Kapitel 1. Zur idealistischen Grundansicht

Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede, von welchen etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: – dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt. Jedoch ist es für ein denkendes Wesen eine mißliche Lage, auf einer jener zahllosen im gränzenlosen Raum frei schwebenden Kugeln zu stehn, ohne zu wissen woher noch wohin, und nur Eines zu seyn von unzählbaren ähnlichen Wesen, die sich drängen, treiben, quälen, rastlos und schnell entstehend und vergehend, in anfangs- und endloser Zeit: dabei nichts Beharrliches, als allein die Materie und die Wiederkehr der selben, verschiedenen, organischen Formen, mittelst gewisser Wege und Kanäle, die nun ein Mal dasind. Alles was empirische Wissenschaft lehren kann, ist nur die genauere Beschaffenheit und Regel dieser Hergänge. – Da hat nun endlich die Philosophie der neueren Zeit, zumal durch Berkeley und Kant, sich darauf besonnen, daß Jenes alles zunächst doch nur ein Gehirnphänomen und mit so großen, vielen und verschiedenen subjektiven Bedingungen behaftet sei, daß die gewähnte absolute Realität desselben verschwindet und für eine ganz andere Weltordnung Raum läßt, die das jenem Phänomen zum Grunde Liegende wäre, d.h. sich dazu verhielte, wie zur bloßen Erscheinung das Ding an sich selbst.

»Die Welt ist meine Vorstellung« – ist, gleich den Axiomen Euklids, ein Satz, den Jeder als wahr erkennen muß, sobald er ihn versteht; wenn gleich nicht ein solcher, den Jeder versteht, sobald er ihn hört. – Diesen Satz zum Bewußtseyn gebracht und an ihn das Problem vom Verhältniß des Idealen zum Realen, d.h. der Welt im Kopf zur Welt außer dem Kopf, geknüpft zu haben, macht, neben dem Problem von der moralischen Freiheit, den auszeichnenden Charakter der Philosophie der Neueren aus. Denn erst nachdem man sich Jahrtausende lang im bloß objektiven Philosophiren versucht hatte, entdeckte man, daß unter dem Vielen, was die Welt so räthselhaft und bedenklich macht, das Nächste und Erste Dieses ist, daß, so unermeßlich und massiv sie auch seyn mag, ihr Daseyn dennoch an einem einzigen Fädchen hängt: und dieses ist das jedesmalige Bewußtseyn, in welchem sie dasteht. Diese Bedingung, mit welcher das Daseyn der Welt unwiderruflich behaftet ist, drückt ihr, trotz aller empirischen Realität, den Stämpel der Idealität und somit der bloßen Erscheinung auf; wodurch sie, wenigstens von Einer Seite, als dem Traume verwandt, ja als in die selbe Klasse mit ihm zu setzen, erkannt werden muß. Denn die selbe Gehirnfunktion, welche, während des Schlafes, eine vollkommen objektive, anschauliche, ja handgreifliche Welt hervorzaubert, muß eben so viel Antheil an der Darstellung der objektiven Welt des Wachens haben. Beide Welten nämlich sind, wenn auch durch ihre Materie verschieden, doch offenbar aus Einer Form gegossen. Diese Form ist der Intellekt, die Gehirnfunktion. – Wahrscheinlich ist Cartesius der Erste, welcher zu dem Grade von Besinnung gelangte, den jene Grundwahrheit erfordert und, in Folge hievon, dieselbe, wenn gleich vorläufig nur in der Gestalt skeptischer Bedenklichkeit, zum Ausgangspunkt seiner Philosophie machte. Wirklich war dadurch, daß er das Cogito ergo sum als allein gewiß, das Daseyn der Welt aber vorläufig als problematisch nahm, der wesentliche und allein richtige Ausgangspunkt und zugleich der wahre Stützpunkt aller Philosophie gefunden. Dieser nämlich ist wesentlich und unumgänglich das Subjektive, das eigene Bewußtseyn. Denn dieses allein ist und bleibt das Unmittelbare: alles Andere, was immer es auch sei, ist durch dasselbe erst vermittelt und bedingt, sonach davon abhängig. Daher geschieht es mit Recht, daß man die Philosophie der Neueren vom Cartesius, als dem Vater derselben, ausgehn läßt. Auf diesem Wege weiter gehend gelangte, nicht lange darauf, Berkeley zum eigentlichen Idealismus, d.h. zu der Erkenntniß, daß das im Raum Ausgedehnte, also die objektive, materielle Welt überhaupt, als solche, schlechterdings nur in unserer Vorstellung existirt, und daß es falsch, ja absurd ist, ihr, als solcher, ein Daseyn außerhalb aller Vorstellung und unabhängig vom erkennenden Subjekt beizulegen, also eine schlechthin vorhandene an sich seiende Materie anzunehmen. Diese sehr richtige und tiefe Einsicht macht aber auch eigentlich Berkeley's ganze Philosophie aus: er hatte sich daran erschöpft.

Demnach muß die wahre Philosophie jedenfalls idealistisch seyn; ja, sie muß es, um nur redlich zu seyn. Denn nichts ist gewisser, als daß Keiner jemals aus sich herauskann, um sich mit den von ihm verschiedenen Dingen unmittelbar zu identificiren: sondern Alles, wovon er sichere, mithin unmittelbare Kunde hat, liegt innerhalb seines Bewußtseyns. Ueber dieses hinaus kann es daher keine unmittelbare Gewißheit geben: eine solche aber müssen die ersten Grundsätze einer Wissenschaft haben. Dem empirischen Standpunkt der übrigen Wissenschaften ist es ganz angemessen, die objektive Welt als schlechthin vorhanden anzunehmen: nicht so dem der Philosophie, als welche auf das Erste und Ursprüngliche zurückzugehn hat. Nur das Bewußtseyn ist unmittelbar gegeben, daher ist ihre Grundlage auf Thatsachen des Bewußtseyns beschränkt: d.h. sie ist wesentlich idealistisch. – Der Realismus, der sich dem rohen Verstande dadurch empfiehlt, daß er sich das Ansehn giebt thatsächlich zu seyn, geht gerade von einer willkürlichen Annahme aus und ist mithin ein windiges Luftgebäude, indem er die allererste Thatsache überspringt oder verleugnet, diese, daß Alles was wir kennen innerhalb des Bewußtseyns liegt. Denn, daß das objektive Daseyn der Dinge bedingt sei durch ein sie Vorstellendes, und folglich die objektive Welt nur als Vorstellung existirte, ist keine Hypothese, noch weniger ein Machtspruch, oder gar ein Disputirens halber aufgestelltes Paradoxon; sondern es ist die gewisseste und einfachste Wahrheit, deren Erkenntniß nur dadurch erschwert wird, daß sie gar zu einfach ist, und nicht Alle Besonnenheit genug haben, um auf die ersten Elemente ihres Bewußtseins von den Dingen zurückzugehn. Nimmermehr kann es ein absolut und an sich selbst objektives Daseyn geben; ja, ein solches ist geradezu undenkbar: denn immer und wesentlich hat das Objektive, als solches, seine Existenz im Bewußtsein eines Subjekts, ist also dessen Vorstellung, folglich bedingt durch dasselbe und dazu noch durch dessen Vorstellungsformen, als welche dem Subjekt, nicht dem Objekt anhängen.

Daß die objektive Welt dawäre, auch wenn gar kein erkennendes Wesen existirte, scheint freilich auf den ersten Anlauf gewiß; weil es sich in abstracto denken läßt, ohne daß der Widerspruch zu Tage käme, den es im Innern trägt. – Allein wenn man diesen abstrakten Gedanken realisiren, d.h. ihn auf anschauliche Vorstellungen, von welchen allein er doch (wie alles Abstrakte) Gehalt und Wahrheit haben kann, zurückführen will und demnach versucht, eine objektive Welt ohne erkennendes Subjekt zu imaginiren; so wird man inne, daß Das, was man da imaginirt, in Wahrheit das Gegentheil von Dem ist, was man beabsichtigte, nämlich nichts Anderes, als eben nur der Vorgang im Intellekt eines Erkennenden, der eine objektive Welt anschaut, also gerade Das, was man ausschließen gewollt hatte. Denn diese anschauliche und reale Welt ist offenbar ein Gehirnphänomen: daher liegt ein Widerspruch in der Annahme, daß sie auch unabhängig von allen Gehirnen, als eine solche, daseyn sollte.

Der Haupteinwand gegen die unumgängliche und wesentliche Idealität alles Objekts, der Einwand, der sich in Jedem, deutlich oder undeutlich, regt, ist wohl dieser: Auch meine eigene Person ist Objekt für einen Andern, ist also dessen Vorstellung; und doch weiß ich gewiß, daß ich dawäre, auch ohne daß Jener mich vorstellte. In dem selben Verhältniß aber, in welchem ich zu seinem Intellekt stehe, stehn auch alle andern Objekte zu diesem: folglich wären auch sie da, ohne daß jener Andere sie vorstellte. – Hierauf ist die Antwort: Jener Andere, als dessen Objekt ich jetzt meine Person betrachte, ist nicht schlechthin das Subjekt, sondern zunächst ein erkennendes Individuum. Daher, wenn er auch nicht dawäre, ja sogar wenn überhaupt kein anderes erkennendes Wesen als ich selbst existirte; so wäre damit noch keineswegs das Subjekt aufgehoben, in dessen Vorstellung allein alle Objekte existiren. Denn dieses Subjekt bin ja eben auch ich selbst, wie jedes Erkennende es ist. Folglich wäre, im angenommenen Fall, meine Person allerdings noch da, aber wieder als Vorstellung, nämlich in meiner eigenen Erkenntniß. Denn sie wird, auch von mir selbst, immer nur mittelbar, nie unmittelbar erkannt: weil alles Vorstellungseyn ein mittelbares ist. Nämlich als Objekt, d.h. als ausgedehnt, raumerfüllend und wirkend, erkenne ich meinen Leib nur in der Anschauung meines Gehirns: diese ist vermittelt durch die Sinne, auf deren Data der anschauende Verstand seine Funktion, von der Wirkung auf die Ursache zu gehn, vollzieht und dadurch, indem das Auge den Leib sieht, oder die Hände ihn betasten, die räumliche Figur konstruirt, die im Raume als mein Leib sich darstellt. Keineswegs aber ist mir unmittelbar, etwan im Gemeingefühl des Leibes, oder im innern Selbstbewußtseyn, irgend eine Ausdehnung, Gestalt und Wirksamkeit gegeben, welche dann zusammenfallen würde mit einem Wesen selbst, das demnach, um so dazuseyn, keines Andern, in dessen Erkenntniß es sich darstellte, bedürfte. Vielmehr ist jenes Gemeingefühl, wie auch das Selbstbewußtseyn, unmittelbar nur in Bezug auf den Willen da, nämlich als behaglich oder unbehaglich, und als aktiv in den Willensakten, welche, für die äußere Anschauung, sich als Leibesaktionen darstellen. Hieraus nun folgt, daß das Daseyn meiner Person oder meines Leibes, als eines Ausgedehnten und Wirkenden, allezeit ein davon verschiedenes Erkennendes voraussetzt: weil es wesentlich ein Daseyn in der Apprehension, in der Vorstellung, also ein Daseyn für ein Anderes ist. In der That ist es ein Gehirnphänomen, gleichviel ob das Gehirn, in welchem es sich darstellt, der eigenen, oder einer fremden Person angehört. Im ersten Fall zerfällt dann die eigene Person in Erkennendes und Erkanntes, in Objekt und Subjekt, die sich hier, wie überall, unzertrennlich und unvereinbar gegenüberstehn. – Wenn nun also meine eigene Person, um als solche dazuseyn, stets eines Erkennenden bedarf; so wird dies wenigstens eben so sehr von den übrigen Objekten gelten, welchen ein von der Erkenntniß und deren Subjekt unabhängiges Daseyn zu vindiciren, der Zweck des obigen Einwandes war.

Inzwischen versteht es sich, daß das Daseyn, welches durch ein Erkennendes bedingt ist, ganz allein das Daseyn im Raum und daher das eines Ausgedehnten und Wirkenden ist: dieses allein ist stets ein erkanntes, folglich ein Daseyn für ein Anderes. Hingegen mag jedes auf diese Weise Daseiende noch ein Daseyn für sich selbst haben, zu welchem es keines Subjekts bedarf. Jedoch kann dieses Daseyn für sich selbst nicht Ausdehnung und Wirksamkeit (zusammen Raumerfüllung) seyn; sondern es ist nothwendig ein Seyn anderer Art, nämlich das eines Dinges an sich selbst, welches, eben als solches, nie Objekt seyn kann. – Dies also wäre die Antwort auf den oben dargelegten Haupteinwand, der demnach die Grundwahrheit, daß die objektiv vorhandene Welt nur in der Vorstellung, also nur für ein Subjekt daseyn kann, nicht umstößt.

Hier sei noch bemerkt, daß auch Kant unter seinen Dingen an sich, wenigstens so lange er konsequent blieb, keine Objekte gedacht haben kann. Denn dies geht schon daraus hervor, daß er bewies, der Raum, wie auch die Zeit, sei eine bloße Form unserer Anschauung, die folglich nicht den Dingen an sich angehöre. Was nicht im Raum, noch in der Zeit ist, kann auch nicht Objekt seyn: also kann das Seyn der Dinge an sich kein objektives mehr seyn, sondern nur ein ganz anderartiges, ein metaphysisches. Folglich liegt in jenem Kantischen Satze auch schon dieser, daß die objektive Welt nur als Vorstellung existirt.

Nichts wird so anhaltend, Allem was man sagen mag zum Trotz und stets wieder von Neuem mißverstanden, wie der Idealismus, indem er dahin ausgelegt wird, daß man die empirische Realität der Außenwelt leugne. Hierauf beruht die beständige Wiederkehr der Appellation an den gesunden Verstand, die in mancherlei Wendungen und Verkleidungen auftritt, z.B. als »Grundüberzeugung« in der Schottischen Schule, oder als Jacobischer Glaube an die Realität der Außenwelt. Keineswegs giebt sich, wie Jacobi es darstellt, die Außenwelt bloß auf Kredit und wird von uns auf Treu und Glauben angenommen: sie giebt sich als das was sie ist, und leistet unmittelbar was sie verspricht. Man muß sich erinnern, daß Jacobi, der ein solches Kreditsystem der Welt aufstellte und es glücklich einigen Philosophieprofessoren aufband, die es dreißig Jahre lang ihm behaglich und breit nachphilosophirt haben, der selbe war, der einst Lessingen als Spinozisten und später Schellingen als Atheisten denunzirte, von welchem Letzteren er die bekannte, wohlverdiente Züchtigung erhielt. Solchem Eifer gemäß wollte er, indem er die Außenwelt zur Glaubenssache herabsetzte, nur das Pförtchen für den Glauben überhaupt eröffnen und den Kredit vorbereiten für Das, was nachher wirklich auf Kredit an den Mann gebracht werden sollte: wie wenn man, um Papiergeld einzuführen, sich darauf berufen wollte, daß der Werth der klingenden Münze doch auch nur auf dem Stämpel beruhe, den der Staat darauf gesetzt hat. Jacobi, in seinem Philosophem über die auf Glauben angenommene Realität der Außenwelt, ist ganz genau der von Kant (Kritik der reinen Vernunft, erste Auflage, S. 369) getadelte »transscendentale Realist, der den empirischen Idealisten spielt.« –

Der wahre Idealismus hingegen ist eben nicht der empirische, sondern der transscendentale. Dieser läßt die empirische Realität der Welt unangetastet, hält aber fest, daß alles Objekt, also das empirisch Reale überhaupt, durch das Subjekt zwiefach bedingt ist: erstlich materiell, oder als Objekt überhaupt, weil ein objektives Daseyn nur einem Subjekt gegenüber und als dessen Vorstellung denkbar ist; zweitens formell, indem die Art und Weise der Existenz des Objekts, d.h. des Vorgestelltwerdens (Raum, Zeit, Kausalität), vom Subjekt ausgeht, im Subjekt prädisponirt ist. Also an den einfachen oder Berkeley'schen Idealismus, welcher das Objekt überhaupt betrifft, schließt sich unmittelbar der Kantische, welcher die speciell gegebene Art und Weise des Objektseyns betrifft. Dieser weist nach, daß die gesammte materielle Welt, mit ihren Körpern im Raum, welche ausgedehnt sind und, mittelst der Zeit, Kausalverhältnisse zu einander haben, und was dem anhängt, – daß dies Alles nicht ein unabhängig von unserm Kopfe Vorhandenes sei; sondern seine Grundvoraussetzungen habe in unsern Gehirnfunktionen, mittelst welcher und in welchen allein eine solche objektive Ordnung der Dinge möglich ist; weil Zeit, Raum und Kausalität, auf welchen alle jene realen und objektiven Vorgänge beruhen, selbst nichts weiter, als Funktionen des Gehirnes sind; daß also jene umwandelbare Ordnung der Dinge, welche das Kriterium und den Leitfaden ihrer empirischen Realität abgiebt, selbst erst vom Gehirn ausgeht und von diesem allein ihre Kreditive hat: dies hat Kant ausführlich und gründlich dargethan; nur daß er nicht das Gehirn nennt, sondern sagt: »das Erkenntnißvermögen«. Sogar hat er zu beweisen versucht, daß jene objektive Ordnung in Zeit, Raum, Kausalität, Materie u.s.f., auf welcher alle Vorgänge der realen Welt zuletzt beruhen, sich als eine für sich bestehende, d.h. als Ordnung der Dinge an sich selbst, oder als etwas absolut Objektives und schlechthin Vorhandenes, genau betrachtet, nicht ein Mal denken läßt, indem sie, wenn man versucht sie zu Ende zu denken, auf Widersprüche leitete. Dies darzuthun war die Absicht der Antinomien: jedoch habe ich, im Anhang zu meinem Werke, das Mißlingen des Versuches nachgewiesen. – Hingegen leitet die Kantische Lehre, auch ohne die Antinomien, zu der Einsicht, daß die Dinge und die ganze Art und Weise ihres Daseyns mit unserm Bewußtsein von ihnen unzertrennlich verknüpft sind; daher wer Dies deutlich begriffen hat, bald zu der Ueberzeugung gelangt, daß die Annahme, die Dinge existirten als solche auch außerhalb unsers Bewußtseyns und unabhängig davon, wirklich absurd ist. Daß wir nämlich so tief eingesenkt sind in Zeit, Raum, Kausalität und den ganzen darauf beruhenden gesetzmäßigen Hergang der Erfahrung, daß wir (ja sogar die Thiere) darin so vollkommen zu Hause sind und uns von Anfang an darin zurecht zu finden wissen, – Dies wäre nicht möglich, wenn unser Intellekt Eines und die Dinge ein Anderes wären; sondern ist nur daraus erklärlich, daß Beide ein Ganzes ausmachen, der Intellekt selbst jene Ordnung schafft und er nur für die Dinge, diese aber auch nur für ihn dasind.

Allein selbst abgesehn von den tiefen Einsichten, welche nur die Kantische Philosophie eröffnet, läßt sich die Unstatthaftigkeit der so hartnäckig festgehaltenen Annahme des absoluten Realismus auch wohl unmittelbar nachweisen, oder doch wenigstens fühlbar machen, durch die bloße Verdeutlichung ihres Sinnes, mittelst Betrachtungen, wie etwan folgende. – Die Welt soll, dem Realismus zufolge, so wie wir sie erkennen, auch unabhängig von diesem Erkennen daseyn. Jetzt wollen wir ein Mal alle erkennenden Wesen daraus wegnehmen, also bloß die unorganische und die vegetabilische Natur übrig lassen. Fels, Baum und Bach sei da und blauer Himmel: Sonne, Mond und Sterne erhellen diese Welt, wie zuvor; nur freilich vergeblich, indem kein Auge daist, solche zu sehn. Nunmehr aber wollen wir, nachträglich, ein erkennendes Wesen hineinsetzen. Jetzt also stellt, in dessen Gehirne, jene Welt sich nochmals dar und wiederholt sich innerhalb desselben, genau eben so, wie sie vorher außerhalb war. Zur ersten Welt ist also jetzt eine zweite gekommen, die, obwohl von jener völlig getrennt, ihr auf ein Haar gleicht. Wie im objektiven endlosen Raum die objektive Welt, genau so ist jetzt im subjektiven, erkannten Raum die subjektive Welt dieser Anschauung beschaffen. Die letztere hat aber vor der erstern noch die Erkenntniß voraus, daß jener Raum, da draußen, endlos ist, sogar auch kann sie die ganze Gesetzmäßigkeit aller in ihm möglichen und noch nicht wirklichen Verhältnisse haarklein und richtig angeben, zum voraus, und braucht nicht erst nachzusehn: eben so viel giebt sie über den Lauf der Zeit an, wie auch über das Verhältniß von Ursache und Wirkung, welches da draußen die Veränderungen leitet. Ich denke, daß dies Alles, bei näherer Betrachtung, absurd genug ausfällt und dadurch zu der Ueberzeugung führt, daß jene absolut objektive Welt, außerhalb des Kopfes, unabhängig von ihm und vor aller Erkenntniß, welche wir zuerst gedacht zu haben wähnten, eben keine andere war, als schon die zweite, die subjektiv erkannte, die Welt der Vorstellung, als welche allein es ist, die wir wirklich zu denken vermögen. Demnach drängt sich von selbst die Annahme auf, daß die Welt, so wie wir sie erkennen, auch nur für unsere Erkenntniß daist, mithin in der Vorstellung allein, und nicht noch ein Mal außer derselbenA1. Dieser Annahme entsprechend ist sodann das Ding an sich, d.h. das von unserer und jeder Erkenntniß unabhängig Daseiende, als ein von der Vorstellung und allen ihren Attributen, also von der Objektivität überhaupt, gänzlich Verschiedenes zu setzen: was dieses sei, wird nachher das Thema unsers zweiten Buches.

Hingegen auf der so eben kritisirten Annahme einer objektiven und einer subjektiven Welt, beide im Raume, und auf der bei dieser Voraussetzung entstehenden Unmöglichkeit eines Ueberganges, einer Brücke, zwischen beiden, beruht der, § 5 des ersten Bandes, in Betracht gezogene Streit über die Realität der Außenwelt; hinsichtlich auf welchen ich noch Folgendes beizubringen habe.

Das Subjektive und das Objektive bilden kein Kontinuum: das unmittelbar Bewußte ist abgegränzt durch die Haut, oder vielmehr durch die äußersten Enden der vom Cerebralsystem ausgehenden Nerven. Darüber hinaus liegt eine Welt, von der wir keine andere Kunde haben, als durch Bilder in unserm Kopfe. Ob nun und inwiefern diesen eine unabhängig von uns vorhandene Welt entspreche, ist die Frage. Die Beziehung zwischen beiden könnte allein vermittelt werden durch das Gesetz der Kausalität: denn nur dieses führt von einem Gegebenen auf ein davon ganz Verschiedenes. Aber dieses Gesetz selbst hat zuvörderst seine Gültigkeit zu beglaubigen. Es muß nun entweder objektiven, oder subjektiven Ursprungs seyn: in beiden Fällen aber liegt es auf dem einen oder dem andern Ufer, kann also nicht die Brücke abgeben. Ist es, wie Locke und Hume annahmen, a posteriori, also aus der Erfahrung abgezogen; so ist es objektiven Ursprungs, gehört dann selbst zu der in Frage stehenden Außenwelt und kann daher ihre Realität nicht verbürgen: denn da würde, nach Locke's Methode, das Kausalitätsgesetz aus der Erfahrung, und die Realität der Erfahrung aus dem Kausalitätsgesetz bewiesen. Ist es hingegen, wie Kant uns richtiger belehrt hat, a priori gegeben; so ist es subjektiven Ursprungs, und dann ist klar, daß wir damit stets im Subjektiven bleiben. Denn das einzige wirklich empirisch Gegebene, bei der Anschauung, ist der Eintritt einer Empfindung im Sinnesorgan: die Voraussetzung, daß diese, auch nur überhaupt, eine Ursache haben müsse, beruht auf einem in der Form unsers Erkennens, d.h. in den Funktionen unsers Gehirns, wurzelnden Gesetz, dessen Ursprung daher eben so subjektiv ist, wie jene Sinnesempfindung selbst. Die in Folge dieses Gesetzes zu der gegebenen Empfindung vorausgesetzte Ursache stellt sich alsbald in der Anschauung dar als Objekt, welches Raum und Zeit zur Form seines Erscheinens hat. Aber auch diese Formen selbst sind wieder ganz subjektiven Ursprungs: denn sie sind die Art und Weise unsers Anschauungsvermögens. Jener Uebergang von der Sinnesempfindung zu ihrer Ursache, der, wie ich wiederholentlich dargethan habe, aller Sinnesanschauung zum Grunde liegt, ist zwar hinreichend, uns die empirische Gegenwart, in Raum und Zeit, eines empirischen Objekts anzuzeigen, also völlig genügend für das praktische Leben; aber er reicht keineswegs hin, uns Aufschluß zu geben über das Daseyn und Wesen an sich der auf solche Weise für uns entstehenden Erscheinungen, oder vielmehr ihres intelligibeln Substrats. Daß also auf Anlaß gewisser, in meinen Sinnesorganen eintretender Empfindungen, in meinem Kopfe eine Anschauung von räumlich ausgedehnten, zeitlich beharrenden und ursächlich wirkenden Dingen entsteht, berechtigt mich durchaus nicht zu der Annahme, daß auch an sich selbst, d.h. unabhängig von meinem Kopfe und außer demselben dergleichen Dinge mit solchen ihnen schlechthin angehörigen Eigenschaften existiren. – Dies ist das richtige Ergebniß der Kantischen Philosophie. Dasselbe knüpft sich an ein früheres, eben so richtiges, aber sehr viel leichter faßliches Resultat Locke's. Wenn nämlich auch, wie Locke's Lehre es zuläßt, zu den Sinnesempfindungen äußere Dinge als ihre Ursachen schlechthin angenommen werden; so kann doch zwischen der Empfindung, in welcher die Wirkung besteht, und der objektiven Beschaffenheit der sie veranlassenden Ursache gar keine Aehnlichkeit seyn; weil die Empfindung, als organische Funktion, zunächst bestimmt ist durch die sehr künstliche und komplicirte Beschaffenheit unserer Sinneswerkzeuge, daher sie von der äußern Ursache bloß angeregt, dann aber ganz ihren eigenen Gesetzen gemäß vollzogen wird, also völlig subjektiv ist. – Locke's Philosophie war die Kritik der Sinnesfunktionen; Kant aber hat die Kritik der Gehirnfunktionen geliefert. – Nun aber ist diesem Allen noch das Berkeley'sche, von mir erneuerte Resultat unterzubreiten, daß nämlich alles Objekt, welchen Ursprung es auch haben möge, schon als Objekt durch das Subjekt bedingt, nämlich wesentlich bloß dessen Vorstellung ist. Der Zielpunkt des Realismus ist eben das Objekt ohne Subjekt: aber ein solches auch nur klar zu denken ist unmöglich.

Aus dieser ganzen Darstellung geht sicher und deutlich hervor, daß die Absicht, das Wesen an sich der Dinge zu erfassen, schlechthin unerreichbar ist auf dem Wege der bloßen Erkenntniß und Vorstellung; weil diese stets von außen zu den Dingen kommt und daher ewig draußen bleiben muß. Jene Absicht könnte allein dadurch erreicht werden, daß wir selbst uns im Innern der Dinge befänden, wodurch es uns unmittelbar bekannt würde. Inwiefern dies nun wirklich der Fall sei, betrachtet mein zweites Buch. So lange wir aber, wie in diesem ersten Buche, bei der objektiven Auffassung, also bei der Erkenntniß, stehn bleiben, ist und bleibt uns die Welt eine bloße Vorstellung, weil hier kein Weg möglich ist, der darüber hinausführte.

Ueberdies nun aber ist das Festhalten des idealistischen Gesichtspunktes ein nothwendiges Gegengewicht gegen den materialistischen. Die Kontroverse über das Reale und Ideale läßt sich nämlich auch ansehn als betreffend die Existenz der Materie. Denn die Realität, oder Idealität dieser ist es zuletzt, um die gestritten wird. Ist die Materie als solche bloß in unserer Vorstellung vorhanden, oder ist sie es auch unabhängig davon? Im letzteren Falle wäre sie das Ding an sich, und wer eine an sich existirende Materie annimmt, muß, konsequent, auch Materialist seyn, d. h, sie zum Erklärungsprincip aller Dinge machen. Wer sie hingegen als Ding an sich leugnet, ist eo ipso Idealist. Geradezu und ohne Umweg die Realität der Materie behauptet hat, unter den Neueren, nur Locke: daher hat seine Lehre, unter Condillac's Vermittelung, zum Sensualismus und Materialismus der Franzosen geführt. Geradezu und ohne Modifikationen geleugnet hat die Materie nur Berkeley. Der durchgeführte Gegensatz ist also Idealismus und Materialismus, in seinen Extremen repräsentirt durch Berkeley und die französischen Materialisten (Holbach). Fichte ist hier nicht zu erwähnen: er verdient keine Stelle unter den wirklichen Philosophen, unter diesen Auserwählten der Menschheit, die mit hohem Ernst nicht ihre Sache, sondern die Wahrheit suchen und daher nicht mit Solchen verwechselt werden dürfen, die unter diesem Vorgeben bloß ihr persönliches Fortkommen im Auge haben. Fichte ist der Vater der Schein-Philosophie, der unredlichen Methode, welche durch Zweideutigkeit im Gebrauch der Worte, durch unverständliche Reden und durch Sophismen zu täuschen, dabei durch einen vornehmen Ton zu imponiren, also den Lernbegierigen zu übertölpeln sucht; ihren Gipfel hat diese, nachdem auch Schelling sie angewandt hatte, bekanntlich in Hegeln erreicht, als woselbst sie zur eigentlichen Scharlatanerie herangereift war. Wer aber selbst nur jenen Fichte ganz ernsthaft neben Kant nennt, beweist, daß er keine Ahndung davon hat, was Kant sei. – Hingegen hat auch der Materialismus seine Berechtigung. Es ist eben so wahr, daß das Erkennende ein Produkt der Materie sei, als daß die Materie eine bloße Vorstellung des Erkennenden sei; aber es ist auch eben so einseitig. Denn der Materialismus ist die Philosophie des bei seiner Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts. Darum eben muß der Behauptung, daß ich eine bloße Modifikation der Materie sei, gegenüber, diese geltend gemacht werden, daß alle Materie bloß in meiner Vorstellung existire: und sie hat nicht minder Recht. Eine noch dunkle Erkenntniß dieser Verhältnisse scheint den Platonischen Ausspruch hylê alêthinon pseudos (materia mendacium verax) hervorgerufen zu haben.

Der Realismus führt, wie gesagt, nothwendig zum Materialismus. Denn liefert die empirische Anschauung die Dinge an sich, wie sie unabhängig von unserm Erkennen dasind; so liefert auch die Erfahrung die Ordnung der Dinge an sich, d.h. die wahre und alleinige Weltordnung. Dieser Weg aber führt zu der Annahme, daß es nur ein Ding an sich gebe, die Materie, deren Modifikation alles Uebrige sei; da hier der Naturlauf die absolute und alleinige Weltordnung ist. Um diesen Konsequenzen auszuweichen, wurde, so lange der Realismus in unangefochtener Geltung war, der Spiritualismus daneben aufgestellt, also die Annahme einer zweiten Substanz, außer und neben der Materie, einer immateriellen Substanz. Dieser von Erfahrung, Beweisen und Begreiflichkeit gleich sehr verlassene Dualismus und Spiritualismus wurde von Spinoza geleugnet und von Kant als falsch nachgewiesen, der dies durfte, weil er zugleich den Idealismus in seine Rechte einsetzte. Denn mit dem Realismus fällt der Materialismus, als dessen Gegengewicht man den Spiritualismus ersonnen hatte, von selbst weg, indem alsdann die Materie, nebst dem Naturlauf, zur bloßen Erscheinung wird, welche durch den Intellekt bedingt ist, indem sie in dessen Vorstellung allein ihr Daseyn hat. Sonach ist gegen den Materialismus das scheinbare und falsche Rettungsmittel der Spiritualismus, das wirkliche und wahre aber der Idealismus, der dadurch, daß er die objektive Welt in Abhängigkeit von uns setzt, das nöthige Gegengewicht giebt zu der Abhängigkeit, in welche der Naturlauf uns von ihr setzt. Die Welt, aus der ich durch den Tod scheide, war andererseits nur meine Vorstellung. Der Schwerpunkt des Daseyns fällt ins Subjekt zurück. Nicht, wie im Spiritualismus, die Unabhängigkeit des Erkennenden von der Materie, sondern die Abhängigkeit aller Materie von ihm wird nachgewiesen. Freilich ist das nicht so leicht faßlich und bequem zu handhaben, wie der Spiritualismus mit seinen zwei Substanzen; aber chalepa ta kala.

Allerdings nämlich steht dem subjektiven Ausgangspunkt »die Welt ist meine Vorstellung« vorläufig mit gleicher Berechtigung gegenüber der objektive »die Welt ist Materie«, oder »die Materie allein ist schlechthin« (da sie allein dem Werden und Vergehn nicht unterworfen ist), oder »alles Existirende ist Materie«. Dies ist der Ausgangspunkt des Demokritos, Leukippos und Epikuros. Näher betrachtet aber bleibt dem Ausgehn vom Subjekt ein wirklicher Vorzug: es hat einen völlig berechtigten Schritt voraus. Nämlich das Bewußtseyn allein ist das Unmittelbare: dieses aber überspringen wir, wenn wir gleich zur Materie gehn und sie zum Ausgangspunkt machen. Andererseits müßte es möglich seyn, aus der Materie und den richtig, vollständig und erschöpfend erkannten Eigenschaften derselben (woran uns noch viel fehlt) die Welt zu konstruiren. Denn alles Entstandene ist durch Ursachen wirklich geworden, welche nur vermöge der Grundkräfte der Materie wirken und zusammenkommen konnten: diese aber müssen wenigstens objective vollständig nachweisbar seyn, wenn wir auch subjective nie dahin kommen werden, sie zu erkennen. Immer aber würde einer solchen Erklärung und Konstruktion der Welt nicht nur die Voraussetzung eines Daseyns an sich der Materie (während es in Wahrheit durch das Subjekt bedingt ist) zum Grunde liegen; sondern sie müßte auch noch an dieser Materie alle ihre ursprünglichen Eigenschaften als schlechthin unerklärliche, also als qualitates occultae, gelten und stehn lassen. (Siehe § 26, 27 des ersten Bandes.) Denn die Materie ist nur der Träger dieser Kräfte, wie das Gesetz der Kausalität nur der Ordner ihrer Erscheinungen. Mithin würde eine solche Erklärung der Welt doch immer nur eine relative und bedingte seyn, eigentlich das Werk einer Physik, die sich bei jedem Schritte nach einer Metaphysik sehnte. – Andererseits hat auch der subjektive Ausgangspunkt und Ursatz »die Welt ist meine Vorstellung« sein Inadäquates: theils sofern er einseitig ist, da die Welt doch außerdem noch viel mehr ist (nämlich Ding an sich, Wille), ja, das Vorstellungseyn ihr gewissermaaßen accidentell ist; theils aber auch, sofern er bloß das Bedingtseyn des Objekts durch das Subjekt ausspricht, ohne zugleich zu besagen, daß auch das Subjekt als solches durch das Objekt bedingt ist. Denn eben so falsch wie der Satz des rohen Verstandes, »die Welt, das Objekt, wäre doch da, auch wenn es kein Subjekt gäbe«, ist dieser: »das Subjekt wäre doch ein Erkennendes, wenn es auch kein Objekt, d.h. gar keine Vorstellung hätte«. Ein Bewußtseyn ohne Gegenstand ist kein Bewußtseyn. Ein denkendes Subjekt hat Begriffe zu seinem Objekt, ein sinnlich anschauendes hat Objekte mit den seiner Organisation entsprechenden Qualitäten. Berauben wir nun das Subjekt aller nähern Bestimmungen und Formen seines Erkennens; so verschwinden auch am Objekt alle Eigenschaften, und nichts bleibt übrig, als die Materie ohne Form und Qualität, welche in der Erfahrung so wenig vorkommen kann, wie das Subjekt ohne Formen seines Erkennens, jedoch dem nackten Subjekt als solchem gegenüber stehn bleibt, als sein Reflex, der nur mit ihm zugleich verschwinden kann. Wenn auch der Materialismus nichts weiter als diese Materie, etwan Atome, zu postuliren wähnt; so setzt er doch unbewußt nicht nur das Subjekt, sondern auch Raum, Zeit und Kausalität hinzu, die auf speciellen Bestimmungen des Subjekts beruhen.

Die Welt als Vorstellung, die objektive Welt, hat also gleichsam zwei Kugel-Pole: nämlich das erkennende Subjekt schlechthin, ohne die Formen seines Erkennens, und dann die rohe Materie ohne Form und Qualität. Beide sind durchaus unerkennbar: das Subjekt, weil es das Erkennende ist; die Materie, weil sie ohne Form und Qualität nicht angeschaut werden kann. Dennoch sind Beide die Grundbedingungen aller empirischen Anschauung. So steht der rohen, formlosen, ganz todten (d.i. willenlosen) Materie, die in keiner Erfahrung gegeben, aber in jeder vorausgesetzt wird, als reines Widerspiel gegenüber das erkennende Subjekt, bloß als solches, welches ebenfalls Voraussetzung aller Erfahrung ist. Dieses Subjekt ist nicht in der Zeit: denn die Zeit ist erst die nähere Form alles seines Vorstellens; die ihm gegenüberstehende Materie ist, dem entsprechend, ewig, unvergänglich, beharrt durch alle Zeit, ist aber eigentlich nicht ein Mal ausgedehnt, weil Ausdehnung Form giebt, also nicht räumlich. Alles Andere ist in beständigem Entstehn und Vergehn begriffen, während jene Beiden die ruhenden Kugel-Pole der Welt als Vorstellung darstellen. Man kann daher die Beharrlichkeit der Materie betrachten als den Reflex der Zeitlosigkeit des reinen, schlechthin als Bedingung alles Objekts genommenen Subjekts. Beide gehören der Erscheinung an, nicht dem Dinge an sich; aber sie sind das Grundgerüst der Erscheinung. Beide werden nur durch Abstraktion herausgefunden, sind nicht unmittelbar rein und für sich gegeben.

Der Grundfehler aller Systeme ist das Verkennen dieser Wahrheit, daß der Intellekt und die Materie Korrelata sind, d.h. Eines nur für das Andere daist, Beide mit einander stehn und fallen, Eines nur der Reflex des Andern ist, ja, daß sie eigentlich Eines und das Selbe sind, von zwei entgegengesetzten Seiten betrachtet; welches Eine, – was ich hier anticipire, – die Erscheinung des Willens, oder Dinges an sich ist; daß mithin Beide sekundär sind: daher der Ursprung der Welt in keinem von Beiden zu suchen ist. Aber in Folge jenes Verkennens suchten alle Systeme (den Spinozismus etwan ausgenommen) den Ursprung aller Dinge in einem jener Beiden. Sie setzen nämlich entweder einen Intellekt, dêmiourgos, als schlechthin Erstes und nous, lassen demnach in diesem eine Vorstellung der Dinge und der Welt vor der Wirklichkeit derselben vorhergehn: mithin unterscheiden sie die reale Welt von der Welt als Vorstellung; welches falsch ist. Daher tritt jetzt als Das, wodurch Beide unterschieden sind, die Materie auf, als ein Ding an sich. Hieraus entsteht die Verlegenheit, diese Materie, die hylê, herbeizuschaffen, damit sie zur bloßen Vorstellung der Welt hinzukommend, dieser Realität ertheile. Da muß nun entweder jener ursprüngliche Intellekt sie vorfinden: dann ist sie, so gut wie er, ein absolut Erstes, und wir erhalten zwei absolut Erste, den dêmiourgos und die hylê. Oder aber er bringt sie aus nichts hervor; eine Annahme, der unser Verstand sich widersetzt, da er nur Veränderungen an der Materie, nicht aber ein Entstehn oder Vergehn derselben zu fassen fähig ist; welches im Grunde gerade darauf beruht, daß die Materie sein wesentliches Korrelat ist. – Die diesen Systemen entgegengesetzten, welche das andere der beiden Korrelate, also die Materie, zum absolut Ersten machen, setzen eine Materie, die dawäre, ohne vorgestellt zu werden, welches, wie aus allem oben Gesagten genugsam erhellt, ein gerader Widerspruch ist; da wir im Daseyn der Materie stets nur ihr Vorgestelltwerden denken. Danach aber entsteht ihnen die Verlegenheit, zu dieser Materie, die allein ihr absolut Erstes ist, den Intellekt hinzuzubringen, der endlich von ihr erfahren soll. Diese Blöße des Materialismus habe ich § 7 des ersten Bandes geschildert. – Bei mir hingegen sind Materie und Intellekt unzertrennliche Korrelata, nur für einander, daher nur relativ, da: die Materie ist die Vorstellung des Intellekts; der Intellekt ist das, in dessen Vorstellung allein die Materie existirt. Beide zusammen machen die Welt als Vorstellung aus, welche eben Kants Erscheinung, mithin ein sekundäres ist. Das Primäre ist das Erscheinende, das Ding an sich selbst, als welches wir nachher den Willen kennen lernen. Dieser ist an sich weder Vorstellendes, noch Vorgestelltes; sondern von seiner Erscheinungsweise völlig verschieden.

Zum nachdrücklichen Schluß dieser so wichtigen, wie schwierigen Betrachtung will ich jetzt jene beiden Abstrakta ein Mal personificirt und im Dialog auftreten lassen, nach dem Vorgang des Prabodha Tschandro Daya: auch kann man damit einen ähnlichen Dialog der Materie mit der Form in des Raimund Lullius Duodecim principia philosophiae, c. 1 et 2, vergleichen.

Das Subjekt.

Ich bin, und außer mir ist nichts. Denn die Welt ist meine Vorstellung.

Die Materie.

Vermessener Wahn! Ich, ich bin: und außer mir ist nichts. Denn die Welt ist meine vorübergehende Form. Du bist ein bloßes Resultat eines Theiles dieser Form und durchaus zufällig.

Die Subjekt.

Welch thörichter Dünkel! Weder du noch deine Form wären vorhanden ohne mich: ihr seid durch mich bedingt. Wer mich wegdenkt und dann glaubt euch noch denken zu können, ist in einer groben Täuschung begriffen: denn euer Daseyn außerhalb meiner Vorstellung ist ein gerader Widerspruch, ein Sideroxylon. Ihr seid heißt eben nur, ihr werdet von mir vorgestellt. Meine Vorstellung ist der Ort eures Daseyns: daher bin ich die erste Bedingung desselben.

Die Materie.

Zum Glück wird die Vermessenheit deiner Behauptung bald auf eine reale Weise widerlegt werden und nicht durch bloße Worte. Noch wenige Augenblicke, und du – bist wirklich nicht mehr, bist mit sammt deiner Großsprecherei ins Nichts versunken, hast, nach Schatten-Weise, vorübergeschwebt und das Schicksal jeder meiner vergänglichen Formen erlitten. Ich aber, ich bleibe, unverletzt und unvermindert, von Jahrtausend zu Jahrtausend, die unendliche Zeit hindurch, und schaue unerschüttert dem Spiel des Wechsels meiner Formen zu.

Das Subjekt.

Diese unendliche Zeit, welche zu durchleben du dich rühmst, ist, wie der unendliche Raum, den du füllst, bloß in meiner Vorstellung vorhanden, ja, ist bloße Form meiner Vorstellung, die ich fertig in mir trage, und in der du dich darstellst, die dich aufnimmt, wodurch du allererst dabist. Die Vernichtung aber, mit der du mir drohest, trifft nicht mich; sonst wärst du mit vernichtet: vielmehr trifft sie bloß das Individuum, welches auf kurze Zeit mein Träger ist und von mir vorgestellt wird, wie alles Andere.

Die Materie.

Und wenn ich dir dies zugestehe und darauf eingehe, dein Daseyn, welches doch an das dieser vergänglichen Individuen unzertrennlich geknüpft ist, als ein für sich bestehendes zu betrachten; so bleibt es dennoch von dem meinigen abhängig. Denn du bist Subjekt nur sofern du ein Objekt hast: und dieses Objekt bin ich. Ich bin dessen Kern und Gehalt, das Bleibende darin, welches es zusammenhält und ohne welches es so unzusammenhängend wäre und so wesenlos verschwebte, wie die Träume und Phantasien deiner Individuen, die selbst ihren Scheingehalt doch noch von mir geborgt haben.

Das Subjekt.

Du thust wohl, mein Daseyn mir deshalb, daß es an die Individuen geknüpft ist, nicht abstreiten zu wollen: denn so unzertrennlich, wie ich an diese, bist du an deine Schwester, die Form, gekettet, und bist noch nie ohne sie erschienen. Dich, wie mich, hat nackt und isolirt noch kein Auge gesehn: denn Beide sind wir nur Abstraktionen. Ein Wesen ist es im Grunde, das sich selbst anschaut und von sich selbst angeschaut wird, dessen Seyn an sich aber weder im Anschauen noch im Angeschautwerden bestehn kann, da diese zwischen uns Beide vertheilt sind.

Beide.

So sind wir denn unzertrennlich verknüpft, als nothwendige Theile eines Ganzen, das uns Beide umfaßt und durch uns besteht. Nur ein Mißverständnis kann uns Beide einander feindlich gegenüber stellen und dahin verleiten, daß Eines des Andern Daseyn bekämpft, mit welchem sein eigenes steht und fällt.

Dieses Beide umfassende Ganze ist die Welt als Vorstellung, oder die Erscheinung. Nach deren Wegnahme bleibt nur noch das rein Metaphysische, das Ding an sich, welches wir im zweiten Buche als den Willen erkennen werden.

Kapitel 2. Zur Lehre von der anschauenden, oder Verstandes-Erkenntniß

Bei aller transscendentalen Idealität behält die objektive Welt empirische Realität: das Objekt ist zwar nicht Ding an sich; aber es ist als empirisches Objekt real. Zwar ist der Raum nur in meinem Kopf; aber empirisch ist mein Kopf im Raum. Das Kausalitätsgesetz kann zwar nimmermehr dienen, den Idealismus zu beseitigen, indem es nämlich zwischen den Dingen an sich und unserer Erkenntniß von ihnen eine Brücke bildete und sonach der in Folge seiner Anwendung sich darstellenden Welt absolute Realität zusicherte: allein Dies hebt keineswegs das Kausalverhältniß der Objekte unter einander, also auch nicht das auf, welches zwischen dem eigenen Leibe jedes Erkennenden und den übrigen materiellen Objekten unstreitig Statt hat. Aber das Kausalitätsgesetz verbindet bloß die Erscheinungen, führt hingegen nicht über sie hinaus. Wir sind und bleiben mit demselben in der Welt der Objekte, d.h. der Erscheinungen, also eigentlich der Vorstellungen. Jedoch bleibt das Ganze einer solchen Erfahrungswelt zunächst durch die Erkenntniß eines Subjekts überhaupt, als nothwendige Voraussetzung derselben, und sodann durch die speciellen Formen unserer Anschauung und Apprehension bedingt, fällt also nothwendig der bloßen Erscheinung anheim und hat keinen Anspruch, für die Welt der Dinge an sich selbst zu gelten. Sogar das Subjekt selbst (sofern es bloß Erkennendes ist) gehört der bloßen Erscheinung an, deren ergänzende andere Hälfte es ausmacht.

Ohne Anwendung des Gesetzes der Kausalität könnte es inzwischen nie zur Anschauung einer objektiven Welt kommen: denn diese Anschauung ist, wie ich oft auseinandergesetzt habe, wesentlich intellektual und nicht bloß sensual. Die Sinne geben bloße Empfindung, die noch lange keine Anschauung ist. Den Antheil der Sinnesempfindung an der Anschauung sonderte Locke aus, unter dem Namen der sekundären Qualitäten, welche er mit Recht den Dingen an sich selbst absprach. Aber Kant, Locke's Methode weiter führend, sonderte überdies aus und sprach den Dingen an sich ab was der Verarbeitung jenes Stoffes (der Sinnesempfindung) durch das Gehirn angehört, und da ergab sich, daß hierin alles Das begriffen war, was Locke, als primäre Qualitäten, den Dingen an sich gelassen hatte, nämlich Ausdehnung, Gestalt, Solidität u.s.w., wodurch bei Kant das Ding an sich zu einem völlig Unbekannten = x wird. Bei Locke ist demnach das Ding an sich zwar ein Farbloses, Klangloses, Geruchloses, Geschmackloses, ein weder Warmes noch Kaltes, weder Weiches noch Hartes, weder Glattes noch Rauhes; jedoch bleibt es ein Ausgedehntes, Gestaltetes, Undurchdringliches, Ruhendes oder Bewegtes, und Maaß und Zahl Habendes. Hingegen bei Kant hat es auch diese letzteren Eigenschaften sämmtlich abgelegt; weil sie nur mittelst Zeit, Raum und Kausalität möglich sind, diese aber aus unserm Intellekt (Gehirn) eben so entspringen, wie Farben, Töne, Gerüche u.s.w. aus den Nerven der Sinnesorgane. Das Ding an sich ist bei Kant ein Raumloses, Unausgedehntes, Unkörperliches geworden. Was also zur Anschauung, in der die objektive Welt dasteht, die bloßen Sinne liefern, verhält sich zu Dem, was dazu die Gehirnfunktion liefert (Raum, Zeit, Kausalität), wie die Masse der Sinnesnerven zur Masse des Gehirns, nach Abzug desjenigen Theiles von dieser, der überdies zum eigentlichen Denken, d.h. dem abstrakten Vorstellen, verwendet wird und daher den Thieren abgeht. Denn, verleihen die Nerven der Sinnesorgane den erscheinenden Objekten Farbe, Klang, Geschmack, Geruch, Temperatur u.s.w.; so verleiht das Gehirn denselben Ausdehnung, Form, Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit u.s.w., kurz Alles, was erst mittelst Zeit, Raum und Kausalität vorstellbar ist. Wie gering bei der Anschauung der Antheil der Sinne ist, gegen den des Intellekts, bezeugt also auch der Vergleich zwischen dem Nervenapparat zum Empfangen der Eindrücke mit dem zum Verarbeiten derselben; indem die Masse der Empfindungsnerven sämmtlicher Sinnesorgane sehr gering ist, gegen die des Gehirns, selbst noch bei den Thieren, deren Gehirn, da sie nicht eigentlich, d.h. abstrakt, denken, bloß zur Hervorbringung der Anschauung dient und doch, wo diese vollkommen ist, also bei den Säugethieren, eine bedeutende Masse hat; auch nach Abzug des kleinen Gehirns, dessen Funktion die geregelte Leitung der Bewegungen ist.

Von der Unzulänglichkeit der Sinne zur Hervorbringung der objektiven Anschauung der Dinge, wie auch vom nichtempirischen Ursprung der Anschauung des Raumes und der Zeit, erhält man, als Bestätigung der Kantischen Wahrheiten, auf negativem Wege, eine sehr gründliche Ueberzeugung durch Thomas Reid's vortreffliches Buch: Inquiry into the human mind, first edition 1764, 6th edition 1810. Dieser widerlegt die Locke'sche Lehre, daß die Anschauung ein Produkt der Sinne sei, indem er gründlich und scharfsinnig darthut, daß sämmtliche Sinnesempfindungen nicht die mindeste Aehnlichkeit haben mit der anschaulich erkannten Welt, besonders aber die fünf primären Qualitäten Locke's (Ausdehnung, Gestalt, Solidität, Bewegung, Zahl) durchaus von keiner Sinnesempfindung uns geliefert werden können. Er giebt sonach die Frage nach der Entstehungsart und dem Ursprung der Anschauung als völlig unlösbar auf. So liefert er, obwohl mit Kanten völlig unbekannt, gleichsam nach der regula falsi, einen gründlichen Beweis für die (eigentlich von mir, in Folge der Kantischen Lehre, zuerst dargelegte) Intellektualität der Anschauung und für den von Kant entdeckten apriorischen Ursprung der Grundbestandtheile derselben, also des Raumes, der Zeit und der Kausalität, aus welchen jene Locke'schen primären Eigenschaften allererst hervorgehn, mittelst ihrer aber leicht zu konstruiren sind. Thomas Reid's Buch ist sehr lehrreich und lesenswerth, zehn Mal mehr, als Alles was seit Kant Philosophisches geschrieben worden zusammengenommen. Einen andern indirekten Beweis für die selbe Lehre liefern, wiewohl auf dem Wege des Irrthums, die französischen Sensualphilosophen, welche, seitdem Condillac in die Fußstapfen Locke's trat, sich abmühen, wirklich darzuthun, daß unser ganzes Vorstellen und Denken auf bloße Sinnesempfindungen zurücklaufe (penser c'est sentir), welche sie, nach Locke's Vorgang, idées simples nennen, und durch deren bloßes Zusammentreten und Verglichenwerden die ganze objektive Welt sich in unserm Kopfe aufbauen soll. Diese Herren haben wirklich des idées bien simples: es ist belustigend zu sehn, wie sie, denen sowohl die Tiefe des Deutschen, als die Redlichkeit des Englischen Philosophen abgieng, jenen ärmlichen Stoff der Sinnesempfindung hin und her wenden und ihn wichtig zu machen suchen, um das so bedeutungsvolle Phänomen der Vorstellungs- und Gedanken-Welt daraus zusammenzusetzen. Aber der von ihnen konstruirte Mensch müßte, anatomisch zu reden, ein Anencephalus, eine Tête de crapaud seyn, mit bloßen Sinneswerkzeugen, ohne Gehirn. Um aus unzähligen nur ein Paar der besseren Versuche dieser Art beispielsweise anzuführen, nenne ich Condorcet im Anfang seines Buches: Des progrès de l'esprit humain, und Tourtual über das Sehn, im zweiten Bande der Scriptores ophthalmologici minores; edidit Justus Radius (1828).

Das Gefühl der Unzulänglichkeit einer bloß sensualistischen Erklärung der Anschauung zeigt sich gleichfalls in der, kurz vor dem Auftreten der Kantischen Philosophie ausgesprochenen Behauptung, daß wir nicht bloße, durch Sinnesempfindung erregte Vorstellungen von den Dingen hätten, sondern unmittelbar die Dinge selbst wahrnähmen, obwohl sie außer uns lägen; welches freilich unbegreiflich sei. Und dies war nicht etwan idealistisch gemeint, sondern vom gewöhnlichen realistischen Standpunkt aus gesagt. Gut und bündig drückt jene Behauptung der berühmte Euler aus, in seinen »Briefen an eine Deutsche Prinzessin«, Bd. 2, S. 68. »Ich glaube daher, daß die Empfindungen (der Sinne) noch etwas mehr enthalten, als die Philosophen sich einbilden. Sie sind nicht bloß leere Wahrnehmungen von gewissen im Gehirn gemachten Eindrücken: sie geben der Seele nicht bloß Ideen von Dingen; sondern sie stellen ihr auch wirklich Gegenstände vor, die außer ihr existiren, ob man gleich nicht begreifen kann, wie dies eigentlich zugehe. « Diese Meinung erklärt sich aus Folgendem. Obwohl, wie ich hinlänglich bewiesen habe, die Anwendung des uns a priori bewußten Kausalitätsgesetzes die Anschauung vermittelt; so tritt dennoch, beim Sehn, der Verstandesakt, mittelst dessen wir von der Wirkung zur Ursache übergehn, keineswegs ins deutliche Bewußtsein: daher sondert sich die Sinnesempfindung nicht von der aus ihr, als dem rohen Stoff, erst vom Verstande gebildeten Vorstellung. Noch weniger kann ein, überhaupt nicht Statt habender, Unterschied zwischen Gegenstand und Vorstellung ins Bewußtseyn treten; sondern wir nehmen ganz unmittelbar die Dinge selbst wahr, und zwar als außer uns gelegen; obwohl gewiß ist, daß das Unmittelbare nur die Empfindung seyn kann, und diese auf das Gebiet unterhalb unserer Haut beschränkt ist. Dies ist daraus erklärlich, daß das Außer uns eine ausschließlich räumliche Bestimmung, der Raum selbst aber eine Form unsers Anschauungsvermögens, d.h. eine Funktion unsers Gehirns ist: daher liegt das Außer uns, wohin wir, auf Anlaß der Gesichtsempfindung, Gegenstände versetzen, selbst innerhalb unsers Kopfes: denn da ist sein ganzer Schauplatz. Ungefähr wie wir im Theater Berge, Wald und Meer sehn, aber doch Alles im Hause bleibt. Hieraus wird begreiflich, daß wir die Dinge mit der Bestimmung Außerhalb und doch ganz unmittelbar anschauen, nicht aber eine von den Dingen, die außerhalb lägen, verschiedene Vorstellung derselben innerhalb. Denn im Raume und folglich auch außer uns sind die Dinge nur sofern wir sie vorstellen: daher sind diese Dinge, die wir solchermaaßen unmittelbar selbst, und nicht etwan ihr bloßes Abbild, anschauen, eben selbst auch nur unsere Vorstellungen, und als solche nur in unserm Kopfe vorhanden. Also nicht sowohl, wie Euler sagt, schauen wir die außerhalb gelegenen Dinge unmittelbar selbst an; als vielmehr: die von uns als außerhalb gelegen angeschauten Dinge sind nur unsere Vorstellungen und deshalb ein von uns unmittelbar Wahrgenommenes. Die ganze oben in Eulers Worten gegebene und richtige Bemerkung liefert also eine neue Bestätigung der Kantischen transscendentalen Aesthetik und meiner darauf gestützten Theorie der Anschauung, wie auch des Idealismus überhaupt. Die oben erwähnte Unmittelbarkeit und Bewußtlosigkeit, mit der wir, bei der Anschauung, den Uebergang von der Empfindung zu ihrer Ursache machen, läßt sich erläutern durch einen analogen Hergang beim abstrakten Vorstellen, oder Denken. Beim Lesen und Hören nämlich empfangen wir bloße Worte, gehn aber von diesen so unmittelbar zu den durch sie bezeichneten Begriffen über, daß es ist, als ob wir unmittelbar die Begriffe empfiengen: denn wir werden uns des Ueberganges zu diesen gar nicht bewußt. Daher wissen wir bisweilen nicht, in welcher Sprache wir gestern etwas, dessen wir uns erinnern, gelesen haben. Daß ein solcher Uebergang dennoch jedesmal Statt hat, wird bemerklich, wenn er ein Mal ausbleibt, d.h. wenn wir, in der Zerstreuung, gedankenlos lesen und dann inne werden, daß wir zwar alle Worte, aber keinen Begriff empfangen haben. Bloß wenn wir von abstrakten Begriffen zu Bildern der Phantasie übergehn, werden wir uns der Umsetzung bewußt.

Uebrigens findet, bei der empirischen Wahrnehmung, die Bewußtlosigkeit, mit welcher der Uebergang von der Empfindung zur Ursache derselben geschieht, eigentlich nur bei der Anschauung im engsten Sinn, also beim Sehn Statt; hingegen geschieht er bei allen übrigen sinnlichen Wahrnehmungen mit mehr oder minder deutlichem Bewußtseyn, daher, bei der Apprehension durch die gröberen vier Sinne seine Realität sich unmittelbar faktisch konstatiren läßt. Im Finstern betasten wir ein Ding so lange von allen Seiten, bis wir aus dessen verschiedenen Wirkungen auf die Hände die Ursache derselben als bestimmte Gestalt konstruiren können. Ferner, wenn etwas sich glatt anfühlt, so besinnen wir uns bisweilen, ob wir etwan Fett oder Oel an den Händen haben: auch wohl, wenn es uns kalt berührt, ob wir sehr warme Hände haben. Bei einem Ton zweifeln wir bisweilen, ob er eine bloß innere, oder wirklich eine von außen kommende Affektion des Gehörs war, sodann, ob er nah und schwach, oder fern und stark erscholl, dann, aus welcher Richtung er kam, endlich, ob er die Stimme eines Menschen, eines Thieres, oder eines Instruments war: wir forschen also, bei gegebener Wirkung, nach der Ursache. Beim Geruch und Geschmack ist die Ungewißheit über die Art der objektiven Ursache der empfundenen Wirkung alltäglich: so deutlich treten sie hier auseinander. Daß beim Sehn der Uebergang von der Wirkung zur Ursache ganz unbewußt geschieht, und dadurch der Schein entsteht, als wäre diese Art der Wahrnehmung eine völlig unmittelbare, in der sinnlichen Empfindung allein, ohne Verstandesoperation, bestehende, dies hat seinen Grund theils in der hohen Vollkommenheit des Organs, theils in der ausschließlich geradlinigen Wirkungsart des Lichts. Vermöge dieser letztern leitet der Eindruck selbst schon auf den Ort der Ursache hin, und da das Auge alle Nuancen von Licht, Schatten, Farbe und Umriß, wie auch die Data, nach welchen der Verstand die Entfernung schätzt, auf das Feinste und mit Einem Blick zu empfinden die Fähigkeit hat; so geschieht, bei Eindrücken auf diesen Sinn, die Verstandesoperation mit einer Schnelligkeit und Sicherheit, welche sie so wenig zum Bewußtseyn kommen läßt, wie das Buchstabiren beim Lesen; wodurch also der Schein entsteht, als ob schon die Empfindung selbst unmittelbar die Gegenstände gäbe. Dennoch ist, gerade beim Sehn, die Operation des Verstandes, bestehend im Erkennen der Ursache aus der Wirkung, am bedeutendesten: vermöge ihrer wird das doppelt, mit zwei Augen, Empfundene einfach angeschaut; vermöge ihrer wird der Eindruck, welcher auf der Retina, in Folge der Kreuzung der Strahlen in der Pupille, verkehrt, das Oberste unten, eintrifft, bei Verfolgung der Ursache desselben auf dem Rückwege in gleicher Richtung, wieder zurechtgestellt, oder, wie man sich ausdrückt, sehn wir die Dinge aufrecht, obgleich ihr Bild im Auge verkehrt steht; vermöge jener Verstandesoperation endlich werden, aus fünf verschiedenen Datis, die Th. Reid sehr deutlich und schön beschreibt, Größe und Entfernung in unmittelbarer Anschauung von uns abgeschätzt. Ich habe dies Alles, wie auch die Beweise, welche die Intellektualität der Anschauung unwiderleglich darthun, schon 1816 auseinandergesetzt in meiner Abhandlung »Ueber das Sehn und die Farben« (in zweiter Auflage 1854), mit bedeutenden Vermehrungen aber in der fünfzehn Jahre spätem und verbesserten Lateinischen Bearbeitung derselben, welche, unter dem Titel Theoria colorum physiologica eademque primaria, im dritten Bande der von Justus Radius 1830 herausgegebenen Scriptores ophthalmologici minores steht, am ausführlichsten und gründlichsten jedoch in der zweiten Auflage meiner Abhandlung »Ueber den Satz vom Grunde«, § 21. Dahin also verweise ich über diesen wichtigen Gegenstand, um gegenwärtige Erläuterungen nicht noch mehr anzuschwellen.

Hingegen mag eine ins Aesthetische einschlagende Bemerkung hier ihre Stelle finden. Vermöge der bewiesenen Intellektualität der Anschauung ist auch der Anblick schöner Gegenstände, z.B. einer schönen Aussicht, ein Gehirnphänomen. Die Reinheit und Vollkommenheit desselben hängt daher nicht bloß vom Objekt ab, sondern auch von der Beschaffenheit des Gehirns, nämlich von der Form und Größe desselben, von der Feinheit seiner Textur und von der Belebung seiner Thätigkeit durch die Energie des Pulses der Gehirnadern. Demnach fällt gewiß das Bild der selben Aussicht in verschiedenen Köpfen, auch bei gleicher Schärfe ihrer Augen, so verschieden aus, wie etwan der erste und letzte Abdruck einer stark gebrauchten Kupferplatte. Hierauf beruht die große Verschiedenheit der Fähigkeit zum Genüsse der schönen Natur und folglich auch zum Nachbilden derselben, d.h. zum Hervorbringen des gleichen Gehirnphänomens mittelst einer ganz anderartigen Ursache, nämlich der Farbenflecke auf einer Leinwand.

Uebrigens hat die auf der gänzlichen Intellektualität der Anschauung beruhende scheinbare Unmittelbarkeit derselben, vermöge welcher wir, wie Euler sagt, die Dinge selbst und als außer uns gelegen apprehendiren, ein Analogon an der Art, wie wir die Theile unsers eigenen Leibes empfinden, zumal wenn sie schmerzen, welches, sobald wir sie empfinden, meistens der Fall ist. Wie wir nämlich wähnen, die Dinge unmittelbar dort, wo sie sind, wahrzunehmen, während es doch wirklich im Gehirn geschieht; so glauben wir auch den Schmerz eines Gliedes in diesem selbst zu empfinden, während dieser ebenfalls im Gehirn empfunden wird, wohin ihn der Nerv des afficirten Theiles leitet. Daher werden nur die Affektionen solcher Theile, deren Nerven zum Gehirn gehn, empfunden, nicht aber die, deren Nerven dem Gangliensystem angehören; es sei denn, daß eine überaus starke Affektion derselben auf Umwegen bis ins Gehirn dringe, wo sie sich doch meistens nur als dumpfes Unbehagen und stets ohne genaue Bestimmung ihres Ortes zu erkennen giebt. Daher auch werden die Verletzungen eines Gliedes, dessen Nervenstamm durchschnitten oder unterbunden ist, nicht empfunden. Daher endlich fühlt wer ein Glied verloren hat doch noch bisweilen Schmerz in demselben, weil die zum Gehirn gehenden Nerven noch dasind. – Also in beiden hier verglichenen Phänomenen wird was im Gehirn vorgeht als außer demselben apprehendirt: bei der Anschauung durch Vermittelung des Verstandes, der seine Fühlfäden in die Außenwelt streckt; bei der Empfindung der Glieder durch Vermittelung der Nerven.

Kapitel 3. Ueber die Sinne

Von Anderen Gesagtes zu wiederholen ist nicht der Zweck meiner Schriften: daher gebe ich hier nur einzelne, eigene Betrachtungen über die Sinne.

Die Sinne sind bloß die Ausläufe des Gehirns, durch welche es von außen den Stoff empfängt (in Gestalt der Empfindung), den es zur anschaulichen Vorstellung verarbeitet. Diejenigen Empfindungen, welche hauptsächlich zur objektiven Auffassung der Außenwelt dienen sollten, mußten an sich selbst weder angenehm noch unangenehm seyn: dies besagt eigentlich, daß sie den Willen ganz unberührt lassen mußten. Außerdem nämlich würde die Empfindung selbst unsere Aufmerksamkeit fesseln und wir bei der Wirkung stehn bleiben, statt, wie hier bezweckt war, sogleich zur Ursache überzugehn: so nämlich bringt es der entschiedene Vorrang mit sich, den, für unsere Beachtung, der Wille überall vor der bloßen Vorstellung hat, als welcher wir uns erst dann zuwenden, wann jener schweigt. Demgemäß sind Farben und Töne an sich selbst und so lange ihr Eindruck das normale Maaß nicht überschreitet, weder schmerzliche, noch angenehme Empfindungen; sondern treten mit derjenigen Gleichgültigkeit auf, die sie zum Stoff rein objektiver Anschauungen eignet. Dies ist nämlich so weit der Fall, als es an einem Leibe, der an sich selbst durch und durch Wille ist, überhaupt möglich seyn konnte, und ist eben in dieser Hinsicht bewunderungswerth. Physiologisch beruht es darauf, daß in den Organen der edleren Sinne, also des Gesichts und Gehörs, diejenigen Nerven, welche den specifischen äußern Eindruck aufzunehmen haben, gar keiner Empfindung von Schmerz fähig sind, sondern keine andere Empfindung, als die ihnen specifisch eigenthümliche, der bloßen Wahrnehmung dienende, kennen. Demnach ist die Retina, wie auch der optische Nerv, gegen jede Verletzung unempfindlich, und eben so ist es der Gehörnerv: in beiden Organen wird Schmerz nur in den übrigen Theilen derselben, den Umgebungen des ihnen eigenthümlichen Sinnesnerven, empfunden, nie in diesem selbst: beim Auge hauptsächlich in der conjunctiva; beim Ohr im meatus auditorius. Sogar mit dem Gehirn verhält es sich eben so, indem dasselbe, wenn unmittelbar selbst, also von oben, angeschnitten, keine Empfindung davon hat. Also nur vermöge dieser ihnen eigenen Gleichgültigkeit in Bezug auf den Willen werden die Empfindungen des Auges geschickt, dem Verstande die so mannigfaltigen und so fein nüancirten Data zu liefern, aus denen er, mittelst Anwendung des Kausalitätsgesetzes und auf Grundlage der reinen Anschauungen Raum und Zeit, die wundervolle objektive Welt in unserm Kopfe aufbaut. Eben jene Wirkungslosigkeit der Farbenempfindungen auf den Willen befähigt sie, wann ihre Energie durch Transparenz erhöht ist, wie beim Abendroth, gefärbten Fenstern u. dgl., uns sehr leicht in den Zustand der rein objektiven, willenlosen Anschauung zu versetzen, welche, wie ich im dritten Buche nachgewiesen habe, einen Hauptbestandtheil des ästhetischen Eindrucks ausmacht. Eben diese Gleichgültigkeit in Bezug auf den Willen eignet die Laute, den Stoff der Bezeichnung für die endlose Mannigfaltigkeit der Begriffe der Vernunft abzugeben.

Indem der äußere Sinn, d.h. die Empfänglichkeit für äußere Eindrücke als reine Data für den Verstand, sich in fünf Sinne spaltete, richteten diese sich nach den vier Elementen, d.h. den vier Aggregationszuständen, nebst dem der Imponderabilität. So ist der Sinn für das Feste (Erde) das Getast, für das Flüssige (Wasser) der Geschmack, für das Dampfförmige, d.h. Verflüchtigte (Dunst, Duft) der Geruch, für das permanent Elastische (Luft) das Gehör, für das Imponderabile (Feuer, Licht) das Gesicht. Das zweite Imponderabile, Wärme, ist eigentlich kein Gegenstand der Sinne, sondern des Gemeingefühls, wirkt daher auch stets direkt auf den Willen, als angenehm oder unangenehm. Aus dieser Klassifikation ergiebt sich auch die relative Dignität der Sinne. Das Gesicht hat den ersten Rang, sofern seine Sphäre die am weitesten reichende, und seine Empfänglichkeit die feinste ist; was darauf beruht, daß sein Anregendes ein Imponderabile, d.h. ein kaum noch Körperliches, ein quasi Geistiges, ist. Den zweiten Rang hat das Gehör, entsprechend der Luft. Inzwischen bleibt das Getast ein gründlicher und vielseitiger Gelehrter. Denn während die andern Sinne uns jeder nur eine ganz einseitige Beziehung des Objekts, wie seinen Klang, oder sein Verhältniß zum Licht, angeben, liefert das, mit dem Gemeingefühl und der Muskelkraft fest verwachsene Getast dem Verstande die Data zugleich für die Form, Größe, Härte, Glätte, Textur, Festigkeit, Temperatur und Schwere der Körper, und dies Alles mit der geringsten Möglichkeit des Scheines und der Täuschung, denen alle andern Sinne weit mehr unterliegen. Die beiden niedrigsten Sinne, Geruch und Geschmack, sind schon nicht mehr frei von einer unmittelbaren Erregung des Willens, d.h. sie werden stets angenehm oder unangenehm afficirt, sind daher mehr subjektiv als objektiv.

Die Wahrnehmungen des Gehörs sind ausschließlich in der Zeit: daher das ganze Wesen der Musik im Zeitmaaß besteht, als worauf sowohl die Qualität oder Höhe der Töne, mittelst der Vibrationen, als die Quantität oder Dauer derselben, mittelst des Taktes, beruht. Die Wahrnehmungen des Gesichts hingegen sind zunächst und vorwaltend im Raume; sekundär, mittelst ihrer Dauer, aber auch in der Zeit.

Das Gesicht ist der Sinn des Verstandes, welcher anschaut, das Gehör der Sinn der Vernunft, welche denkt und vernimmt. Worte werden durch sichtbare Zeichen nur unvollkommen vertreten: daher zweifle ich, daß ein Taubstummer, der lesen kann, aber vom Laute der Worte keine Vorstellung hat, in seinem Denken mit den bloß sichtbaren Begriffszeichen so behende operirt, wie wir mit den wirklichen, d.h. hörbaren Worten. Wenn er nicht lesen kann, ist er bekanntlich fast dem unvernünftigen Thiere gleich; während der Blindgeborene, von Anfang an, ein ganz vernünftiges Wesen ist.

Das Gesicht ist ein aktiver, das Gehör ein passiver Sinn. Daher wirken Töne störend und feindlich auf unsern Geist ein, und zwar um so mehr, je thätiger und entwickelter dieser ist: sie zerreißen alle Gedanken, zerrütten momentan die Denkkraft. Hingegen giebt es keine analoge Störung durch das Auge, keine unmittelbare Einwirkung des Gesehenen, als solchen, auf die denkende Thätigkeit (denn natürlich ist hier nicht die Rede von dem Einfluß der erblickten Gegenstände auf den Willen); sondern die bunteste Mannigfaltigkeit von Dingen, vor unsern Augen, läßt ein ganz ungehindertes, ruhiges Denken zu. Demzufolge lebt der denkende Geist mit dem Auge in ewigem Frieden, mit dem Ohr in ewigem Krieg. Dieser Gegensatz der beiden Sinne bewährt sich auch darin, daß Taubstumme, wenn durch Galvanismus hergestellt, beim ersten Ton, den sie hören, vor Schrecken todtenblaß werden (Gilberts »Annalen der Physik«, Bd. 10, S. 382), operirte Blinde dagegen das erste Licht mit Entzücken erblicken, und nur ungern die Binde sich über die Augen legen lassen. Alles Angeführte aber ist daraus erklärlich, daß das Hören vermöge einer mechanischen Erschütterung des Gehörnerven vor sich geht, die sich sogleich bis ins Gehirn fortpflanzt; während hingegen das Sehn eine wirkliche Aktion der Retina ist, welche durch das Licht und seine Modifikationen bloß erregt und hervorgerufen wird: wie ich dies in meiner physiologischen Farbentheorie ausführlich gezeigt habe. Im Widerstreit hingegen steht dieser ganze Gegensatz mit der jetzt überall so unverschämt aufgetischten kolorirten Aether-Trommelschlag-Theorie, welche die Lichtempfindung des Auges zu einer mechanischen Erschütterung, wie die des Gehörs zunächst wirklich ist, erniedrigen will, während nichts heterogener seyn kann, als die stille, sanfte Wirkung des Lichts und die Allarmtrommel des Gehörs. Setzen wir hiemit noch den besondern Umstand in Verbindung, daß wir, obwohl mit zwei Ohren, deren Empfindlichkeit oft sehr verschieden ist, hörend, doch nie einen Ton doppelt vernehmen, wie wir mit zwei Augen oft doppelt sehn; so werden wir zu der Vermuthung geführt, daß die Empfindung des Hörens nicht im Labyrinth, oder der Schnecke entsteht, sondern erst da, wo, tief im Gehirn, beide Gehörnerven zusammentreffen, wodurch der Eindruck einfach wird: dies aber ist da, wo der pons Varolii die medulla oblongata umfaßt, also an der absolut letalen Stelle, durch deren Verletzung jedes Thier augenblicklich getödtet wird, und von wo der Gehörnerv nur einen kurzen Verlauf hat zum Labyrinth, dem Sitze der akustischen Erschütterung. Eben dieser sein Ursprung, an jener gefährlichen Stelle, von welcher auch alle Gliederbewegung ausgeht, ist Ursache, daß man bei einem plötzlichen Knall zusammenfährt; welches bei einer plötzlichen Erleuchtung, z.B. einem Blitz, keineswegs Statt findet. Der Sehnerv hingegen tritt viel weiter nach vorn aus seinen thalamis (wenn auch vielleicht sein erster Ursprung hinter diesen liegt) hervor, ist in seinem Fortgang überall von den vorderen Gehirn-lobis bedeckt, wiewohl stets von ihnen gesondert, bis er, ganz aus dem Gehirn hinausgelangt, sich in die Retina ausbreitet, auf welcher nun allererst die Empfindung, auf Anlaß des Lichtreizes, entsteht und daselbst wirklich ihren Sitz hat; wie dieses meine Abhandlung über das Sehn und die Farben beweist. Aus jenem Ursprung des Gehörnerven erklärt sich denn auch die große Störung, welche die Denkkraft durch Töne erleidet, wegen welcher denkende Köpfe und überhaupt Leute von vielem Geist, ohne Ausnahme, durchaus kein Geräusch vertragen können. Denn es stört den beständigen Strohm ihrer Gedanken, unterbricht und lähmt ihr Denken, eben weil die Erschütterung des Gehörnerven sich so tief ins Gehirn fortpflanzt, dessen ganze Masse daher die durch den Gehörnerven erregten Schwingungen dröhnend mit empfindet, und weil das Gehirn solcher Leute viel leichter beweglich ist, als das der gewöhnlichen Köpfe. Auf der selben großen Beweglichkeit und Leitungskraft ihres Gehirns beruht es gerade, daß bei ihnen jeder Gedanke alle ihm analogen, oder verwandten, so leicht hervorruft, wodurch eben ihnen die Aehnlichkeiten, Analogien und Beziehungen der Dinge überhaupt, so schnell und leicht in den Sinn kommen, daß der selbe Anlaß, den Millionen gewöhnlicher Köpfe vor ihnen gehabt, sie auf den Gedanken, auf die Entdeckung bringt, welche nicht gemacht zu haben die Andern, weil sie wohl nach-, aber nicht vor-denken können, sich nachher verwundern: so schien die Sonne auf alle Säulen; aber nur Memnons Säule klang. Demgemäß waren Kant, Goethe, Jean Paul höchst empfindlich gegen jedes Geräusch, wie ihre Biographien bezeugen.A2 Goethe kaufte, in seinen letzten Jahren, ein in Verfall gerathenes Haus, neben dem seinigen, bloß damit er nicht den Lerm bei dessen Ausbesserung anzuhören hätte. Vergebens also war er, schon in seiner Jugend, der Trommel nachgegangen, um sich gegen Geräusch abzuhärten. Es ist nicht Sache der Gewohnheit. Dagegen ist die wahrhaft stoische Gleichgültigkeit gewöhnlicher Köpfe gegen das Geräusch bewunderungswürdig: sie stört kein Lerm in ihrem Denken, oder beim Lesen, Schreiben u. dgl.; während der vorzügliche Kopf dadurch völlig unfähig gemacht wird. Aber eben Das, was sie so unempfindlich macht gegen Lerm jeder Art, macht sie auch unempfindlich gegen das Schöne in den bildenden, und das tief Gedachte oder fein Ausgedrückte in den redenden Künsten, kurz, gegen Alles, was nicht ihr persönliches Interesse angeht. Auf die paralysirende Wirkung, welche hingegen das Geräusch auf die Geistreichen ausübt, findet folgende Bemerkung Lichtenbergs Anwendung: »Es ist allemal ein gutes Zeichen, wenn Künstler von Kleinigkeiten gehindert werden können, ihre Kunst gehörig auszuüben. F..... steckte seine Finger in Hexenmehl, wenn er Klavier spielen wollte. – – – Den mittelmäßigen Kopf hindern solche Sachen nicht; – – – er führt gleichsam ein grobes Sieb.« (Vermischte Schriften, Bd. 1, S. 398.) Ich hege wirklich längst die Meinung, daß die Quantität Lerm, die Jeder unbeschwert vertragen kann, in umgekehrtem Verhältniß zu seinen Geisteskräften steht, und daher als das ungefähre Maaß derselben betrachtet werden kann. Wenn ich daher auf dem Hofe eines Hauses die Hunde stundenlang unbeschwichtigt bellen höre; so weiß ich schon, was ich von den Geisteskräften der Bewohner zu halten habe. Wer habituell die Stubenthüren, statt sie mit der Hand zu schließen, zuwirft, oder es in seinem Hause gestattet, ist nicht bloß ein ungezogener, sondern auch ein roher und bornirter Mensch. Daß im Englischen sensible auch »verständig« bedeutet, beruht demnach auf einer richtigen und feinen Beobachtung. Ganz civilisirt werden wir erst seyn, wann auch die Ohren nicht mehr vogelfrei seyn werden und nicht mehr Jedem das Recht zustehn wird, das Bewußtsein jedes denkenden Wesens, auf tausend Schritte in die Runde, zu durchschneiden mittelst Pfeifen, Heulen, Brüllen, Hämmern, Peitschenklatschen, Bellenlassen u. dgl. Die Sybariten hielten die lermenden Handwerke außerhalb der Stadt gebannt: die ehrwürdige Sekte der Shakers in Nordamerika duldet kein unnöthiges Geräusch in ihren Dörfern: von den Herrnhutern wird das Gleiche berichtet. – Ein Mehreres über diesen Gegenstand findet man im dreißigsten Kapitel des zweiten Bandes der Parerga.

Aus der dargelegten passiven Natur des Gehörs erklärt sich auch die so eindringende, so unmittelbare, so unfehlbare Wirkung der Musik auf den Geist, nebst der ihr bisweilen folgenden, in einer besondern Erhabenheit der Stimmung bestehenden Nachwirkung. Die in kombinirten, rationalen Zahlenverhältnissen erfolgenden Schwingungen der Töne versetzen nämlich die Gehirnfibern selbst in gleiche Schwingungen. Hingegen wird aus der dem Hören ganz entgegengesetzten aktiven Natur des Sehns begreiflich, warum es kein Analogen der Musik für das Auge geben kann und das Farbenklavier ein lächerlicher Mißgriff war. Eben auch wegen der aktiven Natur des Gesichtssinnes ist er bei den verfolgenden Thieren, also den Raubthieren, ausgezeichnet scharf, wie umgekehrt der passive Sinn, das Gehör, bei den verfolgten, den fliehenden, furchtsamen Thieren; damit es von selbst ihnen den herbeieilenden, oder heranschleichenden Verfolger zeitig verrathe.

Wie wir im Gesicht den Sinn des Verstandes, im Gehör den der Vernunft erkannt haben, so könnte man den Geruch den Sinn des Gedächtnisses nennen; weil er unmittelbarer, als irgend etwas Anderes, den specifischen Eindruck eines Vorganges, oder einer Umgebung, selbst aus der fernsten Vergangenheit, uns zurückruft.

Kapitel 4. Von der Erkenntniß a priori

Aus der Thatsache, daß wir die Gesetze der Verhältnisse im Raume, ohne hiezu der Erfahrung zu bedürfen, aus uns selbst angeben und bestimmen können, folgerte Plato (Meno, p. 353. Bip.), daß alles Lernen bloß ein Erinnern sei; Kant hingegen, daß der Raum subjektiv bedingt und bloß eine Form des Erkenntnißvermögens sei. Wie hoch steht in dieser Hinsicht Kant über Plato!

Cogito, ergo sum ist ein analytisches Urtheil: Parmenides hat es sogar für ein identisches gehalten: to gar auto noein esti te kai einai, (nam intelligere et esse idem est, Clem. Alex. Strom. VI, 2, § 23). Als ein solches aber, oder auch nur als analytisches, kann es keine besondere Weisheit enthalten; wie auch nicht, wenn man, noch gründlicher, es, als einen Schluß, aus dem Obersatz non-entis nulla sunt praedicata ableiten wollte. Eigentlich aber hat Cartesius damit die große Wahrheit ausdrücken wollen, daß nur dem Selbstbewußtseyn, also dem Subjektiven, unmittelbare Gewißheit zukommt; dem Objektiven, also allem Andern, hingegen, als dem durch jenes erst Vermittelten, bloß mittelbare; daher dieses, weil aus zweiter Hand, als problematisch zu betrachten ist. Hierauf beruht der Werth des so berühmten Satzes. Als seinen Gegensatz können wir, im Sinne der Kantischen Philosophie, aufstellen: cogito, ergo est, – d.h. wie ich gewisse Verhältnisse (die mathematischen) an den Dingen denke, genau so müssen sie in aller irgend möglichen Erfahrung stets ausfallen, – dies war ein wichtiges, tiefes und spätes Apperçu, welches im Gewände des Problems von der Möglichkeit synthetischer Urtheile a priori auftrat und wirklich den Weg zu tiefer Erkenntniß eröffnet hat. Dies Problem ist die Parole der Kantischen Philosophie, wie der erstere Satz die der Cartesischen, und zeigt, ex hoiôn eis hoia.

Sehr passend stellt Kant seine Untersuchungen über Zeit und Raum an die Spitze aller andern. Denn dem spekulativen Geiste drängen sich vor allen diese Fragen auf: was ist die Zeit? was ist dies Wesen, das aus lauter Bewegung besteht, ohne etwas, das sich bewegt? – und was der Raum? dieses allgegenwärtige Nichts, aus welchem kein Ding herauskann, ohne aufzuhören Etwas zu seyn? –

Daß Zeit und Raum dem Subjekt anhängen, die Art und Weise sind, wie der Proceß objektiver Apperception im Gehirn vollzogen wird, hat schon einen genügenden Beweis an der gänzlichen Unmöglichkeit Zeit und Raum hinwegzudenken, während man Alles, was in ihnen sich darstellt, sehr leicht hinwegdenkt. Die Hand kann Alles fahren lassen; nur sich selbst nicht. Indessen will ich die von Kant gegebenen näheren Beweise jener Wahrheit hier durch einige Beispiele und Ausführungen erläutern, nicht zur Widerlegung alberner Einwendungen, sondern zum Gebrauch Derer, die künftig Kants Lehren vorzutragen haben werden.

»Ein rechtwinklichter gleichseitiger Triangel« enthält keinen logischen Widerspruch: denn die Prädikate heben einzeln keineswegs das Subjekt auf, noch sind sie mit einander unvereinbar. Erst bei der Konstruktion ihres Gegenstandes in der reinen Anschauung tritt ihre Unvereinbarkeit an ihm hervor. Wollte man diese eben deshalb für einen Widerspruch halten; so wäre auch jede physische und erst nach Jahrhunderten entdeckte Unmöglichkeit ein solcher: z.B. die Zusammensetzung eines Metalles aus seinen Bestandtheilen, oder ein Säugethier mit mehr oder weniger als sieben Halswirbeln1, oder Hörner und obere Schneidezähne am selben Thier. Allein bloß die logische Unmöglichkeit ist ein Widerspruch, nicht aber die physische, und eben so wenig die mathematische. Gleichseitig und rechtwinklicht widersprechen einander nicht (im Quadrat sind sie beisammen), noch widerspricht jedes von ihnen dem Dreieck. Daher kann die Unvereinbarkeit obiger Begriffe nie durch bloßes Denken erkannt werden, sondern ergiebt sich erst aus der Anschauung, welche nun aber eine solche ist, zu der es keiner Erfahrung, keines realen Gegenstandes bedarf, eine bloß mentale. Auch gehört hieher der Satz des Jordanus Brunus, der wohl auch beim Aristoteles zu finden seyn wird: »ein unendlich großer Körper ist nothwendig unbeweglich«, – als welcher weder auf Erfahrung, noch auf dem Satz des Widerspruchs beruhen kann; da er von Dingen redet, die in keiner Erfahrung vorkommen können, und die Begriffe »unendlich groß« und »beweglich« einander nicht widersprechen; sondern bloß die reine Anschauung ergiebt, daß die Bewegung einen Raum außerhalb des Körpers erfordert, seine unendliche Größe aber keinen übrig läßt. – Wollte man nun gegen das erstere mathematische Beispiel einwenden: es käme nur darauf an, wie vollständig der Begriff sei, den der Urtheilende vom Triangel habe; wenn es ein ganz vollständiger wäre, so enthielte er auch die Unmöglichkeit, daß ein Triangel rechtwinklicht und doch gleichseitig sei; so ist die Antwort: angenommen, sein Begriff vom Dreieck sei nicht so vollständig; so kann er, ohne Hinzuziehung der Erfahrung, durch die bloße Konstruktion desselben in seiner Phantasie ihn erweitern und sich von der Unmöglichkeit jener Begriffsverbindung für alle Ewigkeit überzeugen: eben dieser Proceß aber ist ein synthetisches Urtheil a priori, d.h. ein solches, durch welches wir, ohne alle Erfahrung und doch mit Gültigkeit für alle Erfahrung, unsere Begriffe bilden und vervollständigen. – Denn überhaupt, ob ein gegebenes Urtheil analytisch oder synthetisch sei, wird, im einzelnen Fall, erst bestimmt werden können, je nachdem im Kopfe des Urtheilenden der Begriff des Subjekts mehr oder weniger Vollständigkeit hat: der Begriff »Katze« enthält im Kopfe Cuviers hundert Mal mehr, als in dem seines Bedienten: daher die selben Urtheile darüber für Diesen synthetisch, für Jenen bloß analytisch seyn werden. Nimmt man aber die Begriffe objektiv, und will nun entscheiden, ob ein gegebenes Urtheil analytisch oder synthetisch sei; so verwandle man das Prädikat desselben in sein kontradiktorisches Gegentheil und lege dieses, ohne Kopula, dem Subjekt bei: giebt nun dies eine Contradictio in adjecto; so war das Urtheil analytisch, außerdem aber synthetisch.

Daß die Arithmetik auf der reinen Anschauung der Zeit beruhe, ist nicht so augenfällig, wie daß die Geometrie auf der des Raums basirt sei2. Man kann es aber auf folgende Art beweisen. Alles Zählen besteht im wiederholten Setzen der Einheit: bloß um stets zu wissen, wie oft wir schon die Einheit gesetzt haben, markiren wir sie jedesmal mit einem andern Wort: dies sind die Zahlworte. Nun ist Wiederholung nur möglich durch Succession: diese aber, also das Nacheinander, beruht unmittelbar auf der Anschauung der Zeit, ist ein nur mittelst dieser verständlicher Begriff: also ist auch das Zählen nur mittelst der Zeit möglich. – Dieses Beruhen alles Zählens auf der Zeit verräth sich auch dadurch, daß in allen Sprachen die Multiplikation durch »Mal« bezeichnet wird, also durch einen Zeitbegriff: sexies, hexakis, six fois, six times. Nun aber ist das einfache Zählen schon ein Multipliciren mit Eins, weshalb auch in Pestalozzi's Lehranstalt die Kinder stets so multipliciren mußten: »2 Mal 2 ist 4 Mal Eins.« – Auch Aristoteles hat schon die enge Verwandtschaft der Zahl mit der Zeit erkannt und dargelegt, im vierzehnten Kapitel des vierten Buches der Physik. Die Zeit ist ihm »die Zahl der Bewegung« (ho chronos arithmos esti kinêseôs). Tiefsinnig wirft er die Frage auf, ob die Zeit seyn könnte, wenn die Seele nicht wäre, und verneint sie. – Wenn die Arithmetik nicht diese reine Anschauung der Zeit zur Grundlage hätte, so wäre sie keine Wissenschaft a priori, mithin ihre Sätze nicht von unfehlbarer Gewißheit.

Obwohl die Zeit, wie der Raum, die Erkenntnißform des Subjekts ist; so stellt sie sich gleichwohl, eben wie auch der Raum, als von demselben unabhängig und völlig objektiv vorhanden dar. Wider unsern Willen, oder ohne unser Wissen, eilt oder zögert sie: man fragt nach der Uhr, man forscht nach der Zeit, als nach einem ganz Objektiven. Und was ist dieses Objektive? Nicht das Fortschreiten der Gestirne, oder der Uhren, als welche bloß dienen, den Lauf der Zeit selbst daran zu messen: sondern es ist etwas von allen Dingen Verschiedenes, doch aber wie diese, von unserm Wollen und Wissen Unabhängiges. Es existirt nur in den Köpfen der erkennenden Wesen; aber die Gleichmäßigkeit seines Ganges und seine Unabhängigkeit vom Willen giebt ihm die Berechtigung der Objektivität.

Die Zeit ist zunächst die Form des innern Sinnes. Das folgende Buch anticipirend, bemerke ich, daß der alleinige Gegenstand des innern Sinnes der eigene Wille des Erkennenden ist. Die Zeit ist daher die Form, mittelst welcher dem ursprünglich und an sich selbst erkenntnißlosen individuellen Willen die Selbsterkenntniß möglich wird. In ihr nämlich erscheint sein an sich einfaches und identisches Wesen auseinandergezogen zu einem Lebenslauf. Aber eben wegen jener ursprünglichen Einfachheit und Identität des sich so Darstellenden bleibt sein Charakter stets genau der selbe; weshalb auch der Lebenslauf selbst durchweg den selben Grundton beibehält, ja, die mannigfaltigen Vorgänge und Scenen desselben sich im Grunde doch nur wie Variationen zu einem und dem selben Thema verhalten, –

Die Apriorität des Kausalitätsgesetzes ist von den Engländern und Franzosen theils noch gar nicht eingesehn , theils nicht recht begriffen: daher Einige von ihnen die früheren Versuche, für dasselbe einen empirischen Ursprung zu finden, fortsetzen. Maine de Biran setzt diesen in die Erfahrung, daß dem Willensakt als Ursache die Bewegung des Leibes als Wirkung folge. Aber diese Thatsache selbst ist falsch. Keineswegs erkennen wir den eigentlichen, unmittelbaren Willensakt als ein von der Aktion des Leibes Verschiedenes und Beide als durch das Band der Kausalität verknüpft; sondern Beide sind Eins und untheilbar. Zwischen ihnen ist keine Succession: sie sind zugleich. Sie sind Eins und das Selbe, auf doppelte Weise wahrgenommen: was nämlich der innern Wahrnehmung (dem Selbstbewußtseyn) sich als wirklicher Willensakt kund giebt, das Selbe stellt sich in der äußern Anschauung, in welcher der Leib objektiv dasteht, sofort als Aktion desselben dar. Daß physiologisch die Aktion des Nerven der des Muskels vorhergeht, kommt hier nicht in Betracht; da es nicht ins Selbstbewußtseyn fällt, und hier nicht die Rede ist vom Verhältniß zwischen Muskel und Nerv, sondern von dem zwischen Willensakt und Leibesaktion. Dieses nun giebt sich nicht als Kausalitätsverhältniß kund. Wenn diese beiden sich uns als Ursache und Wirkung darstellten; so würde ihre Verbindung uns nicht so unbegreiflich seyn, wie sie wirklich der Fall ist: denn was wir aus seiner Ursache verstehn, das verstehn wir so weit es überhaupt für uns ein Verständniß der Dinge giebt. Hingegen ist die Bewegung unserer Glieder vermöge bloßer Willensakte zwar ein so alltägliches Wunder, daß wir es nicht mehr bemerken: richten wir aber ein Mal die Aufmerksamkeit darauf, so tritt das Unbegreifliche der Sache uns sehr lebhaft ins Bewußtseyn: eben weil wir hier etwas vor uns haben, was wir nicht als Wirkung seiner Ursache verstehn. Nimmermehr also könnte diese Wahrnehmung uns auf die Vorstellung der Kausalität führen, als welche darin gar nicht vorkommt. Maine de Biran selbst erkennt die völlige Gleichzeitigkeit des Willensakts und der Bewegung an. (Nouvelles considérations des rapports du physique au moral, p. 377, 78.). – In England hat schon Th. Reid (On the first principles of contingent truths. Ess. VI, 78.) ausgesprochen, daß die Erkenntniß des Kausalitätsverhältnisses in der Beschaffenheit unsers Erkenntnißvermögens selbst ihren Grund habe. In neuester Zeit lehrt Th. Brown in seinem höchst weitschweifig abgefaßten Buch: Inquiry into the relation of cause and effect, 4th edit., 1835, ziemlich das Selbe, nämlich daß jene Erkenntniß aus einer uns angeborenen, intuitiven und instinktiven Ueberzeugung entspringe: er ist also im Wesentlichen auf dem rechten Wege. Unverzeihlich jedoch ist die krasse Ignoranz, vermöge welcher, in diesem 476 Seiten starken Buche, davon 130 der Widerlegung Hume's gewidmet sind, Kants, der schon vor siebzig Jahren die Sache ins Reine gebracht hat, gar keine Erwähnung geschieht. Wäre das Lateinische die ausschließliche Sprache der Wissenschaft geblieben; so würde dergleichen nicht vorkommen. Trotz der im Ganzen richtigen Auseinandersetzung Browns hat in England eine Modifikation jener von Maine de Biran aufgestellten Lehre vom empirischen Ursprung der Grunderkenntniß des Kausalverhältnisses dennoch Eingang gefunden; da sie nicht ohne einige Scheinbarkeit ist. Es ist diese, daß wir das Gesetz der Kausalität abstrahirten aus der empirisch wahrgenommenen Einwirkung unsers eigenen Leibes auf andere Körper. Schon Hume hatte sie widerlegt. Ich aber habe die Unstatthaftigkeit derselben in meiner Schrift »Ueber den Willen in der Natur« dargethan, daraus daß, damit wir sowohl unsern eigenen, als die andern Körper objektiv in räumlicher Anschauung wahrnehmen, die Erkenntniß der Kausalität, weil sie Bedingung solcher Anschauung ist, bereits daseyn muß. Wirklich liegt eben in der Nothwendigkeit eines von der, empirisch allein gegebenen, Sinnesempfindung zur Ursache derselben zu machenden Ueberganges, damit es zur Anschauung der Außenwelt komme, der einzige ächte Beweisgrund davon, daß das Gesetz der Kausalität vor aller Erfahrung uns bewußt ist. Daher habe ich diesen Beweis dem Kantischen substituirt, dessen Unrichtigkeit ich dargethan hatte. Die ausführlichste und gründlichste Darstellung des ganzen hier nur berührten, wichtigen Gegenstandes, also der Apriorität des Kausalitätsgesetzes und der Intellektualität der empirischen Anschauung, findet man in der zweiten Auflage meiner Abhandlung über den Satz vom Grunde, § 21, wohin ich verweise, um nicht alles dort Gesagte hier zu wiederholen. Daselbst habe ich den mächtigen Unterschied nachgewiesen zwischen der bloßen Sinnesempfindung und der Anschauung einer objektiven Welt, und habe die weite Kluft, die zwischen beiden liegt, aufgedeckt: über diese führt allein das Gesetz der Kausalität, welches aber zu seiner Anwendung die beiden andern ihm verwandten Formen, Raum und Zeit, voraussetzt. Allererst mittelst dieser drei im Verein kommt es zur objektiven Vorstellung. Ob nun die Empfindung, von welcher ausgehend wir zur Wahrnehmung gelangen, entsteht durch den Widerstand, den die Kraftäußerung unserer Muskeln erleidet, oder ob sie durch Lichteindruck auf die Retina, oder Schalleindruck auf den Gehörnerven u.s.f. entsteht, ist im Wesentlichen einerlei: immer bleibt die Empfindung ein bloßes Datum für den Verstand, welcher allein fähig ist, sie als Wirkung einer von ihr verschiedenen Ursache aufzufassen, die er nunmehr als ein Aeußerliches anschaut, d.h. in die ebenfalls vor aller Erfahrung dem Intellekt einwohnende Form Raum versetzt, als ein diesen Einnehmendes und Ausfüllendes. Ohne diese intellektuelle Operation, zu welcher die Formen fertig in uns liegen müssen, könnte nimmermehr aus einer bloßen Empfindung innerhalb unserer Haut die Anschauung einer objektiven Außenwelt entstehn. Wie kann man sich nur denken, daß das bloße, bei einer gewollten Bewegung, Sich-gehindert-fühlen, welches übrigens auch bei Lähmungen Statt hat, dazu hinreichte? Hiezu kommt noch, daß, damit ich auf äußere Dinge zu wirken versuche, diese nothwendig vorher auf mich gewirkt haben müssen, als Motive: dieses aber setzt schon die Apprehension der Außenwelt voraus. Nach der in Rede stehenden Theorie müßte (wie ich am oben angeführten Ort bereits bemerkt habe) ein ohne Arme und Beine geborener Mensch gar nicht zur Vorstellung der Kausalität und folglich auch nicht zur Wahrnehmung der Außenwelt gelangen können. Daß nun aber dem nicht so ist, belegt eine in Frorieps Notizen, 1838, Juli, Nr. 133. mitgeiheilte Thatsache, nämlich der ausführliche und von einer Abbildung begleitete Bericht über eine Esthin, Eva Lauk, damals 14 Jahre alt, ganz ohne Arme und Beine geboren, welcher mit folgenden Worten schließt: »Nach den Aussagen der Mutter hat sie sich geistig eben so schnell entwickelt, wie ihre Geschwister: namentlich ist sie eben so bald zu einem richtigen Urtheil über Größe und Entfernung sichtbarer Gegenstände gelangt, ohne sich doch der Hände bedienen zu können. – Dorpat den 1. März 1838. Dr. A. Hueck

Auch Hume's Lehre, der Begriff der Kausalität entstehe bloß aus der Gewohnheit zwei Zustände konstant auf einander folgen zu sehn, findet eine faktische Widerlegung an der ältesten aller Successionen, nämlich der von Tag und Nacht, welche noch Niemand für Ursache und Wirkung von einander gehalten hat. Und eben diese Succession widerlegt auch Kants falsche Behauptung, daß die objektive Realität einer Succession allererst erkannt würde, indem man beide Succedentia in dem Verhältniß von Ursache und Wirkung zu einander auffaßte. Von dieser Lehre Kants ist sogar das Umgekehrte wahr: nämlich, welcher von zwei verknüpften Zuständen Ursache und welcher Wirkung sei, erkennen wir, empirisch, allein an ihrer Succession. Andererseits wieder ist die absurde Behauptung mancher Philosophie-Professoren unserer Tage, daß Ursache und Wirkung zugleich seien, daraus zu widerlegen, daß in Fällen, wo die Succession, wegen ihrer großen Schnelligkeit, gar nicht wahrgenommen werden kann, wir sie dennoch, und mit ihr das Verstreichen einer gewissen Zeit, a priori sicher voraussetzen: so z.B. wissen wir, daß zwischen dem Abdrücken der Flinte und dem Herausfahren der Kugel eine gewisse Zeit verstreichen muß, obwohl wir sie nicht wahrnehmen, und daß dieselbe wiederum vertheilt seyn muß unter mehrere in streng bestimmter Succession eintretende Zustände, nämlich das Abdrücken, das Funkenschlagen, das Zünden, das Fortpflanzen des Feuers, die Explosion und den Austritt der Kugel, Wahrgenommen hat diese Succession der Zustände noch kein Mensch; aber weil wir wissen, welcher den andern bewirkt, so wissen wir eben dadurch auch, welcher dem andern in der Zeit vorhergehn muß, folglich auch, daß während des Verlaufs der ganzen Reihe eine gewisse Zeit verstreicht, obwohl sie so kurz ist, daß sie unserer empirischen Wahrnehmung entgeht: denn Niemand wird behaupten, daß das Herausfliegen der Kugel mit dem Abdrücken wirklich gleichzeitig sei. Also ist uns nicht bloß das Gesetz der Kausalität, sondern auch dessen Beziehung auf die Zeit, und die Nothwendigkeit der Succession von Ursache und Wirkung a priori bekannt. Wenn wir wissen, welcher von zweien Zuständen Ursache und welcher Wirkung ist; so wissen wir auch, welcher dem andern in der Zeit vorhergeht: ist, im Gegentheil, uns jenes nicht bekannt, wohl aber ihr Kausalverhältniß überhaupt; so suchen wir die Succession empirisch auszumachen und bestimmen danach, welcher von beiden die Ursache und welcher die Wirkung sei. – Die Falschheit der Behauptung, daß Ursache und Wirkung gleichzeitig wären, ergiebt zudem sich auch aus folgender Betrachtung. Eine ununterbrochene Kette von Ursachen und Wirkungen füllt die gesammte Zeit. (Denn wäre sie unterbrochen, so stände die Welt stille, oder es müßte, um sie wieder in Bewegung zu setzen, eine Wirkung ohne Ursache eintreten.) Wäre nun jede Wirkung mit ihrer Ursache zugleich, so würde jede Wirkung in die Zeit ihrer Ursache hinaufgerückt und eine noch so vielgliederige Kette von Ursachen und Wirkungen würde gar keine Zeit, viel weniger eine endlose, ausfüllen; sondern alle zusammen wären in Einem Augenblick. Also schrumpft, unter der Annahme Ursache und Wirkung seien gleichzeitig, der Weltlauf zur Sache eines Augenblicks zusammen. Dieser Beweis ist dem analog, daß jedes Blatt Papier eine Dicke haben muß, weil sonst das ganze Buch keine hätte. Anzugeben, wann die Ursache aufhört und die Wirkung anfängt, ist in fast allen Fällen schwer und oft unmöglich. Denn die Veränderungen (d.h. die Succession der Zustände) sind ein Kontinuum, wie die Zeit, welche sie füllen, also auch wie diese ins Unendliche theilbar. Aber ihre Reihenfolge ist so nothwendig bestimmt und unverkehrbar, wie die der Zeitmomente selbst: und jede von ihnen heißt in Beziehung auf die ihr vorhergegangene »Wirkung«, auf die ihr nachfolgende »Ursache«.

Jede Veränderung in der materiellen Welt kann nur eintreten, sofern eine andere ihr unmittelbar vorhergegangen ist: dies ist der wahre und ganze Inhalt des Gesetzes der Kausalität. Allein kein Begriff ist in der Philosophie mehr gemißbraucht worden, als der der Ursache, mittelst des so beliebten Kunstgriffs oder Mißgriffs, ihn, durch das Denken in abstracto, zu weit zu fassen, zu allgemein zu nehmen. Seit der Scholastik, ja eigentlich seit Plato und Aristoteles, ist die Philosophie großentheils ein fortgesetzter Mißbrauch allgemeiner Begriffe. Solche sind z.B. Substanz, Grund, Ursache, das Gute, die Vollkommenheit, Nothwendigkeit, Möglichkeit und gar viele andere. Eine Neigung der Köpfe zum Operiren mit solchen abstrakten und zu weit gefaßten Begriffen hat sich fast zu allen Zeiten gezeigt: sie mag zuletzt auf einer gewissen Trägheit des Intellekts beruhen, dem es zu beschwerlich ist, das Denken stets durch die Anschauung zu kontroliren. Solche zu weite Begriffe werden dann allmälig fast wie algebraische Zeichen gebraucht und wie diese hin und her geworfen, wodurch das Philosophiren zu einem bloßen Kombiniren, zu einer Art Rechnerei ausartet, welche (wie alles Rechnen) nur niedrige Fähigkeiten beschäftigt und erfordert. Ja, zuletzt entsteht hieraus ein bloßer Wortkram: von einem solchen liefert uns das scheußlichste Beispiel die kopfverderbende Hegelei, als in welcher er bis zum haaren Unsinn getrieben wird. Aber auch schon die Scholastik ist oft in Wortkram ausgeartet. Ja, sogar die Topi des Aristoteles, – ganz allgemein gefaßte, sehr abstrakte Grundsätze, die man, zum pro oder contra disputiren, auf die verschiedenartigsten Gegenstände anwenden und überall ins Feld stellen konnte, – haben schon ihren Ursprung in jenem Mißbrauch allgemeiner Begriffe. Von dem Verfahren der Scholastiker mit solchen Abstraktis findet man unzählige Beispiele in ihren Schriften, vorzüglich im Thomas Aquinas. Auf der von den Scholastikern gebrochenen Bahn ist aber eigentlich die Philosophie fortgegangen, bis auf Locke und Kant, welche endlich sich auf den Ursprung der Begriffe besannen. Ja, wir treffen Kanten selbst, in seinen früheren Jahren, noch auf jenem Wege an, in seinem »Beweisgrund des Daseyns Gottes« (S. 191 des ersten Bandes der Rosenkranzischen Ausgabe), wo die Begriffe Substanz, Grund, Realität, in solcher Art gebraucht werden, wie sie es nimmermehr könnten, wenn man auf den Ursprung und den durch diesen bestimmten wahren Gehalt jener Begriffe zurückgegangen wäre: denn da hätte man gefunden, als Ursprung und Gehalt von Substanz allein die Materie, von Grund (wenn von Dingen der realen Welt die Rede ist) allein Ursache, d.h. die frühere Veränderung, welche die spätere herbeiführt, u.s.w. Freilich hätte das hier nicht zum beabsichtigten Resultat geführt. Aber überall, wie hier, entstanden aus solchen zu weit gefaßten Begriffen, unter welche sich daher mehr subsumiren ließ, als ihr wahrer Inhalt gestattet haben würde, falsche Sätze und aus diesen falsche Systeme. Auch Spinoza's ganze Demonstrirmethode beruht auf solchen ununtersuchten und zu weit gefaßten Begriffen. Hier nun liegt das eminente Verdienst Locke's, der, um allem jenem dogmatischen Unwesen entgegenzuwirken, auf Untersuchung des Ursprungs der Begriffe drang, wodurch er auf das Anschauliche und die Erfahrung zurückführte. In gleichem Sinn, doch mehr es auf Physik, als auf Metaphysik absehend, hatte vor ihm Bako gewirkt. Kant verfolgte die von Locke gebrochene Bahn, in höherm Sinne und viel weiter; wie bereits oben erwähnt. Den Männern des bloßen Scheines hingegen, denen es gelang, die Aufmerksamkeit des Publikums von Kant auf sich zu lenken, waren die Locke'schen und Kantischen Resultate beschwerlich. Allein in solchem Fall verstehn sie so gut die Todten, wie die Lebenden zu ignoriren. Sie verließen also, ohne Umstände, den von jenen Weisen endlich gefundenen allein richtigen Weg, philosophirten in den Tag hinein, mit allerlei aufgerafften Begriffen, unbekümmert um ihren Ursprung und wahren Gehalt; so daß zuletzt die Hegelsche Afterweisheit darauf hinauslief, daß die Begriffe gar keinen Ursprung hätten, vielmehr selbst der Ursprung der Dinge wären. – Inzwischen hat Kant darin gefehlt, daß er über der reinen Anschauung zu sehr die empirische vernachlässigte, wovon ich in meiner Kritik seiner Philosophie ausführlich geredet habe. Bei mir ist durchaus die Anschauung die Quelle aller Erkenntniß. Das Verfängliche und Insidiöse der Abstrakta früh erkennend, wies ich schon 1813, in meiner Abhandlung über den Satz vom Grunde, die Verschiedenheit der Verhältnisse nach, die unter diesem Begriffe gedacht werden. Allgemeine Begriffe sollen zwar der Stoff seyn, in welchen die Philosophie ihre Erkenntniß absetzt und niederlegt; jedoch nicht die Quelle, aus der sie solche schöpft: der terminus ad quem, nicht a quo. Sie ist nicht, wie Kant sie definirt, eine Wissenschaft aus Begriffen, sondern in Begriffen. – Auch der Begriff der Kausalität also, von dem wir hier reden, ist von den Philosophen, zum Vortheil ihrer dogmatischen Absichten, stets viel zu weit gefaßt worden, wodurch hineinkam, was gar nicht darin liegt: daraus entstanden Sätze wie: »Alles was ist hat seine Ursache«, – »die Wirkung kann nicht mehr enthalten, als die Ursache, also nichts, das nicht auch in dieser wäre«, – »causa est nobilior suo effectu« – und viele andere eben so unbefugte. Ein ausführlicheres und besonders lukulentes Beispiel giebt folgende Vernünftelei des faden Schwätzers Proklos, in seiner Institutio theologica, § 76. Pan to apo akinêtou gignomenon aitias, ametablêton echei tên hyparxin pan de to apo kinoumenês, metablêtên; ei gar akinêton esti pantê to poioun, ou dia kinêseôs, all' autô tô einai paragei to deuteron aph' heautou (Quidquid ab immobili causa manat, immutabilem habet essentiam. Quidquid vero a mobili causa manat, essentiam habet mutabilem. Si enim illud, quod aliquid facit, est prorsus immobile, non per motum, sed per ipsum Esse producit ipsum secundum ex se ipso.) Schon recht! aber zeige mir ein Mal eine unbewegte Ursache: sie ist eben unmöglich. Allein die Abstraktion hat hier, wie in so vielen Fällen, alle Bestimmungen weggedacht, bis auf die eine, welche man eben brauchen will, ohne Rücksicht darauf, daß diese ohne jene nicht existiren kann. – Der allein richtige Ausdruck für das Gesetz der Kausalität ist dieser: jede Veränderung hat ihre Ursache in einer andern, ihr unmittelbar vorhergängigen. Wenn etwas geschieht, d.h. ein neuer Zustand eintritt, d.h. etwas sich verändert; so muß gleich vorher etwas Anderes sich verändert haben; vor diesem wieder etwas Anderes, und so aufwärts ins Unendliche: denn eine erste Ursache ist so unmöglich zu denken, wie ein Anfang der Zeit, oder eine Gränze des Raums. Mehr, als das Angegebene, besagt das Gesetz der Kausalität nicht: also treten seine Ansprüche erst bei Veränderungen ein. So lange sich nichts verändert, ist nach keiner Ursache zu fragen: denn es giebt keinen Grund a priori, vom Daseyn vorhandener Dinge, d.h. Zustände der Materie, auf deren vorheriges Nichtdaseyn und von diesem auf ihr Entstehn, also auf eine Veränderung, zu schließen. Daher berechtigt das bloße Dasein eines Dinges nicht, zu schließen, daß es eine Ursache habe. Gründe a posteriori, d.h. aus früherer Erfahrung geschöpft, kann es jedoch geben, zu der Voraussetzung, daß der vorliegende Zustand nicht von jeher dagewesen, sondern erst in Folge eines andern, also durch eine Veränderung, entstanden sei, von welcher dann die Ursache zu suchen ist, und von dieser eben so: hier sind wir alsdann in dem endlosen Regressus begriffen, zu welchem die Anwendung des Gesetzes der Kausalität allemal führt. Oben wurde gesagt: »Dinge, d.h. Zustände der Materie«; denn nur auf Zustände bezieht sich die Veränderung und die Kausalität. Diese Zustände sind es, welche man unter Form, im weitem Sinn, versteht: und nur die Formen wechseln; die Materie beharrt. Also ist auch nur die Form dem Gesetz der Kausalität unterworfen. Aber auch die Form macht das Ding aus, d.h. begründet die Verschiedenheit der Dinge; während die Materie als in allen gleichartig gedacht werden muß. Daher sagten die Scholastiker: forma dat esse rei genauer würde dieser Satz lauten: forma dat rei essentiam, materia existentiam. Daher eben betrifft die Frage nach der Ursache eines Dinges stets nur dessen Form, d.h. Zustand, Beschaffenheit, nicht aber dessen Materie, und auch jene nur, sofern man Gründe hat, anzunehmen, daß sie nicht von jeher gewesen, sondern durch eine Veränderung entstanden sei. Die Verbindung der Form mit der Materie, oder der Essentia mit der Existentia, giebt das Konkrete, welches stets ein Einzelnes ist, also das Ding: und die Formen sind es, deren Verbindung mit der Materie, d.h. deren Eintritt an dieser, mittelst einer Veränderung, dem Gesetze der Kausalität unterliegt. Durch die zu weite Fassung dieses Begriffes in abstracto also schlich sich der Mißbrauch ein, daß man die Kausalität auf das Ding schlechthin, also auf sein ganzes Wesen und Daseyn, mithin auch auf die Materie ausdehnte, und nun am Ende sich berechtigt hielt, sogar nach einer Ursache der Welt zu fragen. Hieraus entstand der kosmologische Beweis. Dieser geht eigentlich davon aus, daß er, ohne alle Berechtigung, vom Daseyn der Welt auf ihr Nichtseyn schließt, welches nämlich dem Daseyn vorhergegangen wäre: zu seinem Endpunkt aber hat er die fürchterliche Inkonsequenz, daß er eben das Gesetz der Kausalität, von welchem allein er alle Beweiskraft entlehnt, geradezu aufhebt, indem er bei einer ersten Ursache stehn bleibt und nicht weiter will, also gleichsam mit einem Vatermord endigt; wie die Bienen die Drohnen tödten, nachdem diese ihre Dienste geleistet haben. Auf einen verschämten und daher verlarvten kosmologischen Beweis läuft aber all das Gerede vom Absolutum zurück, welches, im Angesicht der Kritik der reinen Vernunft, seit sechzig Jahren in Deutschland für Philosophie gilt. Was bedeutet nämlich das Absolutum? – Etwas das nun ein Mal ist, und davon man (bei Strafe) nicht weiter fragen darf, woher und warum es ist. Ein Kabinetstück für Philosophie-Professoren! – Beim ehrlich dargelegten kosmologischen Beweis nun aber wird überdies, durch Annahme einer ersten Ursache, mithin eines ersten Anfangs in einer schlechterdings anfangslosen Zeit, dieser Anfang durch die Frage: warum nicht früher? immer höher hinaufgerückt und so hoch, daß man nie von ihm zur Gegenwart herabgelangt, sondern stets sich wundern muß, daß diese nicht schon vor Millionen Jahren gewesen. Ueberhaupt also findet das Gesetz der Kausalität auf alle Dinge in der Welt Anwendung, jedoch nicht auf die Welt selbst: denn es ist der Welt immanent, nicht transscendent: mit ihr ist es gesetzt und mit ihr aufgehoben. Dies liegt zuletzt daran, daß es zur bloßen Form unsers Verstandes gehört und, mit sammt der objektiven Welt, die deshalb bloße Erscheinung ist, durch ihn bedingt ist. Also auf alle Dinge in der Welt, versteht sich ihrer Form nach, auf den Wechsel dieser Formen, also auf ihre Veränderungen, findet das Gesetz der Kausalität volle Anwendung und leidet keine Ausnahme: es gilt vom Thun des Menschen, wie vom Stoße des Steines; jedoch, wie gesagt, immer nur in Bezug auf Vorgänge, auf Veränderungen. Wenn wir aber vom Ursprung desselben im Verstande abstrahiren und es rein objektiv auffassen wollen; so beruht es im tiefsten Grunde darauf, daß jedes Wirkende vermöge seiner ursprünglichen und daher ewigen, d.h. zeitlosen Kraft wirkt, daher seine jetzige Wirkung schon unendlich früher, nämlich vor jeder denkbaren Zeit, eingetreten sein müßte, wenn nicht die zeitliche Bedingung dazu gefehlt hätte: diese ist der Anlaß, d.h. die Ursache, vermöge welcher allein die Wirkung erst jetzt, jetzt aber nothwendig eintritt: sie ertheilt ihr ihre Stelle in der Zeit.

Allein in Folge der oben erörterten, zu weiten Fassung des Begriffes Ursache, im abstrakten Denken, hat man mit demselben auch den Begriff der Kraft verwechselt: diese, von der Ursache völlig verschieden, ist jedoch Das, was jeder Ursache ihre Kausalität, d.h. die Möglichkeit zu wirken, ertheilt; wie ich dies im zweiten Buche des ersten Bandes, sodann im »Willen in der Natur«, endlich auch in der zweiten Auflage der Abhandlung »Ueber den Satz vom Grunde«, § 20, S. 44, ausführlich und gründlich dargethan habe. Am plumpesten findet man diese Verwechselung im oben erwähnten Buche von Maine de Biran, worüber das Nähere am zuletzt angeführten Orte: jedoch ist sie auch außerdem häufig, z.B. wenn nach der Ursache irgend einer ursprünglichen Kraft, z.B. der Schwerkraft, gefragt wird. Nennt doch Kant selbst (über den einzig möglichen Beweisgrund, Bd. 1, S. 211 und 215 der Rosenkranzischen Ausgabe) die Naturkräfte »wirkende Ursachen« und sagt: »die Schwere ist eine Ursache«. Es ist jedoch unmöglich, mit seinem Denken im Klaren zu seyn, so lange darin Kraft und Ursache nicht als völlig verschieden deutlich erkannt werden. Zur Verwechselung derselben führt aber sehr leicht der Gebrauch abstrakter Begriffe, wenn die Betrachtung ihres Ursprungs bei Seite gesetzt wird. Man verläßt die auf der Form des Verstandes beruhende, stets anschauliche Erkenntniß der Ursachen und Wirkungen, um sich an das Abstraktum Ursache zu halten: bloß dadurch ist der Begriff der Kausalität, bei aller seiner Einfachheit, so sehr häufig falsch gefaßt worden. Daher finden wir selbst beim Aristoteles (Metaph., IV, 2) die Ursachen in vier Klassen getheilt, welche grundfalsch, ja wirklich roh aufgegriffen sind. Man vergleiche damit meine Eintheilung der Ursachen, wie ich sie in meiner Abhandlung über das Sehn und die Farben, Kap. I, zuerst aufgestellt, in § 6 unsers ersten Bandes kurz berührt, ausführlich aber in der Preisschrift »Ueber die Freiheit des Willens«, S. 30-33 dargelegt habe. – Von der Kette der Kausalität, welche vorwärts und rückwärts endlos ist, bleiben in der Natur zwei Wesen unberührt: die Materie und die Naturkräfte. Diese beiden nämlich sind die Bedingungen der Kausalität, während alles Andere durch diese bedingt ist. Denn das Eine (die Materie) ist Das, an welchem die Zustände und ihre Veränderungen eintreten; das Andere (die Naturkräfte) Das, vermöge dessen allein sie überhaupt eintreten können. Hiebei aber sei man eingedenk, daß im zweiten Buche und später, auch gründlicher, im »Willen in der Natur«, die Naturkräfte als identisch mit dem Willen in uns nachgewiesen werden, die Materie aber sich als die bloße Sichtbarkeit des Willens ergiebt; so daß auch sie zuletzt, in gewissem Sinne, als identisch mit dem Willen betrachtet werden kann.

Andererseits bleibt nicht minder wahr und richtig, was § 4 des ersten Bandes, und noch besser in der zweiten Auflage der Abhandlung »Ueber den Satz vom Grunde«, am Schluß des § 21, S. 77, auseinandergesetzt ist, daß nämlich die Materie die objektiv aufgefaßte Kausalität selbst sei, indem ihr ganzes Wesen im Wirken überhaupt besteht, sie selbst also die Wirksamkeit (energeia = Wirklichkeit) der Dinge überhaupt ist, gleichsam das Abstraktum alles ihres verschiedenartigen Wirkens. Da demnach das Wesen, Essentia, der Materie im Wirken überhaupt besteht, die Wirklichkeit, Existentia, der Dinge aber eben in ihrer Materialität, die also wieder mit dem Wirken überhaupt Eins ist; so läßt sich von der Materie behaupten, daß bei ihr Existentia und Essentia zusammenfallen und Eins seien: denn sie hat keine andern Attribute als das Daseyn selbst überhaupt und abstrahirt von aller näheren Bestimmung desselben. Hingegen ist jede empirisch gegebene Materie, also der Stoff (den unsere heutigen unwissenden Materialisten mit der Materie verwechseln) schon in die Hülle der Formen eingegangen und manifestirt sich allein durch deren Qualitäten und Accidenzien; weil in der Erfahrung jedes Wirken ganz bestimmter und besonderer Art ist, nie ein bloß allgemeines. Daher eben ist die reine Materie ein Gegenstand des Denkens allein, nicht der Anschauung; welches den Plotinos (Enneas II, lib. 4, c. 8 u. 9) und den Jordanus Brunus (Della causa, dial. 4) zu dem paradoxen Ausspruch gebracht hat, daß die Materie keine Ausdehnung, als welche von der Form unzertrennlich sei, habe und daher unkörperlich sei; hatte doch schon Aristoteles gelehrt, daß sie kein Körper sei, wiewohl körperlich: sôma men ouk an eiê, sômatikê de (Stob. Ed., lib. I, c. 12, § 5). Wirklich denken wir unter reiner Materie das bloße Wirken in abstracto, ganz abgesehn von der Art dieses Wirkens, also die reine Kausalität selbst: und als solche ist sie nicht Gegenstand, sondern Bedingung der Erfahrung, eben wie Raum und Zeit. Dies ist der Grund, warum auf der hier beigegebenen Tafel unserer reinen Grunderkenntnisse a priori die Materie die Stelle der Kausalität hat einnehmen können, und neben Zeit und Raum, als das dritte rein Formelle und daher unserm Intellekt Anhängende, figurirt.

Diese Tafel nämlich enthält sämmtliche in unserer anschauenden Erkenntniß a priori wurzelnden Grundwahrheiten, ausgesprochen als oberste, von einander unabhängige Grundsätze; nicht aber ist hier das Specielle aufgestellt, was den Inhalt der Arithmetik und Geometrie ausmacht, noch Dasjenige, was sich erst durch die Verknüpfung und Anwendung jener formellen Erkenntnisse ergiebt, als welches eben den Gegenstand der von Kant dargelegten »Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft« ausmacht, zu welchen diese Tafel gewissermaaßen die Propädeutik und Einleitung bildet, sich also unmittelbar daran schließt. Ich habe bei dieser Tafel zunächst den sehr merkwürdigen Parallelismus unserer, das Grundgerüst aller Erfahrung bildenden, Erkenntnisse a priori im Auge gehabt, besonders aber auch dies, daß, wie ich § 4 des ersten Bandes auseinandergesetzt habe, die Materie (wie eben auch die Kausalität) als eine Vereinigung, wenn man will, Verschmelzung, des Raumes mit der Zeit zu betrachten ist. In Uebereinstimmung hiemit finden wir dies: was die Geometrie für die reine Anschauung des Raumes, die Arithmetik für die der Zeit ist, das ist Kants Phoronomie für die reine Anschauung Beider im Verein: denn die Materie allererst ist das Bewegliche im Raum. Der mathematische Punkt läßt sich nämlich nicht ein Mal als beweglich denken; wie schon Aristoteles dargethan hat: Phys., VI, 10. Dieser Philosoph selbst hat auch schon das erste Beispiel einer solchen Wissenschaft geliefert, indem er, im fünften und sechsten Buch seiner Physik, die Gesetze der Ruhe und Bewegung a priori bestimmt.

Nun kann man diese Tafel nach Belieben betrachten entweder als eine Zusammenstellung der ewigen Grundgesetze der Welt, mithin als die Basis einer Ontologie; oder aber als ein Kapitel aus der Physiologie des Gehirns; je nachdem man den realistischen, oder den idealistischen Gesichtspunkt faßt; wiewohl der zweite in letzter Instanz Recht behält. Hierüber haben wir zwar uns schon im ersten Kapitel verständigt: doch will ich es noch speciell durch ein Beispiel erläutern. Das Buch des Aristoteles de Xenophane etc. hebt an mit diesen gewichtigen Worten des Xenophanes: Aidion einai phêsin, ei ti estin, eiper mê endechetai genesthai mêden ek mêdenos (Aeternum esse, inquit, quicquid est, siquidem fieri non potest, ut ex nihilo quippiam existat). Hier urtheilt also Xenophanes über den Ursprung der Dinge, seiner Möglichkeit nach, über welchen er keine Erfahrung haben kann, nicht ein Mal eine analoge: auch beruft er sich auf keine; sondern er urtheilt apodiktisch, mithin a priori. Wie kann er Dieses, wenn er von außen und fremd hineinschaut in eine rein objektiv, d.h. unabhängig von seinem Erkennen, vorhandene Welt? Wie kann Er, ein vorübereilendes Ephemer, dem nur ein flüchtiger Blick in eine solche Welt gestattet ist, über sie, über die Möglichkeit ihres Daseyns und Ursprungs, zum voraus, ohne Erfahrung, apodiktisch urtheilen? – Die Lösung dieses Räthsels ist, daß der Mann es bloß mit seinen eigenen Vorstellungen zu thun hat, die als solche das Werk seines Gehirns sind, deren Gesetzmäßigkeit daher nur die Art und Weise ist, wie seine Gehirnfunktion allein vollzogen werden kann, d.h. die Form seines Vorstellens. Er urtheilt also nur über sein eigenes Gehirnphänomen und sagt aus, was in dessen Formen, Zeit, Raum und Kausalität, hineingeht und was nicht: da ist er vollkommen zu Hause und redet apodiktisch. In gleichem Sinne also ist die hier folgende Tafel der Praedicabilia a priori der Zeit, des Raumes und der Materie zu nehmen.

Praedicabilia a priori der Zeit des Raumes der Materie

1) [Zeit] Es giebt nur eine Zeit, und alle verschiedenen Zeiten sind Theile derselben.

1) [Raum] Es giebt nur einen Raum, und alle verschiedenen Räume sind Theile desselben.

1) [Mat.] Es giebt nur eine Materie, und alle verschiedenen Stoffe sind verschiedene Zustände derselben: als solche heißt sie Substanz.

2) [Zeit] Verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nach einander.

2) [Raum] Verschiedene Räume sind nicht nach einander, sondern zugleich.

2) [Mat.] Verschiedenartige Materien (Stoffe) sind es nicht durch die Substanz, sondern durch die Accidenzien.

3) [Zeit] Die Zeit läßt sich nicht wegdenken, jedoch Alles aus ihr.

3) [Raum] Der Raum läßt sich nicht wegdenken, jedoch Alles aus ihm.

3) [Mat.] Vernichtung der Materie läßt sich nicht denken, jedoch die aller ihrer Formen und Qualitäten.

4) [Zeit] Die Zeit hat drei Abschnitte: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welche zwei Richtungen mit einem Indifferenzpunkt bilden.

4) [Raum] Der Raum hat drei Dimensionen: Höhe, Breite und Länge.

4) [Mat.] Die Materie existirt, d.i. wirkt, nach allen Dimensionen des Raumes und durch die ganze Länge der Zeit, wodurch sie Beide vereinigt und dadurch erfüllt: hierin besteht ihr Wesen: sie ist also durch und durch Kausalität.

5) [Zeit] Die Zeit ist ins Unendliche theilbar.

5) [Raum] Der Raum ist ins Unendliche theilbar.

5) [Mat.] Die Materie ist ins Unendliche theilbar.

6) [Zeit] Die Zeit ist homogen und ein Continuum: d.h. kein Theil derselben ist vom andern verschieden, noch durch etwas, das nicht Zeit wäre, getrennt.

6) [Raum] Der Raum ist homogen und ein Continuum: d.h. kein Theil desselben ist vom andern verschieden, noch durch etwas, das nicht Raum wäre, getrennt.

6) [Mat.] Die Materie ist homogen und ein Continuum: d.h. sie besteht nicht aus ursprünglich verschiedenartigen (Homoiomerien), noch ursprünglich getrennten Theilen (Atome); ist also nicht zusammengesetzt aus Theilen, die wesentlich durch etwas, das nicht Materie wäre, getrennt wären.

7) [Zeit] Die Zeit hat keinen Anfang noch Ende, sondern aller Anfang und Ende ist in ihr.

7) [Raum] Der Raum hat keine Gränzen, sondern alle Gränzen sind in ihm.

7) [Mat.] Die Materie hat keinen Ursprung noch Untergang, sondern alles Entstehn und Vergehn ist an ihr.

8) [Zeit] Vermöge der Zeit zählen wir.

8) [Raum] Vermöge des Raumes messen wir.

8) [Mat.] Vermöge der Materie wägen wir.

9) [Zeit] Der Rhythmus ist allein in der Zeit.

9) [Raum] Die Symmetrie ist allein im Raume.

9) [Mat.] Das Aequilibrium ist allein in der Materie.

10) [Zeit] Wir erkennen die Gesetze der Zeit a priori.

10) [Raum] Wir erkennen die Gesetze des Raumes a priori.

10) [Mat.] Wir erkennen die Gesetze der Substanz aller Accidenzien a priori.

11) [Zeit] Die Zeit ist a priori, wiewohl nur unter dem Bilde einer Linie, anschaubar.

11) [Raum] Der Raum ist a priori unmittelbar anschaubar.

11) [Mat.] Die Materie wird a priori bloß gedacht.

12) [Zeit] Die Zeit hat keinen Bestand, sondern vergeht sobald sie daist.

12) [Raum] Der Raum kann nie vergehn, sondern besteht allezeit.

12) [Mat.] Die Accidenzien wechseln, die Substanz beharrt.

13) [Zeit] Die Zeit ist rastlos.

13) [Raum] Der Raum ist unbeweglich.

13) [Mat.] Die Materie ist gleichgültig gegen Ruhe und Bewegung, d.h. zu keinem von Beiden ursprünglich geneigt.

14) [Zeit] Alles was in der Zeit ist hat eine Dauer.

14) [Raum] Alles was im Raum ist hat einen Ort.

14) [Mat.] Alles Materielle hat eine Wirksamkeit.

15) [Zeit] Die Zeit hat keine Dauer, sondern alle Dauer ist in ihr, und ist das Beharren des Bleibenden, im Gegensatz ihres rastlosen Laufes.

15) [Raum] Der Raum hat keine Bewegung, sondern alle Bewegung ist in ihm, und ist der Ortwechsel des Beweglichen, im Gegensatz seiner unerschütterlichen Ruhe.

15) [Mat.] Die Materie ist das Beharrende in der Zeit und das Bewegliche im Raum: durch den Vergleich des Ruhenden mit dem Bewegten messen wir die Dauer.

16) [Zeit] Alle Bewegung ist nur in der Zeit möglich.

16) [Raum] Alle Bewegung ist nur im Raum möglich.

16) [Mat.] Alle Bewegung ist nur der Materie möglich.

17) [Zeit] Die Geschwindigkeit ist, bei gleichem Raum, im umgekehrten Verhältniß der Zeit.

17) [Raum] Die Geschwindigkeit ist, bei gleicher Zeit, in geradem Verhältniß des Raumes.

17) [Mat.] Die Größe der Bewegung ist, bei gleicher Geschwindigkeit, im geraden geometrischen Verhältniß der Materie (Masse).

18) [Zeit] Meßbar ist die Zeit nicht direkte, durch sich selbst, sondern nur indirekte, durch die Bewegung, als welche in Raum und Zeit zugleich ist: so mißt die Bewegung der Sonne und der Uhr die Zeit.

18) [Raum] Meßbar ist der Raum direkte durch sich selbst, und indirekte durch die Bewegung, als welche in Zeit und Raum zugleich ist: daher z.B. eine Stunde Weges, und die Entfernung der Fixsterne ausgedrückt durch so viel Jahre Lauf des Lichts.

18) [Mat.] Meßbar, d.h. ihrer Quantität nach bestimmbar, ist die Materie als solche (die Masse) nur indirekt, nämlich allein durch die Größe der Bewegung, welche sie empfängt und giebt, indem sie fortgestoßen, oder angezogen wird.

19) [Zeit] Die Zeit ist allgegenwärtig: jedes Zeittheil ist überall, d.h. im ganzen Raum, zugleich.

19) [Raum] Der Raum ist ewig: jeder Theil desselben ist allezeit.

19) [Mat.] Die Materie ist absolut; d.h. sie kann nicht entstehn noch vergehn, ihr Quantum also weder vermehrt noch vermindert werden.

20) [Zeit] In der Zeit für sich allein wäre Alles nach einander.

20) [Raum] Im Raum für sich allein wäre Alles zugleich.

20), 21) [Mat.] Die Materie vereint die bestandlose Flucht der Zeit mit der starren Unbeweglichkeit des Raumes: daher ist sie die beharrende Substanz der wechselnden Accidenzien. Diesen Wechsel bestimmt, für jeden Ort zu jeder Zeit, die Kausalität, welche eben dadurch Zeit und Raum verbindet und das ganze Wesen der Materie ausmacht.

21) [Zeit] Die Zeit macht den Wechsel der Accidenzien möglich.

21) [Raum] Der Raum macht das Beharren der Substanz möglich.

22) [Zeit] Jeder Theil der Zeit enthält alle Theile der Materie.

22) [Raum] Kein Theil des Raumes enthält mit dem andern die selbe Materie.

22) [Mat.] Denn die Materie ist sowohl beharrend, als undurchdringlich.

23) [Zeit] Die Zeit ist das Principium individuationis.

23) [Raum] Der Raum ist das Principium individuationis.

23) [Mat.] Die Individuen sind materiell.

24) [Zeit] Das Jetzt ist ohne Dauer.

24) [Raum] Der Punkt ist ohne Ausdehnung.

24) [Mat.] Das Atom ist ohne Realität.

25) [Zeit] Die Zeit an sich ist leer und bestimmungslos.

25) [Raum] Der Raum an sich ist leer und bestimmungslos.

25) [Mat.] Die Materie an sich ist ohne Form und Qualität, desgleichen träge, d.h. gegen Ruhe oder Bewegung gleichgültig, also bestimmungslos.

26) [Zeit] Jeder Augenblick ist bedingt durch den vorhergegangenen, und ist nur sofern dieser aufgehört hat zu seyn. (Satz vom Grunde des Seyns in der Zeit. – Siehe meine Abhandlung über den Satz vom Gründe.)

26) [Raum] Durch die Lage jeder Gränze im Raum gegen irgend eine andere ist auch ihre Lage gegen jede mögliche durchaus streng bestimmt. – (Satz vom Grunde des Seyns im Raum.)

26) [Mat.] Jede Veränderung an der Materie kann nur eintreten vermöge einer andern, ihr vorhergegangenen: daher ist eine erste Veränderung und also auch ein erster Zustand der Materie so undenkbar, wie ein Anfang der Zeit oder eine Gränze des Raums. – (Satz vom Grund des Werdens.)

27) [Zeit] Die Zeit macht die Arithmetik möglich.

27) [Raum] Der Raum macht die Geometrie möglich.

27) [Mat.] Die Materie, als das Bewegliche im Raum, macht die Phoronomie möglich.

28) [Zeit] Das Einfache der Arithmetik ist die Einheit.

28) [Raum] Das Einfache der Geometrie ist der Punkt.

28) [Mat.] Das Einfache der Phoronomie ist das Atom.

Anmerkungen zur beigefügten Tafel

1) Zu Nr. 4 der Materie.

Das Wesen der Materie besteht im Wirken: sie ist das Wirken selbst, in abstracto, also das Wirken überhaupt, abgesehn von aller Verschiedenheit der Wirkungsart: sie ist durch und durch Kausalität. Eben deshalb ist sie selbst, ihrem Daseyn nach, dem Gesetz der Kausalität nicht unterworfen, also unentstanden und unvergänglich: denn sonst würde das Gesetz der Kausalität auf sich selbst angewandt werden. Da nun die Kausalität uns a priori bewußt ist, so kann der Begriff der Materie, als der unzerstörbaren Grundlage alles Existirenden, indem er nur die Realisation einer uns a priori gegebenen Form des Erkennens ist, insofern seine Stelle unter den Erkenntnissen a priori einnehmen. Denn sobald wir ein Wirkendes anschauen, stellt es sich eo ipso als materiell dar, wie auch umgekehrt, ein Materielles nothwendig als wirksam: es sind in der That Wechselbegriffe. Daher wird das Wort »wirklich« als Synonym von »materiell« gebraucht: auch das Griechische kat' energeian, im Gegensatz von kata dynamin, beurkundet den selben Ursprung, da energeia das Wirken überhaupt bedeutet: eben so actu, im Gegensatz von potentiâ; auch das Englische actually für »wirklich«. – Was man die Raumerfüllung oder Undurchdringlichkeit nennt und als das wesentliche Merkmal des Körpers (d.i. des Materiellen) angiebt, ist bloß diejenige Wirkungsart, welche allen Körpern ohne Ausnahme zukommt, nämlich die mechanische. Diese Allgemeinheit, vermöge deren sie zum Begriff eines Körpers gehört und aus diesem Begriff a priori folgt, daher auch nicht weggedacht werden kann, ohne ihn selbst aufzuheben, ist es allein, die sie vor andern Wirkungsarten, wie die elektrische, die chemische, die leuchtende, die wärmende, auszeichnet. Diese Raumerfüllung, oder mechanische Wirkungsart, hat Kant sehr richtig zerlegt in Repulsions- und Attraktions-Kraft, wie man eine gegebene mechanische Kraft, durch das Parallelogramm der Kräfte, in zwei andere zerlegt. Doch ist jenes im Grunde nur die besonnene Analyse des Phänomens in seine Bestandtheile. Beide Kräfte im Verein stellen den Körper innerhalb seiner Gränzen, d.h. in bestimmtem Volumen dar, während die eine allein ihn ins Unendliche zerstreuend auflösen, die andere allein ihn in einen Punkt kontrahiren würde. Dieses gegenseitigen Balancements oder Neutralisation, ungeachtet, wirkt der Körper noch mit der ersten Kraft repellirend auf andere Körper, die ihm den Raum streitig machen, und mit der andern attrahirend auf alle Körper überhaupt, in der Gravitation; so daß die zwei Kräfte doch nicht in ihrem Produkt, dem Körper, erlöschen, wie etwan zwei in entgegengesetzter Richtung gleich wirkende Stoßkräfte, oder + E und – E, oder Oxygen und Hydrogen im Wasser. Daß Undurchdringlichkeit und Schwere wirklich genau zusammenhängen, bezeugt, obwohl wir sie in Gedanken trennen können, ihre empirische Unzertrennlichkeit, indem nie eine ohne die andere auftritt.

Ich darf jedoch nicht unerwähnt lassen, daß die hier angezogene Lehre Kants, welche den Grundgedanken des zweiten Hauptstücks seiner »Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft«, also der Dynamik, ausmacht, bereits vor Kant deutlich und ausführlich dargelegt war, von Priestley, in seinen so vortrefflichen Disquisitions on matter and spirit, Sect. 1 et 2, welches Buch 1777, in der zweiten Auflage 1782, erschien, während jene Metaphysischen Anfangsgründe von 1786 sind. Unbewußte Reminiscenzen lassen sich allenfalls bei Nebengedanken, sinnreichen Einfällen, Gleichnissen u. dgl. annehmen, nicht aber bei Haupt- und Grund-Gedanken. Sollen wir also glauben, daß Kant jenen so wichtigen Gedanken eines Andern sich stillschweigend zugeeignet habe? Und dies aus einem damals noch neuen Buch? Oder aber, daß dieses Buch ihm unbekannt gewesen und der selbe Gedanke binnen kurzer Zeit in zwei Köpfen entsprungen sei? – Auch die Erklärung, welche Kant, in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft« (erste Auflage S. 88, Rosenkranzische Ausgabe S. 384), vom eigentlichen Unterschiede des Flüssigen vom Festen giebt, ist im Wesentlichen schon zu finden in Kaspar Friedr. Wolffs »Theorie von der Generation«, Berlin 1764, S. 132. sollen wir aber sagen, wenn wir Kants wichtigste und glänzendeste Grundlehre, die von der Idealität des Raumes und der bloß phänomenalen Existenz der Körperwelt, schon dreißig Jahre früher ausgesprochen finden von Maupertuis? wie Dies des Näheren zu ersehn ist aus Frauenstädt's Briefen über meine Philosophie, Brief 14. Maupertuis spricht diese paradoxe Lehre so entschieden und doch ohne Hinzufügung eines Beweises aus, daß man vermuthen muß, auch er habe sie wo anders hergenommen. Es wäre sehr wünschenswerth, daß man der Sache weiter nachforschte; und da dies mühsame und weitläuftige Untersuchungen erfordert, so könnte wohl irgend eine Deutsche Akademie eine Preisfrage darüber aufstellen. Wie Kant hier zu Priestley, vielleicht auch zu Kaspar Wolff, und zu Maupertuis oder dessen Vordermann, so steht zu ihm Laplace, dessen bewunderungswürdige und gewiß richtige Lehre vom Ursprung des Planetensystems, dargelegt in seiner Exposition du système du monde Liv. V, c. 2, der Hauptsache und den Grundgedanken nach, ungefähr fünfzig Jahr früher, nämlich 1755, vorgetragen war von Kant, in seiner »Naturgeschichte und Theorie des Himmels«, und vollkommener 1763 in seinem »Einzig möglichen Beweisgrund des Daseyns Gottes«, Kap. 7; und da er in letzterer Schrift auch zu verstehn giebt, daß Lambert in seinen »Kosmologischen Briefen«, 1761, jene Lehre stillschweigend von ihm entlehnt habe, diese Briefe aber, um die selbe Zeit, auch französisch erschienen sind (Lettres cosmologiques sur la constitution de l'univers); so müssen wir annehmen, daß Laplace jene Kantische Lehre gekannt hat. Zwar stellt er, wie es seinen tiefem astronomischer Kenntnissen angemessen ist, die Sache gründlicher, schlagender, ausführlicher und doch einfacher dar, als Kant; aber in der Hauptsache ist sie schon bei diesem deutlich vorhanden, und würde, bei der hohen Wichtigkeit der Sache, allein hinreichend seyn, seinen Namen unsterblich zu machen. – Es muß uns höchlich betrüben, wenn wir die Köpfe ersten Ranges einer Unredlichkeit verdächtig finden, die selbst denen des letzten zur Schande gereicht; indem wir fühlen, daß einem reichen Mann Diebstahl noch weniger zu verzeihen wäre, als einem armen. Wir dürfen aber nicht dazu schweigen: denn hier sind wir die Nachwelt und müssen gerecht seyn; wie wir hoffen, daß auch gegen uns einst die Nachwelt gerecht seyn werde. Daher will ich zu jenen Fällen noch als drittes Seitenstück anführen, daß die Grundgedanken der »Metamorphose der Pflanzen«, von Goethe, bereits 1764 ausgesprochen waren von Kaspar Friedrich Wolff in seiner »Theorie von der Generation«, S. 148, 229, 243 u.s.w. – Ja, ist es denn anders mit dem Gravitationssystem? dessen Entdeckung, auf dem Europäischen Festlande, noch immer dem Neuton zugeschrieben wird; während in England wenigstens die Gelehrten sehr wohl wissen, daß sie dem Robert Hooke angehört, welcher sie schon im Jahr 1666, in einer Communication to the Royal Society, zwar nur als Hypothese und ohne Beweis, aber ganz deutlich darlegte. Die Hauptstelle aus dieser ist abgedruckt in Dugald Stewart's Philosophy of the human mind. Vol. 2, p. 434, und wahrscheinlich aus R. Hooke's Posthumous works entnommen. Den Hergang der Sache und wie Neuton dabei ins Gedränge kam, findet man auch in der Biographie universelle, article Neuton. Als ausgemachte Sache wird Hooke's Priorität behandelt in einer kurzen Geschichte der Astronomie, Quarterly review, August 1828. Das Ausführlichere über diesen Gegenstand findet man in meinen Parergis, Bd. 11, § 86. Die Geschichte vom Fall eines Apfels ist ein eben so grundloses, als beliebtes Mährchen und ohne alle Auktorität.

2) Zu Nr. 18 der Materie.

Die Größe der Bewegung (quantitas motus, schon bei Cartesius) ist das Produkt der Masse in die Geschwindigkeit.

Dieses Gesetz begründet nicht nur in der Mechanik die Lehre vom Stoß, sondern auch in der Statik die Lehre vom Gleichgewicht. Aus der Stoßkraft, welche zwei Körper, bei gleicher Geschwindigkeit, äußern, läßt sich das Verhältniß ihrer Massen zu einander bestimmen: so wird von zwei gleich schnell schlagenden Hämmern der von größerer Masse den Nagel tiefer in die Wand, oder den Pfahl tiefer in die Erde treiben. Z.B. ein Hammer, dessen Gewicht sechs Pfund ist, wird, bei einer Geschwindigkeit = 6, so viel wirken wie ein Hammer von drei Pfund, bei einer Geschwindigkeit = 12: denn in beiden Fällen ist die Größe der Bewegung = 36. Von zwei gleich schnell rollenden Kugeln wird die von größerer Masse eine dritte ruhende Kugel weiter fortstoßen, als die von kleinerer Masse es kann: weil die Masse der ersteren, multiplicirt mit der gleichen Geschwindigkeit, ein größeres Quantum der Bewegung ergiebt. Die Kanone reicht weiter als die Flinte, weil dort die gleiche Geschwindigkeit, einer viel größern Masse mitgetheilt, ein viel größeres Quantum Bewegung liefert, welches der ermattenden Einwirkung der Schwere länger widersteht. Aus dem nämlichen Grunde wird der selbe Arm eine bleierne Kugel weiter werfen, als eine steinerne von gleicher Größe, oder einen größern Stein weiter, als einen ganz kleinen. Daher auch reicht ein Kartätschenschuß nicht so weit, wie der Schuß mit der Kugel.

Das selbe Gesetz liegt der Lehre vom Hebel und von der Waage zum Grunde: denn auch hier hat die kleinere Masse, am langem Hebelarm oder Waagebalken, beim Fallen eine größere Geschwindigkeit, mit welcher multiplicirt sie der, am kurzem Arm befindlichen, größern Masse an Größe der Bewegung gleich kommen, ja, sie übertreffen kann. In dem durch das Gleichgewicht herbeigeführten Zustande der Ruhe ist jedoch diese Geschwindigkeit bloß intentionell, oder virtuell, potentiâ nicht actu, vorhanden, wirkt jedoch so gut wie actu, welches sehr merkwürdig ist.

Nach diesen in Erinnerung gebrachten Wahrheiten wird die folgende Erklärung leichter faßlich seyn.

Die Quantität einer gegebenen Materie kann überhaupt nur nach ihrer Kraft geschätzt und diese nur an ihrer Aeußerung erkannt werden. Diese Aeußerung kann, wo die Materie bloß ihrer Quantität, nicht ihrer Qualität nach in Betracht kommt, nur eine mechanische seyn, d.h. nur bestehn in der Bewegung, die sie anderer Materie mittheilt. Denn erst in der Bewegung wird die Kraft der Materie gleichsam lebendig: daher der Ausdruck lebendige Kraft für die Kraftäußerung der bewegten Materie. Demnach ist für die Quantität gegebener Materie das alleinige Maaß die Größe ihrer Bewegung. In dieser aber, wenn sie gegeben ist, tritt die Quantität der Materie noch mit dem andern Faktor derselben, der Geschwindigkeit, versetzt und verschmolzen auf: dieser andere Faktor also muß ausgeschieden werden, wenn man die Quantität der Materie (die Masse) erkennen will. Nun wird zwar die Geschwindigkeit unmittelbar erkannt: denn sie ist S/T. Allein der andere Faktor, der durch Ausscheidung dieses übrig bleibt, also die Masse, ist stets nur relativ erkennbar, nämlich im Vergleich mit andern Massen, die aber selbst wieder nur mittelst der Größe ihrer Bewegung, also in ihrer Versetzung mit der Geschwindigkeit, erkennbar sind. Man muß also ein Quantum Bewegung mit dem andern vergleichen, dann aus beiden die Geschwindigkeit abrechnen, um zu ersehn wie viel jedes derselben seiner Masse verdankte. Dies geschieht durch das Wägen der Massen gegen einander, in welchem nämlich diejenige Größe der Bewegung, welche, in jeder der beiden Massen, die auf beide nur nach Maaßgabe ihrer Quantität wirkende Anziehungskraft der Erde erregt, verglichen wird. Daher giebt es zwei Arten des Wagens: nämlich entweder ertheilt man den beiden zu vergleichenden Massen gleiche Geschwindigkeit, um zu ersehn, welche von beiden der andern jetzt noch Bewegung mittheilt, also selbst ein größeres Quantum derselben hat, welches, da die Geschwindigkeit auf beiden Seiten gleich ist, dem andern Faktor der Größe der Bewegung, also der Masse, zuzuschreiben ist (Handwaage): oder aber man wägt dadurch, daß man untersucht, wie viel Geschwindigkeit die eine Masse mehr erhalten muß, als die andere hat, um dieser an Größe der Bewegung gleich zu kommen, mithin von ihr sich keine mehr mittheilen zu lassen; da dann in dem Verhältniß, wie ihre Geschwindigkeit die der andern übertreffen muß, ihre Masse, d.h. die Quantität ihrer Materie, geringer ist, als die der andern (Schnellwaage). Diese Schätzung der Massen durch Wägen beruht auf dem günstigen Umstand, daß die bewegende Kraft, an sich selbst, auf Beide ganz gleichmäßig wirkt, und jede von Beiden in der Lage ist, ihren Ueberschuß an Größe der Bewegung unmittelbar der andern mitzutheilen, wodurch er sichtbar wird.

Das Wesentliche dieser Lehren ist längst, von Neuton und Kant, ausgesprochen worden, aber durch den Zusammenhang und die Klarheit dieser Darstellung glaube ich denselben eine Faßlichkeit verliehen zu haben, welche Jedem die Einsicht zugänglich macht, die ich zur Rechtfertigung des Satzes Nr. 18 nöthig erachtete.

Zweite Hälfte.