sind. Dieses eigenthümliche Genügen an Worten trägt mehr als irgend etwas bei zur Perpetuirung der Irrthümer. Denn gestützt auf die von seinen Vorgängern übernommenen Worte und Phrasen geht jeder getrost an Dunkelheiten, oder Problemen vorbei: wodurch diese sich unbeachtet, Jahrhunderte hindurch, von Buch zu Buch fortpflanzen und der denkende Kopf, zumal in der Jugend, in Zweifel geräth, ob etwan nur er unfähig sei, Das zu verstehn, oder ob hier wirklich nichts Verständliches vorliege; desgleichen, ob für die Andern das Problem, um welches sie mit so komischer Ernsthaftigkeit alle den selben Fußpfad herumschleichen, keines sei, oder ob sie es nur nicht sehn wollen. Viele Wahrheiten bleiben bloß deshalb unentdeckt, weil Keiner Muth hat, das Problem ins Auge zu fassen und darauf los zu gehn. – Im Gegentheil hievon bewirkt die den eminenten Köpfen eigenthümliche Deutlichkeit des Denkens und Klarheit der Begriffe, daß sogar bekannte Wahrheiten, von ihnen vorgetragen, neues Licht, oder wenigstens neuen Reiz gewinnen: hört oder liest man sie; so ist es, als hätte man ein schlechtes Fernrohr gegen ein gutes vertauscht. Man lese z.B. nur in Eulers Briefen an eine Prinzessin seine Darstellung der Grundwahrheiten der Mechanik und Optik. Hierauf beruht Diderots, im Neveu de Rameau beigebrachte Bemerkung, daß nur die vollendeten Meister fähig sind, die Elemente einer Wissenschaft eigentlich gut vorzutragen; eben weil nur sie die Sachen wirklich verstehn und niemals ihnen Worte die Stelle der Gedanken vertreten.

Aber man soll wissen, daß die schlechten Köpfe die Regel, die guten die Ausnahme, die eminenten höchst selten, das Genie ein portentum ist. Wie könnte sonst ein aus ungefähr acht hundert Millionen Individuen bestehendes Menschengeschlecht, nach sechs Jahrtausenden, noch so Vieles zu entdecken, zu erfinden, zu erdenken und zu sagen übrig gelassen haben? Auf Erhaltung des Individuums allein ist der Intellekt berechnet und in der Regel selbst hiezu nur nothdürftig ausreichend. Aber weislich ist die Natur mit Ertheilung eines größern Maaßes sehr karg gewesen: denn der beschränkte Kopf kann die wenigen und einfachen Verhältnisse, welche im Bereich seiner engen Wirkungssphäre liegen, mit viel größerer Leichtigkeit übersehn und die Hebel derselben handhaben, als der eminente, der eine ungleich größere und reichere Sphäre überblickt und mit langen Hebeln agirt, es könnte. So sieht das Insekt auf seinen Stängeln und Blättchen Alles mit minutiösester Genauigkeit und besser, als wir; wird aber nicht den Menschen gewahr, der drei Schritte davon steht. Hierauf beruht die Schlauheit der Dummen und das Paradoxon: Il y a un mystère dans l'esprit des gens qui n'en ont pas. Für das praktische Leben ist das Genie so brauchbar, wie ein Stern-Teleskop im Theater. – Sonach ist, in Hinsicht auf den Intellekt, die Natur höchst aristokratisch. Die Unterschiede, die sie hier eingesetzt hat, sind größer als die, welche Geburt, Rang, Reichthum, oder Kastenunterschied in irgend einem Lande feststellen; aber wie in andern Aristokratien, so auch in der ihrigen, kommen viele tausend Plebejer auf einen Edeln, viele Millionen auf einen Fürsten, und ist der große Haufen bloßer Pöbel, mob, rabble, la canaille. Dabei ist nun freilich zwischen der Rangliste der Natur und der der Konvention ein schreiender Kontrast, dessen Ausgleichung nur In einem goldenen Zeitalter zu hoffen stände. Inzwischen haben die auf der einen, und die auf der andern Rangliste sehr hoch Stehenden das Gemeinsame, daß sie meistens in vornehmer Isolation leben, auf welche Byron hindeutet, wenn er sagt:

To feel me in the solitude of kings,

Without the power that makes them bear a crown14.

(Proph. of Dante. C. 1.)

Denn der Intellekt ist ein differenzirendes, mithin trennendes Princip: seine verschiedenen Abstufungen geben, noch viel mehr als die der bloßen Bildung, Jedem andere Begriffe, in Folge deren gewissermaaßen Jeder in einer andern Welt lebt, in welcher er nur dem Gleichgestellten unmittelbar begegnet, den Uebrigen aber bloß aus der Ferne zurufen und sich ihnen verständlich zu machen suchen kann. Große Unterschiede im Grade und dabei in der Ausbildung des Verstandes öffnen zwischen Mensch und Mensch eine weite Kluft, über welche nur die Herzensgüte setzen kann, als welche im Gegentheil das unificirende Princip ist, welches jeden Andern mit dem eigenen Selbst identificirt. Jedoch bleibt die Verbindung eine moralische: sie kann keine intellektuelle werden. Sogar bei ziemlich gleichem Grade der Bildung gleicht die Konversation zwischen einem großen Geiste und einem gewöhnlichen Kopfe der gemeinschaftlichen Reise eines Mannes, der auf einem muthigen Rosse sitzt, mit einem Fußgänger. Beiden wird sie bald höchst lästig und auf die Länge unmöglich. Auf eine kurze Strecke kann zwar der Reiter absitzen, um mit dem Andern zu gehn; wiewohl auch dann ihm die Ungeduld seines Pferdes viel zu schaffen machen wird. –

Das Publikum aber könnte durch nichts so sehr gefördert werden, als durch die Erkenntniß jener intellektuellen Aristokratie der Natur. Vermöge einer solchen würde es begreifen, daß zwar, wo es sich um Thatsachen handelt, also etwan aus Experimenten, Reisen, Codices, Geschichtsbüchern und Chroniken referirt werden soll, der normale Kopf ausreicht; hingegen wo es sich bloß um Gedanken handelt, zumal um solche, zu welchen der Stoff, die Data, jedem vorliegen, wo es also eigentlich nur darauf ankommt, den Andern vorzudenken, entschiedene Ueberlegenheit, angeborene Eminenz, welche nur die Natur und höchst selten verleiht, unerläßlich erfordert ist, und Keiner Gehör verdient, der nicht sogleich Proben derselben ablegt. Könnte dem Publiko die selbsteigene Einsicht hierin verliehen werden; so würde es nicht mehr die ihm zu seiner Bildung kärglich zugemessene Zeit vergeuden an den Produktionen gewöhnlicher Köpfe, also an den zahllosen Stümpereien in Poesie und Philosophie, wie sie jeder Tag ausbrütet; es würde nicht mehr, im kindischen Wahn, daß Bücher, gleich Eiern, frisch genossen werden müssen, stets nach dem Neuesten greifen; sondern würde sich an die Leistungen der wenigen Auserlesenen und Berufenen aller Zeiten und Völker halten, würde suchen sie kennen und verstehn zu lernen, und könnte so allmälig zu achter Bildung gelangen. Dann würden auch bald jene Tausende unberufener Produktionen ausbleiben, die wie Unkraut dem guten Weizen das Aufkommen erschweren.

Kapitel 16. Ueber den praktischen Gebrauch der Vernunft und den Stoicismus

Im siebenten Kapitel habe ich gezeigt, daß im Theoretischen das Ausgehn von Begriffen nur zu mittelmäßigen Leistungen hinreicht, die vortrefflichen hingegen das Schöpfen aus der Anschauung selbst, als der Urquelle aller Erkenntniß, erfordern. Im Praktischen verhält es sich nun aber umgekehrt: hier ist das Bestimmtwerden durch das Anschauliche die Weise des Thiers, des Menschen aber unwürdig, als welcher Begriffe hat, sein Handeln zu leiten, und dadurch emancipirt ist von der Macht der anschaulich vorliegenden Gegenwart, welcher das Thier unbedingt hingegeben ist. In dem Maaße, wie der Mensch dieses Vorrecht geltend macht, ist sein Handeln vernünftig zu nennen, und nur in diesem Sinne kann von praktischer Vernunft die Rede seyn, nicht im Kantischen, dessen Unstatthaftigkeit ich in der Preisschrift über das Fundament der Moral ausführlich dargethan habe.

Es ist aber nicht leicht, sich durch Begriffe allein bestimmen zu lassen: auch auf das stärkste Gemüth dringt die vorliegende nächste Außenwelt, mit ihrer anschaulichen Realität, gewaltsam ein. Aber eben in der Besiegung dieses Eindrucks, in der Vernichtung seines Gaukelspiels, zeigt der Menschengeist seine Würde und Größe. So, wenn die Reizungen zu Lust und Genuß ihn ungerührt lassen, oder das Drohen und Wüthen ergrimmter Feinde ihn nicht erschüttert, das Flehen irrender Freunde seinen Entschluß nicht wanken macht, die Truggestalten, mit denen verabredete Intriguen ihn umstellen, ihn unbewegt lassen, der Hohn der Thoren und des Pöbels ihn nicht aus der Fassung bringt, noch irre macht an seinem eigenen Werth: dann scheint er unter dem Einfluß einer ihm allein sichtbaren Geisterwelt (und das ist die der Begriffe) zu stehn, vor welcher jene Allen offen daliegende, anschauliche Gegenwart wie ein Phantom zerfließt. – Was hingegen der Außenwelt und sichtbaren Realität ihre große Gewalt über das Gemüth ertheilt, ist die Nähe und Unmittelbarkeit derselben. Wie die Magnetnadel, welche durch die vereinte Wirkung weitvertheilter, die ganze Erde umfassender Naturkräfte in ihrer Richtung erhalten wird, dennoch durch ein kleines Stückchen Eisen, wenn es ihr nur recht nahe kommt, perturbirt und in heftige Schwankungen versetzt werden kann; so kann bisweilen selbst ein starker Geist durch geringfügige Begebenheiten und Menschen, wenn sie nur in großer Nähe auf ihn einwirken, aus der Fassung gebracht und perturbirt werden, und den überlegtesten Entschluß kann ein unbedeutendes, aber unmittelbar gegenwärtiges Gegenmotiv in momentanes Wanken versetzen. Denn der relative Einfluß der Motive steht unter einem Gesetz, welches dem, nach welchem die Gewichte auf den Waagebalken wirken, gerade entgegengesetzt ist, und in Folge dessen ein sehr kleines, aber sehr nahe liegendes Motiv ein an sich viel stärkeres, jedoch aus der Ferne wirkendes, überwiegen kann. Die Beschaffenheit des Gemüthes aber, vermöge deren es diesem Gesetze gemäß sich bestimmen läßt und nicht, kraft der wirklich praktischen Vernunft, sich ihm entzieht, ist es, was die Alten durch animi impotentia bezeichneten, welches eigentlich ratio regendae voluntatis impotens bedeutet. Jeder Affekt (animi perturbatio) entsteht eben dadurch, daß eine auf unsern Willen wirkende Vorstellung uns so übermäßig nahe tritt, daß sie uns alles Uebrige verdeckt, und wir nichts mehr als sie sehn können, wodurch wir, für den Augenblick, unfähig werden, das Anderweitige zu berücksichtigen. Ein gutes Mittel dagegen wäre, daß man sich dahin brächte, die Gegenwart unter der Einbildung anzusehn, sie sei Vergangenheit, mithin seiner Apperception den Briefstil der Römer angewöhnte. Vermögen wir doch sehr wohl, umgekehrt, das längst Vergangene so lebhaft als gegenwärtig anzusehn, daß alte, längst schlafende Affekte dadurch wieder zu vollem Toben erwachen. – Imgleichen würde Niemand sich über einen Unfall, eine Widerwärtigkeit, entrüsten und aus der Fassung gerathen, wenn die Vernunft ihm stets gegenwärtig erhielte, was eigentlich der Mensch ist: das großen und kleinen Unfällen, ohne Zahl, täglich und stündlich Preis gegebene, hülfsbedürftigste Wesen, to deilotaton zôon, welches daher in beständiger Sorge und Furcht zu leben hat. Pan esti anthrôpos syphora (homo totus est calamitas) sagt schon Herodot.

Die Anwendung der Vernunft und das Praktische leistet zunächst dies, daß sie das Einseitige und Zerstückelte der bloß anschauenden Erkenntniß wieder zusammensetzt und die Gegensätze, welche diese darbietet, als Korrektionen zu einander gebraucht, wodurch das objektiv richtige Resultat gewonnen wird. Z.B. fassen wir die schlechte Handlung eines Menschen ins Auge, so werden wir ihn verdammen; hingegen, bloß die Noth, die ihn dazu bewogen, betrachtend, ihn bemitleiden: die Vernunft, mittelst ihrer Begriffe, erwägt Beides und führt zu dem Resultat, daß er durch angemessene Strafe gebändigt, eingeschränkt, gelenkt werden müsse.

Ich erinnere hier nochmals an Seneka's Ausspruch: Si vis tibi omnia subjicere, te subjice rationi. Weil nun aber, wie im vierten Buche dargethan wird, das Leiden positiver, der Genuß negativer Natur ist; so wird Der, welcher die abstrakte oder Vernunft-Erkenntniß zur Richtschnur seines Thuns nimmt und demnach dessen Folgen und die Zukunft allezeit bedenkt, das Sustine et abstine sehr häufig zu üben haben, indem er, um die möglichste Schmerzlosigkeit des Lebens zu erlangen, die lebhaften Freuden und Genüsse meistens zum Opfer bringt, eingedenk des Aristotelischen ho phronimos to alypon diôkei, ou to hêdy (quod dolore vacat, non quod suave est, persequitur vir prudens). Daher borgt bei ihm stets die Zukunft von der Gegenwart; statt daß beim leichtsinnigen Thoren die Gegenwart von der Zukunft borgt, welche, dadurch verarmt, nachher bankrott wird. Bei Jenem muß freilich die Vernunft meistens die Rolle eines grämlichen Mentors spielen und unablässig auf Entsagungen antragen, ohne dafür etwas Anderes versprechen zu können, als eine ziemlich schmerzlose Existenz. Dies beruht darauf, daß die Vernunft, mittelst ihrer Begriffe, das Ganze des Lebens überblickt, dessen Ergebniß, im berechenbar glücklichsten Fall, kein anderes seyn kann, als das besagte.

Dieses Streben nach einer schmerzlosen Existenz, so weit sie, durch Anwendung und Befolgung vernünftiger Ueberlegung und erlangter Erkenntniß der wahren Beschaffenheit des Lebens, möglich seyn möchte, hat, als es mit strenger Konsequenz und bis zum äußersten Extrem durchgeführt wurde, den Kynismus erzeugt, aus welchem nachher der Stoicismus hervorgieng; wie ich Dies, zu festerer Begründung der unser erstes Buch beschließenden Darstellung, hier mit Wenigem ausführen will.

Alle Moralsysteme des Alterthums, das Platonische allein ausgenommen, waren Anleitungen zu einem glücksäligen Leben: demnach hat, bei ihnen, die Tugend ihren Zweck durchaus nicht jenseit des Todes, sondern in dieser Welt. Denn sie ist ihnen eben nur der rechte Weg zum wahrhaft glücklichen Leben; deshalb erwählt sie der Weise. Daher eben stammen die, besonders von Cicero uns aufbehaltenen, weitläuftigen Debatten und scharfen, stets erneuerten Untersuchungen, ob auch wirklich die Tugend, ganz allein und für sich, zum glücklichen Leben hinreichend sei; oder ob es dazu noch irgend eines Aeußerlichen bedürfe; ob der Tugendhafte und Weise auch auf der Folter und dem Rade, oder im Stier des Phalaris, glücklich sei; oder ob es so weit doch nicht gehe. Denn freilich wäre dies der Probierstein einer Ethik dieser Art: beglücken müßte ihre Ausübung unmittelbar und unbedingt. Vermag sie das nicht; so leistet sie nicht, was sie soll, und ist zu verwerfen. So richtig, wie dem christlichen Standpunkt gemäß ist es mithin, daß Augustinus seiner Darlegung der Moralsysteme der Alten (De civ. Dei, Lib. XIX, c. 1) die Erklärung voranschickt: Exponenda sunt nobis argumenta mortalium, quibus sibi ipsi beatitudinem facere in hujus vitae infelicitate moliti sunt; ut ab eorum rebus vanis spes nostra quid differat clarescat. De finibus bonorum et malorum multa inter se philosophi disputarunt; quam quaestionem maxima intentione versantes, invenire conati sunt, quid efficiat hominem beatum: illud enim est finis bonorum. Ich will den angegebenen, eudämonistischen Zweck der antiken Ethik durch einige ausdrückliche Aussprüche der Alten außer Zweifel setzen. Aristoteles sagt in der Eth. magna, I, 4: Hê eudaimonia en tô eu zên esti, to de eu zên en tô kata tas aretas zên. (Felicitas in bene vivendo posita est: verum bene vivere est in eo positum, ut secundum virtutem vivamus), womit zu vergleichen Eth. Nicom., I, 5. – Cic. Tusc., V, I: Nam, quum ea causa impulerit eos, qui primi se ad philosophiae studia contulerunt, ut, omnibus rebus posthabitis, totos se in optimo vitae statu exquirendo collocarent; profecto spe beate vivendi tantam in eo studio curam operamque posuerunt. – Nach Plutarch (De repugn. stoic., c. 18) hat Chrysippos gesagt: To kata kakian zên tô kakodaimonôs zên tauton esti. (Vitiose vivere idem est, quod vivere infeliciter.)Ibid. c. 26: Hê phronêsis ouch heteron esti tês eudaimonias kath' heauto, all' eudaimonia. (Prudentia nihil differt a felicitate, estque ipsa adeo felicitas.)Stob. Ed., Lib. II, c. 7. – Telos se phasin einai to eudaimonein, hou heneka panta prattetai. (Finem esse dicunt felicitatem, cujus causa fiunt omnia.)Eudaimonian synônymein tô telei legousi. (Finem bonorum et felicitatem synonyma esse dicunt.)Arrian. diss Epict., I, 4: Hê aretê tautên echei tên epangelian, eudaimonian poiêsai. (Virtus profitetur, se felicitatem praestare.)Sen. ep. 90: Ceterum (sapientia) ad beatum statum tendit, illo ducit, illo vias aperit. – Id. ep. 108: Illud admoneo, auditionem philosophorum, lectionemque, ad propositum beatae vitae trahendam.

Diesen Zweck des glücklichsten Lebens also setzte sich ebenfalls die Ethik der Kyniker; wie der Kaiser Julian ausdrücklich bezeugt: Orat. VI: Tês Kynikês de philosophias skopos men esti kai telos, hôsper dê kai pasês philosophias, to eudaimonein; to de eudaimonein en tô zên kata physin, alla mê pros tas tôn pollôn doxas. (Cynicae philosophiae, ut etiam omnis philosophiae, scopus et finis est feliciter vivere: felicitas vitae autem in eo posita est, ut secundum naturam vivatur, nec vero secundum opiniones multitudinis.) Nur aber schlugen die Kyniker zu diesem Ziel einen ganz besondern Weg ein, einen dem gewöhnlichen gerade entgegengesetzten: den der möglichst weitgetriebenen Entbehrung. Sie giengen nämlich von der Einsicht aus, daß die Bewegungen, in welche den Willen die ihn reizenden und anregenden Objekte versetzen, und das mühevolle, meistens vereitelte Streben diese zu erlangen, oder, wenn sie erlangt sind, die Furcht sie zu verlieren, endlich gar der Verlust selbst, viel größere Schmerzen erzeugen, als die Entbehrung aller jener Objekte irgend vermag. Darum wählten sie, um zum schmerzlosesten Leben zu gelangen, den Weg der größtmöglichen Entbehrung, und flohen alle Genüsse, als Fallstricke, durch die man nochmals dem Schmerz überliefert würde. Danach aber konnten sie dem Glück, und seinen Launen kühn Trotz bieten. Dies ist der Geist des Kynismus: deutlich spricht ihn Seneka aus, im achten Kapitel De tranquillitate animi: cogitandum est, quanto levior dolor sit, non habere, quam perdere: et intelligemus, paupertati eo minorem tormentorum, quo minorem damnorum esse materiam. Sodann: Tolerabilius est, faciliusque, non acquirere, quam amittere. – – – Diogenes effecit, ne quid sibi eripi posset, – – – qui se fortuitis omnibus exuit. – – – Videtur mihi dixisse: age tuum negotium, fortuna: nihil apud Diogenem jam tuum est. Zu diesem letzteren Satz ist die Parallelstelle die Anführung des Stobäos (Ed., II, 7): Diogenês ephê nomizein horan tên Tychên enorôsan auton kai legousan; touton d' ou dynamai baleein kyna lyssêtêra. (Diogenes credere se dixit, videre Fortunam, ipsum intuentem, ac dicentem: ast hunc non potui tetigisse canem rabiosum). Den selben Geist des Kynismus bezeugt auch die Grabschrift des Diogenes, bei Suidas, voce Philiskos , und bei Diogenes Laertius, VI, 2:

Gêraskei men chalkos hypo chronou; alla son outi

Kydos ho pas aiôn, Diogenes, kathelei;

Mounos epei biotês autarkea doxan edeixas

Thnêtois, kai zôês oimon elaphrotatên.

(Aera quidem absumit tempus, sed tempore numquam

Interitura tua est gloria, Diogenes:

Quandoquidem ad vitam miseris mortalibus aequam

Monstrata est facilis, te duce, et ampla via.)

Der Grundgedanke des Kynismus ist demnach, daß das Leben in seiner einfachsten und nacktesten Gestalt, mit den ihm von der Natur beigegebenen Beschwerden, das erträglichste, mithin zu erwählen sei; weil jede Hülfe, Bequemlichkeit, Ergötzlichkeit und Genuß, dadurch man es angenehmer machen möchte, nur neue und größere Plagen herbeizöge, als die demselben ursprünglich eigenen. Daher ist als der Kernausdruck seiner Lehre der Satz anzusehn: Diogenês eboa pollakis legôn, ton tôn anthrôpôn bion radion hypo tôn theôn dedosthai, apokekryphthai de auton zêtountôn melipêkta kai myra kai ta paraplêsia. (Diogenes clamabat saepius, hominum vitam facilem a diis dari, verum occultari illam quaerentibus mellita cibaria, unguenta, et his similia. – Diog. Laert., VI, 2.) Ferner auch: Deon, anti tôn achrêstôn ponôn, taus kata physin helomenous, zên eudaimonôs para tên anoian kakodaimonousi. – – – ton auton charaktêra tou biou legôn diexagein, honper kai Hêraklês, mêden eleuthêrias prokrinôn. (Quum igitur, repudiatis inutilibus laboribus, naturales insequi, ac vivere beate debeamus, per summam dementiam infelices sumus. – – – – eandem vitae formam, quam Hercules, se vivere affirmans, nihil libertati praeferens. – Ibid.) Demnach hatten die alten, ächten Kyniker, Antisthenes, Diogenes, Krates und ihre Jünger, ein für alle Mal jedem Besitz, allen Bequemlichkeiten und Genüssen entsagt, um der Mühe und Sorge, der Abhängigkeit und den Schmerzen, die unvermeidlich damit verknüpft sind und nicht dadurch aufgewogen werden, für immer zu entgehn. Durch nothdürftige Befriedigung der dringendesten Bedürfnisse und Entbehrung alles Ueberflüssigen gedachten sie leichtesten Kaufes davonzukommen. Sonach begnügten sie sich mit Dem, was in Athen und Korinth so ziemlich umsonst zu haben war, wie Lupinen, Wasser, ein schlechtes Tribonion, Schnappsack und Knittel, bettelten gelegentlich, so weit es hiezu nöthig war, arbeiteten aber nicht. Sie nahmen jedoch durchaus nichts an, was über obige Bedürfnisse hinausgieng. Unabhängigkeit, im weitesten Sinn, war ihre Absicht. Ihre Zeit brachten sie zu mit Ruhen, Umhergehn, Reden mit allen Menschen, viel Spotten, Lachen und Scherzen: ihr Charakter war Sorglosigkeit und große Heiterkeit. Da sie nun, bei dieser Lebensweise, kein eigenes Trachten, keine Absichten und Zwecke zu verfolgen hatten, also über das menschliche Treiben selbst hinausgehoben waren, dabei auch stets voller Muße genossen, eigneten sie, als Männer von erprobter Geistesstärke, sich trefflich, die Berather und Ermahner der Uebrigen zu werden. Daher sagt Apulejus (Florid., IV): Crates, ut lar familiaris apud homines suae aetatis cultus est. Nulla domus ei unquam clausa erat: nec erat patrisfamilias tam absconditum secretum, quin eo tempestive Crates interveniret, litium omnium et jurgiorum inter propinquos disceptator et arbiter. Auch hierin also, wie in so vielem Andern, zeigen sie große Aehnlichkeit mit den Bettelmönchen der neuen Zeit, d.h. mit den besseren und ächten unter diesen, deren Ideal man sich an dem Kapuziner Christoph, in Manzoni's berühmtem Roman, vergegenwärtigen mag. Jedoch liegt diese Aehnlichkeit nur in den Wirkungen, nicht in der Ursache. Sie treffen im Resultat zusammen; aber der Grundgedanke Beider ist ganz verschieden: bei den Mönchen ist er, wie bei den ihnen verwandten Saniassis, ein über das Leben hinausgestecktes Ziel; bei den Kynikern aber nur die Überzeugung, daß es leichter sei, seine Wünsche und Bedürfnisse auf das Minimum herabzusetzen, als in ihrer Befriedigung das Maximum zu erreichen, welches sogar unmöglich ist, da mit der Befriedigung die Wünsche und Bedürfnisse ins Unendliche wachsen; daher sie, um das Ziel aller antiken Ethik, möglichste Glücksäligkeit in diesem Leben, zu erreichen, den Weg der Entsagung einschlugen, als den kürzesten und leichtesten: hothen kai ton Kynismon eirêkasin syntomon ep' aretên hodon (unde et Cynismum dixere compendiosam ad virtutem viam. Diog. Laert., VI 9). – Die Grundverschiedenheit des Geistes des Kynismus von dem der Askese tritt augenfällig hervor an der Demuth, als welche der Askese wesentlich, dem Kynismus aber so fremd ist, daß er, im Gegentheil, den Stolz und die Verachtung aller Uebrigen im Schilde führt:

Sapiens uno minor est Jove, dives,

Liber, honoratus, pulcher, rex denique regum.

Hor.

Hingegen trifft, dem Geiste der Sache nach, die Lebensansicht der Kyniker mit der des J. J. Rousseau, wie er sie im Discours sur l'origine de 1'inégalité darlegt, zusammen; da auch er uns zum rohen Naturzustande zurückführen möchte und das Herabsetzen unserer Bedürfnisse auf ihr Minimum als den sichersten Weg zur Glücksäligkeit betrachtet. – Uebrigens waren die Kyniker ausschließlich praktische Philosophen: wenigstens ist mir keine Nachricht von ihrer theoretischen Philosophie bekannt.

Aus ihnen giengen nun die Stoiker dadurch hervor, daß sie das Praktische in ein Theoretisches verwandelten. Sie meinten, das wirkliche Entbehren alles irgend Entbehrlichen sei nicht erfordert, sondern es reiche hin, daß man Besitz und Genuß beständig als entbehrlich und als in der Hand des Zufalls stehend betrachte: da würde denn die wirkliche Entbehrung, wenn sie etwan eintrete, weder unerwartet seyn, noch schwer fallen. Man könne immerhin Alles haben und genießen; nur müsse man die Ueberzeugung von der Werthlosigkeit und Entbehrlichkeit solcher Güter einerseits, und von ihrer Unsicherheit und Hinfälligkeit andererseits stets gegenwärtig erhalten, mithin sie alle ganz gering schätzen, und allezeit bereit seyn, sie aufzugeben. Ja, wer, um nicht durch jene Dinge bewegt zu werden, sie wirklich entbehren müsse, zeige dadurch an, daß er, in seinem Herzen, sie für wahre Güter halte, die man, um nicht danach lüstern zu werden, ganz aus seinem Gesichtskreis entfernen müsse. Der Weise hingegen erkenne, daß sie gar keine Güter seien, vielmehr ganz gleichgültige Dinge, adiaphora, allenfalls proêgmena. Daher wird er sie, wenn sie sich darbieten, annehmen, ist jedoch stets bereit, sie mit größter Gleichgültigkeit wieder fahren zu lassen, wenn der Zufall, dem sie angehören, sie zurückfordert; weil sie tôn ouk eph'hêmin sind. In diesem Sinne sagt Epiktet, Kap. 7, der Weise werde, gleich Einem, der vom Schiffe ans Land gestiegen u.s.w., sich auch ein Weibchen, oder Knäbchen gefallen lassen, dabei jedoch stets bereit seyn, sobald der Schiffer ruft, sie wieder gehn zu lassen. – So vervollkommneten die Stoiker die Theorie des Gleichmuths und der Unabhängigkeit, auf Kosten der Praxis, indem sie Alles auf einen mentalen Proceß zurückführten und durch Argumente, wie sie das erste Kapitel des Epiktet darbietet, sich alle Bequemlichkeiten des Lebens heransophisticirten. Sie hatten aber dabei außer Acht gelassen, daß alles Gewohnte zum Bedürfniß wird und daher nur mit Schmerz entbehrt werden kann; daß der Wille nicht mit sich spielen läßt, nicht genießen kann, ohne die Genüsse zu lieben; daß ein Hund nicht gleichgültig bleibt, indem man ihm ein Stück Braten durchs Maul zieht, und ein Weiser, wenn er hungerig ist, auch nicht; und daß es zwischen Begehren und Entsagen kein Mittleres giebt. Sie aber glaubten sich dadurch mit ihren Grundsätzen abzufinden, daß sie, an einer luxuriösen Römischen Tafel sitzend, kein Gericht ungekostet ließen, jedoch dabei versicherten, Das wären sammt und sonders bloße proêgmena, keine agatha; oder, Deutsch zu reden, daß sie aßen, tranken und sich einen guten Tag machten, dabei aber dem lieben Gott keinen Dank dafür wußten, vielmehr fastidiöse Gesichter schnitten und nur immer brav versicherten, sie machten sich den Teufel etwas aus der ganzen Fresserei. Dies war das Auskunftsmittel der Stoiker: sie waren demnach bloße Maulhelden, und zu den Kynikern verhalten sie sich ungefähr, wie wohlgemästete Benediktiner und Augustiner zu Franziskanern und Kapuzinern. Je mehr sie nun die Praxis vernachlässigten, desto feiner spitzten sie die Theorie zu. Der am Schlusse unsers ersten Buches gegebenen Auseinandersetzung derselben will ich hier noch einige einzelne Belege und Ergänzungen beifügen.

Wenn wir in den uns hinterbliebenen Schriften der Stoiker, die alle unsystematisch abgefaßt sind, nach dem letzten Grunde jenes uns unablässig zugemutheten, unerschütterlichen Gleichmuthes forschen; so finden wir keinen andern, als die Erkenntniß der gänzlichen Unabhängigkeit des Weltlaufs von unserm Willen und folglich der Unvermeidlichkeit der uns treffenden Uebel. Haben wir nach einer richtigen Einsicht hierin unsere Ansprüche regulirt; so ist Trauern, Jubeln, Fürchten und Hoffen eine Thorheit, deren wir nicht mehr fähig sind. Dabei wird, besonders in den Kommentarien des Arrians, die Subreption begangen, daß Alles was ouk eph' hêmin ist (d.h. nicht von uns abhängt), sofort auch ou pros hêmas wäre (d.h. uns nichts angienge). Doch bleibt wahr, daß alle Güter des Lebens in der Macht des Zufalls stehn, mithin sobald er, diese Macht übend, sie uns entreißt, wir unglücklich sind, wenn wir unser Glück. darin gesetzt haben. Diesem unwürdigen Schicksal soll uns der richtige Gebrauch der Vernunft entziehn, vermöge dessen wir alle jene Güter nie als die unserigen betrachten, sondern nur als auf unbestimmte Zeit uns geliehen: nur so können wir sie eigentlich nie verlieren. Daher sagt Seneka (Ep. 98): Si, quid humanarum rerum varietas possit, cogitaverit, ante quam senserit, und Diogenes Laërtius (VII, I, 87): Ison de esti to kat' aretên zên tô kat' empeirian tôn physei symbainontôn zên. (Secundum virtutem vivere idem est, quod secundum experientiam eorum, quae secundum naturam accidunt, vivere.) Hieher gehört besonders die Stelle in Arrians Epiktetäischen Abhandlungen, B. III, Kap. 24, 84-89; und speciell, als Beleg des § 16 des ersten Bandes in dieser Hinsicht von mir Gesagten, die Stelle: Touto gar esti to aition tois anthrôpois pantôn tôn kakôn, to tas prolêpseis tas koinas mê dynasthai epharmozein tois epi merous, ibid. IV, 1. 42. (Haec enim causa est hominibus omnium malorum, quod anticipationes generales rebus singularibus accommodare non possunt.) Desgleichen die Stelle im Antoninus (IV, 29): Ei xenos kosmou ho mê gnôrizôn ta en autô onta, ouch hêtton xenos kai ho mê gnôrizôn ta giginomena, d.h.: »Wenn Der ein Fremdling in der Welt ist, welcher nicht weiß, was es darin giebt; so ist es nicht weniger Der, welcher nicht weiß, wie es darin hergeht.« Auch Seneka's elftes Kapitel De tranquillitate animi ist ein vollkommender Beleg dieser Ansicht. Die Meinung der Stoiker geht im Ganzen dahin, daß wenn der Mensch dem Gaukelspiel des Glückes eine Weile zugesehn hat und nun seine Vernunft gebraucht, er sowohl den schnellen Wechsel der Würfel, als die innere Werthlosigkeit der Rechenpfennige erkennen und daher fortan unbewegt bleiben müsse. Ueberhaupt läßt die Stoische Ansicht sich auch so ausdrücken: Unser Leiden entspringt allemal aus dem Mißverhältniß zwischen unsern Wünschen und dem Weltlauf. Daher muß Eines dieser Beiden geändert und dem Andern angepaßt werden. Da nun der Lauf der Dinge nicht in unserer Macht steht (ouch eph' hêmin); so müssen wir unser Wollen und Wünschen dem Lauf der Dinge gemäß einrichten: denn der Wille allein ist eph' hêmin. Dieses Anpassen des Wollens zum Laufe der Außenwelt, also zur Natur der Dinge, wird sehr oft unter dem vieldeutigen kata physin zên verstanden. Man sehe Arriani Diss., II, 17, 21, 22. Ferner bezeichnet diese Ansicht Seneka (Ep. 119), indem er sagt: Nihil interest, utrum non desideres, an habeas. Summa rei in utroque est eadem: non torqueberis. Auch Cicero (Tusc., IV, 26), durch die Worte: Solum habere velle, summa dementia est. Desgleichen Arrian (IV, I, 1751) Ou gar ekplêrôsei tôn epithymoumenôn eleutheria paraskeuazetai, alla anaskeuê tês epithymias. (Non enim explendis desideriis libertas comparatur, sed tollenda cupiditate.)

Als Belege dessen, was ich am angeführten Orte über das homologoumenôs zên der Stoiker gesagt habe, kann man die in der Historia philosophiae Graeco-Romanae von Ritter und Preller, § 398, zusammengestellten Anführungen betrachten; desgleichen den Ausspruch des Seneka (Ep. 31 und nochmals Ep. 74): Perfecta virtus est aequalitas et tenor vitae per omnia consonans sibi. Den Geist der Stoa überhaupt bezeichnet deutlich diese Stelle des Seneka (Ep. 92): Quid est beata vita? Securitas et perpetua tranquillitas. Hanc dabit animi magnitudo, dabit constantia bene judicati tenax. Ein zusammenhängendes Studium der Stoiker wird Jeden überzeugen, daß der Zweck ihrer Ethik, eben wie der des Kynismus, aus welchem sie entsprungen, durchaus kein anderer ist, als ein möglichst schmerzloses und dadurch möglichst glückliches Leben; woraus folgt, daß die Stoische Moral nur eine besondere Art des Eudämonismus ist. Sie hat nicht, wie die Indische, die Christliche, selbst die Platonische Ethik, eine metaphysische Tendenz, einen transscendenten Zweck, sondern einen völlig immanenten, in diesem Leben erreichbaren: die Unerschütterlichkeit (ataraxia) und ungetrübte Glücksäligkeit des Weisen, den nichts anfechten kann. Doch ist nicht zu leugnen, daß die späteren Stoiker, namentlich Arrian, bisweilen diesen Zweck aus den Augen verlieren und eine wirklich asketische Tendenz verrathen, welches dem damals schon sich verbreitenden Christlichen und überhaupt orientalischen Geiste zuzuschreiben ist. – Wenn wir das Ziel des Stoicismus, jene ataraxia, in der Nähe und ernstlich betrachten; so finden wir in ihr eine bloße Abhärtung und Unempfindlichkeit gegen die Streiche des Schicksals, dadurch erlangt, daß man die Kürze des Lebens, die Leerheit der Genüsse, den Unbestand des Glücks sich stets gegenwärtig erhält, auch eingesehn hat, daß zwischen Glück und Unglück der Unterschied sehr viel kleiner ist, als unsere Anticipation Beider ihn uns vorzuspiegeln pflegt. Dies ist aber noch kein glücklicher Zustand, sondern nur das gelassene Ertragen der Leiden, die man als unvermeidlich vorhergesehn hat. Doch liegt Geistesgröße und Würde darin, daß man schweigend und gelassen das Unvermeidliche trägt, in melancholischer Ruhe, sich gleich bleibend, während Andere vom Jubel zur Verzweiflung und von dieser zu jenem übergehn. – Man kann demnach den Stoicismus auch auffassen als eine geistige Diätetik, welcher gemäß, wie man den Leib gegen Einflüsse des Windes und Wetters, gegen Ungemach und Anstrengung abhärtet, man auch sein Gemüth abzuhärten hat gegen Unglück, Gefahr, Verlust, Ungerechtigkeit, Tücke, Verrath, Hochmuth und Narrheit der Menschen.

Ich bemerke noch, daß die kathêkonta der Stoiker, welche Cicero officia übersetzt, ungefähr bedeuten Obliegenheiten, oder Das, was zu thun der Sache angemessen ist. Englisch incumbencies, Italiänisch quel che tocca a me di fare, o di lasciare, also überhaupt was einem vernünftigen Menschen zu thun zukommt. Man sehe Diog. Laert., VII, I. 109. – Endlich den Pantheismus der Stoiker, wie er ganz und gar nicht zu so manchen Kapuzinaden Arrians paßt, spricht auf das deutlichste Seneka aus: Quid est Deus? Mens universi. Quid est Deus? Quod vides totum, et quod non vides totum. Sic demum magnitudo sua illi redditur, qua nihil majus excogitari potest: si solus est omnia, opus suum et extra et intra tenet. (Quaest. natur. I, praefatio, 12.)

Kapitel 17. Ueber das metaphysische Bedürfniß des Menschen

Den Menschen ausgenommen, wundert sich kein Wesen über sein eigenes Daseyn; sondern ihnen Allen versteht dasselbe sich so sehr von selbst, daß sie es nicht bemerken. Aus der Ruhe des Blickes der Thiere spricht noch die Weisheit der Natur; weil in ihnen der Wille und der Intellekt noch nicht weit genug auseinandergetreten sind, um bei ihrem Wiederbegegnen sich über einander verwundern zu können. So hängt hier die ganze Erscheinung noch fest am Stamme der Natur, dem sie entsprossen, und ist der unbewußten Allwissenheit der großen Mutter theilhaft. – Erst nachdem das innere Wesen der Natur (der Wille zum Leben in seiner Objektivation) sich durch die beiden Reiche der bewußtlosen Wesen und dann durch die lange und breite Reihe der Thiere, rüstig und wohlgemuth, gesteigert hat, gelangt es endlich, beim Eintritt der Vernunft, also im Menschen, zum ersten Male zur Besinnung: dann wundert es sich über seine eigenen Werke und fragt sich, was es selbst sei. Seine Verwunderung ist aber um so ernstlicher, als es hier zum ersten Male mit Bewußtsein dem Tode gegenübersteht, und neben der Endlichkeit alles Daseyns auch die Vergeblichkeit alles Strebens sich ihm mehr oder minder aufdringt. Mit dieser Besinnung und dieser Verwunderung entsteht daher das dem Menschen allein eigene Bedürfniß einer Metaphysik: er ist sonach ein animal metaphysicum. Im Anfang seines Bewußtseyns freilich nimmt auch er sich als Etwas, das sich von selbst versteht. Aber dies währt nicht lange; sondern sehr früh, zugleich mit der ersten Reflexion, tritt schon diejenige Verwunderung ein, welche dereinst Mutter der Metaphysik werden soll. – Diesem gemäß sagt auch Aristoteles im Eingang seiner Metaphysik: Dia gar to thaumazein hoi anthrôpoi kai nyn kai to prôton êrxanto philosophein. (Propter admirationem enim et nunc et primo inceperunt homines philosophari.) Auch besteht die eigentliche philosophische Anlage zunächst darin, daß man über das Gewöhnliche und Alltägliche sich zu verwundern fähig ist, wodurch man eben veranlaßt wird, das Allgemeine der Erscheinung zu seinem Problem zu machen; während die Forscher in den Realwissenschaften sich nur über ausgesuchte und seltene Erscheinungen verwundern, und ihr Problem bloß ist, diese auf bekanntere zurückzuführen. Je niedriger ein Mensch in intellektueller Hinsicht steht, desto weniger Räthselhaftes hat für ihn das Daseyn selbst: ihm scheint vielmehr sich Alles, wie es ist, und daß es sei, von selbst zu verstehn. Dies beruht darauf, daß sein Intellekt seiner ursprünglichen Bestimmung, als Medium der Motive dem Willen dienstbar zu seyn, noch ganz treu geblieben und deshalb mit der Welt und Natur, als integrirender Theil derselben, eng verbunden, folglich weit entfernt davon ist, sich vom Ganzen der Dinge gleichsam ablösend, demselben gegenüber zu treten und so einstweilen als für sich bestehend, die Welt rein objektiv aufzufassen. Hingegen ist die hieraus entspringende philosophische Verwunderung im Einzelnen durch höhere Entwickelung der Intelligenz bedingt, überhaupt jedoch nicht durch diese allein; sondern ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod, und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Noth des Lebens, was den stärksten Anstoß zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt giebt. Wenn unser Leben endlos und schmerzlos wäre, würde es vielleicht doch Keinem einfallen zu fragen, warum die Welt dasei und gerade diese Beschaffenheit habe; sondern eben auch sich Alles von selbst verstehn. Dem entsprechend finden wir, daß das Interesse, welches philosophische, oder auch religiöse Systeme einflößen, seinen allerstärksten Anhaltspunkt durchaus an dem Dogma irgend einer Fortdauer nach dem Tode hat: und wenn gleich die letzteren das Daseyn ihrer Götter zur Hauptsache zu machen und dieses am eifrigsten zu vertheidigen scheinen; so ist dies im Grunde doch nur, weil sie an dasselbe ihr Unsterblichkeitsdogma geknüpft haben und es für unzertrennlich von ihm halten: nur um dieses ist es ihnen eigentlich zu thun. Denn wenn man ihnen dasselbe anderweitig sicher stellen könnte; so würde der lebhafte Eifer für ihre Götter alsbald erkalten, und er würde fast gänzlicher Gleichgültigkeit Platz machen, wenn, umgekehrt, die völlige Unmöglichkeit einer Unsterblichkeit ihnen bewiesen wäre: denn das Interesse am Daseyn der Götter verschwände mit der Hoffnung einer nähern Bekanntschaft mit ihnen, bis auf den Rest, der sich an ihren möglichen Einfluß auf die Vorfälle des gegenwärtigen Lebens knüpfen möchte. Könnte man aber gar die Fortdauer nach dem Tode, etwan weil sie Ursprünglichkeit des Wesens voraussetzte, als unverträglich mit dem Daseyn von Göttern nachweisen; so würden sie diese bald ihrer eigenen Unsterblichkeit zum Opfer bringen und für den Atheismus eifern. Auf dem selben Grunde beruht es, daß die eigentlich materialistischen Systeme, wie auch die absolut skeptischen, niemals einen allgemeinen, oder dauernden Einfluß haben erlangen können.

Tempel und Kirchen, Pagoden und Moscheen, in allen Landen, aus allen Zeiten, in Pracht und Größe, zeugen vom metaphysischen Bedürfniß des Menschen, welches, stark und unvertilgbar, dem physischen auf dem Fuße folgt. Freilich könnte wer satirisch gelaunt ist hinzufügen, daß dasselbe ein bescheidener Bursche sei, der mit geringer Kost vorlieb nehme. An plumpen Fabeln und abgeschmackten Mährchen läßt er sich bisweilen genügen: wenn nur früh genug eingeprägt, sind sie ihm hinlängliche Auslegungen seines Daseyns und Stützen seiner Moralität. Man betrachte z.B. den Koran: dieses schlechte Buch war hinreichend, eine Weltreligion zu begründen, das metaphysische Bedürfniß zahlloser Millionen Menschen seit 1200 Jahren zu befriedigen, die Grundlage ihrer Moral und einer bedeutenden Verachtung des Todes zu werden, wie auch, sie zu blutigen Kriegen und den ausgedehntesten Eroberungen zu begeistern. Wir finden in ihm die traurigste und ärmlichste Gestalt des Theismus. Viel mag durch die Uebersetzungen verloren gehn; aber ich habe keinen einzigen werthvollen Gedanken darin entdecken können. Dergleichen beweist, daß mit dem metaphysischen Bedürfniß die metaphysische Fähigkeit nicht Hand in Hand geht. Doch will es scheinen, daß in den frühen Zeiten der gegenwärtigen Erdoberfläche Diesem anders gewesen sei und daß Die, welche der Entstehung des Menschengeschlechts und dem Urquell der organischen Natur bedeutend näher standen, als wir, auch noch theils größere Energie der intuitiven Erkenntnißkräfte, theils eine richtigere Stimmung des Geistes hatten, wodurch sie einer reineren, unmittelbaren Auffassung des Wesens der Natur fähig und dadurch im Stande waren, dem metaphysischen Bedürfniß auf eine würdigere Weise zu genügen: so entstanden in den Urvätern der Brahmanen, den Rischis, die fast übermenschlichen Konceptionen, welche später in den Upanischaden der Veden niedergelegt wurden.

Niemals hingegen hat es an Leuten gefehlt, welche auf jenes metaphysische Bedürfniß des Menschen ihren Unterhalt zu gründen und dasselbe möglichst auszubeuten bemüht waren; daher es unter allen Völkern Monopolisten und Generalpächter desselben giebt: die Priester. Ihr Gewerbe mußte ihnen jedoch überall dadurch gesichert werden, daß sie das Recht erhielten, ihre metaphysischen Dogmen den Menschen sehr früh beizubringen, ehe noch die Urtheilskraft aus ihrem Morgenschlummer erwacht ist, also in der ersten Kindheit: denn da haftet jedes wohl eingeprägte Dogma, sei es auch noch so unsinnig, auf immer. Hätten sie zu warten, bis die Urtheilskraft reif ist; so würden ihre Privilegien nicht bestehn können.

Eine zweite, wiewohl nicht zahlreiche Klasse von Leuten, welche ihren Unterhalt aus dem metaphysischen Bedürfniß der Menschen zieht, machen die aus, welche von der Philosophie leben: bei den Griechen hießen sie Sophisten, bei den Neuern Professoren der Philosophie. Aristoteles zählt (Metaph. II, 2) den Aristipp unbedenklich den Sophisten bei: den Grund dazu finden wir bei Diogenes Laertius (II, 65), nämlich daß er der Erste unter den Sokratikern gewesen, der sich seine Philosophie bezahlen ließ; weshalb auch Sokrates ihm sein Geschenk zurücksandte. Auch bei den Neuern sind die, welche von der Philosophie leben, nicht nur, in der Regel und mit den seltensten Ausnahmen, ganz Andere, als die, welche für die Philosophie leben; sondern sogar sind sie sehr oft die Widersacher, die heimlichen und unversöhnlichen Feinde dieser: denn jede ächte und bedeutende philosophische Leistung wird auf die ihrigen zu viel Schatten werfen und überdies den Absichten und Beschränkungen der Gilde sich nicht fügen; weshalb sie allezeit bemüht sind, eine solche nicht aufkommen zu lassen, wozu dann, nach Maaßgabe der jedesmaligen Zeiten und Umstände, bald Verhehlen, Zudecken, Verschweigen, Ignoriren, Sekretiren, bald Verneinen, Verkleinern, Tadeln, Lästern, Verdrehen, bald Denunziren und Verfolgen die üblichen Mittel sind. Daher hat denn auch schon mancher große Kopf, unerkannt, ungeehrt, unbelohnt, sich keuchend durchs Leben schleppen müssen, bis endlich nach seinem Tode die Welt über ihn enttäuscht wurde, und [er] über sie. Inzwischen hatten sie ihren Zweck erreicht, hatten gegolten, dadurch daß sie ihn nicht gelten ließen, und hatten mit Weib und Kind von der Philosophie gelebt, während Jener für diese lebte. Ist er aber todt; da kehrt die Sache sich um: die neue Generation jener stets Vorhandenen wird nun der Erbe seiner Leistungen, schneidet sie nach ihrem Maaßstab sich zurecht und lebt jetzt von ihm. Daß jedoch Kant zugleich von und für die Philosophie leben konnte, beruhte auf dem seltenen Umstande, daß, zum ersten Male wieder, seit dem Divo Antonino und Divo Juliano, ein Philosoph auf dem Throne saß: nur unter solchen Anspielen konnte die Kritik der reinen Vernunft das Licht erblicken. Kaum war der König todt, so sehn wir auch schon Kanten, weil er zur Gilde gehörte, von Furcht ergriffen, sein Meisterwerk in der zweiten Ausgabe modificiren, kastriren und verderben, dennoch aber bald in Gefahr kommen, seine Stelle zu verlieren; so daß ihn Campe in Braunschweig einlud, zu ihm zu kommen, um als das Oberhaupt seiner Familie bei ihm zu leben (Ring, Ansichten aus Kants Leben, S. 68). Mit der Universitätsphilosophie ist es in der Regel bloße Spiegelfechterei: der wirkliche Zweck derselben ist, den Studenten, im tiefsten Grunde ihres Denkens, diejenige Geistesrichtung zu geben, welche das die Professuren besetzende Ministerium seinen Absichten angemessen hält. Daran mag dieses, im staatsmännischen Sinn, auch ganz Recht haben: nur folgt daraus, daß solche Kathederphilosophie ein nervis alienis mobile lignum ist und nicht für ernstliche, sondern nur für Spaaßphilosophie gelten kann. Auch bleibt es jedenfalls billig, daß eine solche Beaufsichtigung, oder Leitung, sich bloß auf die Kathederphilosophie erstrecke, nicht aber auf die wirkliche, welche es ernstlich meint. Denn, wenn irgend etwas auf der Welt wünschenswerth ist, so wünschenswerth, daß selbst der rohe und dumpfe Haufen, in seinen besonneneren Augenblicken, es höher schätzen würde, als Silber und Gold; so ist es, daß ein Lichtstrahl fiele auf das Dunkel unsers Daseyns und irgend ein Aufschluß uns würde über diese räthselhafte Existenz, an der nichts klar ist, als ihr Elend und ihre Nichtigkeit. Dies aber wird, gesetzt es sei an sich erreichbar, durch aufgedrungene und aufgezwungene Lösungen des Problems unmöglich gemacht.

Jetzt aber wollen wir die verschiedenen Weisen der Befriedigung, welche diesem so starken metaphysischen Bedürfnisse wird, einer allgemeinen Betrachtung unterwerfen.

Unter Metaphysik verstehe ich jede angebliche Erkenntniß, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur, oder die gegebene Erscheinung der Dinge, hinausgeht, um Aufschluß zu ertheilen über Das, wodurch jene, in einem oder dem andern Sinne, bedingt wäre; oder, populär zu reden, über Das, was hinter der Natur steckt und sie möglich macht. – Nun aber setzt die große ursprüngliche Verschiedenheit der Verstandeskräfte, wozu noch die der viele Muße erfordernden Ausbildung derselben kommt, einen so großen Unterschied zwischen Menschen, daß, sobald ein Volk sich aus dem Zustande der Rohheit herausgearbeitet hat, nicht wohl eine Metaphysik für Alle ausreichen kann; daher wir bei den civilisirten Völkern durchgängig zwei verschiedene Arten derselben antreffen, welche sich dadurch unterscheiden, daß die eine ihre Beglaubigung in sich, die andere sie außer sich hat. Da die metaphysischen Systeme der ersten Art, zur Rekognition ihrer Beglaubigung, Nachdenken, Bildung, Muße und Urtheil erfordern; so können sie nur einer äußerst geringen Anzahl von Menschen zugänglich seyn, auch nur bei bedeutender Civilisation entstehn und sich erhalten. Für die große Anzahl der Menschen hingegen, als welche nicht zu denken, sondern nur zu glauben befähigt und nicht für Gründe, sondern nur für Auktorität empfänglich ist, sind ausschließlich die Systeme der zweiten Art: diese können deshalb als Volksmetaphysik bezeichnet werden, nach Analogie der Volkspoesie, auch der Volksweisheit, worunter man die Sprichwörter versteht. Jene Systeme sind indessen unter dem Namen der Religionen bekannt und finden sich bei allen Völkern, mit Ausnahme der allerrohesten. Ihre Beglaubigung ist, wie gesagt, äußerlich und heißt als solche Offenbarung, welche dokumentirt wird durch Zeichen und Wunder. Ihre Argumente sind hauptsächlich Drohungen mit ewigen, auch wohl mit zeitlichen Uebeln, gerichtet gegen die Ungläubigen, ja schon gegen die bloßen Zweifler: als ultima ratio theologorum finden wir, bei manchen Völkern, den Scheiterhaufen, oder dem Aehnliches. Suchen sie eine andere Beglaubigung, oder gebrauchen sie andere Argumente; so machen sie schon einen Uebergang in die Systeme der ersten Art und können zu einem Mittelschlag beider ausarten; welches mehr Gefahr als Vortheil bringt. Denn ihnen giebt die sicherste Bürgschaft für den fortdauernden Besitz der Köpfe ihr unschätzbares Vorrecht, den Kindern beigebracht zu werden, als wodurch ihre Dogmen zu einer Art von zweitem angeborenen Intellekt einwachsen, gleich dem Zweige auf dem gepfropften Baum; während hingegen die Systeme der ersten Art sich immer nur an Erwachsene wenden, bei diesen aber allemal schon ein System der zweiten Art im Besitz der Ueberzeugung vorfinden. – Beide Arten der Metaphysik, deren Unterschied sich kurz durch Ueberzeugungslehre und Glaubenslehre bezeichnen läßt, haben Dies gemein, daß jedes einzelne System derselben in einem feindlichen Verhältniß zu allen übrigen seiner Art steht. Zwischen denen der ersten Art wird der Krieg nur mit Wort und Schrift, zwischen denen der zweiten auch mit Feuer und Schwerdt geführt: manche von diesen haben ihre Verbreitung zum Theil dieser letztern Art der Polemik zu danken, und alle haben nach und nach die Erde unter sich getheilt, und zwar mit so entschiedener Herrschaft, daß die Völker sich mehr nach ihnen, als nach der Nationalität, oder der Regierung unterscheiden und sondern. Nur sie sind, jede in ihrem Bezirke, herrschend, die der ersten Art hingegen höchstens tolerirt, und auch dies nur, weil man, wegen der geringen Anzahl ihrer Anhänger, sie meistens der Bekämpfung durch Feuer und Schwerdt nicht werth hält; wiewohl, wo es nöthig schien, auch diese mit Erfolg gegen sie angewendet worden sind: zudem finden sie sich bloß sporadisch. Meistens hat man sie jedoch nur in einem Zustande der Zähmung und Unterjochung geduldet, indem das im Lande herrschende System der zweiten Art ihnen vorschrieb, ihre Lehren seinen eigenen, mehr oder weniger eng, anzupassen. Bisweilen hat es sie nicht nur unterjocht, sondern sogar dienstbar gemacht und als Vorspann gebraucht; welches jedoch ein gefährliches Experiment ist; da jene Systeme der ersten Art, weil ihnen die Gewalt genommen ist, sich durch List helfen zu dürfen glauben und eine geheime Tücke nie ganz ablegen, die sich dann bisweilen unvermuthet hervorthut und schwer zu heilenden Schaden stiftet. Denn überdies wird ihre Gefährlichkeit dadurch erhöht, daß sämmtliche Realwissenschaften, sogar die unschuldigsten nicht ausgenommen, ihre heimlichen Alliirten gegen die Systeme der zweiten Art sind, und, ohne selbst mit diesen in offenem Kriege zu stehn, plötzlich und unerwartet, großen Schaden auf dem Gebiete derselben anrichten. Zudem ist der durch die erwähnte Dienstbarmachung bezweckte Versuch, einem System, welches ursprünglich seine Beglaubigung außerhalb hat, dazu noch eine von innen geben zu wollen, seiner Natur nach, mißlich: denn, wäre es einer solchen Beglaubigung fähig; so hätte es keiner äußern bedurft. Und überhaupt ist es stets ein Wagestück, einem fertigen Gebäude ein neues Fundament unterschieben zu wollen. Wie sollte überdies eine Religion noch des Suffragiums einer Philosophie bedürfen! Sie hat ja Alles auf ihrer Seite: Offenbarung, Urkunden, Wunder, Prophezeiungen, Schutz der Regierung, den höchsten Rang, wie er der Wahrheit gebührt, Beistimmung und Verehrung Aller, tausend Tempel, in denen sie verkündigt und geübt wird, geschworene Priesterschaaren, und, was mehr als Alles ist, das unschätzbare Vorrecht, ihre Lehren dem zarten Kindesalter einprägen zu dürfen, wodurch sie fast zu angeborenen Ideen werden. Um bei solchem Reichthum an Mitteln noch die Beistimmung armsäliger Philosophen zu verlangen, müßte sie habsüchtiger, oder, um den Widerspruch derselben zu besorgen, furchtsamer seyn, als mit einem guten Gewissen vereinbar scheint.

An den oben aufgestellten Unterschied zwischen Metaphysik der ersten und der zweiten Art knüpft sich noch folgender. Ein System der ersten Art, also eine Philosophie, macht den Anspruch, und hat daher die Verpflichtung, in Allem, was sie sagt, sensu stricto et proprio wahr zu seyn: denn sie wendet sich an das Denken und die Ueberzeugung. Eine Religion hingegen, für die Unzähligen bestimmt, welche, der Prüfung und des Denkens unfähig, die tiefsten und schwierigsten Wahrheiten sensu proprio nimmermehr fassen würden, hat auch nur die Verpflichtung sensu allegorico wahr zu seyn. Nackt kann die Wahrheit vor dem Volke nicht erscheinen. Ein Symptom dieser allegorischen Natur der Religionen sind die vielleicht in jeder anzutreffenden Mysterien, nämlich gewisse Dogmen, die sich nicht ein Mal deutlich denken lassen, geschweige wörtlich wahr seyn können. Ja, vielleicht ließe sich behaupten, daß einige völlige Widersinnigkeiten, einige wirkliche Absurditäten, ein wesentliches Ingredienz einer vollkommenen Religion seien: denn diese sind eben der Stämpel ihrer allegorischen Natur und die allein passende Art, dem gemeinen Sinn und rohen Verstande fühlbar zu machen, was ihm unbegreiflich wäre, nämlich daß die Religion im Grunde von einer ganz andern, von einer Ordnung der Dinge an sich handelt, vor welcher die Gesetze dieser Erscheinungswelt, denen gemäß sie sprechen muß, verschwinden, und daß daher nicht bloß die widersinnigen Dogmen, sondern auch die begreiflichen, eigentlich nur Allegorien und Akkommodationen zur menschlichen Fassungskraft sind. In diesem Geiste scheint mir Augustinus und selbst Luther die Mysterien des Christenthums festgehalten zu haben, im Gegensatz des Pelagianismus, der Alles zur platten Verständlichkeit herabziehn möchte. Von diesem Gesichtspunkte aus wird auch begreiflich, wie Tertullian, ohne zu spotten, sagen konnte: Prorsus credibile est, quia ineptum est; – – certum est, quia impossibile. (De carne Christi, c. 5.) – Diese ihre allegorische Natur entzieht auch die Religionen den der Philosophie obliegenden Beweisen und überhaupt der Prüfung; statt deren sie Glauben verlangen, d.h. eine freiwillige Annahme, daß es sich so verhalte. Da sodann der Glaube das Handeln leitet, und die Allegorie allemal so gestellt ist, daß sie, in Hinsicht auf das Praktische, eben dahin führt, wohin die Wahrheit sensu proprio auch führen würde; so verheißt die Religion Denen, welche glauben, mit Recht die ewige Säligkeit. Wir sehn also, daß die Religionen die Stelle der Metaphysik überhaupt, deren Bedürfniß der Mensch als unabweisbar fühlt, in der Hauptsache und für die große Menge, welche nicht dem Denken obliegen kann, recht gut ausfüllen, theils nämlich zum praktischen Behuf, als Leitstern ihres Handelns, als öffentliche Standarte der Rechtlichkeit und Tugend, wie Kant es vortrefflich ausdrückt; theils als unentbehrlicher Trost in den schweren Leiden des Lebens, als wo sie die Stelle einer objektiv wahren Metaphysik vollkommen vertreten, indem sie, so gut wie diese nur irgend könnte, den Menschen über sich selbst und das zeitliche Daseyn hinausheben: hierin zeigt sich glänzend der große Werth derselben, ja, ihre Unentbehrlichkeit. Denn philosophon plêthos adynaton einai (vulgus philosophum esse impossibile est), sagt schon Plato und mit Recht (De Rep., VI, p. 89, Bip.). Der einzige Stein des Anstoßes hingegen ist dieser, daß die Religionen ihre allegorische Natur nie eingestehn dürfen, sondern sich als sensu proprio wahr zu behaupten haben. Dadurch thun sie einen Eingriff in das Gebiet der eigentlichen Metaphysik, und rufen den Antagonismus dieser hervor, der daher zu allen Zeiten, in denen sie nicht an die Kette gelegt worden, sich äußert. – Auf dem Verkennen der allegorischen Natur jeder Religion beruht auch der in unsern Tagen so anhaltend geführte Streit zwischen Supernaturalisten und Rationalisten. Beide nämlich wollen das Christenthum sensu proprio wahr haben: in diesem Sinne wollen die ersten es ohne Abzug, gleichsam mit Haut und Haar, behaupten; wobei sie, den Kenntnissen und der allgemeinen Bildung des Zeitalters gegenüber, einen schweren Stand haben. Die andern hingegen suchen alles eigenthümlich Christliche hinauszuexegesiren; wonach sie etwas übrig behalten, das weder sensu proprio noch sensu allegorico wahr ist, vielmehr eine bloße Platitüde, beinahe nur Judenthum, oder höchstens seichter Pelagianismus, und, was das Schlimmste, niederträchtiger Optimismus, der dem eigentlichen Christenthum durchaus fremd ist. Ueberdies versetzt der Versuch, eine Religion aus der Vernunft zu begründen, sie in die andere Klasse der Metaphysik, in die, welche ihre Beglaubigung in sich selbst hat, also auf einen fremden Boden, auf den der philosophischen Systeme, und sonach in den Kampf, den diese, auf ihrer eigenen Arena, gegen einander führen, folglich unter das Gewehrfeuer des Skepticismus und das schwere Geschütz der Kritik der reinen Vernunft: sich aber dahin zu begeben, wäre für sie offenbare Vermessenheit.

Beiden Arten der Metaphysik wäre es am zuträglichsten, daß jede von der andern rein gesondert bliebe und sich auf ihrem eigenen Gebiete hielte, um daselbst ihr Wesen vollkommen entwickeln zu können. Statt dessen ist man schon das ganze Christliche Zeitalter hindurch bemüht, vielmehr eine Fusion beider zu bewerkstelligen, indem man die Dogmen und Begriffe der einen in die andere überträgt, wodurch man beide verdirbt. Am unverholensten ist dies in unsern Tagen geschehn in jenem seltsamen Zwitter oder Kentauren, der sogenannten Religionsphilosophie, welche, als eine Art Gnosis, bemüht ist, die gegebene Religion zu deuten und das sensu allegorico Wahre durch ein sensu proprio Wahres auszulegen. Allein dazu müßte man die Wahrheit sensu proprio schon kennen und besitzen: alsdann aber wäre jene Deutung überflüssig. Denn bloß aus der Religion die Metaphysik, d.i. die Wahrheit sensu proprio, durch Auslegung und Umdeutung erst finden zu wollen, wäre ein mißliches und gefährliches Unternehmen, zu welchem man sich nur dann entschließen könnte, wenn es ausgemacht wäre, daß die Wahrheit, gleich dem Eisen und andern unedlen Metallen, nur im vererzten, nicht im gediegenen Zustande vorkommen könne, daher man sie nur durch Reduktion aus der Vererzung gewinnen könnte. –

Religionen sind dem Volke nothwendig, und sind ihm eine unschätzbare Wohlthat. Wenn sie jedoch den Fortschritten der Menschheit in der Erkenntniß der Wahrheit sich entgegenstellen wollen; so müssen sie mit möglichster Schonung bei Seite geschoben werden. Und zu verlangen, daß sogar ein großer Geist – ein Shakespeare, ein Goethe – die Dogmen irgend einer Religion implicite, bona fide et sensu proprio zu seiner Ueberzeugung mache, ist wie verlangen, daß ein Riese den Schuh eines Zwerges anziehe.

Religionen können, als auf die Fassungskraft der großen Menge berechnet, nur eine mittelbare, nicht eine unmittelbare Wahrheit haben: diese von ihnen verlangen, ist, wie wenn man die im Buchdruckerrahmen aufgesetzten Lettern lesen wollte, statt ihres Abdrucks. Der Werth einer Religion wird demnach abhängen von dem größern oder geringern Gehalt an Wahrheit, den sie, unter dem Schleier der Allegorie, in sich trägt, sodann von der größern oder geringern Deutlichkeit, mit welcher derselbe durch diesen Schleier sichtbar wird, also von der Durchsichtigkeit des letztern. Fast scheint es, daß, wie die ältesten Sprachen die vollkommensten sind, so auch die ältesten Religionen. Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maaßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den andern zugestehn. Jeden Falls muß es mich freuen, meine Lehre in so großer Uebereinstimmung mit einer Religion zu sehn, welche die Majorität auf Erden für sich hat; da sie viel mehr Bekenner zählt, als irgend eine andere. Diese Uebereinstimmung muß mir aber um so erfreulicher seyn, als ich, bei meinem Philosophiren, gewiß nicht unter ihrem Einfluß gestanden habe. Denn bis 1818, da mein Werk erschien, waren über den Buddhaismus nur sehr wenige, höchst unvollkommene und dürftige Berichte in Europa zu finden, welche sich fast gänzlich auf einige Aufsätze in den früheren Bänden der Asiatic researches beschränkten und hauptsächlich den Buddhaismus der Birmanen betrafen. Erst seitdem ist nach und nach eine vollständigere Kunde von dieser Religion zu uns gelangt, hauptsächlich durch die gründlichen und lehrreichen Abhandlungen des verdienstvollen Petersburger Akademikus I. J. Schmidt, in den Denkschriften seiner Akademie, und sodann allmälig durch mehrere Englische und Französische Gelehrte, so daß ich habe ein ziemlich zahlreiches Verzeichniß der besten Schriften über diese Glaubenslehre liefern können, in meiner Schrift »Ueber den Willen in der Natur«, unter der Rubrik Sinologie. – Leider ist uns Csoma Körösi, dieser beharrliche Ungar, der, um die Sprache und die heiligen Schriften des Buddhaismus zu studiren, viele Jahre in Tibet und besonders in den Buddhaistischen Klöstern zugebracht hat, gerade dann durch den Tod entrissen, als er anfieng, den Ertrag seiner Forschungen für uns auszuarbeiten. Ich kann inzwischen die Freude nicht verleugnen, mit welcher ich in seinen vorläufigen Berichten manche unmittelbar aus dem Kahgyur selbst referirte Stellen lese, z.B. folgende Unterredung des sterbenden Buddha mit dem ihm huldigenden Brahma: There is a description of their conversation on the subject of creation, – by whom was the world made. Shakya asks several questions of Brahma, – whether was it he, who made or produced such and such things, and endowed or blessed them with such and such virtues or properties, – whether was it he who caused the several revolutions in the destruction and regeneration of the world. He denies that he had ever done anything to that effect. At last he himself asks Shakya how the world was made, – by whom? Here are attributed all changes in the world to the moral works of the animal beings, and it is stated that in the world all is illusion, there is no reality in the things; all is empty. Brahma being instructed in his doctrine, becomes his follower. (Asiatic researches. Vol. 20, p. 434.)17

Den Fundamentalunterschied aller Religionen kann ich nicht, wie durchgängig geschieht, darin setzen, ob sie monotheistisch, polytheistisch, pantheistisch, oder atheistisch sind; sondern nur darin, ob sie optimistisch oder pessimistisch sind, d.h. ob sie das Daseyn dieser Welt als durch sich selbst gerechtfertigt darstellen, mithin es loben und preisen, oder aber es betrachten als etwas, das nur als Folge unserer Schuld begriffen werden kann und daher eigentlich nicht seyn sollte, indem sie erkennen, daß Schmerz und Tod nicht liegen können in der ewigen, ursprünglichen, unabänderlichen Ordnung der Dinge, in Dem, was in jedem Betracht seyn sollte. Die Kraft, vermöge welcher das Christenthum zunächst das Judenthum und dann das Griechische und Römische Heidenthum überwinden konnte, liegt ganz allein in seinem Pessimismus, in dem Eingeständniß, daß unser Zustand ein höchst elender und zugleich sündlicher ist, während Judenthum und Heidenthum optimistisch waren. Jene von Jedem tief und schmerzlich gefühlte Wahrheit schlug durch und hatte das Bedürfniß der Erlösung in ihrem Gefolge. –

Ich wende mich zur allgemeinen Betrachtung der andern Art der Metaphysik, also derjenigen, welche ihre Beglaubigung in sich selbst hat und Philosophie genannt wird. Ich erinnere an den oben erörterten Ursprung derselben aus einer Verwunderung über die Welt und unser eigenes Daseyn, indem diese sich dem Intellekt als ein Räthsel aufdringen, dessen Lösung sodann die Menschheit ohne Unterlaß beschäftigt. Hier nun will ich zuvörderst darauf aufmerksam machen, daß Diesem nicht so seyn könnte, wenn die Welt im Spinozischen, in unsern Tagen unter modernen Formen und Darstellungen als Pantheismus so oft wieder vorgebrachten Sinn, eine »absolute Substanz«, mithin ein schlechthin nothwendiges Wesen wäre. Denn dies besagt, daß sie mit einer so großen Nothwendigkeit existire, daß neben derselben jede andere, unserm Verstande als solche faßliche Nothwendigkeit wie ein Zufall aussehn müßte: sie wäre nämlich alsdann Etwas, das nicht nur alles wirkliche, sondern auch alles irgend mögliche Daseyn dergestalt in sich begriffe, daß, wie Spinoza eben auch angiebt, die Möglichkeit und die Wirklichkeit desselben ganz und gar Eins wären, dessen Nichtseyn daher auch die Unmöglichkeit selbst wäre, also Etwas, dessen Nichtseyn, oder Andersseyn, völlig undenkbar seyn müßte, welches mithin sich so wenig wegdenken ließe, wie z.B. der Raum oder die Zeit. Indem ferner wir selbst Theile, Modi, Attribute oder Accidenzien einer solchen absoluten Substanz wären, welche das Einzige wäre, was, in irgend einem Sinne, jemals und irgendwo daseyn könnte; so müßte unser und ihr Daseyn, nebst der Beschaffenheit desselben, weit entfernt, sich uns als auffallend, problematisch, ja, als das unergründliche, uns stets beunruhigende Räthsel darzustellen, sich, im Gegentheil, noch viel mehr von selbst verstehn, als daß 2 Mal 2 vier ist. Denn wir müßten gar nicht anders irgend zu denken fähig seyn, als daß die Welt sei, und so sei, wie sie ist: mithin müßten wir ihres Daseyns als solchen, d.h. als eines Problems zum Nachdenken, so wenig uns bewußt werden, als wir die unglaublich schnelle Bewegung unsers Planeten empfinden.

Diesem Allen ist nun aber ganz und gar nicht so. Nur dem gedankenlosen Thiere scheint sich die Welt und das Daseyn von selbst zu verstehn: dem Menschen hingegen ist sie ein Problem, dessen sogar der Roheste und Beschränkteste, in einzelnen helleren Augenblicken, lebhaft inne wird, das aber Jedem um so deutlicher und anhaltender ins Bewußtsein tritt, je heller und besonnener dieses ist und je mehr Stoff zum Denken er durch Bildung sich angeeignet hat, welches Alles endlich in den zum Philosophiren geeigneten Köpfen sich zu Plato's thaumazein, mala philosophikon pathos (mirari, valde philosophicus affectus) steigert, nämlich zu derjenigen Verwunderung, die das Problem, welches die edlere Menschheit jeder Zeit und jedes Landes unablässig beschäftigt und ihr keine Ruhe läßt, in seiner ganzen Größe erfaßt. In der That ist die Unruhe, welche die nie ablaufende Uhr der Metaphysik in Bewegung erhält, das Bewußtsein, daß das Nichtseyn dieser Welt eben so möglich sei, wie ihr Daseyn. Daher also ist die Spinozistische Ansicht derselben als eines absolut nothwendigen Wesens, d.h. als Etwas, das schlechterdings und in jedem Sinn seyn sollte und müßte, eine falsche. Geht doch selbst der einfache Theismus, in seinem kosmologischen Beweise, stillschweigend davon aus, daß er vom Daseyn der Welt auf ihr vorheriges Nichtsein schließt: er nimmt sie mithin vorweg als ein Zufälliges. Ja, was mehr ist, wir fassen sehr bald die Welt auf als Etwas, dessen Nichtseyn nicht nur denkbar, sondern sogar ihrem Daseyn vorzuziehn wäre; daher unsere Verwunderung über sie leicht übergeht in ein Brüten über jene Fatalität, welche dennoch ihr Daseyn hervorrufen konnte, und vermöge deren eine so unermeßliche Kraft, wie zur Hervorbringung und Erhaltung einer solchen Welt erfordert ist, so sehr gegen ihren eigenen Vortheil geleitet werden konnte. Das philosophische Erstaunen ist demnach im Grunde ein bestürztes und betrübtes: die Philosophie hebt, wie die Ouvertüre zum Don Juan, mit einem Mollakkord an. Hieraus ergiebt sich, daß sie weder Spinozismus, noch Optimismus seyn darf. – Die soeben ausgesprochene nähere Beschaffenheit des Erstaunens, welches zum Philosophiren treibt, entspringt offenbar aus dem Anblick des Uebels und des Bösen in der Welt, welche, selbst wenn sie im gerechtesten Verhältniß zu einander ständen, ja, auch noch vom Guten weit überwogen würden, dennoch Etwas sind, was ganz und gar und überhaupt nicht seyn sollte. Weil nun aber nichts aus Nichts entstehn kann; so müssen auch jene ihren Keim im Ursprunge, oder im Kern der Welt selbst haben. Dies anzunehmen wird uns schwer, wenn wir auf die Größe, Ordnung und Vollendung der physischen Welt sehn, indem wir meinen, daß was die Macht hatte, eine solche hervorzubringen, auch wohl hätte das Uebel und das Böse müssen vermeiden können. Am allerschwersten wird jene Annahme (deren aufrichtigster Ausdruck Ormuzd und Ahriman ist) begreiflicherweise dem Theismus. Daher wurde, um zuvörderst das Böse zu beseitigen, die Freiheit des Willens erfunden: diese ist jedoch nur eine versteckte Art, Etwas aus Nichts zu machen; indem sie ein Operari annimmt, das aus keinem Esse hervorgienge (siehe »Die beiden Grundprobleme der Ethik«, S. 58 fg.). Sodann das Uebel suchte man dadurch los zu werden, daß man es der Materie, oder auch einer unvermeidlichen Nothwendigkeit zur Last legte; wobei man ungern den Teufel zur Seite liegen ließ, der eigentlich das rechte Expediens ad hoc ist. Zum Uebel gehört auch der Tod: das Böse aber ist bloß das Von-sich-auf-einen-Andern-schieben des jedesmaligen Uebels. Also, wie oben gesagt, das Böse, das Uebel und der Tod sind es, welche das philosophische Erstaunen qualificiren und erhöhen: nicht bloß, daß die Welt vorhanden, sondern noch mehr, daß sie eine so trübsälige sei, ist das punctum pruriens der Metaphysik, das Problem, welches die Menschheit in eine Unruhe versetzt, die sich weder durch Skepticismus noch durch Kriticismus beschwichtigen läßt.

Mit der Erklärung der Erscheinungen in der Welt finden wir auch die Physik (im weitesten Sinne des Worts) beschäftigt. Aber in der Natur ihrer Erklärungen selbst liegt schon, daß sie nicht genügen können. Die Physik vermag nicht auf eigenen Füßen zu stehn, sondern bedarf einer Metaphysik, sich darauf zu stützen; so vornehm sie auch gegen diese thun mag. Denn sie erklärt die Erscheinungen durch ein noch Unbekannteres, als diese selbst sind: durch Naturgesetze, beruhend auf Naturkräften, zu welchen auch die Lebenskraft gehört. Allerdings muß der ganze gegenwärtige Zustand aller Dinge auf der Welt, oder in der Natur, nothwendig aus rein physischen Ursachen erklärbar seyn. Allein eben so nothwendig müßte eine solche Erklärung, gesetzt man gelangte wirklich so weit, sie geben zu können, – stets mit zwei wesentlichen Unvollkommenheiten behaftet seyn (gleichsam mit zwei faulen Flecken, oder wie Achill mit der verwundbaren Ferse, oder der Teufel mit dem Pferdefuß), vermöge welcher alles so Erklärte doch wieder eigentlich unerklärt bliebe. Erstlich nämlich mit dieser, daß der Anfang der Alles erklärenden Kette von Ursachen und Wirkungen, d.h. zusammenhängenden Veränderungen, schlechterdings nie zu erreichen ist, sondern, eben wie die Gränzen der Welt in Raum und Zeit, unaufhörlich und ins Unendliche zurückweicht; und zweitens mit dieser, daß sämmtliche wirkende Ursachen, aus denen man Alles erklärt, stets auf einem völlig Unerklärbaren beruhen, nämlich auf den ursprünglichen Qualitäten der Dinge und den in diesen sich hervorthuenden Naturkräften, vermöge welcher jene auf bestimmte Art wirken, z.B. Schwere, Härte, Stoßkraft, Elasticität, Wärme, Elektricität, chemische Kräfte u.s.w., und welche nun in jeder gegebenen Erklärung stehn bleiben, wie eine gar nicht wegzubringende unbekannte Größe in einer sonst vollkommen aufgelösten algebraischen Gleichung; wonach es dann keine noch so gering geschätzte Thonscherbe giebt, die nicht aus lauter unerklärlichen Qualitäten zusammengesetzt wäre. Also diese zwei unausweichbaren Mängel in jeder rein physikalischen, d.h. kausalen Erklärung, zeigen an, daß eine solche nur relativ wahr seyn kann, und daß die ganze Methode und Art derselben nicht die einzige, nicht die letzte, also nicht die genügende, d.h. nicht diejenige seyn kann, welche zur befriedigenden Lösung des schweren Räthsels der Dinge und zum wahren Verständniß der Welt und des Daseyns jemals zu führen vermag; sondern daß die physische Erklärung, überhaupt und als solche, noch einer metaphysischen bedarf, welche den Schlüssel zu allen ihren Voraussetzungen lieferte, eben deshalb aber auch einen ganz andern Weg einschlagen müßte. Der erste Schritt hiezu ist, daß man den Unterschied beider, mithin den zwischen Physik und Metaphysik, zum deutlichen Bewußtseyn bringt und festhält. Er beruht im Allgemeinen auf der Kantischen Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich. Eben weil Kant das Letztere für schlechthin unerkennbar erklärte, gab es, ihm zufolge, gar keine Metaphysik, sondern bloß immanente Erkenntniß, d.h. bloße Physik, welche stets nur von Erscheinungen reden kann, und daneben eine Kritik der nach Metaphysik strebenden Vernunft. Hier aber will ich, um den rechten Anknüpfungspunkt meiner Philosophie an die Kantische nachzuweisen, das zweite Buch anticipirend, hervorheben, daß Kant, in seiner schönen Erklärung des Zusammenbestehns der Freiheit mit der Nothwendigkeit (Kritik der reinen Vernunft, erste Auflage, S. 532-554, und Kritik der praktischen Vernunft, S. 224-231 der Rosenkranzischen Ausgabe) darthut, wie eine und die selbe Handlung einerseits aus dem Charakter des Menschen, dem Einfluß, den er im Lebenslauf erlitten, und den jetzt ihm vorliegenden Motiven, als nothwendig eintretend, vollkommen erklärbar sei, dabei aber andererseits doch als das Werk seines freien Willens angesehn werden müsse: und in gleichem Sinne sagt er, § 53 der Prolegomena: »Zwar wird aller Verknüpfung der Ursache und Wirkung in der Sinnenwelt Naturnothwendigkeit anhangen, dagegen doch derjenigen Ursache, die selbst keine Erscheinung ist (obzwar ihr zum Grunde liegt), Freiheit zugestanden, Natur also und Freiheit eben dem selben Dinge, aber in verschiedener Beziehung, ein Mal als Erscheinung, das andere Mal als einem Dinge an sich selbst, ohne Widerspruch beigelegt werden können.« Was nun also Kant von der Erscheinung des Menschen und seines Thuns lehrt, das dehnt meine Lehre auf alle Erscheinungen in der Natur aus, indem sie ihnen den Willen als Ding an sich zum Grunde legt. Dies Verfahren rechtfertigt sich zunächst schon dadurch, daß nicht angenommen werden darf, der Mensch sei von den übrigen Wesen und Dingen in der Natur specifisch, toto genere und von Grund aus verschieden, vielmehr nur dem Grade nach. – Von dieser anticipirenden Abschweifung kehre ich zurück zu unserer Betrachtung der Unzulänglichkeit der Physik, die letzte Erklärung der Dinge abzugeben. – Ich sage also: physisch ist freilich Alles, aber auch nichts erklärbar. Wie für die Bewegung der gestoßenen Kugel, muß auch zuletzt für das Denken des Gehirns eine physische Erklärung an sich möglich seyn, die dieses eben so begreiflich machte, als jene es ist. Aber eben jene, die wir so vollkommen zu verstehn wähnen, ist uns im Grunde so dunkel wie Letzteres: denn was das innere Wesen der Expansion im Raum, der Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit, der Härte, Elasticität und Schwere sei, – bleibt, nach allen physikalischen Erklärungen, ein Mysterium, so gut wie das Denken. Weil aber bei diesem das Unerklärbare am unmittelbarsten hervortritt, machte man hier sogleich einen Sprung aus der Physik in die Metaphysik und hypostasirte eine Substanz ganz anderer Art, als alles Körperliche, – versetzte ins Gehirn eine Seele. Wäre man jedoch nicht so stumpf gewesen, nur durch die auffallendeste Erscheinung frappirt werden zu können; so hätte man die Verdauung durch eine Seele im Magen, die Vegetation durch eine Seele in der Pflanze, die Wahlverwandtschaft durch eine Seele in den Reagenzien, ja, das Fallen eines Steines durch eine Seele in diesem erklären müssen. Denn die Qualität jedes unorganischen Körpers ist eben so geheimnißvoll, wie das Leben im Lebendigen: auf gleiche Weise stößt daher überall die physische Erklärung auf ein Metaphysisches, durch welches sie vernichtet wird, d.h. aufhört Erklärung zu seyn. Nimmt man es streng, so ließe sich behaupten, daß alle Naturwissenschaft im Grunde nichts weiter leistet, als was auch die Botanik: nämlich das Gleichartige zusammenzubringen, zu klassificiren. – Eine Physik, welche behauptete, daß ihre Erklärungen der Dinge, – im Einzelnen aus Ursachen und im Allgemeinen aus Kräften, – wirklich ausreichten und also das Wesen der Welt erschöpften, wäre der eigentliche Naturalismus. Vom Leukippos, Demokritos und Epikuros an, bis herab zum Système de la nature, dann zu Delamark, Cabanis und zu dem in diesen letzten Jahren wieder aufgewärmten Materialismus können wir den fortgesetzten Versuch verfolgen, eine Physik ohne Metaphysik aufzustellen, d.h. eine Lehre, welche die Erscheinung zum Dinge an sich machte. Aber alle ihre Erklärungen suchen den Erklärern selbst und Andern zu verbergen, daß sie die Hauptsache, ohne Weiteres, voraussetzen. Sie bemühen sich zu zeigen, daß alle Phänomene, auch die geistigen, physisch sind: mit Recht; nur sehn sie nicht ein, daß alles Physische andererseits zugleich ein Metaphysisches ist. Dies ist aber auch, ohne Kant, schwer einzusehn; da es die Unterscheidung der Erscheinung vom Ding an sich voraussetzt. Dennoch hat sich, selbst ohne diese, Aristoteles, so sehr er auch zur Empirie geneigt und von Platonischer Hyperphysik entfernt war, von jener beschränkten Ansicht frei gehalten: er sagt: Ei men oun mê esti tis hetera ousia para tas physei synestêkyias, hê physikê an eiê prôtê epistêmê; ei de esti tis ousia akintos, hautê protera kai philosophia prôtê, kai katholou houtôs, hoti prôtê; kai peri tou ontos hê on, tautês an ein theôrêsai. (Si igitur non est aliqua alia substantia, praeter eas, quae natura consistunt, physica profecto prima scientia esset; quodsi autem est aliqua substantia immobilis, haec prior et philosophia prima, et universalis sic, quod prima; et de ente, prout ens est, speculari hujus est.) Metaph., V, I. Eine solche absolute Physik, wie oben beschrieben, welche für keine Metaphysik Raum ließe, würde die Natura naturata zur Natura naturans machen: sie wäre die auf den Thron der Metaphysik gesetzte Physik, würde jedoch, auf dieser hohen Stelle, sich fast so ausnehmen, wie Holbergs theatralischer Kannengießer, den man zum Burgemeister gemacht. Sogar hinter dem an sich abgeschmackten, auch meistens boshaften Vorwurf des Atheismus liegt, als seine innere Bedeutung und ihm Kraft ertheilende Wahrheit, der dunkle Begriff einer solchen absoluten Physik ohne Metaphysik. Allerdings müßte eine solche für die Ethik zerstörend seyn, und wie man fälschlich den Theismus für unzertrennlich von der Moralität gehalten hat, so gilt Dies in Wahrheit nur von einer Metaphysik überhaupt, d.h. von der Erkenntniß, daß die Ordnung der Natur nicht die einzige und absolute Ordnung der Dinge sei. Daher kann man als das nothwendige Credo aller Gerechten und Guten dieses aufstellen: »Ich glaube an eine Metaphysik«. In dieser Hinsicht ist es wichtig und nothwendig, daß man sich von der Unhaltbarkeit einer absoluten Physik überzeuge; um so mehr, da diese, der eigentliche Naturalismus, eine Ansicht ist, die sich dem Menschen von selbst und stets von Neuem aufdringt und nur durch tiefere Spekulation vernichtet werden kann, als deren Surrogat, in dieser Hinsicht, allerlei Systeme und Glaubenslehren, insofern und so lange sie gelten, freilich auch dienen. Daß aber eine grundfalsche Ansicht sich dem Menschen von selbst aufdringt und erst künstlich entfernt werden muß, ist daraus erklärlich, daß der Intellekt ursprünglich nicht bestimmt ist, uns über das Wesen der Dinge zu belehren, sondern nur ihre Relationen, in Bezug auf unsern Willen, uns zu zeigen: er ist, wie wir im zweiten Buche finden werden, das bloße Medium der Motive. Daß nun in diesem die Welt sich auf eine Weise schematisirt, welche eine ganz andere, als die schlechthin wahre Ordnung der Dinge darstellt, weil sie eben uns nicht den Kern, sondern nur die äußere Schaale derselben zeigt, geschieht accidentaliter und kann dem Intellekt nicht zum Vorwurf gereichen; um so weniger, als er doch wieder in sich selbst die Mittel findet, jenen Irrthum zu rektificiren, indem er zur Unterscheidung zwischen Erscheinung und Wesen an sich der Dinge gelangt; welche Unterscheidung im Grunde zu allen Zeiten dawar, nur meistens sehr unvollkommen zum Bewußtseyn gebracht und daher ungenügend ausgesprochen wurde, sogar oft in seltsamer Verkleidung auftrat. Schon die Christlichen Mystiker z.B. erklären den Intellekt, indem sie ihn das Licht der Natur nennen, für unzulänglich, das wahre Wesen der Dinge zu erfassen. Er ist gleichsam eine bloße Flächenkraft, wie die Elektricität, und dringt nicht in das Innere der Wesen.

Die Unzulänglichkeit des reinen Naturalismus tritt, wie gesagt, zuvörderst, auf dem empirischen Wege selbst, dadurch hervor, daß jede physikalische Erklärung das Einzelne aus seiner Ursache erklärt, die Kette dieser Ursachen aber, wie wir a priori, mithin völlig gewiß wissen, ins Unendliche rückwärts läuft, so daß schlechthin keine jemals die erste seyn konnte. Sodann aber wird die Wirksamkeit jeder Ursache zurückgeführt auf ein Naturgesetz, und dieses endlich auf eine Naturkraft, welche nun als das schlechthin Unerklärliche stehn bleibt. Dieses Unerklärliche aber, auf welches alle Erscheinungen jener so klar gegebenen und so natürlich erklärbaren Welt, von der höchsten bis zur niedrigsten, zurückgeführt werden, verräth eben, daß die ganze Art solcher Erklärung nur eine bedingte, gleichsam nur ex concessis ist, und keineswegs die eigentliche und genügende; daher ich oben sagte, daß physisch Alles und nichts erklärbar sei. Jenes schlechthin Unerklärliche, welches alle Erscheinungen durchzieht, bei den höchsten, z.B. bei der Zeugung, am auffallendesten, jedoch auch bei den niedrigsten, z.B. den mechanischen, eben so wohl vorhanden ist, giebt Anweisung auf eine der physischen Ordnung der Dinge zum Grunde liegende ganz anderartige, welche eben Das ist, was Kant die Ordnung der Dinge an sich nennt und was den Zielpunkt der Metaphysik ausmacht. – Zweitens aber erhellt die Unzulänglichkeit des reinen Naturalismus aus jener philosophischen Grundwahrheit, welche wir in der ersten Hälfte dieses Buches ausführlich betrachtet haben und die eben auch das Thema der Kritik der reinen Vernunft ist: daß nämlich alles Objekt, sowohl seinem objektiven Daseyn überhaupt, als der Art und Weise (dem Formellen) dieses Daseyns nach, durch das erkennende Subjekt durchweg bedingt, mithin bloße Erscheinung, nicht Ding an sich ist; wie Dies § 7 des ersten Bandes auseinandergesetzt und daselbst dargethan worden, daß nichts täppischer seyn kann, als daß man, nach Weise aller Materialisten, das Objektive unbesehen als schlechthin gegeben nimmt, um aus ihm Alles abzuleiten, ohne irgend das Subjektive zu berücksichtigen, mittelst dessen, ja in welchem, allein doch jenes dasteht. Proben dieses Verfahrens liefert zu allernächst unser heutiger Mode-Materialismus, der eben dadurch eine rechte Barbiergesellen-und Apotheker-Lehrlings-Philosophie geworden ist. Ihm, in seiner Unschuld, ist die unbedenklich als absolut real genommene Materie das Ding an sich, und Stoßkraft die einzige Fähigkeit eines Dinges an sich, indem alle andern Qualitäten nur Erscheinungen derselben seyn können.

Mit dem Naturalismus, oder der rein physikalischen Betrachtungsart, wird man demnach nie ausreichen: sie gleicht einem Rechnungsexempel, welches nimmermehr aufgeht. End- und anfangslose Kausalreihen, unerforschliche Grundkräfte, unendlicher Raum, anfangslose Zeit, endlose Theilbarkeit der Materie, und dies Alles noch bedingt durch ein erkennendes Gehirn, in welchem allein es dasteht, so gut wie der Traum, und ohne welches es verschwindet, – machen das Labyrinth aus, in welchem sie uns unaufhörlich herumführt. Die Höhe, zu welcher in unsern Zeiten die Naturwissenschaften gestiegen sind, stellt in dieser Beziehung alle frühem Jahrhunderte in tiefen Schatten, und ist ein Gipfel, den die Menschheit zum ersten Mal erreicht. Allein, wie große Fortschritte auch die Physik (im weiten Sinn der Alten verstanden) je machen möge; so wird damit noch nicht der kleinste Schritt zur Metaphysik geschehn seyn; so wenig, wie eine Fläche, durch noch so weit fortgesetzte Ausdehnung, je Kubikinhalt gewinnt. Denn solche Fortschritte werden immer nur die Kenntniß der Erscheinung vervollständigen; während die Metaphysik über die Erscheinung selbst hinausstrebt, zum Erscheinenden. Und wenn sogar die gänzlich vollendete Erfahrung hinzukäme; so würde dadurch in der Hauptsache nichts gebessert seyn. Ja, wenn selbst Einer alle Planeten sämmtlicher Fixsterne durchwanderte; so hätte er damit noch keinen Schritt in der Metaphysik gethan. Vielmehr werden die größten Fortschritte der Physik das Bedürfniß einer Metaphysik nur immer fühlbarer machen; weil eben die berichtigte, erweiterte und gründlichere Kenntniß der Natur einerseits die bis dahin geltenden metaphysischen Annahmen immer untergräbt und endlich umstößt, andererseits aber das Problem der Metaphysik selbst deutlicher, richtiger und vollständiger vorlegt, dasselbe von allem bloß Physischen reiner absondert, und eben auch das vollständiger und genauer erkannte Wesen der einzelnen Dinge dringender die Erklärung des Ganzen und Allgemeinen fordert, welches, je richtiger, gründlicher und vollständiger empirisch erkannt, nur desto räthselhafter sich darstellt. Dies Alles wird freilich der einzelne, simple Naturforscher, in einem abgesonderten Zweige der Physik, nicht sofort deutlich inne: vielmehr schläft er behaglich bei seiner erwählten Magd im Hause des Odysseus, sich aller Gedanken an die Penelopeia entschlagend (siehe Kap, 12 am Ende). Daher sehn wir heut zu Tage die Schaale der Natur auf das genaueste durchforscht, die Intestina der Intestinalwürmer und das Ungeziefer des Ungeziefers haarklein gekannt: kommt aber Einer, wie z.B. Ich, und redet vom Kern der Natur; so hören sie nicht hin, denken eben es gehöre nicht zur Sache und klauben an ihren Schaalen weiter. Jene überaus mikroskopischen und mikrologischen Naturforscher findet man sich versucht, die Topfkucker der Natur zu nennen. Die Leute aber, welche vermeinen, Tiegel und Retorte seien die wahre und einzige Quelle aller Weisheit, sind in ihrer Art eben so verkehrt, wie es weiland ihre Antipoden, die Scholastiker waren. Wie nämlich diese, ganz und gar in ihre abstrakten Begriffe verstrickt, mit diesen sich herumschlugen, nichts außer ihnen kennend, noch untersuchend; so sind jene ganz in ihre Empirie verstrickt, lassen nichts gelten, als was ihre Augen sehn, und vermeinen damit bis auf den letzten Grund der Dinge zu reichen, nicht ahnend, daß zwischen der Erscheinung und dem darin sich Manifestirenden, dem Dinge an sich, eine tiefe Kluft, ein radikaler Unterschied ist, welcher nur durch die Erkenntniß und genaue Gränzbestimmung des subjektiven Elements der Erscheinung aufgeklärt wird, und durch die Einsicht, daß die letzten und wichtigsten Aufschlüsse über das Wesen der Dinge allein aus dem Selbstbewußtseyn geschöpft werden können; – ohne welches Alles man nicht einen Schritt über das den Sinnen unmittelbar Gegebene hinauskann, also nicht weiter gelangt, als bis zum Problem. – Jedoch sei auch andererseits bemerkt, daß die möglichst vollständige Naturerkenntniß die berichtigte Darlegung des Problems der Metaphysik ist: daher soll Keiner sich an diese wagen, ohne zuvor eine, wenn auch nur allgemeine, doch gründliche, klare und zusammenhängende Kenntniß aller Zweige der Naturwissenschaft sich erworben zu haben. Denn das Problem muß der Lösung vorhergehn. Dann aber muß der Blick des Forschers sich nach innen wenden: denn die intellektuellen und ethischen Phänomene sind wichtiger, als die physischen, in dem selben Maaße, wie z.B. der animalische Magnetismus eine ungleich wichtigere Erscheinung, als der mineralische ist. Die letzten Grundgeheimnisse trägt der Mensch in seinem Innern, und dieses ist ihm am unmittelbarsten zugänglich; daher er nur hier den Schlüssel zum Räthsel der Welt zu finden und das Wesen aller Dinge an Einem Faden zu erfassen hoffen darf. Das eigenste Gebiet der Metaphysik liegt also allerdings in Dem, was man Geistesphilosophie genannt hat.

»Du führst die Reihe der Lebendigen

Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder

Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen:

Dann führst Du mich zur sichern Höhle, zeigst

Mich dann mir selbst, und meiner eignen Brust

Geheime tiefe Wunder öffnen sich.«

Was nun endlich die Quelle, oder das Fundament der metaphysischen Erkenntniß betrifft; so habe ich schon weiter oben mich gegen die, auch von Kant wiederholte, Voraussetzung erklärt, daß es in bloßen Begriffen liegen müsse. Begriffe können in keiner Erkenntniß das Erste seyn: denn sie sind allemal aus irgend einer Anschauung abgezogen. Was aber zu jener Annahme verleitet hat, ist wahrscheinlich das Beispiel der Mathematik gewesen. Diese kann, wie besonders in der Algebra, Trigonometrie, Analysis geschieht, die Anschauung ganz verlassend, mit bloßen abstrakten, ja nur durch Zeichen statt der Worte repräsentirten Begriffen operiren, und doch zu einem völlig sichern und dabei so fern liegenden Resultate gelangen, daß man, auf dem festen Boden der Anschauung verharrend, es nicht hätte erreichen können. Allein die Möglichkeit hievon beruht, wie Kant genugsam gezeigt hat, darauf, daß die Begriffe der Mathematik aus den allersichersten und bestimmtesten Anschauungen, nämlich aus den a priori und doch intuitiv erkannten Größenverhältnissen, abgezogen sind und daher durch diese stets wieder realisirt und kontrolirt werden können, entweder arithmetisch, mittelst Vollziehung der durch jene Zeichen bloß angedeuteten Rechnungen, oder geometrisch, mittelst der von Kant so genannten Konstruktion der Begriffe. Dieses Vorzugs hingegen entbehren die Begriffe, aus welchen man vermeint hatte, die Metaphysik aufbauen zu können, wie z.B. Wesen, Seyn, Substanz, Vollkommenheit, Nothwendigkeit, Realität, Endliches, Unendliches, Absolutes, Grund, u.s.w. Denn ursprünglich, wie vom Himmel gefallen, oder auch angeboren, sind dergleichen Begriffe keineswegs; sondern auch sie sind, wie alle Begriffe, aus Anschauungen abgezogen, und, da sie nicht, wie die mathematischen, das bloß Formale der Anschauung, sondern mehr enthalten; so liegen ihnen empirische Anschauungen zum Grunde: also läßt sich aus ihnen nichts schöpfen, was nicht auch die empirische Anschauung enthielte, d.h. was Sache der Erfahrung wäre und was man, da jene Begriffe sehr weite Abstraktionen sind, viel sicherer und aus erster Hand von dieser empfienge. Denn aus Begriffen läßt sich nie mehr schöpfen, als die Anschauungen enthalten, aus denen sie abgezogen sind. Verlangt man reine Begriffe, d.h. solche, die keinen empirischen Ursprung haben; so lassen sich bloß die aufweisen, welche Raum und Zeit, d.h. den bloß formalen Theil der Anschauung betreffen, folglich allein die mathematischen, und höchstens noch der Begriff der Kausalität, welcher zwar nicht aus der Erfahrung entsprungen ist, aber doch nur mittelst derselben (zuerst in der Sinnesanschauung) ins Bewußtsein tritt; daher zwar die Erfahrung nur durch ihn möglich, aber auch er nur in ihrem Gebiete gültig ist; weshalb eben Kant gezeigt hat, daß derselbe bloß dient, der Erfahrung Zusammenhang zu ertheilen, nicht aber sie zu überfliegen, daß er also bloß physische Anwendung gestattet, nicht metaphysische. Apodiktische Gewißheit kann einer Erkenntniß freilich nur ihr Ursprung a priori geben: eben dieser aber beschränkt sie auf das bloß Formelle der Erfahrung überhaupt, indem er anzeigt, daß sie durch die subjektive Beschaffenheit des Intellekts bedingt sei. Dergleichen Erkenntniß also, weit entfernt uns über die Erfahrung hinauszuführen, giebt bloß einen Theil dieser selbst, nämlich den formellen, ihr durchweg eigenen und daher allgemeinen, mithin bloße Form ohne Gehalt. Da nun die Metaphysik am allerwenigsten hierauf beschränkt seyn kann; so muß auch sie empirische Erkenntnißquellen haben: mithin ist jener vorgefaßte Begriff einer rein a priori zu findenden Metaphysik nothwendig eitel. Es ist wirklich eine petitio principii Kants, welche er § I der Prolegomena am deutlichsten ausspricht, daß Metaphysik ihre Grundbegriffe und Grundsätze nicht aus der Erfahrung schöpfen dürfe. Dabei wird nämlich zum voraus angenommen, daß nur Das, was wir vor aller Erfahrung wissen, weiter reichen könne, als mögliche Erfahrung. Hierauf gestützt kommt dann Kant und beweist, daß alle solche Erkenntniß nichts weiter sei, als die Form des Intellekts zum Behuf der Erfahrung, folglich über diese nicht hinausleiten könne; woraus er dann die Unmöglichkeit aller Metaphysik richtig folgert. Aber erscheint es nicht vielmehr geradezu verkehrt, daß man, um die Erfahrung, d.h. die uns allein vorliegende Welt, zu enträthseln, ganz von ihr wegsehn, ihren Inhalt ignoriren und bloß die a priori uns bewußten, leeren Formen zu seinem Stoff nehmen und gebrauchen solle? Ist es nicht vielmehr der Sache angemessen, daß die Wissenschaft von der Erfahrung überhaupt und als solcher, eben auch aus der Erfahrung schöpfe? Ihr Problem selbst ist ihr ja empirisch gegeben; warum sollte nicht auch die Lösung die Erfahrung zu Hülfe nehmen? Ist es nicht widersinnig, daß wer von der Natur der Dinge redet, die Dinge selbst nicht ansehn, sondern nur an gewisse abstrakte Begriffe sich halten sollte? Die Aufgabe der Metaphysik ist zwar nicht die Beobachtung einzelner Erfahrungen, aber doch die richtige Erklärung der Erfahrung im Ganzen. Ihr Fundament muß daher allerdings empirischer Art seyn. Ja sogar die Apriorität eines Theils der menschlichen Erkenntniß wird von ihr als eine gegebene Thatsache aufgefaßt, aus der sie auf den subjektiven Ursprung desselben schließt. Eben nur sofern das Bewußtsein seiner Apriorität ihn begleitet, heißt er, bei Kant, transscendental zum Unterschiede von transscendent, welches bedeutet »alle Möglichkeit der Erfahrung überfliegend«, und seinen Gegensatz hat am immanent, d.h. in den Schranken jener Möglichkeit bleibend. Ich rufe gern die ursprüngliche Bedeutung dieser von Kant eingeführten Ausdrücke zurück, mit welchen, eben wie auch mit dem der Kategorie u.a.m., heut zu Tage die Affen der Philosophie ihr Spiel treiben. – Ueberdies nun ist die Erkenntnißquelle der Metaphysik nicht die äußere Erfahrung allein, sondern eben so wohl die innere; ja, ihr Eigenthümlichstes, wodurch ihr der entscheidende Schritt, der die große Frage allein lösen kann, möglich wird, besteht, wie ich im »Willen in der Natur«, unter der Rubrik »Physische Astronomie« ausführlich und gründlich dargethan habe, darin, daß sie, an der rechten Stelle, die äußere Erfahrung mit der inneren in Verbindung setzt und diese zum Schlüssel jener macht.

Der hier erörterte, redlicherweise nicht abzuleugnende Ursprung der Metaphysik aus empirischen Erkenntnißquellen benimmt ihr freilich die Art apodiktischer Gewißheit, welche allein durch Erkenntniß a priori möglich ist: diese bleibt das Eigenthum der Logik und Mathematik, welche Wissenschaften aber auch eigentlich nur Das lehren, was Jeder schon von selbst, nur nicht deutlich weiß: höchstens lassen noch die allerersten Elemente der Naturlehre sich aus der Erkenntniß a priori ableiten. Durch dieses Eingeständniß giebt die Metaphysik nur einen alten Anspruch auf, welcher, dem oben Gesagten zufolge, auf Mißverständniß beruhte und gegen welchen die große Verschiedenheit und Wandelbarkeit der metaphysischen Systeme, wie auch der sie Stets begleitende Skepticismus jederzeit gezeugt hat. Gegen ihre Möglichkeit überhaupt kann jedoch diese Wandelbarkeit nicht geltend gemacht werden; da dieselbe eben so sehr alle Zweige der Naturwissenschaft, Chemie, Physik, Geologie, Zoologie u.s.f. trifft, und sogar die Geschichte nicht damit verschont geblieben ist. Wann aber ein Mal ein, soweit die Schranken des menschlichen Intellekts es zulassen, richtiges System der Metaphysik gefunden seyn wird; so wird ihm die Unwandelbarkeit einer a priori erkannten Wissenschaft doch zukommen: weil sein Fundament nur die Erfahrung überhaupt seyn kann, nicht aber die einzelnen und besondern Erfahrungen, durch welche hingegen die Naturwissenschaften stets modificirt werden und der Geschichte immer neuer Stoff zuwächst. Denn die Erfahrung im Ganzen und Allgemeinen wird nie ihren Charakter gegen einen neuen vertauschen,

Die nächste Frage ist: wie kann eine aus der Erfahrung geschöpfte Wissenschaft über diese hinausführen und so den Namen Metaphysik verdienen? – Sie kann es nicht etwan so, wie aus drei Proportionalzahlen die vierte, oder aus zwei Seiten und dem Winkel das Dreieck gefunden wird. Dies war der Weg der vorkantischen Dogmatik, welche eben, nach gewissen uns a priori bewußten Gesetzen, vom Gegebenen auf das Nichtgegebene, von der Folge auf den Grund, also von der Erfahrung auf das in keiner Erfahrung möglicherweise zu Gebende schließen wollte. Die Unmöglichkeit einer Metaphysik auf diesem Wege that Kant dar, indem er zeigte, daß jene Gesetze, wenn auch nicht aus der Erfahrung geschöpft, doch nur für dieselbe Gültigkeit hätten. Er lehrt daher mit Recht, daß wir auf solche Art die Möglichkeit aller Erfahrung nicht überfliegen können. Allein es giebt noch andere Wege zur Metaphysik. Das Ganze der Erfahrung gleicht einer Geheimschrift, und die Philosophie der Entzifferung derselben, deren Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden Zusammenhang bewährt. Wenn dieses Ganze nur tief genug gefaßt und an die äußere die innere Erfahrung geknüpft wird; so muß es aus sich selbst gedeutet, ausgelegt werden können. Nachdem Kant uns unwiderleglich gezeigt hat, daß die Erfahrung überhaupt aus zwei Elementen, nämlich den Erkenntnißformen und dem Wesen an sich der Dinge, erwächst, und daß sogar beide sich darin gegen einander abgränzen lassen; nämlich als das a priori uns Bewußte und das a posteriori Hinzugekommene; so läßt sich wenigstens im Allgemeinen angeben, was in der gegebenen Erfahrung, welche zunächst bloße Erscheinung ist, der durch den Intellekt bedingten Form dieser Erscheinung angehört, und was, nach dessen Abziehung, dem Dinge an sich übrig bleibt. Und wenn gleich Keiner, durch die Hülle der Anschauungsformen hindurch, das Ding an sich erkennen kann; so trägt andererseits doch Jeder dieses in sich, ja, ist es selbst: daher muß es ihm im Selbstbewußtseyn, wenn auch noch bedingterweise, doch irgendwie zugänglich seyn. Die Brücke also, auf welcher die Metaphysik über die Erfahrung hinausgelangt, ist nichts Anderes, als eben jene Zerlegung der Erfahrung in Erscheinung und Ding an sich, worin ich Kants größtes Verdienst gesetzt habe. Denn sie enthält die Nachweisung eines von der Erscheinung verschiedenen Kernes derselben. Dieser kann zwar nie von der Erscheinung ganz losgerissen und, als ein ens extramundanum, für sich betrachtet werden, sondern er wird immer nur in seinen Verhältnissen und Beziehungen zur Erscheinung selbst erkannt. Allein die Deutung und Auslegung dieser, in Bezug auf jenen ihren Innern Kern, kann uns Aufschlüsse über sie ertheilen, welche sonst nicht ins Bewußtsein kommen. In diesem Sinne also geht die Metaphysik über die Erscheinung, d.i. die Natur, hinaus, zu dem in oder hinter ihr Verborgenen (to meta to physikon), es jedoch immer nur als das in ihr Erscheinende, nicht aber unabhängig von aller Erscheinung betrachtend: sie bleibt daher immanent und wird nicht transscendent. Denn sie reißt sich von der Erfahrung nie ganz los, sondern bleibt die bloße Deutung und Auslegung derselben, da sie vom Dinge an sich nie anders, als in seiner Beziehung zur Erscheinung redet. Wenigstens ist dies der Sinn, in welchem ich, mit durchgängiger Berücksichtigung der von Kant nachgewiesenen Schranken der menschlichen Erkenntniß, das Problem der Metaphysik zu lösen versucht habe: daher lasse ich seine Prolegomena zu jeder Metaphysik auch für die meinige gelten und bestehn. Diese geht demnach nie eigentlich über die Erfahrung hinaus, sondern eröffnet nur das wahre Verständniß der in ihr vorliegenden Welt. Sie ist weder, nach der auch von Kant wiederholten Definition der Metaphysik, eine Wissenschaft aus bloßen Begriffen, noch ist sie ein System von Folgerungen aus Sätzen a priori, deren Untauglichkeit zum metaphysischen Zweck Kant dargethan hat. Sondern sie ist ein Wissen, geschöpft aus der Anschauung der äußern, wirklichen Welt und dem Aufschluß, welchen über diese die intimste Thatsache des Selbstbewußtseyns liefert, niedergelegt in deutliche Begriffe. Sie ist demnach Erfahrungswissenschaft; aber nicht einzelne Erfahrungen, sondern das Ganze und Allgemeine aller Erfahrung ist ihr Gegenstand und ihre Quelle. Ich lasse ganz und gar Kants Lehre bestehn, daß die Welt der Erfahrung bloße Erscheinung sei und daß die Erkenntnisse a priori bloß in Bezug auf diese gelten; aber ich füge hinzu, daß sie, gerade als Erscheinung, die Manifestation Desjenigen ist, was erscheint, und nenne es mit ihm das Ding an sich. Dieses muß daher sein Wesen und seinen Charakter in der Erfahrungswelt ausdrücken, mithin solcher aus ihm herauszudeuten seyn, und zwar aus dem Stoff, nicht aus der bloßen Form der Erfahrung. Demnach ist die Philosophie nichts Anderes, als das richtige, universelle Verständniß der Erfahrung selbst, die wahre Auslegung ihres Sinnes und Gehaltes. Dieser ist das Metaphysische, d.h. das in die Erscheinung bloß Gekleidete und in ihre Form Verhüllte, ist Das, was sich zu ihr verhält, wie der Gedanke zu den Worten.

Eine solche Entzifferung der Welt in Beziehung auf das in ihr Erscheinende muß ihre Bewährung aus sich selbst erhalten, durch die Uebereinstimmung, in welche sie die so verschiedenartigen Erscheinungen der Welt zu einander setzt, und welche man ohne sie nicht wahrnimmt. – Wenn man eine Schrift findet, deren Alphabet unbekannt ist; so versucht man die Auslegung so lange, bis man auf eine Annahme der Bedeutung der Buchstaben geräth, unter welcher sie verständliche Worte und zusammenhängende Perioden bilden. Dann aber bleibt kein Zweifel an der Richtigkeit der Entzifferung; weil es nicht möglich ist, daß die Uebereinstimmung und der Zusammenhang, in welchen diese Auslegung alle Zeichen jener Schrift setzt, bloß zufällig wäre und man, bei einem ganz andern Werthe der Buchstaben, ebenfalls Worte und Perioden in dieser Zusammenstellung derselben erkennen könnte. Auf ähnliche Art muß die Entzifferung der Welt sich aus sich selbst vollkommen bewähren. Sie muß ein gleichmäßiges Licht über alle Erscheinungen der Welt verbreiten und auch die heterogensten in Uebereinstimmung bringen, so daß auch zwischen den kontrastirendesten der Widerspruch gelöst wird. Diese Bewährung aus sich selbst ist das Kennzeichen ihrer Aechtheit. Denn jede falsche Entzifferung wird, wenn sie auch zu einigen Erscheinungen paßt, den übrigen desto greller widersprechen. So z.B. widerspricht der Leibnitzische Optimismus dem augenfälligen Elend des Daseyns; die Lehre des Spinoza, daß die Welt die allein mögliche und absolut nothwendige Substanz sei, ist unvereinbar mit unserer Verwunderung über ihr Seyn und Wesen; der Wolfischen Lehre, daß der Mensch von einem ihm fremden Willen seine Existentia und Essentia habe, widerstreitet unsere moralische Verantwortlichkeit für die aus diesen, im Konflikt mit den Motiven, streng nothwendig hervorgehenden Handlungen; der oft wiederholten Lehre von einer fortschreitenden Entwickelung der Menschheit zu immer höherer Vollkommenheit, oder überhaupt von irgend einem Werden mittelst des Weltprocesses, stellt sich die Einsicht a priori entgegen, daß bis zu jedem gegebenen Zeitpunkt bereits eine unendliche Zeit abgelaufen ist, folglich Alles, was mit der Zeit kommen sollte, schon daseyn müßte; und so ließe sich ein unabsehbares Register der Widersprüche dogmatischer Annahmen mit der gegebenen Wirklichkeit der Dinge zusammenstellen. Hingegen muß ich in Abrede stellen, daß auf dasselbe irgend eine Lehre meiner Philosophie redlicherweise einzutragen seyn würde; eben weil jede derselben in Gegenwart der angeschauten Wirklichkeit durchdacht worden und keine ihre Wurzel allein in abstrakten Begriffen hat. Da es dabei dennoch ein Grundgedanke ist, der an alle Erscheinungen der Welt, als ihr Schlüssel, gelegt wird; so bewährt sich derselbe als das richtige Alphabet, unter dessen Anwendung alle Worte und Perioden Sinn und Bedeutung haben. Das gefundene Wort eines Räthsels erweist sich als das rechte dadurch, daß alle Aussagen desselben zu ihm passen. So läßt meine Lehre Uebereinstimmung und Zusammenhang in dem kontrastirenden Gewirre der Erscheinungen dieser Welt erblicken und löst die unzähligen Widersprüche, welche dasselbe, von jedem andern Standpunkt aus gesehn, darbietet: sie gleicht daher insofern einem Rechenexempel, welches aufgeht; wiewohl keineswegs in dem Sinne, daß sie kein Problem zu lösen übrig, keine mögliche Frage unbeantwortet ließe. Dergleichen zu behaupten, wäre eine vermessene Ableugnung der Schranken menschlicher Erkenntniß überhaupt. Welche Fackel wir auch anzünden und welchen Raum sie auch erleuchten mag; stets wird unser Horizont von tiefer Nacht umgränzt bleiben. Denn die letzte Lösung des Räthsels der Welt müßte nothwendig bloß von den Dingen an sich, nicht mehr von den Erscheinungen reden. Aber gerade auf diese allein sind alle unsere Erkenntnißformen angelegt: daher müssen wir Alles uns durch ein Nebeneinander, Nacheinander und Kausalitätsverhältnisse faßlich machen. Aber diese Formen haben bloß in Beziehung auf die Erscheinung Sinn und Bedeutung: die Dinge an sich selbst und ihre möglichen Verhältnisse lassen sich durch jene Formen nicht erfassen. Daher muß die wirkliche, positive Lösung des Räthsels der Welt etwas seyn, das der menschliche Intellekt zu fassen und zu denken völlig unfähig ist; so daß wenn ein Wesen höherer Art käme und sich alle Mühe gäbe, es uns beizubringen, wir von seinen Eröffnungen durchaus nichts würden verstehn können. Diejenigen sonach, welche vorgeben, die letzten, d.i. die ersten, Gründe der Dinge, also ein Urwesen, Absolutum, oder wie sonst man es nennen will, nebst dem Proceß, den Gründen, Motiven, oder sonst was, in Folge welcher die Welt daraus hervor geht, oder quillt, oder fällt, oder producirt, ins Daseyn gesetzt, »entlassen« und hinauskomplimentirt wird, zu erkennen, – treiben Possen, sind Windbeutel, wo nicht gar Scharlatane.

Als einen großen Vorzug meiner Philosophie sehe ich es an, daß alle ihre Wahrheiten unabhängig von einander, durch die Betrachtung der realen Welt gefunden sind, die Einheit und Zusammenstimmung derselben aber, um die ich unbesorgt gewesen war, sich immer nachher von selbst eingefunden hat. Darum auch ist sie reich und hat breite Wurzeln auf dem Boden der anschaulichen Wirklichkeit, aus welchem alle Nahrung abstrakter Wahrheiten quillt: und darum wieder ist sie nicht langweilig; welche Eigenschaft man sonst, nach den philosophischen Schriften der letzten fünfzig Jahre zu urtheilen, für eine der Philosophie wesentliche halten könnte. Wenn hingegen alle Lehren einer Philosophie bloß eine aus der andern und zuletzt wohl gar aus einem ersten Satze abgeleitet sind; so muß sie arm und mager, mithin auch langweilig ausfallen; da aus keinem Satze mehr folgen kann, als was er eigentlich schon selbst besagt: zudem hängt dann Alles von der Richtigkeit eines Satzes ab, und durch einen einzigen Fehler in der Ableitung wäre die Wahrheit des Ganzen gefährdet. – Noch weniger Gewährleistung geben die Systeme, welche von einer intellektualen Anschauung, d.i. einer Art Ekstase oder Hellsehn, ausgehn: jede so gewonnene Erkenntniß muß als subjektiv, individuell und folglich problematisch, abgewiesen werden. Selbst wenn sie wirklich vorhanden wäre, würde sie nicht mittheilbar seyn: denn nur die normale Gehirnerkenntniß ist mittheilbar: wenn sie eine abstrakte ist, durch Begriffe und Worte; wenn eine bloß anschauliche, durch Kunstwerke.

Wenn man, wie so oft geschieht, der Metaphysik vorwirft, im Laufe so vieler Jahrhunderte, so geringe Fortschritte gemacht zu haben; so sollte man auch berücksichtigen, daß keine andere Wissenschaft, gleich ihr, unter fortwährendem Drucke erwachsen, keine von außen so gehemmt und gehindert worden ist, wie sie allezeit durch die Religion jedes Landes, als welche, überall im Besitz des Monopols metaphysischer Erkenntnisse, sie neben sich ansieht wie ein wildes Kraut, wie einen unberechtigten Arbeiter, wie eine Zigeunerhorde, und sie in der Regel nur unter der Bedingung tolerirt, daß sie sich bequeme ihr zu dienen und nachzufolgen. Wo ist denn je wahre Gedankenfreiheit gewesen? Geprahlt hat man genug damit; aber sobald sie weiter gehn wollte, als etwan in untergeordneten Dogmen von der Landesreligion abzuweichen, ergriff die Verkündiger der Toleranz ein heiliger Schauder über die Vermessenheit, und es hieß: keinen Schritt weiter! – Welche Fortschritte der Metaphysik waren unter solchem Drucke möglich? – Ja, nicht allein auf die Mittheilung der Gedanken, sondern auf das Denken selbst erstreckt sich jener Zwang, den die privilegirte Metaphysik ausübt, dadurch, daß ihre Dogmen dem zarten, bildsamen, vertrauensvollen und gedankenlosen Kindesalter, unter studirtem, feierlich ernsten Mienenspiel so fest eingeprägt werden, daß sie, von Dem an, mit dem Gehirn verwachsen und fast die Natur angeborener Gedanken annehmen, wofür manche Philosophen sie daher gehalten haben, noch mehrere aber sie zu halten vorgeben. Nichts kann jedoch der Auffassung auch nur des Problems der Metaphysik so fest entgegenstehn, wie eine ihm vorhergängige, aufgedrungene und dem Geiste früh eingeimpfte Lösung desselben: denn der nothwendige Ausgangspunkt zu allem ächten Philosophiren ist die tiefe Empfindung des Sokratischen: »Dies Eine weiß ich, daß ich nichts weiß.« Die Alten standen auch in dieser Rücksicht im Vortheil gegen uns; da ihre Landesreligionen zwar die Mittheilung des Gedachten etwas beschränkten, aber die Freiheit des Denkens selbst nicht beeinträchtigten, weil sie nicht förmlich und feierlich den Kindern eingeprägt, wie auch überhaupt nicht so ernsthaft genommen wurden. Daher sind die Alten noch unsere Lehrer in der Metaphysik.

Bei jenem Vorwurf der geringen Fortschritte der Metaphysik und ihres, trotz so anhaltendem Bemühen, noch immer nicht erreichten Zieles, soll man ferner erwägen, daß sie unterweilen immerfort den unschätzbaren Dienst geleistet hat, den unendlichen Ansprüchen der privilegirten Metaphysik Gränzen zu setzen und dabei zugleich doch dem, gerade durch diese als unausbleibliche Reaktion hervorgerufenen, eigentlichen Naturalismus und Materialismus entgegenzuarbeiten. Man bedenke, wohin es mit den Anmaaßungen der Priesterschaft jeder Religion kommen würde, wenn der Glaube an ihre Lehren so fest und blind wäre, wie jene eigentlich wünscht. Man sehe dabei zurück auf alle Kriege, Unruhen, Rebellionen und Revolutionen in Europa vom achten bis zum achtzehnten Jahrhundert: wie wenige wird man finden, die nicht zum Kern, oder zum Vorwand, irgend eine Glaubensstreitigkeit, also metaphysische Probleme, gehabt haben, welche der Anlaß wurden, die Völker auf einander zu hetzen. Ist doch jenes ganze Jahrtausend ein fortwährendes Morden, bald auf dem Schlachtfeld, bald auf dem Schafott, bald auf den Gassen, – in metaphysischen Angelegenheiten! Ich wollte, ich hätte ein authentisches Verzeichniß aller Verbrechen, die wirklich das Christenthum verhindert, und aller guten Handlungen, die es wirklich erzeugt hat, um sie auf die andere Waagschaale legen zu können.

Was endlich die Verpflichtungen der Metaphysik betrifft, so hat sie nur eine einzige: denn es ist eine, die keine andere neben sich duldet: die Verpflichtung wahr zu seyn. Wollte man neben dieser ihr noch andere auflegen, wie etwan die, spiritualistisch, optimistisch, monotheistisch, ja auch nur die, moralisch zu seyn; so kann man nicht zum voraus wissen, ob diese nicht der Erfüllung jener ersten entgegenstände, ohne welche alle ihre sonstigen Leistungen offenbar werthlos seyn müßten. Eine gegebene Philosophie hat demnach keinen andern Maaßstab ihrer Schätzung, als den der Wahrheit. – Uebrigens ist die Philosophie wesentlich Weltweisheit: ihr Problem ist die Welt: mit dieser allein hat sie es zu thun und läßt die Götter in Ruhe, erwartet aber dafür, auch von ihnen in Ruhe gelassen zu werden.