Kapitel 33. Vereinzelte Bemerkungen über Naturschönheit

Den Anblick einer schönen Landschaft so überaus erfreulich zu machen, trägt unter Anderm auch die durchgängige Wahrheit und Konsequenz der Natur bei. Diese befolgt hier freilich nicht den logischen Leitfaden, im Zusammenhange der Erkenntnißgründe, der Vordersätze und Nachsätze, Prämissen und Konklusionen; aber doch den ihm analogen des Kausalitätsgesetzes, im sichtlichen Zusammenhange der Ursachen und Wirkungen. Jede Modifikation, auch die leiseste, welche ein Gegenstand durch seine Stellung, Verkürzung, Verdeckung, Entfernung, Beleuchtung, Linear- und Luft-Perspektive u.s.w. erhält, wird durch seine Wirkung auf das Auge unfehlbar angegeben und genau in Rechnung gebracht: das Indische Sprichwort »Jedes Reiskörnchen wirft seinen Schatten« findet hier Bewährung. Daher zeigt sich hier Alles so durchgängig folgerecht, genau regelrecht, zusammenhängend und skrupulös richtig: hier giebt es keine Winkelzüge. Wenn wir nun den Anblick einer schönen Aussicht bloß als Gehirnphänomen in Betracht nehmen; so ist er das einzige stets ganz regelrechte, tadellose und vollkommene, unter den komplicirten Gehirnphänomenen; da alle übrigen, zumal unsere eigenen Gedankenoperationen, im Formalen oder Materialen, mit Mängeln oder Unrichtigkeiten, mehr oder weniger behaftet sind. Aus diesem Vorzug des Anblicks der schönen Natur ist zunächst das Harmonische und durchaus Befriedigende seines Eindrucks zu erklären, dann aber auch die günstige Wirkung, welche derselbe auf unser gesammtes Denken hat, als welches dadurch, in seinem formalen Theil, richtiger gestimmt und gewissermaaßen geläutert wird, indem jenes allein ganz tadellose Gehirnphänomen das Gehirn überhaupt in eine völlig normale Aktion versetzt und nun das Denken im Konsequenten, Zusammenhangenden, Regelrechten und Harmonischen aller seiner Processe, jene Methode der Natur zu befolgen sucht, nachdem es durch sie in den rechten Schwung gebracht worden. Eine schöne Aussicht ist daher ein Kathartikon des Geistes, wie die Musik, nach Aristoteles, des Gemüthes, und in ihrer Gegenwart wird man am richtigsten denken. –

Daß der sich plötzlich vor uns aufthuende Anblick der Gebirge uns so leicht in eine ernste, auch wohl erhabene Stimmung versetzt, mag zum Theil darauf beruhen, daß die Form der Berge und der daraus entstehende Umriß des Gebirges die einzige stets bleibende Linie der Landschaft ist, da die Berge allein dem Verfall trotzen, der alles Uebrige schnell hinwegrafft, zumal unsere eigene, ephemere Person. Nicht, daß beim Anblick des Gebirgs alles Dieses in unser deutliches Bewußtseyn träte; sondern ein dunkles Gefühl davon wird der Grundbaß unserer Stimmung. –

Ich möchte wissen, warum, während für die menschliche Gestalt und Antlitz die Beleuchtung von oben durchaus die vortheilhafteste und die von unten die ungünstigste ist, hinsichtlich der landschaftlichen Natur gerade das Umgekehrte gilt. –

Wie ästhetisch ist doch die Natur! Jedes ganz unangebaute und verwilderte, d.h. ihr selber frei überlassene Fleckchen, sei es auch klein, wenn nur die Tatze des Menschen davon bleibt, dekorirt sie alsbald auf die geschmackvollste Weise, bekleidet es mit Pflanzen, Blumen und Gesträuchen, deren ungezwungenes Wesen, natürliche Grazie und anmuthige Gruppirung davon zeugt, daß sie nicht unter der Zuchtruthe des großen Egoisten aufgewachsen sind, sondern hier die Natur frei gewaltet hat. Jedes vernachlässigte Plätzchen wird alsbald schön. Hierauf beruht das Princip der Englischen Gärten, welches ist, die Kunst möglichst zu verbergen, damit es aussehe, als habe hier die Natur frei gewaltet. Denn nur dann ist sie vollkommen schön, d.h. zeigt in größter Deutlichkeit die Objektivation des noch erkenntnißlosen Willens zum Leben, der sich hier in größter Naivetät entfaltet, weil die Gestalten nicht, wie in der Thierwelt, bestimmt sind durch außerhalb liegende Zwecke, sondern allein unmittelbar durch Boden, Klima und ein geheimnißvolles Drittes, vermöge dessen so viele Pflanzen, die ursprünglich dem selben Boden und Klima entsprossen sind, doch so verschiedene Gestalten und Charaktere zeigen.

Der mächtige Unterschied zwischen den Englischen, richtiger Chinesischen, Gärten und den jetzt immer seltener werdenden, jedoch noch in einigen Prachtexemplaren vorhandenen, alt-französischen, beruht im letzten Grunde darauf, daß jene im objektiven, diese im subjektiven Sinne angelegt sind. In jenen nämlich wird der Wille der Natur, wie er sich in Baum, Staude, Berg und Gewässer objektivirt, zu möglichst reinem Ausdruck dieser seiner Ideen, also seines eigenen Wesens, gebracht. In den Französischen Gärten hingegen spiegelt sich nur der Wille des Besitzers, welcher die Natur unterjocht hat, so daß sie, statt ihrer Ideen, die ihm entsprechenden, ihr aufgezwungenen Formen, als Abzeichen ihrer Sklaverei, trägt: geschorene Hecken, in allerhand Gestalten geschnittene Bäume, gerade Alleen, Bogengänge u.s.w.

Kapitel 34. Ueber das innere Wesen der Kunst

Nicht bloß die Philosophie, sondern auch die schönen Künste arbeiten im Grunde darauf hin, das Problem des Daseyns zu lösen. Denn in jedem Geiste, der sich ein Mal der rein objektiven Betrachtung der Welt hingiebt, ist, wie versteckt und unbewußt es auch seyn mag, ein Streben rege geworden, das wahre Wesen der Dinge, des Lebens, des Daseyns, zu erfassen. Denn Dieses allein hat Interesse für den Intellekt als solchen, d.h. für das von den Zwecken des Willens frei gewordene, also reine Subjekt des Erkennens; wie für das als bloßes Individuum erkennende Subjekt die Zwecke des Willens allein Interesse haben. – Dieserhalb ist das Ergebniß jeder rein objektiven, also auch jeder künstlerischen Auffassung der Dinge ein Ausdruck mehr vom Wesen des Lebens und Daseyns, eine Antwort mehr auf die Frage: »Was ist das Leben?« – Diese Frage beantwortet jedes ächte und gelungene Kunstwerk, auf seine Weise, völlig richtig. Allein die Künste reden sämmtlich nur die naive und kindliche Sprache der Anschauung, nicht die abstrakte und ernste der Reflexion: ihre Antwort ist daher ein flüchtiges Bild; nicht eine bleibende allgemeine Erkenntniß. Also für die Anschauung beantwortet jedes Kunstwerk jene Frage, jedes Gemälde, jede Statue, jedes Gedicht, jede Scene auf der Bühne: auch die Musik beantwortet sie; und zwar tiefer als alle andern, indem sie, in einer ganz unmittelbar verständlichen Sprache, die jedoch in die der Vernunft nicht übersetzbar ist, das Innerste Wesen alles Lebens und Daseyns ausspricht. Die übrigen Künste also halten sämmtlich dem Frager ein anschauliches Bild vor und sagen: »Siehe hier, das ist das Leben!« – Ihre Antwort, so richtig sie auch seyn mag, wird jedoch immer nur eine einstweilige, nicht eine gänzliche und finale Befriedigung gewähren. Denn sie geben immer nur ein Fragment, ein Beispiel statt der Regel, nicht das Ganze, als welches nur in der Allgemeinheit des Begriffes gegeben werden kann. Für diesen daher, also für die Reflexion und in abstracto, eine eben deshalb bleibende und auf immer genügende Beantwortung jener Frage zu geben, – ist die Aufgabe der Philosophie. Inzwischen sehn wir hier, worauf die Verwandtschaft der Philosophie mit den schönen Künsten beruht, und können daraus abnehmen, inwiefern auch die Fähigkeit zu Beiden, wiewohl in ihrer Richtung und im Sekundären sehr verschieden, doch in der Wurzel die selbe ist.

Jedes Kunstwerk ist demgemäß eigentlich bemüht, uns das Leben und die Dinge so zu zeigen, wie sie in Wahrheit sind, aber, durch den Nebel objektiver und subjektiver Zufälligkeiten hindurch, nicht von Jedem unmittelbar erfaßt werden können. Diesen Nebel nimmt die Kunst hinweg.

Die Werke der Dichter, Bildner und darstellenden Künstler überhaupt enthalten anerkanntermaaßen einen Schatz tiefer Weisheit: eben weil aus ihnen die Weisheit der Natur der Dinge selbst redet, deren Aussagen sie bloß durch Verdeutlichung und reinere Wiederholung verdolmetschen. Deshalb muß aber freilich auch Jeder, der das Gedicht liest, oder das Kunstwerk betrachtet, aus eigenen Mitteln beitragen, jene Weisheit zu Tage zu fördern: folglich faßt er nur so viel davon, als seine Fähigkeit und seine Bildung zuläßt; wie ins tiefe Meer jeder Schiffer sein Senkblei so tief hinabläßt, als dessen Länge reicht. Vor ein Bild hat Jeder sich hinzustellen, wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und, wie jenen, auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst vernehmen. – Dem Allen zufolge ist in den Werken der darstellenden Künste zwar alle Weisheit enthalten, jedoch nur virtualiter oder implicite: hingegen dieselbe actualiter und explicite zu liefern ist die Philosophie bemüht, welche in diesem Sinne sich zu jenen verhält, wie der Wein zu den Trauben. Was sie zu liefern verspricht, wäre gleichsam ein schon realisirter und baarer Gewinn, ein fester und bleibender Besitz; während der aus den Leistungen und Werken der Kunst hervorgehende nur ein stets neu zu erzeugender ist. Dafür aber macht sie nicht bloß an Den, der ihre Werke schaffen, sondern auch an Den, der sie genießen soll, abschreckende, schwer zu erfüllende Anforderungen. Daher bleibt ihr Publikum klein, während das der Künste groß ist. –

Die oben zum Genuß eines Kunstwerks verlangte Mitwirkung des Beschauers beruht zum Theil darauf, daß jedes Kunstwerk nur durch das Medium der Phantasie wirken kann, daher es diese anregen muß und sie nie aus dem Spiel gelassen werden und unthätig bleiben darf. Dies ist eine Bedingung der ästhetischen Wirkung und daher ein Grundgesetz aller schönen Künste. Aus demselben aber folgt, daß, durch das Kunstwerk, nicht Alles geradezu den Sinnen gegeben werden darf, vielmehr nur so viel, als erfordert ist, die Phantasie auf den rechten Weg zu leiten: ihr muß immer noch etwas und zwar das Letzte zu thun übrig bleiben. Muß doch sogar der Schriftsteller stets dem Leser noch etwas zu denken übrig lassen; da Voltaire sehr richtig gesagt hat: Le secret d'être ennuyeux, c'est de tout dire. In der Kunst aber ist überdies das Allerbeste zu geistig, um geradezu den Sinnen gegeben zu werden: es muß in der Phantasie des Beschauers geboren, wiewohl durch das Kunstwerk erzeugt werden. Hierauf beruht es, daß die Skitzen großer Meister oft mehr wirken, als ihre ausgemalten Bilder; wozu freilich noch der andere Vortheil beiträgt, daß sie, aus einem Guß, im Augenblick der Konception vollendet sind; während das ausgeführte Gemälde, da die Begeisterung doch nicht bis zu seiner Vollendung anhalten kann, nur unter fortgesetzter Bemühung, mittelst kluger Ueberlegung und beharrlicher Absichtlichkeit zu Stande kommt. – Aus dem in Rede stehenden ästhetischen Grundgesetze wird ferner auch erklärlich, warum Wachsfiguren, obgleich gerade in ihnen die Nachahmung der Natur den höchsten Grad erreichen kann, nie eine ästhetische Wirkung hervorbringen und daher nicht eigentliche Werke der schönen Kunst sind. Denn sie lassen der Phantasie nichts zu thun übrig. Die Skulptur nämlich giebt die bloße Form, ohne die Farbe; die Malerei giebt die Farbe, aber den bloßen Schein der Form: Beide also wenden sich an die Phantasie des Beschauers. Die Wachsfigur hingegen giebt Alles, Form und Farbe zugleich; woraus der Schein der Wirklichkeit entsteht und die Phantasie aus dem Spiele bleibt. – Dagegen wendet die Poesie sich sogar allein an die Phantasie, welche sie mittelst bloßer Worte in Thätigkeit versetzt. –

Ein willkürliches Spielen mit den Mitteln der Kunst, ohne eigentliche Kenntniß des Zweckes, ist, in jeder, der Grundcharakter der Pfuscherei. Ein solches zeigt sich in den nichts tragenden Stützen, den zwecklosen Voluten, Bauschungen und Vorsprüngen schlechter Architektur, in den nichtssagenden Läufen und Figuren, nebst dem zwecklosen Lerm schlechter Musik, im Klingklang der Reime sinnarmer Gedichte, u.s.w.-

In Folge der vorhergegangenen Kapitel und meiner ganzen Ansicht von der Kunst, ist ihr Zweck die Erleichterung der Erkenntniß der Ideen der Welt (im Platonischen Sinn, dem einzigen, den ich für das Wort Idee anerkenne). Die Ideen aber sind wesentlich ein Anschauliches und daher, in seinen nähern Bestimmungen, Unerschöpfliches. Die Mittheilung eines solchen kann daher nur auf dem Wege der Anschauung geschehn, welches der der Kunst ist. Wer also von der Auffassung einer Idee erfüllt ist, ist gerechtfertigt, wenn er die Kunst zum Medium seiner Mittheilung wählt. – Der bloße Begriff hingegen ist ein vollkommen Bestimmbares, daher zu Erschöpfendes, deutlich Gedachtes, welches sich, seinem ganzen Inhalt nach, durch Worte, kalt und nüchtern mittheilen läßt. Ein Solches nun aber durch ein Kunstwerk mittheilen zu wollen, ist ein sehr unnützer Umweg, ja, gehört zu dem eben gerügten Spielen mit den Mitteln der Kunst, ohne Kenntniß des Zwecks. Daher ist ein Kunstwerk, dessen Konception aus bloßen deutlichen Begriffen hervorgegangen, allemal ein unächtes. Wenn wir nun, bei Betrachtung eines Werkes der bildenden Kunst, oder beim Lesen einer Dichtung, oder beim Anhören einer Musik (die etwas Bestimmtes zu schildern bezweckt), durch alle die reichen Kunstmittel hindurch, den deutlichen, begränzten, kalten, nüchternen Begriff durchschimmern und am Ende hervortreten sehn, welcher der Kern dieses Werkes war, dessen ganze Konception mithin nur im deutlichen Denken desselben bestanden hat und demnach durch die Mittheilung desselben von Grund aus erschöpft ist; so empfinden wir Ekel und Unwillen: denn wir sehn uns getäuscht und um unsere Theilnahme und Aufmerksamkeit betrogen. Ganz befriedigt durch den Eindruck eines Kunstwerks sind wir nur dann, wann er etwas hinterläßt, das wir, bei allem Nachdenken darüber, nicht bis zur Deutlichkeit eines Begriffs herabziehn können. Das Merkmal jenes hybriden Ursprungs aus bloßen Begriffen ist, daß der Urheber eines Kunstwerks, ehe er an die Ausführung gieng, mit deutlichen Worten angeben konnte, was er darzustellen beabsichtigte: denn da wäre durch diese Worte selbst sein ganzer Zweck zu erreichen gewesen. Daher ist es ein so unwürdiges, wie albernes Unternehmen, wenn man, wie heut zu Tage öfter versucht worden, eine Dichtung Shakespeare's, oder Goethes, zurückführen will auf eine abstrakte Wahrheit, deren Mittheilung ihr Zweck gewesen wäre. Denken soll freilich der Künstler, bei der Anordnung seines Werkes; aber nur das Gedachte, was geschaut wurde ehe es gedacht war, hat nachmals, bei der Mittheilung, anregende Kraft und wird dadurch unvergänglich. – Hier wollen wir nun die Bemerkung nicht unterdrücken, daß allerdings die Werke aus einem Guß, wie die bereits erwähnte Skitze der Maler, welche in der Begeisterung der ersten Konception vollendet, und wie unbewußt hingezeichnet wird, desgleichen die Melodie, welche ohne alle Reflexion und völlig wie durch Eingebung kommt, endlich auch das eigentlich lyrische Gedicht, das bloße Lied, in welches die tief gefühlte Stimmung der Gegenwart und der Eindruck der Umgebung sich mit Worten, deren Silbenmaaße und Reime von selbst eintreffen, wie unwillkürlich ergießt, – daß, sage ich, diese Alle den großen Vorzug haben, das lautere Werk der Begeisterung des Augenblicks, der Inspiration, der freien Regung des Genius zu seyn, ohne alle Einmischung der Absichtlichkeit und Reflexion; daher sie eben durch und durch erfreulich und genießbar sind, ohne Schaale und Kern, und ihre Wirkung viel unfehlbarer ist, als die der größten Kunstwerke, von langsamer und überlegter Ausführung. An allen diesen nämlich, also an den großen historischen Gemälden, an den langen Epopöen, den großen Opern u.s.w. hat die Reflexion, die Absicht und durchdachte Wahl bedeutenden Antheil: Verstand, Technik und Routine müssen hier die Lücken ausfüllen, welche die geniale Konception und Begeisterung gelassen hat, und allerlei nothwendiges Nebenwerk muß, als Cäment der eigentlich allein ächten Glanzpartien, diese durchziehn. Hieraus ist es erklärlich, daß alle solche Werke, die vollkommensten Meisterstücke der allergrößten Meister (wie z.B. Hamlet, Faust, die Oper Don Juan) allein ausgenommen, einiges Schaales und Langweiliges unvermeidlich beigemischt enthalten, welches ihren Genuß in etwas verkümmert. Belege hiezu sind die Messiade, die Gerusalemme liberata, sogar Paradise lost und die Aeneide: macht doch schon Horaz die kühne Bemerkung: Quandoque dormitat bonus Homerus. Daß aber Dies sich so verhält ist eine Folge der Beschränkung menschlicher Kräfte überhaupt. –

Die Mutter der nützlichen Künste ist die Noth; die der schönen der Ueberfluß. Zum Vater haben jene den Verstand, diese das Genie, welches selbst eine Art Ueberfluß ist, nämlich der der Erkenntnißkraft über das zum Dienste des Willens erforderliche Maaß.

Kapitel 35. Zur Aesthetik der Architektur

In Gemäßheit der im Texte gegebenen Ableitung des rein Aesthetischen der Baukunst aus den untersten Stufen der Objektivation des Willens, oder der Natur, deren Ideen sie zu deutlicher Anschaulichkeit bringen will, ist das einzige und beständige Thema derselben Stütze und Last, und ihr Grundgesetz, daß keine Last ohne genügende Stütze, und keine Stütze ohne angemessene Last, mithin das Verhältniß dieser Beiden gerade das passende sei. Die reinste Ausführung dieses Themas ist Säule und Gebälk: daher ist die Säulenordnung gleichsam der Generalbaß der ganzen Architektur geworden. In Säule und Gebälk nämlich sind Stütze und Last vollkommen gesondert; wodurch die gegenseitige Wirkung Beider und ihr Verhältniß zu einander augenfällig wird. Denn freilich enthält selbst jede schlichte Mauer schon Stütze und Last: allein hier sind Beide noch in einander verschmolzen. Alles ist hier Stütze und Alles Last: daher keine ästhetische Wirkung. Diese tritt erst durch die Sonderung ein und fällt dem Grade derselben gemäß aus. Denn zwischen der Säulenreihe und der schlichten Mauer sind viele Zwischenstufen. Schon auf der bloß zu Fenstern und Thüren durchbrochenen Mauer eines Hauses sucht man jene Sonderung wenigstens anzudeuten, durch flache hervortretende Pilaster (Anten) mit Kapitellen, welche man dem Gesimse unterschiebt, ja, im Nothfall, sie durch bloße Malerei darstellt, um doch irgendwie das Gebälk und eine Säulenordnung zu bezeichnen. Wirkliche Pfeiler, auch Konsolen und Stützen mancherlei Art, realisiren schon mehr jene von der Baukunst durchgängig angestrebte reine Sonderung der Stütze und Last. In Hinsicht auf dieselbe steht der Säule mit dem Gebälke zunächst, aber als eigenthümliche, nicht diese nachahmende Konstruktion, das Gewölbe mit dem Pfeiler. Die ästhetische Wirkung Jener freilich erreichen Diese bei Weitem nicht; weil hier Stütze und Last noch nicht rein gesondert, sondern in einander übergehend verschmolzen sind. Im Gewölbe selbst ist jeder Stein zugleich Last und Stütze, und sogar die Pfeiler werden, zumal im Kreuzgewölbe, vom Druck entgegengesetzter Bögen, wenigstens für den Augenschein, in ihrer Lage erhalten; wie denn auch, eben dieses Seitendruckes wegen, nicht nur Gewölbe, sondern selbst bloße Bögen nicht auf Säulen ruhen sollen, sondern den massiveren, viereckigen Pfeiler verlangen. In der Säulenreihe allein ist die Sonderung vollständig, indem hier das Gebälk als reine Last, die Säule als reine Stütze auftritt. Demnach ist das Verhältniß der Kolonade zur schlichten Mauer dem zu vergleichen, welches zwischen einer in regelmäßigen Intervallen aufsteigenden Tonleiter und einem aus der selben Tiefe bis zur selben Höhe allmälig und ohne Abstufungen hinaufgehenden Tone wäre, der ein bloßes Geheul abgeben würde. Denn im Einen wie im Andern ist der Stoff der selbe, und nur aus der reinen Sonderung geht der mächtige Unterschied hervor.

Der Last angemessen ist übrigens die Stütze nicht dann, wann sie solche zu tragen nur eben ausreicht; sondern wann sie dies so bequem und reichlich vermag, daß wir, beim ersten Anblick, darüber vollkommen beruhigt sind. Jedoch darf auch dieser Ueberschuß der Stütze einen gewissen Grad nicht übersteigen; da wir sonst Stütze ohne Last erblicken, welches dem ästhetischen Zweck entgegen ist. Zur Bestimmung jenes Grades haben die Alten, als Regulativ, die Linie des Gleichgewichts ersonnen, welche man erhält, indem man die Verjüngung, welche die Dicke der Säule von unten nach oben hat, fortsetzt, bis sie in einen spitzen Winkel ausläuft, wodurch die Säule zum Kegel wird: jetzt wird jeder beliebige Queer-Durchschnitt den untern Theil so stark lassen, daß er den abgeschnittenen oberen zu tragen hinreicht. Gewöhnlich aber wird mit zwanzigfacher Festigkeit gebaut, d.h. man legt jeder Stütze nur 1/20 dessen auf, was sie höchstens tragen könnte. – Ein lukulentes Beispiel von Last ohne Stütze bieten die, an den Ecken mancher, im geschmackvollen Stil der »Jetztzeit« erbauten Häuser hinausgeschobenen Erker dem Auge dar. Man sieht nicht was sie trägt: sie scheinen zu schweben und beunruhigen das Gemüth.

Daß in Italien sogar die einfachsten und schmucklosesten Gebäude einen ästhetischen Eindruck machen, in Deutschland aber nicht, beruht hauptsächlich darauf, daß dort die Dächer sehr flach sind. Ein hohes Dach ist nämlich weder Stütze noch Last, denn seine beiden Hälften unterstützen sich gegenseitig, das Ganze aber hat kein seiner Ausdehnung entsprechendes Gewicht. Daher bietet es dem Auge eine ausgebreitete Masse dar, die dem ästhetischen Zwecke völlig fremd, bloß dem nützlichen dient, mithin jenen stört, dessen Thema immer nur Stütze und Last ist.

Die Form der Säule hat ihren Grund allein darin, daß sie die einfachste und zweckmäßigste Stütze liefert. In der gewundenen Säule tritt die Zweckwidrigkeit wie absichtlich trotzend und daher unverschämt auf: deswegen bricht der gute Geschmack, beim ersten Anblick, den Stab über sie. Der viereckige Pfeiler hat, da die Diagonale die Seiten übertrifft, ungleiche Dimensionen der Dicke, die durch keinen Zweck motivirt, sondern durch die zufällig leichtere Ausführbarkeit veranlaßt sind: darum eben gefällt er uns so sehr viel weniger, als die Säule. Schon der sechs- oder achteckige Pfeiler ist gefälliger; weil er sich der runden Säule mehr nähert: denn die Form dieser allein ist ausschließlich durch den Zweck bestimmt. Dies ist sie nun aber auch in allen ihren übrigen Proportionen: zunächst im Verhältniß ihrer Dicke zur Höhe, innerhalb der Gränzen, welche die Verschiedenheit der drei Säulenordnungen zuläßt. Sodann beruht ihre Verjüngung, vom ersten Drittel ihrer Höhe an, wie auch eine geringe Anschwellung an eben dieser Stelle (entasis Vitr.), darauf, daß der Druck der Last dort am stärksten ist: man glaubte bisher, daß diese Anschwellung nur der Ionischen und Korinthischen Säule eigen sei; allein neuere Messungen haben sie auch an der Dorischen, sogar in Pästum, nachgewiesen. Also Alles an der Säule, ihre durchweg bestimmte Form, das Verhältniß ihrer Höhe zur Dicke, Beider zu den Zwischenräumen der Säulen, und das der ganzen Reihe zum Gebälk und der darauf ruhenden Last, ist das genau berechnete Resultat aus dem Verhältniß der nothwendigen Stütze zur gegebenen Last. Weil diese gleichförmig vertheilt ist; so müssen es auch die Stützen seyn: deshalb sind Säulengruppen geschmacklos. Hingegen rückt, in den besten Dorischen Tempeln, die Ecksäule etwas näher an die nächste; weil das Zusammentreffen der Gebälke an der Ecke die Last vermehrt: hiedurch aber spricht sich deutlich das Princip der Architektur aus, daß die konstruktionellen Verhältnisse, d.h. die zwischen Stütze und Last, die wesentlichen sind, welchen die der Symmetrie, als untergeordnet, sogleich weichen müssen. Je nach der Schwere der ganzen Last überhaupt wird man die Dorische, oder die zwei leichteren Säulenordnungen wählen, da die erstere, nicht nur durch die größere Dicke, sondern auch durch die ihr wesentliche, nähere Stellung der Säulen, auf schwerere Lasten berechnet ist, zu welchem Zwecke auch die beinahe rohe Einfachheit ihres Kapitells paßt. Die Kapitelle überhaupt haben den Zweck, sichtbar zu machen, daß die Säulen das Gebälk tragen und nicht wie Zapfen hineingesteckt sind: zugleich vergrößern sie, mittelst ihres Abakus, die tragende Fläche. Weil nun also aus dem wohl verstandenen und konsequent durchgeführten Begriff der reichlich angemessenen Stütze zu einer gegebenen Last alle Gesetze der Säulenordnung, mithin auch die Form und Proportion der Säule, in allen ihren Theilen und Dimensionen, bis ins Einzelne herab, folgt, also insofern a priori bestimmt ist; so erhellt die Verkehrtheit des so oft wiederholten Gedankens, daß Baumstämme oder gar (was leider selbst Vitruvius, VI, I, vorträgt) die menschliche Gestalt das Vorbild der Säule gewesen sei. Dann wäre die Form derselben für die Architektur eine rein zufällige, von außen aufgenommene: eine solche aber könnte uns nicht, sobald wir sie in ihrem gehörigen Ebenmaaß erblicken, so harmonisch und befriedigend ansprechen; noch könnte andererseits jedes, selbst geringe Mißverhältniß derselben vom feinen und geübten Sinne sogleich unangenehm und störend, wie ein Mißton in der Musik, empfunden werden. Dies ist vielmehr nur dadurch möglich, daß, nach gegebenem Zweck und Mittel, alles Uebrige im Wesentlichen a priori bestimmt ist, wie in der Musik, nach gegebener Melodie und Grundton, im Wesentlichen die ganze Harmonie. Und wie die Musik, so ist auch die Architektur überhaupt keine nachahmende Kunst; – obwohl Beide oft fälschlich dafür gehalten worden sind.

Das ästhetische Wohlgefallen beruht, wie im Text ausführlich dargethan, überall auf der Auffassung einer (Platonischen) Idee. Für die Architektur, allein als schöne Kunst betrachtet, sind die Ideen der untersten Naturstufen, also Schwere, Starrheit, Kohäsion das eigentliche Thema; nicht aber, wie man bisher annahm, bloß die regelmäßige Form, Proportion und Symmetrie, als welche ein rein Geometrisches, Eigenschaften des Raumes, nicht Ideen sind, und daher nicht das Thema einer schönen Kunst seyn können. Auch in der Architektur also sind sie nur sekundären Ursprungs und haben eine untergeordnete Bedeutung, welche ich sogleich hervorheben werde. Wären sie es allein, welche darzulegen die Architektur, als schöne Kunst, zur Aufgabe hätte; so müßte das Modell die gleiche Wirkung thun, wie das ausgeführte Werk. Dies aber ist ganz und gar nicht der Fall: vielmehr müssen die Werke der Architektur, um ästhetisch zu wirken, durchaus eine beträchtliche Größe haben; ja, sie können nie zu groß, aber leicht zu klein seyn. Sogar steht, ceteris paribus, die ästhetische Wirkung im geraden Verhältniß der Größe der Gebäude; weil nur große Massen die Wirksamkeit der Schwerkraft in hohem Grade augenfällig und eindringlich machen. Hiedurch bestätigt sich abermals meine Ansicht, daß das Streben und der Antagonismus jener Grundkräfte der Natur den eigentlichen ästhetischen Stoff der Baukunst ausmacht, welcher, seiner Natur nach, große Massen verlangt, um sichtbar, ja fühlbar zu werden. – Die Formen in der Architektur werden, wie oben an der Säule gezeigt worden, zunächst durch den unmittelbaren, konstruktionellen Zweck jedes Theiles bestimmt. Soweit nun aber derselbe irgend etwas unbestimmt läßt, tritt, da die Architektur ihr Daseyn zunächst in unserer räumlichen Anschauung hat, und demnach an unser Vermögen a priori zu dieser sich wendet, das Gesetz der vollkommensten Anschaulichkeit, mithin auch der leichtesten Faßlichkeit, ein. Diese aber entsteht allemal durch die größte Regelmäßigkeit der Formen und Rationalität ihrer Verhältnisse. Demgemäß wählt die schöne Architektur lauter regelmäßige Figuren, aus geraden Linien, oder gesetzmäßigen Kurven, imgleichen die aus solchen hervorgehenden Körper, wie Würfel, Parallelepipeden, Cylinder, Kugeln, Pyramiden und Kegel; als Oeffnungen aber bisweilen Cirkel, oder Ellipsen, in der Regel jedoch Quadrate und noch öfter Rektangel, letztere von durchaus rationalem und ganz leicht faßlichem Verhältniß ihrer Seiten (nicht etwan wie 6:7, sondern wie 1:2, 2:3), endlich auch Blenden oder Nischen, von regelmäßiger und faßlicher Proportion. Aus dem selben Grunde wird sie den Gebäuden selbst und ihren großen Abtheilungen gern ein rationales und leicht faßliches Verhältniß der Höhe zur Breite geben, z.B. die Höhe einer Fassade die Hälfte der Breite seyn lassen, und die Säulen so stellen, daß je 3 oder 4 derselben mit ihren Zwischenräumen eine Linie ausmessen, welche der Höhe gleich ist, also ein Quadrat bilden. Das selbe Princip der Anschaulichkeit und leichten Faßlichkeit verlangt auch leichte Uebersehbarkeit: diese führt die Symmetrie herbei, welche überdies nöthig ist, um das Werk als ein Ganzes abzustecken und dessen wesentliche Begränzung von der zufälligen zu unterscheiden, wie man denn z.B. bisweilen nur an ihrem Leitfaden erkennt, ob man drei neben einander stehende Gebäude oder nur eines vor sich hat. Nur mittelst der Symmetrie also kündigt sich das architektonische Werk sogleich als individuelle Einheit und als Entwickelung eines Hauptgedankens an.

Wenn nun gleich, wie oben beiläufig gezeigt worden, die Baukunst keineswegs die Formen der Natur, wie Baumstämme, oder gar menschliche Gestalten, nachzuahmen hat; so soll sie doch im Geiste der Natur schaffen, namentlich indem sie das Gesetz natura nihil agit frustra, nihilque supervacaneum, et quod commodissimum in omnibus suis operationibus sequitur, auch zu dem ihrigen macht, demnach alles, selbst nur scheinbar, Zwecklose vermeidet und ihre jedesmalige Absicht, sei diese nun eine rein architektonische, d.i. konstruktionelle, oder aber eine die Zwecke der Nützlichkeit betreffende, stets auf dem kürzesten und natürlichsten Wege erreicht und so dieselbe, durch das Werk selbst, offen darlegt. Dadurch erlangt sie eine gewisse Grazie, der analog, welche bei lebenden Wesen in der Leichtigkeit und der Angemessenheit jeder Bewegung und Stellung zur Absicht derselben besteht. Demgemäß sehn wir, im guten antiken Baustil, jeglichen Theil, sei es nun Pfeiler, Säule, Bogen, Gebälk, oder Thüre, Fenster, Treppe, Balkon, seinen Zweck auf die geradeste und einfachste Weise erreichen, ihn dabei unverhohlen und naiv an den Tag legend; eben wie die organische Natur es in ihren Werken auch thut. Der geschmacklose Baustil hingegen sucht bei Allem unnütze Umwege und gefällt sich in Willkürlichkeiten, geräth dadurch auf zwecklos gebrochene, heraus und herein rückende Gebälke, gruppirte Säulen, zerstückelte Kornischen an Thürbögen und Giebeln, sinnlose Voluten, Schnörkel u. dergl.: er spielt, wie oben als Charakter der Pfuscherei angegeben, mit den Mitteln der Kunst, ohne die Zwecke derselben zu verstehn, wie Kinder mit dem Geräthe der Erwachsenen spielen. Dieser Art ist schon jede Unterbrechung einer geraden Linie, jede Aenderung im Schwunge einer Kurve, ohne augenfälligen Zweck. Jene naive Einfalt hingegen in der Darlegung und dem Erreichen des Zweckes, die dem Geiste entspricht, in welchem die Natur schafft und bildet, ist es eben auch, welche den antiken Thongefäßen eine solche Schönheit und Grazie der Form verleiht, daß wir stets von Neuern darüber erstaunen; weil sie so edel absticht gegen unsere modernen Gefäße im Originalgeschmack, als welche den Stämpel der Gemeinheit tragen, sie mögen nun aus Porzellan, oder grobem Töpferthon geformt seyn. Beim Anblick der Gefäße und Geräthe der Alten fühlen wir, daß wenn die Natur dergleichen Dinge hätte schaffen wollen, sie es in diesen Formen gethan haben würde. – Da wir also die Schönheit der Baukunst hauptsächlich aus der unverhohlenen Darlegung der Zwecke und dem Erreichen derselben auf dem kürzesten und natürlichsten Wege hervorgehn sehn; so geräth hier meine Theorie in geraden Widerspruch mit der Kantischen, als welche das Wesen alles Schönen in eine anscheinende Zweckmäßigkeit ohne Zweck setzt.

Das hier dargelegte alleinige Thema der Architektur, Stütze und Last, ist so sehr einfach, daß eben deshalb diese Kunst, soweit sie schöne Kunst ist (nicht aber sofern sie dem Nutzen dient), schon seit der besten Griechischen Zeit, im Wesentlichen vollendet und abgeschlossen, wenigstens keiner bedeutenden Bereicherung mehr fähig ist. Hingegen kann der moderne Architekt sich von den Regeln und Vorbildern der Alten nicht merklich entfernen, ohne eben schon auf dem Wege der Verschlechterung zu seyn. Ihm bleibt daher nichts übrig, als die von den Alten überlieferte Kunst anzuwenden und ihre Regeln, so weit es möglich ist, unter den Beschränkungen, welche das Bedürfniß, das Klima, das Zeitalter, und sein Land ihm unabweisbar auflegen, durchzusetzen. Denn in dieser Kunst, wie auch in der Skulptur, fällt das Streben nach dem Ideal mit der Nachahmung der Alten zusammen.

Ich brauche wohl kaum zu erinnern, daß ich, bei allen diesen architektonischen Betrachtungen, allein den antiken Baustil und nicht den sogenannten Gothischen, welcher, Saracenischen Ursprungs, durch die Gothen in Spanien dem übrigen Europa zugeführt worden ist, im Auge gehabt habe. Vielleicht ist auch diesem eine gewisse Schönheit, in seiner Art, nicht ganz abzusprechen: wenn er jedoch unternimmt, sich jenem als ebenbürtig gegenüberzustellen; so ist dies eine barbarische Vermessenheit, welche man durchaus nicht gelten lassen darf. Wie wohlthätig wirkt doch auf unsern Geist, nach dem Anschauen solcher Gothischer Herrlichkeiten, der Anblick eines regelrechten, im antiken Stil aufgeführten Gebäudes! Wir fühlen sogleich, daß dies das allein Rechte und Wahre ist. Könnte man einen alten Griechen vor unsere berühmtesten Gothischen Kathedralen führen; was würde er wohl dazu sagen? – Barbaroi! – Unser Wohlgefallen an Gothischen Werken beruht ganz gewiß größten Theils auf Gedankenassociationen und historischen Erinnerungen, also auf einem der Kunst fremden Gefühl. Alles was ich vom eigentlich ästhetischen Zweck, vom Sinn und Thema der Baukunst gesagt habe, verliert bei diesen Werken seine Gültigkeit. Denn das frei liegende Gebälk ist verschwunden und mit ihm die Säule: Stütze und Last, geordnet und vertheilt, um den Kampf zwischen Starrheit und Schwere zu veranschaulichen, sind hier nicht mehr das Thema. Auch ist jene durchgängige, reine Rationalität, vermöge welcher Alles strenge Rechenschaft zuläßt, ja, sie dem denkenden Beschauer schon von selbst entgegenbringt, und welche zum Charakter des antiken Baustils gehört, hier nicht mehr zu finden: wir werden bald inne, daß hier, statt ihrer, eine von fremdartigen Begriffen geleitete Willkür gewaltet hat; daher Vieles uns unerklärt bleibt. Denn nur der antike Baustil ist in rein objektivem Sinne gedacht, der gothische mehr in subjektivem. – Wollen wir jedoch, wie wir als den eigentlichen, ästhetischen Grundgedanken der antiken Baukunst die Entfaltung des Kampfes zwischen Starrheit und Schwere erkannt haben, auch in der Gothischen einen analogen Grundgedanken auffinden; so müßte es dieser seyn, daß hier die gänzliche Ueberwältigung und Besiegung der Schwere durch die Starrheit dargestellt werden soll. Denn demgemäß ist hier die Horizontallinie, welche die der Last ist, fast ganz verschwunden, und das Wirken der Schwere tritt nur noch indirekt, nämlich in Bogen und Gewölbe verlarvt, auf, während die Vertikallinie, welche die der Stütze ist, allein herrscht, und in unmäßig hohen Strebepfeilern, Thürmen, Thürmchen und Spitzen ohne Zahl, welche unbelastet in die Höhe gehn, das siegreiche Wirken der Starrheit versinnlicht. Während in der antiken Baukunst das Streben und Drängen von oben nach unten eben so wohl vertreten und dargelegt ist, wie das von unten nach oben; so herrscht hier das letztere entschieden vor: wodurch auch jene oft bemerkte Analogie mit dem Krystall entsteht, da dessen Anschießen ebenfalls mit Ueberwältigung der Schwere geschieht. Wenn wir nun diesen Sinn und Grundgedanken der Gothischen Baukunst unterlegen und diese dadurch als gleichberechtigten Gegensatz der antiken aufstellen wollten; so wäre dagegen zu erinnern, daß der Kampf zwischen Starrheit und Schwere, welchen die antike Baukunst so offen und naiv darlegt, ein wirklicher und wahrer, in der Natur gegründeter ist; die gänzliche Ueberwindung der Schwere durch die Starrheit hingegen ein bloßer Schein bleibt, eine Fiktion, durch Täuschung beglaubigt. – Wie aus dem hier angegebenen Grundgedanken und den oben bemerkten Eigenthümlichkeiten der Gothischen Baukunst der mysteriöse und hyperphysische Charakter, welcher derselben zuerkannt wird, hervorgeht, wird Jeder sich leicht deutlich machen können. Hauptsächlich entsteht er, wie schon erwähnt, dadurch, daß hier das Willkürliche an die Stelle des rein Rationellen, sich als durchgängige Angemessenheit des Mittels zum Zweck Kundgebenden, getreten ist. Das viele eigentlich Zwecklose und doch so sorgfältig Vollendete erregt die Voraussetzung unbekannter, unerforschlicher, geheimer Zwecke, d.i. das mysteriöse Ansehn. Hingegen ist die glänzende Seite der Gothischen Kirchen die innere; weil hier die Wirkung des von schlanken, krystallinisch aufstrebenden Pfeilern getragenen, hoch hinaufgehobenen und, bei verschwundener Last, ewige Sicherheit verheißenden Kreuzgewölbes auf das Gemüth eindringt, die meisten der erwähnten Uebelstände aber draußen liegen. An antiken Gebäuden ist die Außenseite die vortheilhaftere; weil man dort Stütze und Last besser übersieht, im Innern hingegen die flache Decke stets etwas Niederdrückendes und Prosaisches behält. An den Tempeln der Alten war auch meistentheils, bei vielen und großen Außenwerken, das eigentliche Innere klein. Einen erhabeneren Anstrich erhielt es durch das Kugelgewölbe einer Kuppel, wie im Pantheon, von welcher daher auch die Italiäner, in diesem Stil bauend, den ausgedehntesten Gebrauch gemacht haben. Dazu stimmt, daß die Alten, als südliche Völker, mehr im Freien lebten, als die nordischen Nationen, welche die Gothische Baukunst vorgezogen haben. – Wer nun aber schlechterdings die Gothische Baukunst als eine wesentliche und berechtigte gelten lassen will, mag, wenn er zugleich Analogien liebt, sie den negativen Pol der Architektur, oder auch die Moll-Tonart derselben benennen. – Im Interesse des guten Geschmacks muß ich wünschen, daß große Geldmittel dem objektiv, d.h. wirklich Guten und Rechten, dem an sich Schönen, zugewendet werden, nicht aber Dem, dessen Werth bloß auf Ideenassociationen beruht. Wenn ich nun sehe, wie dieses ungläubige Zeitalter die vom gläubigen Mittelalter unvollendet gelassenen Gothischen Kirchen so emsig ausbaut, kommt es mir vor, als wolle man das dahingeschiedene Christenthum einbalsamiren.

Kapitel 36. Vereinzelte Bemerkungen zur Aesthetik der bildenden Künste

In der Skulptur sind Schönheit und Grazie die Hauptsache: in der Malerei aber erhalten Ausdruck, Leidenschaft, Charakter das Uebergewicht; daher von der Forderung der Schönheit eben so viel nachgelassen werden muß. Denn eine durchgängige Schönheit aller Gestalten, wie die Skulptur sie fordert, würde dem Charakteristischen Abbruch thun, auch durch die Monotonie ermüden. Demnach darf die Malerei auch häßliche Gesichter und abgezehrte Gestalten darstellen: die Skulptur hingegen verlangt Schönheit, wenn auch nicht stets vollkommene, durchaus aber Kraft und Fülle der Gestalten. Folglich ist ein magerer Christus am Kreuz, ein von Alter und Krankheit abgezehrter, sterbender heiliger Hieronymus, wie das Meisterstück Domenichino's, ein für die Malerei passender Gegenstand: hingegen der durch Fasten auf Haut und Knochen reducirte Johannes der Täufer, in Marmor, von Donatello, auf der Gallerie zu Florenz, wirkt, trotz der meisterhaften Ausführung, widerlich. – Von diesem Gesichtspunkt aus scheint die Skulptur der Bejahung, die Malerei der Verneinung des Willens zum Leben angemessen, und hieraus ließe sich erklären, warum die Skulptur die Kunst der Alten, die Malerei die der christlichen Zeiten gewesen ist. –

Bei der § 45 des ersten Bandes gegebenen Auseinandersetzung, daß das Herausfinden, Erkennen und Feststellen des Typus der menschlichen Schönheit auf einer gewissen Anticipation derselben beruht und daher zum Theil a priori begründet ist, finde ich noch hervorzuheben, daß diese Anticipation dennoch der Erfahrung bedarf, um durch sie angeregt zu werden; analog dem Instinkt der Thiere, welcher, obwohl das Handeln a priori leitend, dennoch in den Einzelheiten desselben der Bestimmung durch Motive bedarf. Die Erfahrung und Wirklichkeit nämlich hält dem Intellekt des Künstlers menschliche Gestalten vor, welche, im einen oder andern Theil, der Natur mehr oder minder gelungen sind, ihn gleichsam um sein Urtheil darüber befragend, und ruft so, nach Sokratischer Methode, aus jener dunkeln Anticipation die deutliche und bestimmte Erkenntniß des Ideals hervor. Dieserhalb leistete es den Griechischen Bildhauern allerdings großen Vorschub, daß Klima und Sitte des Landes ihnen den ganzen Tag Gelegenheit gaben, halb nackte Gestalten, und in den Gymnasien auch ganz nackte zu sehn. Dabei forderte jedes Glied ihren plastischen Sinn auf zur Beurtheilung und zur Vergleichung desselben mit dem Ideal, welches unentwickelt in ihrem Bewußtseyn lag. So übten sie beständig ihr Urtheil an allen Formen und Gliedern, bis zu den feinsten Nüancen derselben herab; wodurch denn allmälig ihre ursprünglich nur dumpfe Anticipation des Ideals menschlicher Schönheit zu solcher Deutlichkeit des Bewußtseyns erhoben werden konnte, daß sie fähig wurden, dasselbe im Kunstwerk zu objektiviren. – Auf ganz analoge Weise ist dem Dichter, zur Darstellung der Charaktere, eigene Erfahrung nützlich und nöthig. Denn obgleich er nicht nach der Erfahrung und empirischen Notizen arbeitet, sondern nach dem klaren Bewußtseyn des Wesens der Menschheit, wie er solches in seinem eigenen Innern findet; so dient doch diesem Bewußtseyn die Erfahrung zum Schema, giebt ihm Anregung und Uebung. Sonach erhält seine Erkenntniß der menschlichen Natur und ihrer Verschiedenheiten, obwohl sie in der Hauptsache a priori und anticipirend verfährt, doch erst durch die Erfahrung Leben, Bestimmtheit und Umfang. – Dem so bewunderungswürdigen Schönheitssinn der Griechen aber, welcher sie allein, unter allen Völkern der Erde, befähigte, den wahren Normaltypus der menschlichen Gestalt herauszufinden und demnach die Musterbilder der Schönheit und Grazie für alle Zeiten zur Nachahmung aufzustellen, können wir, auf unser voriges Buch und Kapitel 44 im folgenden uns stützend, noch tiefer auf den Grund gehn, und sagen: Das Selbe, was, wenn es vom Willen unzertrennt bleibt, Geschlechtstrieb mit fein sichtender Auswahl, d.i. Geschlechtsliebe (die bei den Griechen bekanntlich großen Verirrungen unterworfen war), giebt; eben Dieses wird, wenn es, durch das Vorhandenseyn eines abnorm überwiegenden Intellekts, sich vom Willen ablöst und doch thätig bleibt, zum objektiven Schönheitssinn für menschliche Gestalt, welcher nun zunächst sich zeigt als urtheilender Kunstsinn, sich aber steigern kann, bis zur Auffindung und Darstellung der Norm aller Theile und Proportionen; wie dies der Fall war im Phidias, Praxiteles, Skopas u.s.w. – Alsdann geht in Erfüllung, was Goethe den Künstler sagen läßt:

Daß ich mit Göttersinn

Und Menschenhand

Vermöge zu bilden,

Was bei meinem Weib'

Ich animalisch kann und muß.

Und auch hier abermals analog, wird im Dichter eben Das, was, wenn es vom Willen unzertrennt bliebe, bloße Weltklugheit gäbe, wenn es, durch das abnorme Ueberwiegen des Intellekts, sich vom Willen sondert, zur Fähigkeit objektiver, dramatischer Darstellung. –

Die moderne Skulptur ist, was immer sie auch leisten mag, doch der modernen lateinischen Poesie analog und, wie diese, ein Kind der Nachahmung, aus Reminiscenzen entsprungen. Läßt sie sich beigehn, originell seyn zu wollen, so geräth sie alsbald auf Abwege, namentlich auf den schlimmen, nach der vorgefundenen Natur, statt nach den Proportionen der Alten zu formen. Canova, Thorwaldsen u.a.m. sind dem Johannes Secundus und Owenus zu vergleichen. Mit der Architektur verhält es sich eben so: allein da ist es in der Kunst selbst gegründet, deren rein ästhetischer Theil von geringem Umfange ist und von den Alten bereits erschöpft wurde; daher der moderne Baumeister nur in der weisen Anwendung desselben sich hervorthun kann; und soll er wissen, daß er stets so weit vom guten Geschmack sich entfernt, als er vom Stil und Vorbild der Griechen abgeht. –

Die Kunst des Malers, bloß betrachtet sofern sie den Schein der Wirklichkeit hervorzubringen bezweckt, ist im letzten Grunde darauf zurückzuführen, daß er Das, was beim Sehn die bloße Empfindung ist, also die Affektion der Retina, d.i. die allein unmittelbar gegebene Wirkung, rein zu sondern versteht von ihrer Ursache, d.i. den Objekten der Außenwelt, deren Anschauung im Verstande allererst daraus entsteht; wodurch er, wenn die Technik hinzukommt, im Stande ist, die selbe Wirkung im Auge durch eine ganz andere Ursache, nämlich aufgetragene Farbenflecke, hervorzubringen, woraus dann im Verstande des Betrachters, durch die unausbleibliche Zurückführung auf die gewöhnliche Ursache, die nämliche Anschauung wieder entsteht. –

Wenn man betrachtet, wie in jedem Menschengesicht etwas so ganz Ursprüngliches, so durchaus Originelles liegt und dasselbe eine Ganzheit zeigt, welche nur einer aus lauter nothwendigen Theilen bestehenden Einheit zukommen kann, vermöge welcher wir ein bekanntes Individuum, aus so vielen Tausenden, selbst nach langen Jahren wiedererkennen, obgleich die möglichen Verschiedenheiten menschlicher Gesichtszüge, zumal einer Rasse, innerhalb äußerst enger Gränzen liegen; so muß man bezweifeln, daß etwas von so wesentlicher Einheit und so großer Ursprünglichkeit je aus einer andern Quelle hervorgehn könne, als aus den geheimnißvollen Tiefen des Innern der Natur: daraus aber würde folgen, daß kein Künstler fähig seyn könne, die ursprüngliche Eigenthümlichkeit eines Menschengesichtes wirklich zu ersinnen, noch auch nur, sie aus Reminiscenzen naturgemäß zusammenzusetzen. Was er demnach in dieser Art zu Stande brächte, würde immer nur eine halbwahre, ja vielleicht eine unmögliche Zusammensetzung seyn: denn wie sollte er eine wirkliche physiognomische Einheit zusammensetzen, da ihm doch das Princip dieser Einheit eigentlich unbekannt ist? Danach muß man bei jedem von einem Künstler bloß ersonnenen Gesicht zweifeln, ob es in der That ein mögliches sei, und ob nicht die Natur, als Meister aller Meister, es für eine Pfuscherei erklären würde, indem sie völlige Widersprüche darin nachwiese. Dies würde allerdings zu dem Grundsatz führen, daß auf historischen Bildern immer nur Porträtte figuriren dürften, welche dann freilich mit der größten Sorgfalt auszuwählen und in etwas zu idealisiren wären. Bekanntlich haben große Künstler immer gern nach lebenden Modellen gemalt und viele Porträtte angebracht. –

Obgleich, wie im Text ausgeführt, der eigentliche Zweck der Malerei, wie der Kunst überhaupt, ist, uns die Auffassung der (Platonischen) Ideen der Wesen dieser Welt zu erleichtern, wobei wir zugleich in den Zustand des reinen, d.i. willenlosen, Erkennens versetzt werden; so kommt ihr außerdem noch eine davon unabhängige und für sich gehende Schönheit zu, welche hervorgebracht wird durch die bloße Harmonie der Farben, das Wohlgefällige der Gruppirung, die günstige Vertheilung des Lichts und Schattens und den Ton des ganzen Bildes. Diese ihr beigegebene, untergeordnete Art der Schönheit befördert den Zustand des reinen Erkennens und ist in der Malerei Das, was in der Poesie die Diktion, das Metrum und der Reim ist: Beide nämlich sind nicht das Wesentliche, aber das zuerst und unmittelbar Wirkende. –

Zu meinem, im ersten Bande § 50, über die Unstatthaftigkeit der Allegorie in der Malerei abgegebenen Urtheil bringe ich noch einige Belege bei. Im Palast Borghese, zu Rom, befindet sich folgendes Bild von Michael Angelo Caravaggio: Jesus, als Kind von etwan zehn Jahren, tritt einer Schlange auf den Kopf, aber ganz ohne Furcht und mit größter Gelassenheit, und eben so gleichgültig bleibt dabei seine ihn begleitende Mutter: daneben steht die heilige Elisabeth, feierlich und tragisch zum Himmel blickend. Was möchte wohl bei dieser kyriologischen Hieroglyphe ein Mensch denken, der nie etwas vernommen hätte vom Samen des Weibes, welcher der Schlange den Kopf zertreten soll? – Zu Florenz, im Bibliotheksaal des Palastes Riccardi, finden wir auf dem von Luca Giordano gemalten Plafond folgende Allegorie, welche besagen soll, daß die Wissenschaft den Verstand aus den Banden der Unwissenheit befreit: der Verstand ist ein starker Mann, von Stricken umwunden, die eben abfallen: eine Nymphe hält ihm einen Spiegel vor, eine andere reicht ihm einen abgelösten großen Flügel: darüber sitzt die Wissenschaft auf einer Kugel und, mit einer Kugel in der Hand, neben ihr die nackte Wahrheit. – Zu Ludwigsburg bei Stuttgart zeigt uns ein Bild die Zeit, als Saturn, mit einer Scheere dem Amor die Flügel beschneidend: wenn das besagen soll, daß, wann wir altern, der Unbestand in der Liebe sich schon giebt; so wird es hiemit wohl seine Richtigkeit haben. –

Meine Lösung des Problems, warum der Laokoon nicht schreit, zu bekräftigen, diene noch Folgendes. Von der verfehlten Wirkung der Darstellung des Schreiens durch die Werke der bildenden, wesentlich stummen Künste, kann man sich faktisch überzeugen an einem auf der Kunstakademie zu Bologna befindlichen Bethlehemitischen Kindermord von Guido Reni, auf welchem dieser große Künstler den Mißgriff begangen hat, sechs schreiende Mundaufreißer zu malen. – Wer es noch deutlicher haben will, denke sich eine pantomimische Darstellung auf der Bühne, und in irgend einer Scene derselben einen dringenden Anlaß zum Schreien einer der Personen: wollte nun der diese darstellende Tänzer das Geschrei dadurch ausdrücken, daß er eine Weile mit weit aufgesperrtem Munde dastände; so würde das laute Gelächter des ganzen Hauses die Abgeschmacktheit der Sache bezeugen. – Da nun demnach aus Gründen, welche nicht im darzustellenden Gegenstande, sondern im Wesen der darstellenden Kunst liegen, das Schreien des Laokoon unterbleiben mußte; so entstand hieraus dem Künstler die Aufgabe, eben dieses Nicht-Schreien zu motiviren, um es uns plausibel zu machen, daß ein Mensch in solcher Lage nicht schreie. Diese Aufgabe hat er dadurch gelöst, daß er den Schlangenbiß nicht als schon erfolgt, auch nicht als noch drohend, sondern als gerade jetzt und zwar in die Seite geschehend darstellte: denn dadurch wird der Unterleib eingezogen, das Schreien daher unmöglich gemacht. Diesen nächsten, eigentlich aber nur sekundären und untergeordneten Grund der Sache hat Goethe richtig herausgefunden und ihn dargelegt am Ende des elften Buchs seiner Selbstbiographie, wie auch im Aufsatz über den Laokoon im ersten Heft der Propyläen; aber der entferntere, primäre, jenen bedingende Grund ist der von mir dargelegte. Ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß ich hier zu Goethe wieder im selben Verhältniß stehe, wie hinsichtlich der Theorie der Farbe. – In der Sammlung des Herzogs von Aremberg zu Brüssel befindet sich ein antiker Kopf des Laokoon, welcher später aufgefunden worden. Der Kopf in der weltberühmten Gruppe ist aber kein restaurirter, wie auch aus Goethes specieller Tafel aller Restaurationen dieser Gruppe, welche sich am Ende des ersten Bandes der Propyläen befindet, hervorgeht und zudem dadurch bestätigt wird, daß der später gefundene Kopf dem der Gruppe höchst ähnlich ist. Wir müssen also annehmen, daß noch eine andere antike Repetition der Gruppe existirt hat, welcher der Arembergische Kopf angehörte. Derselbe übertrifft, meiner Meinung nach, sowohl an Schönheit als an Ausdruck den der Gruppe: den Mund hat er bedeutend weiter offen, als dieser, jedoch nicht bis zum eigentlichen Schreien.

Kapitel 37. Zur Aesthetik der Dichtkunst

Als die einfachste und richtigste Definition der Poesie möchte ich diese aufstellen, daß sie die Kunst ist, durch Worte die Einbildungskraft ins Spiel zu versetzen. Wie sie dies zu Wege bringt, habe ich im ersten Bande, § 51, angegeben. Eine specielle Bestätigung des dort Gesagten giebt folgende Stelle aus einem seitdem veröffentlichten Briefe Wielands an Merck: »Ich habe drittehalb Tage über eine einzige Strophe zugebracht, wo im Grunde die Sache auf einem einzigen Worte, das ich brauchte und nicht finden konnte, beruhte. Ich drehte und wandte das Ding und mein Gehirn nach allen Seiten; weil ich natürlicherweise, wo es um ein Gemälde zu thun ist, gern die nämliche bestimmte Vision, welche vor meiner Stirn schwebte, auch vor die Stirn meiner Leser bringen möchte, und dazu oft, ut nosti, von einem einzigen Zuge, oder Drucker, oder Reflex, Alles abhängt.« (Briefe an Merck, herausgegeben von Wagner, 1835, S. 193.) – Dadurch, daß die Phantasie des Lesers der Stoff ist, in welchem die Dichtkunst ihre Bilder darstellt, hat diese den Vortheil, daß die nähere Ausführung und die feineren Züge in der Phantasie eines Jeden so ausfallen, wie es seiner Individualität, seiner Erkenntnißsphäre und seiner Laune gerade am angemessensten ist und ihn daher am lebhaftesten anregt; statt daß die bildenden Künste sich nicht so anbequemen können, sondern hier ein Bild, eine Gestalt Allen genügen soll: diese aber wird doch immer, in Etwas, das Gepräge der Individualität des Künstlers, oder seines Modells, tragen, als einen subjektiven, oder zufälligen, nicht wirksamen Zusatz; wenn gleich um so weniger, je objektiver, d.h. genialer der Künstler ist. Schon hieraus ist es zum Theil erklärlich, daß die Werke der Dichtkunst eine viel stärkere, tiefere und allgemeinere Wirkung ausüben, als Bilder und Statuen: diese nämlich lassen das Volk meistens ganz kalt, und überhaupt sind die bildenden die am schwächsten wirkenden Künste. Hiezu giebt einen sonderbaren Beleg das so häufige Auffinden und Entdecken von Bildern großer Meister in Privathäusern und allerlei Lokalitäten, wo sie, viele Menschenalter hindurch, nicht etwan vergraben und versteckt, sondern bloß unbeachtet, also wirkungslos, gehangen haben. Zu meiner Zeit in Florenz (1823) wurde sogar eine Raphael'sche Madonna entdeckt, welche eine lange Reihe von Jahren hindurch im Bedientenzimmer eines Palastes (im Quartiere di S. Spirito) an der Wand gehangen hatte: und Dies geschieht unter Italiänern, dieser vor allen übrigen mit Schönheitssinn begabten Nation. Es beweist, wie wenig direkte und unvermittelte Wirkung die Werke der bildenden Künste haben, und daß ihre Schätzung weit mehr, als die aller andern, der Bildung und Kenntniß bedarf. Wie unfehlbar macht hingegen eine schöne, das Herz treffende Melodie ihre Reise um das Erdenrund, und wandert eine vortreffliche Dichtung von Volk zu Volk. Daß die Großen und Reichen gerade den bildenden Künsten die kräftigste Unterstützung widmen und nur auf ihre Werke beträchtliche Summen verwenden, ja, heut zu Tage eine Idololatrie, im eigentlichen Sinne, für ein Bild von einem berühmten, alten Meister den Werth eines großen Landgutes hingiebt, Dies beruht hauptsächlich auf der Seltenheit der Meisterstücke, deren Besitz daher dem Stolze zusagt, sodann aber auch darauf, daß der Genuß derselben gar wenig Zeit und Anstrengung erfordert und jeden Augenblick, auf einen Augenblick, bereit ist; während Poesie und selbst Musik ungleich beschwerlichere Bedingungen stellen. Dem entsprechend lassen die bildenden Künste sich auch entbehren: ganze Völker, z.B. die Mohammedanischen, sind ohne sie; aber ohne Musik und Poesie ist keines.

Die Absicht nun aber, in welcher der Dichter unsere Phantasie in Bewegung setzt, ist, uns die Ideen zu offenbaren, d.h. an einem Beispiel zu zeigen, was das Leben, was die Welt sei. Dazu ist die erste Bedingung, daß er es selbst erkannt habe: je nachdem dies tief oder flach geschehn ist, wird seine Dichtung ausfallen. Demgemäß giebt es unzählige Abstufungen, wie der Tiefe und Klarheit in der Auffassung der Natur der Dinge, so der Dichter. Jeder von diesen muß inzwischen sich für vortrefflich halten, sofern er richtig dargestellt hat was er erkannte, und sein Bild seinem Original entspricht: er muß sich dem besten gleich stellen, weil er in dessen Bilde auch nicht mehr erkennt, als in seinem eigenen, nämlich so viel, wie in der Natur selbst; da sein Blick nun ein Mal nicht tiefer eindringt. Der beste selbst aber erkennt sich als solchen daran, daß er sieht wie flach der Blick der andern war, wie Vieles noch dahinter lag, das sie nicht wiedergeben konnten, weil sie es nicht sahen, und wie viel weiter sein Blick und sein Bild reicht. Verstände er die Flachen so wenig, wie sie ihn; da müßte er verzweifeln: denn gerade weil schon ein außerordentlicher Mann dazu gehört, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die schlechten Poeten ihn aber so wenig hochschätzen können, wie er sie, hat auch er lange an seinem eigenen Beifall zu zehren, ehe der der Welt nachkommt. – Inzwischen wird ihm auch jener verkümmert, indem man ihm zumuthet, er solle fein bescheiden seyn. Es ist aber so unmöglich, daß wer Verdienste hat und weiß was sie kosten, selbst blind dagegen sei, wie daß ein Mann von sechs Fuß Höhe nicht merke, daß er die Andern überragt. Ist von der Basis des Thurms bis zur Spitze 300 Fuß; so ist zuverlässig eben so viel von der Spitze bis zur Basis. Horaz, Lukrez, Ovid und fast alle Alten haben stolz von sich geredet, desgleichen Dante, Shakespeare, Bako von Verulam und Viele mehr. Daß Einer ein großer Geist seyn könne, ohne etwas davon zu merken, ist eine Absurdität, welche nur die trostlose Unfähigkeit sich einreden kann, damit sie das Gefühl der eigenen Nichtigkeit auch für Bescheidenheit halten könne. Ein Engländer hat witzig und richtig bemerkt, daß merit und modesty nichts Gemeinsames hätten, als den AnfangsbuchstabenA7. Die bescheidenen Celebritäten habe ich stets in Verdacht, daß sie wohl Recht haben könnten; und Corneille sagt geradezu:

La fausse humilité ne met plus en crédit:

Je sçais ce que je vaux, et crois ce qu'on m'en dit.

Endlich hat Goethe es unumwunden gesagt: »Nur die Lumpe sind bescheiden«. Aber noch unfehlbarer wäre die Behauptung gewesen, daß Die, welche so eifrig von Andern Bescheidenheit fordern, auf Bescheidenheit dringen, unablässig rufen: »Nur bescheiden! um Gotteswillen, nur bescheiden!« zuverlässig Lumpe sind, d.h. völlig verdienstlose Wichte, Fabrikwaare der Natur, ordentliche Mitglieder des Packs der Menschheit. Denn wer selbst Verdienste hat, läßt auch Verdienste gelten, – versteht sich ächte und wirkliche. Aber Der, dem selbst alle Vorzüge und Verdienste mangeln, wünscht, daß es gar keine gäbe: ihr Anblick an Andern spannt ihn auf die Folter; der blasse, grüne, gelbe Neid verzehrt sein Inneres: er möchte alle persönlich Bevorzugten vernichten und ausrotten: muß er sie aber leider leben lassen, so soll es nur unter der Bedingung seyn, daß sie ihre Vorzüge verstecken, völlig verleugnen, ja abschwören. Dies also ist die Wurzel der so häufigen Lobreden auf die Bescheidenheit. Und wenn solche Präkonen derselben Gelegenheit haben, das Verdienst im Entstehn zu ersticken, oder wenigstens zu verhindern, daß es sich zeige, daß es bekannt werde, – wer wird zweifeln, daß sie es thun? Denn dies ist die Praxis zu ihrer Theorie. –

Wenn nun gleich der Dichter, wie jeder Künstler, uns immer nur das Einzelne, Individuelle, vorführt; so ist was er erkannte und uns dadurch erkennen lassen will, doch die (Platonische) Idee, die ganze Gattung: daher wird in seinen Bildern gleichsam der Typus der menschlichen Charaktere und Situationen ausgeprägt seyn. Der erzählende, auch der dramatische Dichter nimmt aus dem Leben das ganz Einzelne heraus und schildert es genau in seiner Individualität, offenbart aber hiedurch das ganze menschliche Daseyn; indem er zwar scheinbar es mit dem Einzelnen, in Wahrheit aber mit Dem, was überall und zu allen Zeiten ist, zu thun hat. Hieraus entspringt es, daß Sentenzen, besonders der dramatischen Dichter, selbst ohne generelle Aussprüche zu seyn, im wirklichen Leben häufige Anwendung finden. – Zur Philosophie verhält sich die Poesie, wie die Erfahrung sich zur empirischen Wissenschaft verhält. Die Erfahrung nämlich macht uns mit der Erscheinung im Einzelnen und beispielsweise bekannt: die Wissenschaft umfaßt das Ganze derselben, mittelst allgemeiner Begriffe. So will die Poesie uns mit den (Platonischen) Ideen der Wesen mittelst des Einzelnen und beispielsweise bekannt machen: die Philosophie will das darin sich aussprechende innere Wesen der Dinge im Ganzen und Allgemeinen erkennen lehren. – Man sieht schon hieran, daß die Poesie mehr den Charakter der Jugend, die Philosophie den des Alters trägt. In der That blüht die Dichtergabe eigentlich nur in der Jugend: auch die Empfänglichkeit für Poesie ist in der Jugend oft leidenschaftlich: der Jüngling hat Freude an Versen als solchen und nimmt oft mit geringer Waare vorlieb. Mit den Jahren nimmt diese Neigung allmälig ab, und im Alter zieht man die Prosa vor. Durch jene poetische Tendenz der Jugend wird dann leicht der Sinn für die Wirklichkeit verdorben. Denn von dieser unterscheidet die Poesie sich dadurch, daß in ihr das Leben interessant und doch schmerzlos an uns vorüberfließt; dasselbe hingegen in der Wirklichkeit, so lange es schmerzlos ist, uninteressant ist, sobald es aber interessant wird, nicht ohne Schmerzen bleibt. Der früher in die Poesie als in die Wirklichkeit eingeweihte Jüngling verlangt nun von dieser, was nur jene leisten kann: dies ist eine Hauptquelle des Unbehagens, welches die vorzüglichsten Jünglinge drückt. –

Metrum und Reim sind eine Fessel, aber auch eine Hülle, die der Poet um sich wirft, und unter welcher es ihm vergönnt ist zu reden, wie er sonst nicht dürfte: und das ist es, was uns freut. – Er ist nämlich für Alles was er sagt nur halb verantwortlich: Metrum und Reim müssen es zur andern Hälfte vertreten. – Das Metrum, oder Zeitmaaß, hat, als bloßer Rhythmus, sein Wesen allein in der Zeit, welche eine reine Anschauung a priori ist, gehört also, mit Kant zu reden, bloß der reinen Sinnlichkeit an; hingegen ist der Reim Sache der Empfindung im Gehörorgan, also der empirischen Sinnlichkeit. Daher ist der Rhythmus ein viel edleres und würdigeres Hülfsmittel, als der Reim, den die Alten demnach verschmähten, und der in den unvollkommenen, durch Korruption der früheren und in barbarischen Zeiten entstandenen Sprachen seinen Ursprung fand. Die Armsäligkeit französischer Poesie beruht hauptsächlich darauf, daß diese, ohne Metrum, auf den Reim allein beschränkt ist, und wird dadurch vermehrt, daß sie, um ihren Mangel an Mitteln zu verbergen, durch eine Menge pedantischer Satzungen ihre Reimerei erschwert hat, wie z.B. daß nur gleich geschriebene Silben reimen, als wär' es für's Auge, nicht für's Ohr; daß der Hiatus verpönt ist, eine Menge Worte nicht vorkommen dürfen u. dgl. m., welchem Allen die neuere französische Dichterschule ein Ende zu machen sucht. – In keiner Sprache jedoch macht, wenigstens für mich, der Reim einen so wohlgefälligen und mächtigen Eindruck, wie in der lateinischen: die mittelalterlichen gereimten lateinischen Gedichte haben einen eigenthümlichen Zauber. Man muß es daraus erklären, daß die lateinische Sprache ohne allen Vergleich vollkommener, schöner und edler ist, als irgend eine der neueren, und nun in dem, eben diesen angehörigen, von ihr selbst aber ursprünglich verschmähten Putz und Flitter so anmuthig einhergeht.

Der ernsthaften Erwägung könnte es fast als ein Hochverrath gegen die Vernunft erscheinen, wenn einem Gedanken, oder seinem richtigen und reinen Ausdruck, auch nur die leiseste Gewalt geschieht, in der kindischen Absicht, daß nach einigen Silben der gleiche Wortklang wieder vernommen werde, oder auch, damit diese Silben selbst ein gewisses Hopsasa darstellen. Ohne solche Gewalt aber kommen gar wenige Verse zu Stande: denn ihr ist es zuzuschreiben, daß, in fremden Sprachen, Verse viel schwerer zu verstehn sind, als Prosa. Könnten wir in die geheime Werkstätte der Poeten sehn; so würden wir zehn Mal öfter finden, daß der Gedanke zum Reim, als daß der Reim zum Gedanken gesucht wird: und selbst im letztem Fall geht es nicht leicht ohne Nachgiebigkeit von Seiten des Gedankens ab. – Diesen Betrachtungen bietet jedoch die Verskunst Trotz, und hat dabei alle Zeiten und Völker auf ihrer Seite: so groß ist die Macht, welche Metrum und Reim auf das Gemüth ausüben, und so wirksam das ihnen eigene, geheimnißvolle lenocinium. Ich möchte Dieses daraus erklären, daß ein glücklich gereimter Vers, durch seine unbeschreiblich emphatische Wirkung, die Empfindung erregt, als ob der darin ausgedrückte Gedanke schon in der Sprache prädestinirt, ja präformirt gelegen und der Dichter ihn nur herauszufinden gehabt hätte. Selbst triviale Einfälle erhalten durch Rhythmus und Reim einen Anstrich von Bedeutsamkeit, und figuriren in diesem Schmuck, wie unter den Mädchen Alltagsgesichter durch den Putz die Augen fesseln. Ja, selbst schiefe und falsche Gedanken gewinnen durch die Versifikation einen Schein von Wahrheit. Andererseits wieder schrumpfen sogar berühmte Stellen aus berühmten Dichtern zusammen und werden unscheinbar, wenn getreu in Prosa wiedergegeben. Ist nur das Wahre schön, und ist der liebste Schmuck der Wahrheit die Nacktheit; so wird ein Gedanke, der in Prosa groß und schön auftritt, mehr wahren Werth haben, als einer, der in Versen so wirkt. – Daß nun so geringfügig, ja, kindisch scheinende Mittel, wie Metrum und Reim, eine so mächtige Wirkung ausüben, ist sehr auffallend und wohl der Untersuchung werth: ich erkläre es mir auf folgende Weise. Das dem Gehör unmittelbar Gegebene, also der bloße Wortklang, erhält durch Rhythmus und Reim eine gewisse Vollkommenheit und Bedeutsamkeit an sich selbst, indem er dadurch zu einer Art Musik wird: daher scheint er jetzt seiner selbst wegen dazuseyn und nicht mehr als bloßes Mittel, bloßes Zeichen eines Bezeichneten, nämlich des Sinnes der Worte. Durch seinen Klang das Ohr zu ergötzen, scheint seine ganze Bestimmung, mit dieser daher Alles erreicht und alle Ansprüche befriedigt zu seyn. Daß er nun aber zugleich noch einen Sinn enthält, einen Gedanken ausdrückt, stellt sich jetzt dar als eine unerwartete Zugabe, gleich den Worten zur Musik; als ein unerwartetes Geschenk, das uns angenehm überrascht und daher, indem wir gar keine Forderungen der Art machten, sehr leicht zufrieden stellt: wenn nun aber gar dieser Gedanke ein solcher ist, der an sich selbst, also auch in Prosa gesagt, bedeutend wäre; dann sind wir entzückt. Mir ist aus früher Kindheit erinnerlich, daß ich mich eine Zeit lang am Wohlklang der Verse ergötzt hatte, ehe ich die Entdeckung machte, daß sie auch durchweg Sinn und Gedanken enthielten. Demgemäß giebt es, wohl in allen Sprachen, auch eine bloße Klingklangspoesie, mit fast gänzlicher Ermangelung des Sinnes. Der Sinologe Davis, im Vorbericht zu seiner Uebersetzung des Laou-sang-urh, oder an heir in old age (London 1817); bemerkt, daß die Chinesischen Dramen zum Theil aus Versen bestehn, welche gesungen werden, und setzt hinzu: »Der Sinn derselben ist oft dunkel, und der Aussage der Chinesen selbst zufolge, ist der Zweck dieser Verse vorzüglich, dem Ohre zu schmeicheln, wobei der Sinn vernachlässigt, auch wohl der Harmonie ganz zum Opfer gebracht ist.« Wem fallen hiebei nicht die oft so schwer zu enträthselnden Chöre mancher Griechischen Trauerspiele ein?

Das Zeichen, woran man am unmittelbarsten den ächten Dichter, sowohl höherer als niederer Gattung, erkennt, ist die Ungezwungenheit seiner Reime: sie haben sich, wie durch göttliche Schickung, von selbst eingefunden: seine Gedanken kommen ihm schon in Reimen. Der heimliche Prosaiker hingegen sucht zum Gedanken den Reim; der Pfuscher zum Reim den Gedanken. Sehr oft kann man aus einem gereimten Versepaar herausfinden, welcher von beiden den Gedanken, und welcher den Reim zum Vater hat. Die Kunst besteht darin, das Letztere zu verbergen, damit nicht dergleichen Verse beinahe als bloße ausgefüllte bouts-rimés auftreten.

Meinem Gefühl zufolge (Beweise finden hier nicht Statt) ist der Reim, seiner Natur nach, bloß binär: seine Wirksamkeit beschränkt sich auf die einmalige Wiederkehr des selben Lauts und wird durch öftere Wiederholung nicht verstärkt. Sobald demnach eine Endsilbe die ihr gleichklingende vernommen hat, ist ihre Wirkung erschöpft: die dritte Wiederkehr des Tons wirkt bloß als ein abermaliger Reim, der zufällig auf den selben Klang trifft, aber ohne Erhöhung der Wirkung: er reihet sich dem vorhandenen Reime an, ohne jedoch sich mit ihm zu einem starkem Eindruck zu verbinden. Denn der erste Ton schallt nicht durch den zweiten bis zum dritten herüber: dieser ist also ein ästhetischer Pleonasmus, eine doppelte Courage, die nichts hilft. Am wenigsten verdienen daher dergleichen Reimanhäufungen die schweren Opfer, die sie in Ottavarimen, Terzerimen und Sonetten kosten, und welche die Ursache der Seelenmarter sind, unter der man bisweilen solche Produktionen liest: denn poetischer Genuß unter Kopfbrechen ist unmöglich. Daß der große dichterische Geist auch jene Formen und ihre Schwierigkeiten bisweilen überwinden und sich mit Leichtigkeit und Grazie darin bewegen kann, gereicht ihnen selbst nicht zur Empfehlung: denn an sich sind sie so unwirksam, wie beschwerlich. Und selbst bei guten Dichtern, wann sie dieser Formen sich bedienen, sieht man häufig den Kampf zwischen dem Reim und dem Gedanken, in welchem bald der eine, bald der andere den Sieg erringt, also entweder der Gedanke des Reimes wegen verkümmert, oder aber dieser mit einem schwachen à peu près abgefunden wird. Da dem so ist, halte ich es nicht für einen Beweis von Unwissenheit, sondern von gutem Geschmack, daß Shakespeare, in seinen Sonetten, jedem der Quadernarien andere Reime gegeben hat. Jedenfalls ist ihre akustische Wirkung dadurch nicht im Mindesten verringert, und kommt der Gedanke viel mehr zu seinem Rechte, als er gekonnt hätte, wenn er in die herkömmlichen Spanischen Stiefel hätte eingeschnürt werden müssen.

Es ist ein Nachtheil für die Poesie einer Sprache, wenn sie viele Worte hat, die in der Prosa nicht gebräuchlich sind, und andererseits gewisse Worte der Prosa nicht gebrauchen darf. Ersteres ist wohl am meisten im Lateinischen und Italiänischen, Letzteres im Französischen der Fall, wo es kürzlich sehr treffend la bég[u]eulerie de la langue française genannt wurde. Beides ist weniger im Englischen und am wenigsten im Deutschen zu finden. Solche der Poesie ausschließlich angehörige Worte bleiben nämlich unserm Herzen fremd, sprechen nicht unmittelbar zu uns, lassen uns daher kalt. Sie sind eine poetische Konventionssprache und gleichsam bloß gemalte Empfindungen statt wirklicher: sie schließen die Innigkeit aus. –

Der in unsern Tagen so oft besprochene Unterschied zwischen klassischer und romantischer Poesie scheint mir im Grunde darauf zu beruhen, daß jene keine andern, als die rein menschlichen, wirklichen und natürlichen Motive kennt; diese hingegen auch erkünstelte, konventionelle und imaginäre Motive als wirksam geltend macht: dahin gehören die aus dem Christlichen Mythos stammenden, sodann die des ritterlichen, überspannten und phantastischen Ehrenprincips, ferner die der abgeschmackten und lächerlichen christlichgermanischen Weiberverehrung, endlich die der faselnden und mondsüchtigen hyperphysischen Verliebtheit. Zu welcher fratzenhaften Verzerrung menschlicher Verhältnisse und menschlicher Natur diese Motive aber führen, kann man sogar an den besten Dichtern der romantischen Gattung ersehn, z.B. an Calderon. Von den Autos gar nicht zu reden, berufe ich mich nur auf Stücke wie No siempre ei peor es cierto (Nicht immer ist das Schlimmste gewiß) und El postrero duelo en España (Das letzte Duell in Spanien) und ähnliche Komödien en capa y espada: zu jenen Elementen gesellt sich hier noch die oft hervortretende Scholastische Spitzfindigkeit in der Konversation, welche damals zur Geistesbildung der höhern Stände gehörte. Wie steht doch dagegen die Poesie der Alten, welche stets der Natur treu bleibt, entschieden im Vortheil, und ergiebt sich, daß die klassische Poesie eine unbedingte, die romantische nur eine bedingte Wahrheit und Richtigkeit hat; analog der Griechischen und der Gothischen Baukunst. – Andererseits ist jedoch hier zu bemerken, daß alle dramatischen, oder erzählenden Dichtungen, welche den Schauplatz nach dem alten Griechenland oder Rom versetzen, dadurch in Nachtheil gerathen, daß unsere Kenntniß des Alterthums, besonders was das Detail des Lebens betrifft, unzureichend, fragmentarisch und nicht aus der Anschauung geschöpft ist. Dies nämlich nöthigt den Dichter Vieles zu umgehn und sich mit Allgemeinheiten zu behelfen, wodurch er ins Abstrakte geräth und sein Werk jene Anschaulichkeit und Individualisation einbüßt, welche der Poesie durchaus wesentlich ist. Dies ist es, was allen solchen Werken den eigenthümlichen Anstrich von Leerheit und Langweiligkeit giebt. Bloß Shakespeare's Darstellungen der Art sind frei davon; weil er, ohne Zaudern, unter den Namen von Griechen und Römern, Engländer seines Zeitalters dargestellt hat.-

Manchen Meisterstücken der lyrischen Poesie, namentlich einigen Oden des Horaz (man sehe z.B. die zweite des dritten Buchs) und mehreren Liedern Goethes (z, B. Schäfers Klagelied), ist vorgeworfen worden, daß sie des rechten Zusammenhanges entbehrten und voller Gedankensprünge wären. Allein hier ist der logische Zusammenhang absichtlich vernachlässigt, um ersetzt zu werden durch die Einheit der darin ausgedrückten Grundempfindung und Stimmung, als welche gerade dadurch mehr hervortritt, indem sie wie eine Schnur durch die gesonderten Perlen geht und den schnellen Wechsel der Gegenstände der Betrachtung so vermittelt, wie in der Musik den Uebergang aus einer Tonart in die andere der Septimenackord, durch welchen der in ihm fortklingende Grundton zur Dominante der neuen Tonart wird. Am deutlichsten, nämlich bis zur Uebertreibung, findet man die hier bezeichnete Eigenschaft in der Canzone des Petrarka, welche anhebt: Mai non vo' più cantar, com' io soleva. –

Wie demnach in der lyrischen Poesie das subjektive Element vorherrscht, so ist dagegen im Drama das objektive allein und ausschließlich vorhanden. Zwischen Beiden hat die epische Poesie, in allen ihren Formen und Modifikationen, von der erzählenden Romanze bis zum eigentlichen Epos, eine breite Mitte inne. Denn obwohl sie in der Hauptsache objektiv ist; so enthält sie doch ein bald mehr bald minder hervortretendes subjektives Element, welches am Ton, an der Form des Vertrags, wie auch an eingestreuten Reflexionen seinen Ausdruck findet. Wir verlieren nicht den Dichter so ganz aus den Augen, wie beim Drama.

Der Zweck des Dramas überhaupt ist, uns an einem Beispiel zu zeigen, was das Wesen und Daseyn des Menschen sei. Dabei kann nun die traurige, oder die heitere Seite derselben uns zugewendet werden, oder auch deren Uebergänge. Aber schon der Ausdruck »Wesen und Daseyn des Menschen« enthält den Keim zu der Kontroverse, ob das Wesen, d.i. die Charaktere, oder das Daseyn, d.i. das Schicksal, die Begebenheit, die Handlung, die Hauptsache sei. Uebrigens sind Beide so fest mit einander verwachsen, daß wohl ihr Begriff, aber nicht ihre Darstellung sich trennen läßt. Denn nur die Umstände, Schicksale, Begebenheiten bringen die Charaktere zur Aeußerung ihres Wesens, und nur aus den Charakteren entsteht die Handlung, aus der die Begebenheiten hervorgehn. Allerdings kann, in der Darstellung, das Eine oder das Andere mehr hervorgehoben seyn; in welcher Hinsicht das Charakterstück und das Intriguenstück die beiden Extreme bilden.

Der dem Drama mit dem Epos gemeinschaftliche Zweck, an bedeutenden Charakteren in bedeutenden Situationen, die durch Beide herbeigeführten außerordentlichen Handlungen darzustellen, wird vom Dichter am vollkommensten erreicht werden, wenn er uns zuerst die Charaktere im Zustande der Ruhe vorführt, in welchem bloß die allgemeine Färbung derselben sichtbar wird, dann aber ein Motiv eintreten läßt, welches eine Handlung herbeiführt, aus der ein neues und stärkeres Motiv entsteht, welches wieder eine bedeutendere Handlung hervorruft, die wiederum neue und immer stärkere Motive gebiert, wodurch dann, in der der Form angemessenen Frist, an die Stelle der ursprünglichen Ruhe die leidenschaftliche Aufregung tritt, in der nun die bedeutsamen Handlungen geschehn, an welchen die in den Charakteren vorhin schlummernden Eigenschaften, nebst dem Laufe der Welt, in hellem Lichte hervortreten. –

Große Dichter verwandeln sich ganz in jede der darzustellenden Personen und sprechen aus jeder derselben, wie Bauchredner; jetzt aus dem Helden, und gleich darauf aus dem jungen unschuldigen Mädchen, mit gleicher Wahrheit und Natürlichkeit: so Shakespeare und Goethe. Dichter zweiten Ranges verwandeln die darzustellende Hauptperson in sich: so Byron; wobei dann die Nebenpersonen oft ohne Leben bleiben, wie in den Werken der Mediokren auch die Hauptperson. –

Unser Gefallen am Trauerspiel gehört nicht dem Gefühl des Schönen, sondern dem des Erhabenen an; ja, es ist der höchste Grad dieses Gefühls. Denn, wie wir beim Anblick des Erhabenen in der Natur uns vom Interesse des Willens abwenden, um uns rein anschauend zu verhalten; so wenden wir bei der tragischen Katastrophe uns vom Willen zum Leben selbst ab. Im Trauerspiel nämlich wird die schreckliche Seite des Lebens uns vorgeführt, der Jammer der Menschheit, die Herrschaft des Zufalls und des Irrthums, der Fall des Gerechten, der Triumph der Bösen: also die unserm Willen geradezu widerstrebende Beschaffenheit der Welt wird uns vor Augen gebracht. Bei diesem Anblick, fühlen wir uns aufgefordert, unsern Willen vom Leben abzuwenden, es nicht mehr zu wollen und zu lieben. Gerade dadurch aber werden wir inne, daß alsdann noch etwas Anderes an uns übrig bleibt, was wir durchaus nicht positiv erkennen können, sondern bloß negativ, als Das, was nicht das Leben will. Wie der Septimenackord den Grundackord, wie die röche Farbe die grüne fordert und sogar im Auge hervorbringt; so fordert jedes Trauerspiel ein ganz anderartiges Daseyn, eine andere Welt, deren Erkenntniß uns immer nur indirekt, wie eben hier durch solche Forderung, gegeben werden kann. Im Augenblick der tragischen Katastrophe wird uns, deutlicher als jemals, die Ueberzeugung, daß das Leben ein schwerer Traum sei, aus dem wir zu erwachen haben. Insofern ist die Wirkung des Trauerspiels analog der des dynamischen Erhabenen, indem es, wie dieses, uns über den Willen und sein Interesse hinaushebt und uns so umstimmt, daß wir am Anblick, des ihm geradezu Widerstrebenden Gefallen finden. Was allem Tragischen, in welcher Gestalt es auch auftrete, den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt, ist das Aufgehn der Erkenntniß, daß die Welt, das Leben, kein wahres Genügen gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragische Geist: er leitet demnach zur Resignation hin.

Ich räume ein, daß im Trauerspiel der Alten dieser Geist der Resignation selten direkt hervortritt und ausgesprochen wird. Oedipus Koloneus stirbt zwar resignirt und willig; doch tröstet ihn die Rache an seinem Vaterland, Iphigenia Aulika ist sehr willig zu sterben; doch ist es der Gedanke an Griechenlands Wohl, der sie tröstet und die Veränderung ihrer Gesinnung hervorbringt, vermöge welcher sie den Tod, dem sie zuerst auf alle Weise entfliehen wollte, willig übernimmt. Kassandra, im Agamemnon des großen Aeschylos, stirbt willig, arkeitô bios (1306); aber auch sie tröstet der Gedanke an Rache. Herkules, in den Trachinerinnen, giebt der Nothwendigkeit nach, stirbt gelassen, aber nicht resignirt. Eben so der Hippolytos des Euripides, bei dem es uns auffällt, daß die ihn zu trösten erscheinende Artemis ihm Tempel und Nachruhm verheißt, aber durchaus nicht auf ein über das Leben hinausgehendes Daseyn hindeutet, und ihn im Sterben verläßt, wie alle Götter von dem Sterbenden weichen: – im Christenthum treten sie zu ihm heran; und eben so im Brahmanismus und Buddhaismus, wenn auch bei letzterem die Götter eigentlich exotisch sind. Hippolytos also, wie fast alle tragischen Helden der Alten, zeigt Ergebung in das unabwendbare Schicksal und den unbiegsamen Willen der Götter, aber kein Aufgeben des Willens zum Leben selbst. Wie der Stoische Gleichmuth von der Christlichen Resignation sich von Grund aus dadurch unterscheidet, daß er nur gelassenes Ertragen und gefaßtes Erwarten der unabänderlich nothwendigen Uebel lehrt, das Christenthum aber Entsagung, Aufgeben des Wollens; eben so zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unterwerfen unter die unausweichbaren Schläge des Schicksals, das Christliche Trauerspiel dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freudiges Verlassen der Welt, im Bewußtseyn ihrer Werthlosigkeit und Nichtigkeit. – Aber ich bin auch ganz der Meinung, daß das Trauerspiel der Neuern höher steht, als das der Alten. Shakespeare ist viel größer als Sophokles: gegen Goethes Iphigenia könnte man die des Euripides beinahe roh und gemein finden. Die Bakchantinnen des Euripides sind ein empörendes Machwerk zu Gunsten der heidnischen Pfaffen. Manche antike Stücke haben gar keine tragische Tendenz; wie die Alkeste und Iphigenia Taurika des Euripides: einige haben widerwärtige, oder gar ekelhafte Motive; so die Antigone und Philoktet. Fast alle zeigen das Menschengeschlecht unter der entsetzlichen Herrschaft des Zufalls und Irrthums, aber nicht die dadurch veranlaßte und davon erlösende Resignation. Alles, weil die Alten noch nicht zum Gipfel und Ziel des Trauerspiels, ja, der Lebensansicht überhaupt, gelangt waren.

Wenn demnach die Alten den Geist der Resignation, das Abwenden des Willens vom Leben, an ihren tragischen Helden selbst, als deren Gesinnung, wenig darstellen; so bleibt es dennoch die eigenthümliche Tendenz und Wirkung des Trauerspiels, jenen Geist im Zuschauer zu erwecken und jene Gesinnung, wenn auch nur vorübergehend, hervorzurufen. Die Schrecknisse auf der Bühne halten ihm die Bitterkeit und Werthlosigkeit des Lebens, also die Nichtigkeit alles seines Strebens entgegen: die Wirkung dieses Eindrucks muß seyn, daß er, wenn auch nur im dunkeln Gefühl, inne wird, es sei besser, sein Herz vom Leben loszureißen, sein Wollen davon abzuwenden, die Welt und das Leben nicht zu lieben; wodurch dann eben, in seinem tiefsten Innern, das Bewußtseyn angeregt wird, daß für ein anderartiges Wollen es auch eine andere Art des Daseyns geben müsse. – Denn wäre dies nicht, wäre nicht dieses Erheben über alle Zwecke und Güter des Lebens, dieses Abwenden von ihm und seinen Lockungen, und das hierin schon liegende Hinwenden nach einem anderartigen, wiewohl uns völlig unfaßbaren Daseyn die Tendenz des Trauerspiels; wie wäre es dann überhaupt möglich, daß die Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens, im grellsten Lichte uns vor Augen gebracht, wohlthätig auf uns wirken und ein hoher Genuß für uns seyn könnte? Furcht und Mitleid, in deren Erregung Aristoteles den letzten Zweck des Trauerspiels setzt, gehören doch wahrhaftig nicht an sich selbst zu den angenehmen Empfindungen: sie können daher nicht Zweck, sondern nur Mittel seyn. – Also Aufforderung zur Abwendung des Willens vom Leben bleibt die wahre Tendenz des Trauerspiels, der letzte Zweck der absichtlichen Darstellung der Leiden der Menschheit, und ist es mithin auch da, wo diese resignirte Erhebung des Geistes nicht am Helden selbst gezeigt, sondern bloß im Zuschauer angeregt wird, durch den Anblick großen, unverschuldeten, ja, selbst verschuldeten Leidens. – Wie die Alten, so begnügen auch Manche der Neuern sich damit, durch die objektive Darstellung menschlichen Unglücks im Großen den Zuschauer in die beschriebene Stimmung zu versetzen; während Andere diese durch das Leiden bewirkte Umkehrung der Gesinnung am Helden selbst darstellen: Jene geben gleichsam nur die Prämissen, und überlassen die Konklusion dem Zuschauer; während diese die Konklusion, oder die Moral der Fabel, mitgeben, als Umkehrung der Gesinnung des Helden, auch wohl als Betrachtung im Munde des Chores, wie z.B. Schiller in der Braut von Messina: »Das Leben ist der Güter höchstes nicht.« Hier sei es erwähnt, daß selten die ächt tragische Wirkung der Katastrophe, also die durch sie herbeigeführte Resignation und Geisteserhebung der Helden, so rein motivirt und deutlich ausgesprochen hervortritt, wie in der Oper Norma, wo sie eintritt in dem Duett Qual cor tradisti, qual cor perdesti, in welchem die Umwendung des Willens durch die plötzlich eintretende Ruhe der Musik deutlich bezeichnet wird. Ueberhaupt ist dieses Stück, – ganz abgesehn von seiner vortrefflichen Musik, wie auch andererseits von der Diktion, welche nur die eines Operntextes seyn darf, – und allein seinen Motiven und seiner innern Oekonomie nach betrachtet, ein höchst vollkommenes Trauerspiel, ein wahres Muster tragischer Anlage der Motive, tragischer Fortschreitung der Handlung und tragischer Entwickelung, zusammt der über die Welt erhebenden Wirkung dieser auf die Gesinnung der Helden, welche dann auch auf den Zuschauer übergeht: ja, die hier erreichte Wirkung ist um so unverfänglicher und für das wahre Wesen des Trauerspiels bezeichnender, als keine Christen, noch Christliche Gesinnungen darin vorkommen. –

Die den Neuern so oft vorgeworfene Vernachlässigung der Einheit der Zeit und des Orts wird nur dann fehlerhaft, wann sie so weit geht, daß sie die Einheit der Handlung aufhebt; wo dann nur noch die Einheit der Hauptperson übrig bleibt, wie z.B. in »Heinrich VIII.« von Shakespeare. Die Einheit der Handlung braucht aber auch nicht so weit zu gehn, daß immerfort von der selben Sache geredet wird, wie in den Französischen Trauerspielen, welche sie überhaupt so strenge einhalten, daß der dramatische Verlauf einer geometrischen Linie ohne Breite gleicht: da heißt es stets »Nur vorwärts! Pensez à votre affaire!« und die Sache wird ganz geschäftsmäßig expedirt und depeschirt, ohne daß man sich mit Allotrien, die nicht zu ihr gehören, aufhalte, oder rechts, oder links umsehe. Das Shakespearesche Trauerspiel hingegen gleicht einer Linie, die auch Breite hat: es läßt sich Zeit, exspatiatur: es kommen Reden, sogar ganze Scenen vor, welche die Handlung nicht fördern, sogar sie nicht eigentlich angehn, durch welche wir jedoch die handelnden Personen, oder ihre Umstände näher kennen lernen, wonach wir dann auch die Handlung gründlicher verstehn. Diese bleibt zwar die Hauptsache, jedoch nicht so ausschließlich, daß wir darüber vergäßen, daß, in letzter Instanz, es auf die Darstellung des menschlichen Wesens und Daseyns überhaupt abgesehn ist. –

Der dramatische, oder epische Dichter soll wissen, daß er das Schicksal ist, und daher unerbittlich seyn, wie dieses; – imgleichen, daß er der Spiegel des Menschengeschlechts ist, und daher sehr viele schlechte, mitunter ruchlose Charaktere auftreten lassen, wie auch viele Thoren, verschrobene Köpfe und Narren, dann aber hin und wieder einen Vernünftigen, einen Klugen, einen Redlichen, einen Guten und nur als seltenste Ausnahme einen Edelmüthigen. Im ganzen Homer ist, meines Bedünkens, kein eigentlich edelmüthiger Charakter dargestellt, wiewohl manche gute und redliche: im ganzen Shakespeare mögen allenfalls ein Paar edle, doch keineswegs überschwänglich edle Charaktere zu finden seyn, etwan die Kordelia, der Koriolan, schwerlich mehr; hingegen wimmelt es darin von der oben bezeichneten Gattung. Aber Ifflands und Kotzebues Stücke haben viele edelmüthige Charaktere; während Goldoni es gehalten hat, wie ich oben anempfahl, wodurch er zeigt, daß er höher steht. Hingegen Lessings Minna von Barnhelm laborirt stark an zu vielem und allseitigem Edelmuth: aber gar so viel Edelmuth, wie der einzige Marquis Posa darbietet, ist in Goethes sämmtlichen Werken zusammengenommen nicht aufzutreiben: wohl aber giebt es ein kleines Deutsches Stück »Pflicht um Pflicht« (ein Titel wie aus der Kritik der praktischen Vernunft genommen), welches nur drei Personen hat, jedoch alle drei von überschwänglichem Edelmuth. –

Die Griechen nahmen zu Helden des Trauerspiels durchgängig königliche Personen; die Neuern meistentheils auch. Gewiß nicht, weil der Rang dem Handelnden oder Leidenden mehr Würde giebt: und da es bloß darauf ankommt, menschliche Leidenschaften ins Spiel zu setzen; so ist der relative Werth der Objekte, wodurch dies geschieht, gleichgültig, und Bauerhöfe leisten so viel, wie Königreiche. Auch ist das bürgerliche Trauerspiel keineswegs unbedingt zu verwerfen. Personen von großer Macht und Ansehn sind jedoch deswegen zum Trauerspiel die geeignetesten, weil das Unglück, an welchem wir das Schicksal des Menschenlebens erkennen sollen, eine hinreichende Größe haben muß, um dem Zuschauer, wer er auch sei, als furchtbar zu erscheinen. Euripides selbst sagt: pheu, pheu, ta megala, megala kai paschei kaka. (Stob. Flor. Vol. 2, p. 299.) Nun aber sind die Umstände, welche eine Bürgerfamilie in Noth und Verzweiflung versetzen, in den Augen der Großen oder Reichen meistens sehr geringfügig und durch menschliche Hülfe, ja bisweilen durch eine Kleinigkeit, zu beseitigen: solche Zuschauer können daher von ihnen nicht tragisch erschüttert werden. Hingegen sind die Unglücksfälle der Großen und Mächtigen unbedingt furchtbar, auch keiner Abhülfe von außen zugänglich; da Könige durch ihre eigene Macht sich helfen müssen, oder untergehn. Dazu kommt, daß von der Höhe der Fall am tiefsten ist. Den bürgerlichen Personen fehlt es demnach an Fallhöhe. –

Wenn nun als die Tendenz und letzte Absicht des Trauerspiels sich uns ergeben hat ein Hinwenden zur Resignation, zur Verneinung des Willens zum Leben; so werden wir in seinem Gegensatz, dem Lustspiel, die Aufforderung zur fortgesetzten Bejahung dieses Willens leicht erkennen. Zwar muß auch das Lustspiel, wie unausweichbar jede Darstellung des Menschenlebens, Leiden und Widerwärtigkeiten vor die Augen bringen: allein es zeigt sie uns vor als vorübergehend, sich in Freude auflösend, überhaupt mit Gelingen, Siegen und Hoffen gemischt, welche am Ende doch überwiegen; und dabei hebt es den unerschöpflichen Stoff zum Lachen hervor, von dem das Leben, ja, dessen Widerwärtigkeiten selbst, erfüllt sind, und der uns, unter allen Umständen, bei guter Laune erhalten sollte. Es besagt also, im Resultat, daß das Leben im Ganzen recht gut und besonders durchweg kurzweilig sei. Freilich aber muß es sich beeilen, im Zeitpunkt der Freude den Vorhang fallen zu lassen, damit wir nicht sehn, was nachkommt; während das Trauerspiel, in der Regel, so schließt, daß nichts nachkommen kann. Und überdies, wenn wir jene burleske Seite des Lebens ein Mal etwas ernst ins Auge fassen, wie sie sich zeigt in den naiven Aeußerungen und Geberden, welche die kleinliche Verlegenheit, die persönliche Furcht, der augenblickliche Zorn, der heimliche Neid und die vielen ähnlichen Affekte den vom Typus der Schönheit beträchtlich abweichenden Gestalten der sich hier spiegelnden Wirklichkeit aufdrücken; – so kann auch von dieser Seite, also auf eine unerwartete Art, dem nachdenklichen Betrachter die Ueberzeugung werden, daß das Daseyn und Treiben solcher Wesen nicht selbst Zweck seyn kann, daß sie, im Gegentheil, nur auf einem Irrwege zum Daseyn gelangen konnten, und daß was sich so darstellt etwas ist, das eigentlich besser nicht wäre.

Kapitel 38. Ueber Geschichte

Ich habe in der unten bemerkten Stelle des ersten Bandes ausführlich gezeigt, daß und warum für die Erkenntniß des Wesens der Menschheit mehr von der Dichtung, als von der Geschichte geleistet wird: insofern wäre mehr eigentliche Belehrung von jener, als von dieser zu erwarten. Dies hat auch Aristoteles eingesehn, da er sagt: kai philosophôteron kai spoudaioteron poiêsis historias estin (et res magis philosophica, et melior poësis est, quam historia)50. (De poët., c. 9.) Um jedoch über den Werth der Geschichte kein Mißverständniß zu veranlassen, will ich meine Gedanken darüber hier aussprechen.

In jeder Art und Gattung von Dingen sind die Thatsachen unzählig, der einzelnen Wesen unendlich viele, die Mannigfaltigkeit ihrer Verschiedenheiten unerreichbar. Bei einem Blicke darauf schwindelt dem wißbegierigen Geiste: er sieht sich, wie weit er auch forsche, zur Unwissenheit verdammt. – Aber da kommt die Wissenschaft: sie sondert das unzählbar Viele aus, sammelt es unter Artbegriffe, und diese wieder unter Gattungsbegriffe, wodurch sie den Weg zu einer Erkenntniß des Allgemeinen und des Besondern eröffnet, welche auch das unzählbare Einzelne befaßt, indem sie von Allem gilt, ohne daß man Jegliches für sich zu betrachten habe. Dadurch verspricht sie dem forschenden Geiste Beruhigung. Dann stellen alle Wissenschaften sich neben einander und über die reale Welt der einzelnen Dinge, als welche sie unter sich vertheilt haben. Ueber ihnen allen aber schwebt die Philosophie, als das allgemeinste und deshalb wichtigste Wissen, welches die Aufschlüsse verheißt, zu denen die andern nur vorbereiten. – Bloß die Geschichte darf eigentlich nicht in jene Reihe treten; da sie sich nicht des selben Vortheils wie die andern rühmen kann: denn ihr fehlt der Grundcharakter der Wissenschaft, die Subordination des Gewußten, statt deren sie bloße Koordination desselben aufzuweisen hat. Daher giebt es kein System der Geschichte, wie doch jeder andern Wissenschaft, Sie ist demnach zwar ein Wissen, jedoch keine Wissenschaft. Denn nirgends erkennt sie das Einzelne mittelst des Allgemeinen, sondern muß das Einzelne unmittelbar fassen und so gleichsam auf dem Boden der Erfahrung fortkriechen; während die wirklichen Wissenschaften darüber schweben, indem sie umfassende Begriffe gewonnen haben, mittelst deren sie das Einzelne beherrschen und, wenigstens innerhalb gewisser Gränzen, die Möglichkeit der Dinge ihres Bereiches absehn, so daß sie auch über das etwan noch Hinzukommende beruhigt seyn können. Die Wissenschaften, da sie Systeme von Begriffen sind, reden stets von Gattungen; die Geschichte von Individuen. Sie wäre demnach eine Wissenschaft von Individuen; welches einen Widerspruch besagt. Auch folgt aus Ersterem, daß die Wissenschaften sämmtlich von Dem reden, was immer ist; die Geschichte hingegen von Dem, was nur Ein Mal und dann nicht mehr ist. Da ferner die Geschichte es mit dem schlechthin Einzelnen und Individuellen zu thun hat, welches, seiner Natur nach, unerschöpflich ist; so weiß sie Alles nur unvollkommen und halb. Dabei muß sie zugleich noch von jedem neuen Tage, in seiner Alltäglichkeit, sich Das lehren lassen, was sie noch gar nicht wußte. – Wollte man hiegegen einwenden, daß auch in der Geschichte Unterordnung des Besondern unter das Allgemeine Statt finde, indem die Zeitperioden, die Regierungen und sonstige Haupt- und Staatsveränderungen, kurz, Alles was auf den Geschichtstabellen Platz findet, das Allgemeine seien, dem das Specielle sich unterordnet; so würde dies auf einer falschen Fassung des Begriffes vom Allgemeinen beruhen. Denn das hier angeführte Allgemeine in der Geschichte ist bloß ein subjektives, d.h. ein solches, dessen Allgemeinheit allein aus der Unzulänglichkeit der individuellen Kenntniß von den Dingen entspringt, nicht aber ein objektives, d.h. ein Begriff, in welchem die Dinge wirklich schon mitgedacht wären. Selbst das Allgemeinste in der Geschichte ist an sich selbst doch nur ein Einzelnes und Individuelles, nämlich ein langer Zeitabschnitt, oder eine Hauptbegebenheit: zu diesem verhält sich daher das Besondere, wie der Theil zum Ganzen, nicht aber wie der Fall zur Regel; wie dies hingegen in allen eigentlichen Wissenschaften Statt hat, weil sie Begriffe, nicht bloße Thatsachen überliefern. Daher eben kann man in diesen durch richtige Kenntniß des Allgemeinen das vorkommende Besondere sicher bestimmen. Kenne ich z.B. die Gesetze des Triangels überhaupt; so kann ich danach auch angeben, was dem mir vorgelegten Triangel zukommen muß: und was von allen Säugethieren gilt, z, B. daß sie doppelte Herzkammern, gerade sieben Halswirbel, Lunge, Zwergfell, Urinblase, fünf Sinne u.s.w. haben, das kann ich auch von der soeben gefangenen fremden Fledermaus, vor ihrer Sektion, aussagen. Aber nicht so in der Geschichte, als wo das Allgemeine kein objektives der Begriffe, sondern bloß ein subjektives meiner Kenntniß ist, welche nur insofern, als sie oberflächlich ist, allgemein genannt werden kann: daher mag ich immerhin vom dreißigjährigen Kriege im Allgemeinen wissen, daß er ein im 17. Jahrhundert geführter Religionskrieg gewesen; aber diese allgemeine Kenntniß befähigt mich nicht, irgend etwas Näheres über seinen Verlauf anzugeben. – Der selbe Gegensatz bewährt sich auch darin, daß in den wirklichen Wissenschaften das Besondere und Einzelne das Gewisseste ist, da es auf unmittelbarer Wahrnehmung beruht: hingegen sind die allgemeinen Wahrheiten erst aus ihm abstrahirt; daher in diesen eher etwas irrig angenommen seyn kann. In der Geschichte aber ist umgekehrt das Allgemeinste das Gewisseste, z.B. die Zeitperioden, die Succession der Könige, die Revolutionen, Kriege und Friedensschlüsse: hingegen das Besondere der Begebenheiten und ihres Zusammenhangs ist Ungewisser, und wird es immer mehr, je weiter man ins Einzelne geräth. Daher ist die Geschichte zwar um so interessanter, je specieller sie ist, aber auch um so unzuverlässiger, und nähert sich alsdann in jeder Hinsicht dem Romane. – Was es übrigens mit dem gerühmten Pragmatismus der Geschichte auf sich habe, wird Der am besten ermessen können, welcher sich erinnert, daß er bisweilen die Begebenheiten seines eigenen Lebens, ihrem wahren Zusammenhange nach, erst zwanzig Jahre hinterher verstanden hat, obwohl die Data dazu ihm vollständig vorlagen: so schwierig ist die Kombination des Wirkens der Motive, unter den beständigen Eingriffen des Zufalls und dem Verhehlen der Absichten. – Sofern nun die Geschichte eigentlich immer nur das Einzelne, die individuelle Thatsache, zum Gegenstande hat und dieses als das ausschließlich Reale ansieht, ist sie das gerade Gegentheil und Widerspiel der Philosophie, als welche die Dinge vom allgemeinsten Gesichtspunkt aus betrachtet und ausdrücklich das Allgemeine zum Gegenstande hat, welches in allem Einzelnen identisch bleibt; daher sie in diesem stets nur Jenes sieht und den Wechsel an der Erscheinung desselben als unwesentlich erkennt: philokatholou gar ho philosophos (generalium amator philosophus). Während die Geschichte uns lehrt, daß zu jeder Zeit etwas Anderes gewesen, ist die Philosophie bemüht, uns zu der Einsicht zu verhelfen, daß zu allen Zeiten ganz das Selbe war, ist und seyn wird. In Wahrheit ist das Wesen des Menschenlebens, wie der Natur überall, in jeder Gegenwart ganz vorhanden, und bedarf daher, um erschöpfend erkannt zu werden, nur der Tiefe der Auffassung. Die Geschichte aber hofft die Tiefe durch die Länge und Breite zu ersetzen: ihr ist jede Gegenwart nur ein Bruchstück, welches ergänzt werden muß durch die Vergangenheit, deren Länge aber unendlich ist und an die sich wieder eine unendliche Zukunft schließt. Hierauf beruht das Widerspiel zwischen den philosophischen und den historischen Köpfen: jene wollen ergründen; diese wollen zu Ende erzählen. Die Geschichte zeigt auf jeder Seite nur das Selbe, unter verschiedenen Formen: wer aber solches nicht in einer oder wenigen erkennt, wird auch durch das Durchlaufen aller Formen schwerlich zur Erkenntniß davon gelangen. Die Kapitel der Völkergeschichte sind im Grunde nur durch die Namen und Jahreszahlen verschieden: der eigentlich wesentliche Inhalt ist überall der selbe.

Sofern nun also der Stoff der Kunst die Idee, der Stoff der Wissenschaft der Begriff ist, sehn wir Beide mit Dem beschäftigt, was immer daist und stets auf gleiche Weise, nicht aber jetzt ist und jetzt nicht, jetzt so und jetzt anders: daher eben haben Beide es mit Dem zu thun, was Plato ausschließlich als den Gegenstand wirklichen Wissens aufstellt. Der Stoff der Geschichte hingegen ist das Einzelne in seiner Einzelheit und Zufälligkeit, was Ein Mal ist und dann auf immer nicht mehr ist, die vorübergehenden Verflechtungen einer wie Wolken im Winde beweglichen Menschenwelt, welche oft durch den geringfügigsten Zufall ganz umgestaltet werden. Von diesem Standpunkt aus erscheint uns der Stoff der Geschichte kaum noch als ein der ernsten und mühsamen Betrachtung des Menschengeistes würdiger Gegenstand, des Menschengeistes, der, gerade weil er so vergänglich ist, das Unvergängliche zu seiner Betrachtung wählen sollte.

Was endlich das, besonders durch die überall so geistesverderbliche und verdummende Hegelsche Afterphilosophie aufgekommene Bestreben, die Weltgeschichte als ein planmäßiges Ganzes zu fassen, oder, wie sie es nennen, »sie organisch zu konstruiren«, betrifft; so liegt demselben eigentlich ein roher und platter Realismus zum Grunde, der die Erscheinung für das Wesen an sich der Welt hält und vermeint, auf sie, auf ihre Gestalten und Vorgänge käme es an; wobei er noch im Stillen von gewissen mythologischen Grundansichten unterstützt wird, die er stillschweigend voraussetzt: sonst ließe sich fragen, für welchen Zuschauer denn eine dergleichen Komödie eigentlich aufgeführt würde? – Denn, da nur das Individuum, nicht aber das Menschengeschlecht wirkliche, unmittelbare Einheit des Bewußtseyns hat; so ist die Einheit des Lebenslaufes dieses eine bloße Fiktion. Zudem, wie in der Natur nur die Species real, die genera bloße Abstraktionen sind, so sind im Menschengeschlecht nur die Individuen und ihr Lebenslauf real, die Völker und ihr Leben bloße Abstraktionen. Endlich laufen die Konstruktionsgeschichten, von plattem Optimismus geleitet, zuletzt immer auf einen behaglichen, nahrhaften, fetten Staat, mit wohlgeregelter Konstitution, guter Justiz und Polizei, Technik und Industrie und höchstens auf intellektuelle Vervollkommnung hinaus; weil diese in der That die allein mögliche ist, da das Moralische im Wesentlichen unverändert bleibt. Das Moralische aber ist es, worauf, nach dem Zeugniß unsers innersten Bewußtseyns, Alles ankommt: und dieses liegt allein im Individuo, als die Richtung seines Willens. In Wahrheit hat nur der Lebenslauf jedes Einzelnen Einheit, Zusammenhang und wahre Bedeutsamkeit: er ist als eine Belehrung anzusehn, und der Sinn derselben ist ein moralischer. Nur die innern Vorgänge, sofern sie den Willen betreffen, haben wahre Realität und sind wirkliche Begebenheiten; weil der Wille allein das Ding an sich ist. In jedem Mikrokosmos liegt der ganze Makrokosmos, und dieser enthält nichts mehr als jener. Die Vielheit ist Erscheinung, und die äußern Vorgänge sind bloße Konfigurationen der Erscheinungswelt, haben daher unmittelbar weder Realität noch Bedeutung, sondern erst mittelbar, durch ihre Beziehung auf den Willen der Einzelnen. Das Bestreben sie unmittelbar deuten und auslegen zu wollen, gleicht sonach dem, in den Gebilden der Wolken Gruppen von Menschen und Thieren zu sehn. – Was die Geschichte erzählt, ist in der That nur der lange, schwere und verworrene Traum der Menschheit.

Die Hegelianer, welche die Philosophie der Geschichte sogar als den Hauptzweck aller Philosophie ansehn, sind auf Plato zu verweisen, der unermüdlich wiederholt, daß der Gegenstand der Philosophie das Unveränderliche und immerdar Bleibende sei, nicht aber Das, was bald so, bald anders ist. Alle Die, welche solche Konstruktionen des Weltverlaufs, oder, wie sie es nennen, der Geschichte, aufstellen, haben die Hauptwahrheit aller Philosophie nicht begriffen, daß nämlich zu aller Zeit das Selbe ist, alles Werden und Entstehn nur scheinbar, die Ideen allein bleibend, die Zeit ideal. Dies will der Plato, Dies will der Kant. Man soll demnach zu verstehn suchen, was da ist, wirklich ist, heute und immerdar, – d.h. die Ideen (in Plato's Sinn) erkennen. Die Thoren hingegen meinen, es solle erst etwas werden und kommen. Daher räumen sie der Geschichte eine Hauptstelle in ihrer Philosophie ein und konstruiren dieselbe nach einem vorausgesetzten Weltplane, welchem gemäß Alles zum Besten gelenkt wird, welches dann finaliter eintreten soll und eine große Herrlichkeit seyn wird. Demnach nehmen sie die Welt als vollkommen real und setzen den Zweck derselben in das armsälige Erdenglück, welches, selbst wenn noch so sehr von Menschen gepflegt und vom Schicksal begünstigt, doch ein hohles, täuschendes, hinfälliges und trauriges Ding ist, aus welchem weder Konstitutionen und Gesetzgebungen, noch Dampfmaschinen und Telegraphen jemals etwas wesentlich Besseres machen können. Besagte Geschichts-Philosophen und -Verherrlicher sind demnach einfältige Realisten, dazu Optimisten und Eudämonisten, mithin platte Gesellen und eingefleischte Philister, zudem auch eigentlich schlechte Christen; da der wahre Geist und Kern des Christenthums, eben so wie des Brahmanismus und Buddhaismus, die Erkenntniß der Nichtigkeit des Erdenglücks, die völlige Verachtung desselben und Hinwendung zu einem ganz anderartigen, ja, entgegengesetzten Daseyn ist: Dies, sage ich, ist der Geist und Zweck des Christenthums, der wahre »Humor der Sache«; nicht aber ist es, wie sie meinen, der Monotheismus; daher eben der atheistische Buddhaismus dem Christenthum viel näher verwandt ist, als das optimistische Judenthum und seine Varietät, der Islam.

Eine wirkliche Philosophie der Geschichte soll also nicht, wie Jene alle thun, Das betrachten, was (in Plato's Sprache zu reden) immer wird und nie ist, und Dieses für das eigentliche Wesen der Dinge halten; sondern sie soll Das, was immer ist und nie wird, noch vergeht, im Auge behalten. Sie besteht also nicht darin, daß man die zeitlichen Zwecke der Menschen zu ewigen und absoluten erhebt, und nun ihren Fortschritt dazu, durch alle Verwickelungen, künstlich und imaginär konstruirt; sondern in der Einsicht, daß die Geschichte nicht nur in der Ausführung, sondern schon in ihrem Wesen lügenhaft ist, indem sie, von lauter Individuen und einzelnen Vorgängen redend, vorgiebt, allemal etwas Anderes zu erzählen; während sie, vom Anfang bis zum Ende, stets nur das Selbe wiederholt, unter andern Namen und in anderm Gewande. Die wahre Philosophie der Geschichte besteht nämlich in der Einsicht, daß man, bei allen diesen endlosen Veränderungen und ihrem Wirrwarr, doch stets nur das selbe, gleiche und unwandelbare Wesen vor sich hat, welches heute das Selbe treibt, wie gestern und immerdar: sie soll also das Identische in allen Vorgängen, der alten wie der neuen Zeit, des Orients wie des Occidents, erkennen, und, trotz aller Verschiedenheit der speciellen Umstände, des Kostümes und der Sitten, überall die selbe Menschheit erblicken. Dies Identische und unter allem Wechsel Beharrende besteht in den Grundeigenschaften des menschlichen Herzens und Kopfes, – vielen schlechten, wenigen guten. Die Devise der Geschichte überhaupt müßte lauten: Eadem, sed aliter. Hat Einer den Herodot gelesen, so hat er, in philosophischer Absicht, schon genug Geschichte studirt. Denn da steht schon Alles, was die folgende Weltgeschichte ausmacht: das Treiben, Thun, Leiden und Schicksal des Menschengeschlechts, wie es aus den besagten Eigenschaften und dem physischen Erdenloose hervorgeht. –

Wenn wir im Bisherigen erkannt haben, daß die Geschichte, als Mittel zur Erkenntniß des Wesens der Menschheit betrachtet, der Dichtkunst nachsteht; sodann, daß sie nicht im eigentlichen Sinne eine Wissenschaft ist; endlich, daß das Bestreben, sie als ein Ganzes mit Anfang, Mittel und Ende, nebst sinnvollem Zusammenhang, zu konstruiren, ein eiteles, auf Mißverstand beruhendes ist; so würde es scheinen, als wollten wir ihr allen Werth absprechen, wenn wir nicht nachwiesen, worin der ihrige besteht. Wirklich aber bleibt ihr, nach dieser Besiegung von der Kunst und Abweisung von der Wissenschaft, ein von Beiden verschiedenes, ganz eigenthümliches Gebiet, auf welchem sie höchst ehrenvoll dasteht.

Was die Vernunft dem Individuo, das ist die Geschichte dem menschlichen Geschlechte. Vermöge der Vernunft nämlich ist der Mensch nicht, wie das Thier, auf die enge, anschauliche Gegenwart beschränkt; sondern erkennt auch die ungleich ausgedehntere Vergangenheit, mit der sie verknüpft und aus der sie hervorgegangen ist: hiedurch aber erst hat er ein eigentliches Verständniß der Gegenwart selbst, und kann sogar auf die Zukunft Schlüsse machen. Hingegen das Thier, dessen reflexionslose Erkenntniß auf die Anschauung und deshalb auf die Gegenwart beschränkt ist, wandelt, auch wenn gezähmt, unkundig, dumpf, einfältig, hülflos und abhängig zwischen den Menschen umher. – Dem nun analog ist ein Volk, das seine eigene Geschichte nicht kennt, auf die Gegenwart der jetzt lebenden Generation beschränkt: daher versteht es sich selbst und seine eigene Gegenwart nicht; weil es sie nicht auf eine Vergangenheit zu beziehn und aus dieser zu erklären vermag; noch weniger kann es die Zukunft anticipiren. Erst durch die Geschichte wird ein Volk sich seiner selbst vollständig bewußt. Demnach ist die Geschichte als das vernünftige Selbstbewußtseyn des menschlichen Geschlechtes anzusehn, und ist diesem Das, was dem Einzelnen das durch die Vernunft bedingte, besonnene und zusammenhängende Bewußtseyn ist, durch dessen Ermangelung das Thier in der engen, anschaulichen Gegenwart befangen bleibt. Daher ist jede Lücke in der Geschichte wie eine Lücke im erinnernden SelbstBewußtseyn eines Menschen; und vor einem Denkmal des Uralterthums, welches seine eigene Kunde überlebt hat, wie z.B. die Pyramiden, Tempel und Paläste in Yukatan, stehn wir so besinnungslos und einfältig, wie das Thier vor der menschlichen Handlung, in die es dienend verflochten ist, oder wie ein Mensch vor seiner eigenen alten Zifferschrift, deren Schlüssel er vergessen hat, ja, wie ein Nachtwandler, der was er im Schlafe gemacht hat, am Morgen vorfindet. In diesem Sinne also ist die Geschichte anzusehn als die Vernunft, oder das besonnene Bewußtseyn des menschlichen Geschlechts, und vertritt die Stelle eines dem ganzen Geschlechte unmittelbar gemeinsamen Selbstbewußtseyns, so daß erst vermöge ihrer dasselbe wirklich zu einem Ganzen, zu einer Menschheit, wird. Dies ist der wahre Werth der Geschichte; und dem gemäß beruht das so allgemeine und überwiegende Interesse an ihr hauptsächlich darauf, daß sie eine persönliche Angelegenheit des Menschengeschlechts ist. – Was nun für die Vernunft der Individuen, als unumgängliche Bedingung des Gebrauchs derselben, die Sprache ist, das ist für die hier nachgewiesene Vernunft des ganzen Geschlechts die Schrift: denn erst mit dieser fängt ihre wirkliche Existenz an; wie die der individuellen Vernunft erst mit der Sprache. Die Schrift nämlich dient, das durch den Tod unaufhörlich unterbrochene und demnach zerstückelte Bewußtseyn des Menschengeschlechts wieder zur Einheit herzustellen; so daß der Gedanke, welcher im Ahnherrn aufgestiegen, vom Urenkel zu Ende gedacht wird: dem Zerfallen des menschlichen Geschlechts und seines Bewußtseyns in eine Unzahl ephemerer Individuen hilft sie ab, und bietet so der unaufhaltsam eilenden Zeit, an deren Hand die Vergessenheit geht. Trotz. Als ein Versuch, dieses zu leisten, sind, wie die geschriebenen, so auch die steinernen Denkmale zu betrachten, welche zum Theil älter sind, als jene. Denn wer wird glauben, daß Diejenigen, welche, mit unermeßlichen Kosten, die Menschenkräfte vieler Tausende, viele Jahre hindurch, in Bewegung setzten, um Pyramiden, Monolithen, Felsengräber, Obelisken, Tempel und Paläste aufzuführen, die schon Jahrtausende dastehn, dabei nur sich selbst, die kurze Spanne ihres Lebens, welche nicht ausreichte das Ende des Baues zu sehn, oder auch den ostensibeln Zweck, welchen vorzuschützen die Rohheit der Menge heischte, im Auge gehabt haben sollten? – Offenbar war ihr wirklicher Zweck, zu den spätesten Nachkommen zu reden, in Beziehung zu diesen zu treten und so das Bewußtseyn der Menschheit zur Einheit herzustellen. Die Bauten der Hindu, Aegypter, selbst Griechen und Römer, waren auf mehrere Jahrtausende berechnet, weil deren Gesichtskreis, durch höhere Bildung, ein weiterer war; während die Bauten des Mittelalters und neuerer Zeit höchstens einige Jahrhunderte vor Augen gehabt haben; welches jedoch auch daran liegt, daß man sich mehr auf die Schrift verließ, nachdem ihr Gebrauch allgemeiner geworden, und noch mehr, seitdem aus ihrem Schooß die Buchdruckerkunst geboren worden. Doch sieht man auch den Gebäuden der spätern Zeiten den Drang an, zur Nachkommenschaft zu reden: daher ist es schändlich, wenn man sie zerstört, oder sie verunstaltet, um sie niedrigen, nützlichen Zwecken dienen zu lassen. Die geschriebenen Denkmale haben weniger von den Elementen, aber mehr von der Barbarei zu fürchten, als die steinernen: sie leisten viel mehr. Die Aegypter wollten, indem sie letztere mit Hieroglyphen bedeckten, beide Arten vereinigen; ja, sie fügten Malereien hinzu, auf den Fall, daß die Hieroglyphen nicht mehr verstanden werden sollten.