4) Zwei Sphären schließen jede einen Theil der andern ein:

5)Zwei Sphären liegen in einer dritten, die sie jedoch nicht füllen:

Dieser letztere Fall gilt von allen Begriffen, deren Sphären nicht unmittelbare Gemeinschaft haben, da immer ein dritter, wenn gleich oft sehr weiter, beide einschließen wird.

Auf diese Fälle möchten alle Verbindungen von Begriffen zurückzuführen seyn, und die ganze Lehre von den Urtheilen, deren Konversion, Kontraposition, Reciprokation, Disjunktion (diese nach der dritten Figur) läßt sich daraus ableiten: eben so auch die Eigenschaften der Urtheile, auf welche Kant die vorgeblichen Kategorien des Verstandes gründete, jedoch mit Ausnahme der hypothetischen Form, welche nicht mehr eine Verbindung von bloßen Begriffen, sondern von Urtheilen ist; sodann mit Ausnahme der Modalität, über welche, wie über jede Eigenschaft von Urtheilen, die den Kategorien zum Grunde gelegt ist, der Anhang ausführlich Rechenschaft giebt. Ueber die angegebenen möglichen Begriffsverbindungen ist nur noch zu bemerken, daß sie auch unter einander mannigfaltig verbunden werden können, z.B. die vierte Figur mit der zweiten. Nur wenn eine Sphäre, die eine andere ganz oder zum Theil enthält, wieder von einer dritten ganz oder zum Theil eingeschlossen wird, stellen diese zusammen den Schluß in der ersten Figur dar, d.h. diejenige Verbindung von Urtheilen, durch welche erkannt wird, daß ein Begriff, der in einem andern ganz oder zum Theil enthalten ist, es auch eben so in einem dritten ist, der wieder diesen enthält: oder auch das Umgekehrte davon, die Negation; deren bildliche Darstellung natürlich nur darin bestehn kann, daß zwei verbundene Sphären nicht in einer dritten liegen. Umschließen sich viele Sphären auf diese Weise, so entstehn lange Ketten von Schlüssen. – Diesen Schematismus der Begriffe, der schon in mehreren Lehrbüchern ziemlich gut ausgeführt ist, kann man der Lehre von den Urtheilen, wie auch der ganzen Syllogistik zum Grunde legen, wodurch der Vortrag Beider sehr leicht und einfach wird. Denn alle Regeln derselben lassen sich daraus ihrem Ursprung nach einsehn, ableiten und erklären. Diese aber dem Gedächtniß aufzuladen, ist nicht nothwendig, da die Logik nie von praktischem Nutzen, sondern nur von theoretischem Interesse für die Philosophie seyn kann. Denn obwohl sich sagen ließe, daß die Logik zum vernünftigen Denken sich verhält wie der Generalbaß zur Musik, und auch, wenn wir es weniger genau nehmen, wie die Ethik zur Tugend, oder die Aesthetik zur Kunst; so ist dagegen zu bedenken, daß noch kein Künstler es durch Studium der Aesthetik geworden ist, noch ein edler Charakter durch Studium der Ethik, daß lange vor Rameau richtig und schön komponirt wurde, und auch, daß man nicht den Generalbaß inne zu haben braucht, um Disharmonien zu bemerken: eben so wenig braucht man Logik zu wissen, um sich durch Trugschlüsse nicht täuschen zu lassen. Jedoch muß eingeräumt werden, daß, wenn auch nicht für die Beurtheilung, dennoch für die Ausübung der musikalischen Komposition der Generalbaß von großem Nutzen ist: sogar auch mögen, wenn gleich in viel geringerm Grade, Aesthetik und selbst Ethik für die Ausübung einigen, wiewohl hauptsächlich negativen Nutzen haben, also auch ihnen nicht aller praktische Werth abzusprechen seyn; aber von der Logik läßt sich nicht ein Mal so viel rühmen. Sie ist nämlich bloß das Wissen in abstracto Dessen, was Jeder in concreto weiß. Daher, so wenig als man sie braucht, einem falschen Räsonnement nicht beizustimmen, so wenig ruft man ihre Regeln zu Hülfe, um ein richtiges zu machen, und selbst der gelehrteste Logiker setzt sie bei seinem wirklichen Denken ganz bei Seite. Dies erklärt sich aus Folgendem. Jede Wissenschaft besteht aus einem System allgemeiner, folglich abstrakter Wahrheiten, Gesetze und Regeln, in Bezug auf irgend eine Art von Gegenständen. Der unter diesen nachher vorkommende einzelne Fall wird nun jedesmal nach jenem allgemeinen Wissen, welches ein für alle Mal gilt, bestimmt; weil solche Anwendung des Allgemeinen unendlich leichter ist, als den vorkommenden einzelnen Fall für sich von Vorne an zu untersuchen; indem allezeit die ein Mal erlangte allgemeine abstrakte Erkenntniß uns näher zur Hand liegt, als die empirische Untersuchung des Einzelnen. Mit der Logik aber ist es gerade umgekehrt. Sie ist das allgemeine, durch Selbstbeobachtung der Vernunft und Abstraktion von allem Inhalt erkannte und in der Form von Regeln ausgedrückte Wissen von der Verfahrungsweise der Vernunft. Dieser aber ist jene Verfahrungsweise nothwendig und wesentlich: sie wird also in keinem Fall davon abweichen, sobald sie sich selbst überlassen ist. Es ist daher leichter und sicherer, sie in jedem besondern Fall ihrem Wesen gemäß verfahren zu lassen, als ihr das aus diesem Verfahren erst abstrahirte Wissen davon, in Gestalt eines fremden von außen gegebenen Gesetzes, vorzuhalten. Es ist leichter: weil, wenn gleich bei allen andern Wissenschaften die allgemeine Regel uns näher liegt, als die Untersuchung des einzelnen Falles allein und durch sich selbst; umgekehrt, beim Gebrauch der Vernunft, das im gegebenen Fall nöthige Verfahren derselben uns immer näher liegt, als die daraus abstrahirte allgemeine Regel, da das Denkende in uns ja selbst jene Vernunft ist. Es ist sicherer: weil viel leichter ein Irrthum in solchem abstrakten Wissen, oder dessen Anwendung, vorfallen kann, als ein Verfahren der Vernunft eintreten, das ihrem Wesen, ihrer Natur, zuwiderliefe. Daher kommt das Sonderbare, daß, wenn man in andern Wissenschaften die Wahrheit des einzelnen Falles an der Regel prüft, in der Logik umgekehrt die Regel immer am einzelnen Fall geprüft werden muß: und auch der geübteste Logiker wird, wenn er bemerkt, daß er in einem einzelnen Fall anders schließt als eine Regel aussagt, immer eher einen Fehler in der Regel suchen, als in dem von ihm wirklich gemachten Schluß. Praktischen Gebrauch von der Logik machen wollen, hieße also Das, was uns im Einzelnen unmittelbar mit der größten Sicherheit bewußt ist, erst mit unsäglicher Mühe aus allgemeinen Regeln ableiten wollen: es wäre gerade so, wie wenn man bei seinen Bewegungen erst die Mechanik, und bei der Verdauung die Physiologie zu Rathe ziehn wollte: und wer die Logik zu praktischen Zwecken erlernt, gleicht dem, der einen Bieber zu seinem Bau abrichten will. – Obgleich also ohne praktischen Nutzen, muß nichtsdestoweniger die Logik beibehalten werden, weil sie philosophisches Interesse hat, als specielle Kenntniß der Organisation und Aktion der Vernunft. Als abgeschlossene, für sich bestehende, in sich vollendete, abgerundete und vollkommen sichere Disciplin ist sie berechtigt, für sich allein und unabhängig von allem Andern wissenschaftlich abgehandelt und eben so auf Universitäten gelehrt zu werden; aber ihren eigentlichen Werth erhält sie erst im Zusammenhange der gesammten Philosophie, bei Betrachtung des Erkennens, und zwar des vernünftigen oder abstrakten Erkennens. Demgemäß sollte ihr Vortrag nicht so sehr die Form einer auf das Praktische gerichteten Wissenschaft haben, nicht bloß nackt hingestellte Regeln zum richtigen Umkehren der Urtheile, Schließen u.s.w. enthalten; sondern mehr darauf gerichtet seyn, daß das Wesen der Vernunft und des Begriffs erkannt und der Satz vom Grunde des Erkennens ausführlich betrachtet werde: denn eine bloße Paraphrase desselben ist die Logik, und zwar eigentlich nur für den Fall, wo der Grund, welcher den Urtheilen Wahrheit giebt, nicht empirisch oder metaphysisch, sondern logisch oder metalogisch ist. Neben dem Satz vom Grunde des Erkennens sind daher die übrigen drei ihm so nah verwandten Grundgesetze des Denkens, oder Urtheile von metalogischer Wahrheit, aufzuführen; woraus denn nach und nach die ganze Technik der Vernunft erwächst. Das Wesen des eigentlichen Denkens, d.h. des Urtheilens und Schließens, ist aus der Verbindung der Begriffssphären, gemäß dem räumlichen Schema, auf die oben angedeutete Weise darzustellen und aus diesem alle Regeln des Urtheilens und Schließens durch Konstruktion abzuleiten. Der einzige praktische Gebrauch, den man von der Logik machen kann, ist, daß man, beim Disputiren, dem Gegner, nicht sowohl seine wirklichen Fehlschlüsse, als seine absichtlichen Trugschlüsse nachweist, indem man sie bei ihrem technischen Namen nennt. Durch solche Zurückdrängung der praktischen Richtung und Hervorhebung des Zusammenhanges der Logik mit der gesammten Philosophie, als ein Kapitel derselben, sollte ihre Kenntniß dennoch nicht seltener werden, als sie jetzt ist: denn heut zu Tage muß Jeder, welcher nicht in der Hauptsache roh bleiben und der unwissenden, in Dumpfheit befangenen Menge beigezählt werden will, spekulative Philosophie studirt haben: und dies deswegen, weil dieses neunzehnte Jahrhundert ein philosophisches ist; womit nicht sowohl gesagt seyn soll, daß es Philosophie besitze, oder Philosophie in ihm herrschend sei, als vielmehr, daß es zur Philosophie reif und eben deshalb ihrer durchaus bedürftig ist: dieses ist ein Zeichen hoch getriebener Bildung, sogar ein fester Punkt auf der Skala der Kultur der Zeiten18.

So wenig praktischen Nutzen die Logik haben kann, so ist dennoch wohl nicht zu leugnen, daß sie zum praktischen Behuf erfunden worden. Ihre Entstehung erkläre ich mir auf folgende Weise. Als unter den Eleatikern, Megarikern und Sophisten die Lust am Disputiren sich immer mehr entwickelt hatte und allmälig fast zur Sucht gestiegen war, mußte die Verwirrung, in welche fast jede Disputation gerieth, ihnen bald die Nothwendigkeit eines methodischen Verfahrens fühlbar machen, als Anleitung zu welchem eine wissenschaftliche Dialektik zu suchen war. Das Erste, was bemerkt werden mußte, war, daß beide streitende Parteien allemal über irgend einen Satz einig seyn mußten, auf welchen die strittigen Punkte zurückzuführen waren, im Disputiren. Der Anfang des methodischen Verfahrens bestand darin, daß man diese gemeinschaftlich anerkannten Sätze förmlich als solche aussprach und an die Spitze der Untersuchung stellte. Diese Sätze aber betrafen Anfangs nur das Materiale der Untersuchung. Man wurde bald inne, daß auch in der Art und Weise, wie man auf die gemeinschaftlich anerkannte Wahrheit zurückgieng und seine Behauptungen aus ihr abzuleiten suchte, gewisse Formen und Gesetze befolgt wurden, über welche man, obgleich ohne vorhergegangene Uebereinkunft, sich dennoch nie veruneinigte, woraus man sah, daß sie der eigenthümliche, in ihrem Wesen liegende Gang der Vernunft selbst seyn mußten, das Formale der Untersuchung. Obgleich nun dieses nicht dem Zweifel und der Uneinigkeit ausgesetzt war, so gerieth doch irgend ein bis zur Pedanterie systematischer Kopf auf den Gedanken, daß es recht schön aussehn und die Vollendung der methodischen Dialektik seyn würde, wenn auch dieses Formelle alles Disputirens, dieses immer gesetzmäßige Verfahren der Vernunft selbst, ebenfalls in abstrakten Sätzen ausgesprochen würde, welche man eben wie jene das Materiale der Untersuchung betreffenden gemeinschaftlich anerkannten Sätze, an die Spitze der Untersuchung stellte, als den festen Kanon des Disputirens selbst, auf welchen man stets zurückzusehn und sich darauf zu berufen hätte. Indem man auf diese Weise Das, was man bisher wie durch stillschweigende Uebereinkunft befolgt, oder wie instinktmäßig ausgeübt hatte, nunmehr mit Bewußtsein als Gesetz anerkennen und förmlich aussprechen wollte, fand man allmälig mehr oder minder vollkommene Ausdrücke für logische Grundsätze, wie den Satz vom Widerspruch, vom zureichenden Grunde, vom ausgeschlossenen Dritten, das dictum de omni et nullo, sodann die speciellern Regeln der Syllogistik, wie z.B. ex meris particularibus aut negativis nihil sequitur, a rationato ad rationem non valet consequentia u.s.w. Daß man hiemit aber nur langsam und sehr mühsam zu Stande kam und vor dem Aristoteles Alles sehr unvollkommen blieb, sehn wir theils aus der unbeholfenen und weitschweifigen Art, mit der in manchen Platonischen Gesprächen logische Wahrheiten ans Licht gebracht werden, noch besser aber aus dem, was uns Sextus Empirikus von den Streitigkeiten der Megariker über die leichtesten und einfachsten logischen Gesetze und die mühsame Art, wie sie solche zur Deutlichkeit brachten, berichtet (Sext. Emp. adv. Math. L. 8. p. 112 seqq.). Aristoteles aber sammelte, ordnete, berichtigte das Vorgefundene und brachte es zu einer ungleich hohern Vollkommenheit. Wenn man auf diese Weise beachtet, wie der Gang der Griechischen Kultur die Arbeit des Aristoteles vorbereitet und herbeigeführt hatte, wird man wenig geneigt seyn, der Angabe Persischer Schriftsteller Glauben zu schenken, welche uns Jones, sehr für dieselbe eingenommen, mittheilt, daß nämlich Kallisthenes bei den Indern eine fertige Logik vorgefunden und sie seinem Oheim Aristoteles übersandt habe (Asiatic researches, Bd. 4, S. 163). – Daß im traurigen Mittelalter dem disputirsüchtigen, beim Mangel aller Realkenntniß, an Formeln und Worten allein zehrenden Geiste der Scholastiker die Aristotelische Logik höchst willkommen seyn mußte, selbst in ihrer Arabischen Verstümmelung begierig ergriffen und bald zum Mittelpunkt alles Wissens erhoben wurde, läßt sich leicht begreifen. Von ihrem Ansehn zwar seitdem gesunken, hat sie sich dennoch bis auf unsere Zeit im Kredit einer für sich bestehenden, praktischen und höchst nöthigen Wissenschaft erhalten: sogar hat in unsern Tagen die Kantische Philosophie, die ihren Grundstein eigentlich aus der Logik nahm, wieder ein neues Interesse für sie rege gemacht, welches sie in dieser Hinsicht, d.h. als Mittel zur Erkenntniß des Wesens der Vernunft, auch allerdings verdient.

Wie die richtigen strengen Schlüsse dadurch zu Stande kommen, daß man das Verhältniß der Begriffssphären genau betrachtet, und nur wenn eine Sphäre ganz in einer andern und diese wieder ganz in einer dritten enthalten ist, auch die erste für in der dritten ganz enthalten anerkennt; so beruht hingegen die Ueberredungskunst darauf, daß man die Verhältnisse der Begriffssphären nur einer oberflächlichen Betrachtung unterwirft und sie dann seinen Absichten gemäß einseitig bestimmt, hauptsächlich dadurch, daß, wenn die Sphäre eines betrachteten Begriffs nur zum Theil in einer andern liegt, zum Theil aber auch in einer ganz verschiedenen, man sie als ganz in der ersten liegend angiebt, oder ganz in der zweiten, nach der Absicht des Redners, Z.B. wenn von Leidenschaft geredet wird, kann man diese beliebig unter den Begriff der größten Kraft, des mächtigsten Agens in der Welt subsumiren, oder unter den Begriff der Unvernunft, und diesen unter den der Ohnmacht, der Schwäche. Das selbe Verfahren kann man nun fortsetzen und bei jedem Begriff, auf den die Rede führt, von Neuem anwenden. Fast immer theilen sich in die Sphäre eines Begriffs mehrere andere, deren jede einen Theil des Gebiets des ersteren auf dem ihrigen enthält, selbst aber auch noch mehr außerdem umfaßt: von diesen letzteren Begriffssphären läßt man aber nur die eine beleuchtet werden, unter welche man den ersten Begriff subsumiren will, während man die übrigen unbeachtet liegen läßt, oder verdeckt hält. Auf diesem Kunstgriff beruhen eigentlich alle Ueberredungskünste, alle feineren Sophismen: denn die logischen, wie der mentiens, velatus, cornutus u.s.w. sind für die wirkliche Anwendung offenbar zu plump. Da mir nicht bekannt ist, daß man bisher das Wesen aller Sophistikation und Ueberredung auf diesen letzten Grund ihrer Möglichkeit zurückgeführt und denselben in der eigenthümlichen Beschaffenheit der Begriffe, d. i. in der Erkenntnißweise der Vernunft, nachgewiesen hat; so will ich, da mein Vortrag mich darauf geführt hat, die Sache, so leicht sie auch einzusehn ist, noch durch ein Schema auf der beifolgenden Tafel erläutern, welches zeigen soll, wie die Begriffssphären mannigfaltig in einander greifen und dadurch der Willkür Spielraum geben, von jedem Begriff auf diesen oder jenen andern überzugehn. Nur wünsche ich nicht, daß man durch die Tafel verleitet werde, dieser kleinen beiläufigen Erörterung mehr Wichtigkeit beizulegen, als sie ihrer Natur nach haben kann. Ich habe zum erläuternden Beispiel den Begriff des Reisens gewählt. Seine Sphäre greift in das Gebiet von vier andern, auf jeden von welchen der Ueberredner beliebig übergehn kann: diese greifen wieder in andere Sphären, manche davon zugleich in zwei und mehrere, durch welche der Ueberredner nach Willkür seinen Weg nimmt, immer als wäre es der einzige, und dann zuletzt, je nachdem seine Absicht war, bei Gut oder Uebel anlangt. Nur muß man, bei Verfolgung der Sphären, immer die Richtung vom Centro (dem gegebenen Hauptbegriff) zur Peripherie behalten, nicht aber rückwärts gehn. Die Einkleidung einer solchen Sophistikation kann die fortlaufende Rede, oder auch die strenge Schlußform seyn, je nachdem die schwache Seite des Hörers es anräth. Im Grunde sind die meisten wissenschaftlichen, besonders philosophischen Beweisführungen nicht viel anders beschaffen: wie wäre es sonst auch möglich, daß so Vieles, zu verschiedenen Zeiten, nicht nur irrig angenommen (denn der Irrthum selbst hat einen andern Ursprung), sondern demonstrirt und bewiesen, dennoch aber später grundfalsch befunden worden, z.B. Leibnitz-Wolfische Philosophie, Ptolemäische Astronomie, Stahlsche Chemie, Neutonische Farbenlehre u.s.w. u.s.w.19.

§ 10

Durch dieses Alles tritt uns immer mehr die Frage nah, wie denn Gewißheit zu erlangen, wie Urtheile zu begründen seien, worin das Wissen und die Wissenschaft bestehe, welche wir, neben der Sprache und dem besonnenen Handeln, als den dritten großen durch die Vernunft gegebenen Vorzug rühmen.

Die Vernunft ist weiblicher Natur: sie kann nur geben, nachdem sie empfangen hat. Durch sich selbst allein hat sie nichts, als die gehaltlosen Formen ihres Operirens. Vollkommen reine Vernunfterkenntniß giebt es sogar keine andere, als die vier Sätze, welchen ich metalogische Wahrheit beigelegt habe, also die Sätze von der Identität, vom Widerspruch, vom ausgeschlossenen Dritten und vom zureichenden Erkenntnißgrunde. Denn selbst das Uebrige der Logik ist schon nicht mehr vollkommen reine Vernunfterkenntniß, weil es die Verhältnisse und Kombinationen der Sphären der Begriffe voraussetzt; aber Begriffe überhaupt sind erst da, nach vorhergegangenen anschaulichen Vorstellungen, die Beziehung auf welche ihr ganzes Wesen ausmacht, die sie folglich schon voraussetzen. Da indessen diese Voraussetzung sich nicht auf den bestimmten Gehalt der Begriffe, sondern nur allgemein auf ein Daseyn derselben erstreckt; so kann die Logik doch, im Ganzen genommen, für reine Vernunftwissenschaft gelten. In allen übrigen Wissenschaften hat die Vernunft den Gehalt aus den anschaulichen Vorstellungen erhalten: in der Mathematik aus den vor aller Erfahrung anschaulich bewußten Verhältnissen des Raumes und der Zeit; in der reinen Naturwissenschaft, d.h. in dem, was wir vor aller Erfahrung über den Lauf der Natur wissen, geht der Gehalt der Wissenschaft aus dem reinen Verstande hervor, d.h. aus der Erkenntniß a priori des Gesetzes der Kausalität und dessen Verbindung mit jenen reinen Anschauungen des Raumes und der Zeit. In allen andern Wissenschaften gehört Alles, was nicht aus den eben genannten entlehnt ist, der Erfahrung an. Wissen überhaupt heißt: solche Urtheile in der Gewalt seines Geistes zu willkürlicher Reproduktion haben, welche in irgend etwas außer ihnen ihren zureichenden Erkenntnißgrund haben, d.h. wahr sind. Die abstrakte Erkenntniß allein ist also ein Wissen; dieses ist daher durch die Vernunft bedingt, und von den Thieren können wir, genau genommen, nicht sagen, daß sie irgend etwas wissen, wiewohl sie die anschauliche Erkenntniß, für diese auch Erinnerung und eben deshalb Phantasie haben, welche überdies ihr Träumen beweist. Bewußtsein legen wir ihnen bei, dessen Begriff folglich, obgleich das Wort von Wissen genommen ist, mit dem des Vorstellens überhaupt, von welcher Art es auch sei, zusammenfällt. Daher auch legen wir der Pflanze zwar Leben, aber kein Bewußtseyn bei. – Wissen also ist das abstrakte Bewußtseyn, das Fixirthaben in Begriffen der Vernunft, des auf andere Weise überhaupt Erkannten.

§ 11

In dieser Hinsicht ist nun der eigentliche Gegensatz des Wissens das Gefühl, dessen Erörterung wir deshalb hier einschalten müssen. Der Begriff, den das Wort Gefühl bezeichnet, hat durchaus nur einen negativen Inhalt, nämlich diesen, daß etwas, das im Bewußtseyn gegenwärtig ist, nicht Begriff, nicht abstrakte Erkenntniß der Vernunft sei: übrigens mag es seyn, was es will, es gehört unter den Begriff Gefühl, dessen unmäßig weite Sphäre daher die heterogensten Dinge begreift, von denen man nimmer einsieht, wie sie zusammenkommen, so lange man nicht erkannt hat, daß sie allein in dieser negativen Rücksicht, nicht abstrakte Begriffe zu seyn, übereinstimmen. Denn die verschiedensten, ja feindlichsten Elemente liegen ruhig neben einander in jenem Begriff, z.B. religiöses Gefühl, Gefühl der Wollust, moralisches Gefühl, körperliches Gefühl als Getast, als Schmerz, als Gefühl für Farben, für Töne und deren Harmonien und Disharmonien, Gefühl des Hasses, Abscheues, der Selbstzufriedenheit, der Ehre, der Schande, des Rechts, des Unrechts, Gefühl der Wahrheit, ästhetisches Gefühl, Gefühl von Kraft, Schwäche, Gesundheit, Freundschaft, Liebe u.s.w. u.s.w. Durchaus keine Gemeinschaft ist zwischen ihnen, als die negative, daß sie keine abstrakte Vernunfterkenntniß sind; aber dieses wird am auffallendsten, wenn sogar die anschauliche Erkenntniß a priori der räumlichen Verhältnisse, und vollends die des reinen Verstandes unter jenen Begriff gebracht wird, und überhaupt von jeder Erkenntniß, jeder Wahrheit, deren man sich nur erst intuitiv bewußt ist, sie aber noch nicht in abstrakte Begriffe abgesetzt hat, gesagt wird, daß man sie fühle. Hievon will ich, zur Erläuterung, einige Beispiele aus neuem Büchern beibringen, weil sie frappante Belege meiner Erklärung sind. Ich erinnere mich, in der Einleitung einer Verdeutschung des Eukleides gelesen zu haben, man solle die Anfänger in der Geometrie die Figuren erst alle zeichnen lassen, ehe man zum Demonstriren schreite, weil sie alsdann die geometrische Wahrheit schon vorher fühlten, ehe ihnen die Demonstration die vollendete Erkenntniß beibrächte. – Eben so wird in der »Kritik der Sittenlehre« von F. Schleiermacher geredet vom logischen und mathematischen Gefühl (S. 339), auch vom Gefühl der Gleichheit oder Verschiedenheit zweier Formeln (S. 342); ferner in Tennemanns »Geschichte der Philosophie«, Bd. 1, S. 361, heißt es: »Man fühlte, daß die Trugschlüsse nicht richtig waren, konnte aber doch den Fehler nicht entdecken.« – So lange man nun diesen Begriff Gefühl nicht aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet und nicht jenes eine negative Merkmal, welches allein ihm wesentlich ist, erkennt, muß derselbe, wegen der übermäßigen Weite seiner Sphäre und seines bloß negativen, ganz einseitig bestimmten und sehr geringen Gehaltes, beständig Anlaß zu Mißverständnissen und Streitigkeiten geben. Da wir im Deutschen noch das ziemlich gleichbedeutende Wort Empfindung haben, so würde es dienlich seyn, dieses für die körperlichen Gefühle, als eine Unterart, in Beschlag zu nehmen. Der Ursprung jenes gegen alle andern disproportionirten Begriffs Gefühl ist aber ohne Zweifel folgender. Alle Begriffe, und nur Begriffe sind es welche Worte bezeichnen, sind nur für die Vernunft da, gehn von ihr aus: man steht mit ihnen also schon auf einem einseitigen Standpunkt. Aber von einem solchen aus erscheint das Nähere deutlich und wird als positiv gesetzt; das Fernere fließt zusammen und wird bald nur noch negativ berücksichtigt; so nennt jede Nation alle Andern Fremde, der Grieche alle Andern Barbaren, der Engländer Alles, was nicht England oder Englisch ist, continent und continental, der Gläubige alle Andern Ketzer, oder Heiden, der Adel alle Andern roturiers, der Student alle Andern Philister u. dgl, m. Die selbe Einseitigkeit, man kann sagen die selbe rohe Unwissenheit aus Stolz, läßt sich, so sonderbar es auch klingt, die Vernunft selbst zu Schulden kommen, indem sie unter den einen Begriff Gefühl jede Modifikation des Bewußtseyns befaßt, die nur nicht unmittelbar zu ihrer Vorstellungsweise gehört, d.h. nicht abstrakter Begriff ist. Sie hat dieses bisher, weil ihr eigenes Verfahren ihr nicht durch gründliche Selbstkenntniß deutlich geworden war, büßen müssen durch Mißverständnisse und Verirrungen auf ihrem eigenen Gebiet, da man sogar ein besonderes Gefühlsvermögen aufgestellt hat und nun Theorien desselben konstruirt.

§ 12

Wissen, als dessen kontradiktorisches Gegentheil ich soeben den Begriff Gefühl erörtert habe, ist, wie gesagt, jede abstrakte Erkenntniß, d.h. Vernunfterkenntniß. Da nun aber die Vernunft immer nur das anderweitig Empfangene wieder vor die Erkenntniß bringt, so erweitert sie nicht eigentlich unser Erkennen, sondern giebt ihm bloß eine andere Form. Nämlich was intuitiv, was in concreto erkannt wurde, läßt sie abstrakt und allgemein erkennen. Dies ist aber ungleich wichtiger, als es, so ausgedrückt, dem ersten Blicke scheint. Denn alles sichere Aufbewahren, alle Mittheilbarkeit und alle sichere und weitreichende Anwendung der Erkenntniß auf das Praktische hängt davon ab, daß sie ein Wissen, eine abstrakte Erkenntniß geworden sei. Die intuitive Erkenntniß gilt immer nur vom einzelnen Fall, geht nur auf das Nächste, und bleibt bei diesem stehn, weil Sinnlichkeit und Verstand eigentlich nur ein Objekt zur Zeit auffassen können. Jede anhaltende, zusammengesetzte, planmäßige Thätigkeit muß daher von Grundsätzen, also von einem abstrakten Wissen ausgehn und danach geleitet werden. So ist z.B. die Erkenntniß, welche der Verstand vom Verhältniß der Ursache und Wirkung hat, zwar an sich viel vollkommener, tiefer und erschöpfender, als was davon in abstracto sich denken läßt: der Verstand allein erkennt anschaulich unmittelbar und vollkommen die Art des Wirkens eines Hebels, Flaschenzuges, Kammrades, das Ruhen eines Gewölbes in sich selbst u.s.w. Aber wegen der eben berührten Eigenschaft der intuitiven Erkenntniß, nur auf das unmittelbar Gegenwärtige zu gehn, reicht der bloße Verstand nicht hin zur Konstruktion von Maschinen und Gebäuden: vielmehr muß hier die Vernunft eintreten, an die Stelle der Anschauungen abstrakte Begriffe setzen, solche zur Richtschnur des Wirkens nehmen, und waren sie richtig, so wird der Erfolg eintreffen. Eben so erkennen wir in reiner Anschauung vollkommen das Wesen und die Gesetzmäßigkeit einer Parabel, Hyperbel, Spirale; aber um von dieser Erkenntniß sichere Anwendung in der Wirklichkeit zu machen, mußte sie zuvor zum abstrakten Wissen geworden seyn, wobei sie freilich die Anschaulichkeit einbüßt, aber dafür die Sicherheit und Bestimmtheit des abstrakten Wissens gewinnt. Also erweitert alle Differentialrechnung eigentlich gar nicht unsere Erkenntniß von den Kurven, enthält nichts mehr, als was schon die bloße reine Anschauung derselben; aber sie ändert die Art der Erkenntniß, verwandelt die intuitive in eine abstrakte, welches für die Anwendung so höchst folgenreich ist. Hier kommt nun aber noch eine Eigenthümlichkeit unsers Erkenntnißvermögens zur Sprache, welche man bisher wohl nicht bemerken konnte, so lange der Unterschied zwischen anschaulicher und abstrakter Erkenntniß nicht vollkommen deutlich gemacht war. Es ist diese, daß die Verhältnisse des Raums nicht unmittelbar und als solche in die abstrakte Erkenntniß übertragen werden können, sondern hiezu allein die zeitlichen Größen, d.h. die Zahlen geeignet sind. Die Zahlen allein können in ihnen genau entsprechenden abstrakten Begriffen ausgedrückt werden, nicht die räumlichen Größen. Der Begriff Tausend ist vom Begriff Zehn genau so verschieden, wie beide zeitliche Größen es in der Anschauung sind: wir denken bei Tausend ein bestimmt vielfaches von Zehn, in welches wir jenes für die Anschauung in der Zeit beliebig auflösen können, d.h. es zählen können. Aber zwischen dem abstrakten Begriff einer Meile und dem eines Fußes, ohne alle anschauliche Vorstellung von beiden und ohne Hülfe der Zahl, ist gar kein genauer und jenen Größen selbst entsprechender Unterschied. In beiden wird überhaupt nur eine räumliche Größe gedacht, und sollen beide hinlänglich unterschieden werden, so muß durchaus entweder die räumliche Anschauung zu Hülfe genommen, also schon das Gebiet der abstrakten Erkenntniß verlassen werden, oder man muß den Unterschied in Zahlen denken. Will man also von den räumlichen Verhältnissen abstrakte Erkenntniß haben, so müssen sie erst in zeitliche Verhältnisse, d.h. in Zahlen, übertragen werden: deswegen ist nur die Arithmetik, nicht die Geometrie, allgemeine Größenlehre, und die Geometrie muß in Arithmetik übersetzt werden, wenn sie Mittheilbarkeit, genaue Bestimmtheit und Anwendbarkeit auf das Praktische haben soll. Zwar läßt sich ein räumliches Verhältniß als solches auch in abstracto denken, z.B. »der Sinus wächst nach Maaßgabe des Winkels«; aber wenn die Größe dieses Verhältnisses angegeben werden soll, bedarf es der Zahl. Diese Nothwendigkeit, daß der Raum, mit seinen drei Dimensionen, in die Zeit, welche nur eine Dimension hat, übersetzt werden muß, wenn man eine abstrakte Erkenntniß (d.h. ein Wissen, kein bloßes Anschauen) seiner Verhältnisse haben will, diese Nothwendigkeit ist es, welche die Mathematik so schwierig macht. Dies wird sehr deutlich, wenn wir die Anschauung der Kurven vergleichen mit der analytischen Berechnung derselben, oder auch nur die Tafeln der Logarithmen der trigonometrischen Funktionen mit der Anschauung der wechselnden Verhältnisse der Theile des Dreiecks, welche durch jene ausgedrückt werden: was hier die Anschauung in einem Blick, vollkommen und mit äußerster Genauigkeit auffaßt, nämlich wie der Kosinus abnimmt, indem der Sinus wächst, wie der Kosinus des einen Winkels der Sinus des andern ist, das umgekehrte Verhältniß der Ab- und Zunahme beider Winkel u.s.w., welches Ungeheuern Gewebes von Zahlen, welcher mühsäligen Rechnung bedurfte es nicht, um dieses in abstracto auszudrücken: wie muß nicht, kann man sagen, die Zeit mit ihrer einen Dimension sich quälen, um die drei Dimensionen des Raumes wiederzugeben! Aber dies war nothwendig, wenn wir, zum Behuf der Anwendung, die Verhältnisse des Raumes in abstrakte Begriffe niedergelegt besitzen wollten: unmittelbar konnten jene nicht in diese eingehn, sondern nur durch Vermittelung der rein zeitlichen Größe, der Zahl, als welche allein der abstrakten Erkenntniß sich unmittelbar anfügt. Noch ist bemerkenswerth, daß, wie der Raum sich so sehr für die Anschauung eignet und, mittelst seiner drei Dimensionen, selbst komplicirte Verhältnisse leicht übersehn läßt, dagegen der abstrakten Erkenntniß sich entzieht; umgekehrt die Zeit zwar leicht in die abstrakten Begriffe eingeht, dagegen aber der Anschauung sehr wenig giebt: unsere Anschauung der Zahlen in ihrem eigenthümlichen Element, der bloßen Zeit, ohne Hinzuziehung des Raumes, geht kaum bis Zehn; darüber hinaus haben wir nur noch abstrakte Begriffe, nicht mehr anschauliche Erkenntniß der Zahlen: hingegen verbinden wir mit jedem Zahlwort und allen algebraischen Zeichen genau bestimmte abstrakte Begriffe.

Nebenbei ist hier zu bemerken, daß manche Geister nur im anschaulich Erkannten völlige Befriedigung finden. Grund und Folge des Seyns im Raum anschaulich dargelegt, ist es, was sie suchen: ein Eukleidischer Beweis, oder eine arithmetische Auflösung räumlicher Probleme, spricht sie nicht an. Andere Geister hingegen verlangen die zur Anwendung und Mittheilung allein brauchbaren abstrakten Begriffe: sie haben Geduld und Gedächtniß für abstrakte Sätze, Formeln, Beweisführungen in langen Schlußketten, und Rechnungen, deren Zeichen die komplicirtesten Abstraktionen vertreten. Diese suchen Bestimmtheit: jene Anschaulichkeit. Der Unterschied ist charakteristisch.

Das Wissen, die abstrakte Erkenntniß, hat ihren größten Werth in der Mittheilbarkeit und in der Möglichkeit, fixirt aufbehalten zu werden: erst hiedurch wird sie für das Praktische so unschätzbar wichtig. Einer kann vom kausalen Zusammenhange der Veränderungen und Bewegungen natürlicher Körper eine unmittelbare, anschauliche Erkenntniß im bloßen Verstande haben und in derselben völlige Befriedigung finden; aber zur Mittheilung wird sie erst geschickt, nachdem er sie in Begriffen fixirt hat. Selbst für das Praktische ist eine Erkenntniß der ersten Art hinreichend, sobald er auch die Ausführung ganz allein übernimmt, und zwar in einer, während noch die anschauliche Erkenntniß lebendig ist, ausführbaren Handlung; nicht aber, wenn er fremder Hülfe, oder auch nur eines zu verschiedenen Zeiten eintretenden eigenen Handelns und daher eines überlegten Planes bedarf. So kann z.B. ein geübter Billiardspieler eine vollständige Kenntniß der Gesetze des Stoßes elastischer Körper auf einander haben, bloß im Verstande, bloß für die unmittelbare Anschauung, und er reicht damit vollkommen aus: hingegen hat nur der wissenschaftliche Mechaniker ein eigentliches Wissen jener Gesetze, d.h. eine Erkenntniß in abstracto davon. Selbst zur Konstruktion von Maschinen reicht jene bloß intuitive Verstandeserkenntniß hin, wenn der Erfinder der Maschine sie auch allein ausführt, wie man oft an talentvollen Handwerkern ohne alle Wissenschaft sieht: hingegen sobald mehrere Menschen und eine zusammengesetzte, zu verschiedenen Zeitpunkten eintretende Thätigkeit derselben zur Ausführung einer mechanischen Operation, einer Maschine, eines Baues nöthig sind, muß der, welcher sie leitet, den Plan in abstracto entworfen haben, und nur durch Beihülfe der Vernunft ist eine solche zusammenwirkende Thätigkeit möglich. Merkwürdig ist es aber, daß bei jener ersten Art von Thätigkeit, wo Einer allein, in einer ununterbrochenen Handlung etwas ausführen soll, das Wissen, die Anwendung der Vernunft, die Reflexion ihm sogar oft hinderlich seyn kann, z.B. eben beim Billiardspielen, beim Fechten, beim Stimmen eines Instruments, beim Singen: hier muß die anschauliche Erkenntniß die Thätigkeit unmittelbar leiten: das Durchgehn durch die Reflexion macht sie unsicher, indem es die Aufmerksamkeit theilt und den Menschen verwirrt. Darum führen Wilde und rohe Menschen, die sehr wenig zu denken gewohnt sind, manche Leibesübungen, den Kampf mit Thieren, das Treffen mit dem Pfeil u. dgl. mit einer Sicherheit und Geschwindigkeit aus, die der reflektirende Europäer nie erreicht, eben weil seine Ueberlegung ihn schwanken und zaudern macht: denn er sucht z.B. die rechte Stelle, oder den rechten Zeitpunkt, aus dem gleichen Abstand von beiden falschen Extremen zu finden: der Naturmensch trifft sie unmittelbar, ohne auf die Abwege zu reflektiren. Eben so hilft es mir nicht, wenn ich den Winkel, in welchem ich das Rasiermesser anzusetzen habe, nach Graden und Minuten in abstracto anzugeben weiß, wenn ich ihn nicht intuitiv kenne, d.h. im Griff habe. Auf gleiche Weise störend ist ferner die Anwendung der Vernunft bei dem Verständniß der Physiognomie: auch dieses muß unmittelbar durch den Verstand geschehn: der Ausdruck, die Bedeutung der Züge läßt sich nur fühlen, sagt man, d.h. eben geht nicht in die abstrakten Begriffe ein. Jeder Mensch hat seine unmittelbare intuitive Physiognomik und Pathognomik: doch erkennt Einer deutlicher, als der Andere, jene signatura rerum. Aber eine Physiognomik in abstracto zum Lehren und Lernen ist nicht zu Stande zu bringen; weil die Nuancen hier so fein sind, daß der Begriff nicht zu ihnen herab kann; daher das abstrakte Wissen sich zu ihnen verhält, wie ein musivisches Bild zu einem van der Werft oder Denner: wie, so fein auch die Musaik ist, die Gränzen der Steine doch stets bleiben und daher kein stetiger Uebergang einer Tinte in die andere möglich ist; so sind auch die Begriffe, mit ihrer Starrheit und scharfen Begränzung; so fein man sie auch durch nähere Bestimmung spalten möchte, stets unfähig, die feinen Modifikationen des Anschaulichen zu erreichen, auf welche es, bei der hier zum Beispiel genommenen Physiognomik, gerade ankommt20.

Diese nämliche Beschaffenheit der Begriffe, welche sie den Steinen des Musivbildes ähnlich macht, und vermöge welcher die Anschauung stets ihre Asymptote bleibt, ist auch der Grund, weshalb in der Kunst nichts Gutes durch sie geleistet wird. Will der Sänger, oder Virtuose, seinen Vortrag durch Reflexion leiten, so bleibt er todt. Das Selbe gilt vom Komponisten, vom Maler, ja vom Dichter: immer bleibt für die Kunst der Begriff unfruchtbar: bloß das Technische in ihr mag er leiten: sein Gebiet ist die Wissenschaft. Wir werden im dritten Buch näher untersuchen, weshalb alle ächte Kunst aus der anschaulichen Erkenntniß hervorgeht, nie aus dem Begriff. – Sogar auch in Hinsicht auf das Betragen, auf die persönliche Annehmlichkeit im Umgange, taugt der Begriff nur negativ, um die groben Ausbrüche des Egoismus und der Bestialität zurückzuhalten, wie denn die Höflichkeit sein löbliches Werk ist; aber das Anziehende, Gratiose, Einnehmende des Betragens, das Liebevolle und Freundliche, darf nicht aus dem Begriff hervorgegangen seyn: sonst

»fühlt man Absicht und man ist verstimmt.«

Alle Verstellung ist Werk der Reflexion; aber auf die Dauer und unausgesetzt ist sie nicht haltbar: nemo potest personam diu ferre fictam, sagt Seneka, im Buche de clementia: auch wird sie dann meistens erkannt und verfehlt ihre Wirkung. Im hohen Lebensdrange, wo es schneller Entschlüsse, kecken Handelns, raschen und festen Eingreifens bedarf, ist zwar Vernunft nöthig, kann aber, wenn sie die Oberhand gewinnt und das intuitive, unmittelbare, rein verständige Ausfinden und zugleich Ergreifen des Rechten verwirrend hindert und Unentschlossenheit herbeiführt, leicht Alles verderben.

Endlich geht auch Tugend und Heiligkeit nicht aus Reflexion hervor, sondern aus der Innern Tiefe des Willens und deren Verhältniß zum Erkennen. Diese Erörterung gehört an eine ganz andere Stelle dieser Schrift: nur so viel mag ich hier bemerken, daß die auf das Ethische sich beziehenden Dogmen in der Vernunft ganzer Nationen die selben seyn können, aber das Handeln in jedem Individuo ein anderes, und so auch umgekehrt: das Handeln geschieht, wie man spricht, nach Gefühlen: d.h. eben nur nicht nach Begriffen, nämlich dem ethischen Gehalte nach. Die Dogmen beschäftigen die müßige Vernunft: das Handeln geht zuletzt unabhängig von ihnen seinen Gang, meistens nicht nach abstrakten, sondern nach unausgesprochenen Maximen, deren Ausdruck eben der ganze Mensch selbst ist. Daher, wie verschieden auch die religiösen Dogmen der Völker sind, so ist doch bei allen die gute That von unaussprechlicher Zufriedenheit, die böse von unendlichem Grausen begleitet: erstere erschüttert kein Spott: von letzterem befreit keine Absolution des Beichtvaters. Jedoch soll hiedurch nicht geleugnet werden, daß bei der Durchführung eines tugendhaften Wandels Anwendung der Vernunft nöthig sei: nur ist sie nicht die Quelle desselben; sondern ihre Funktion ist eine untergeordnete, nämlich die Bewahrung gefaßter Entschlüsse, das Vorhalten der Maximen, zum Widerstand gegen die Schwäche des Augenblicks und zur Konsequenz des Handelns. Das Selbe leistet sie am Ende auch in der Kunst, wo sie doch eben so in der Hauptsache nichts vermag, aber die Ausführung unterstützt, eben weil der Genius nicht in jeder Stunde zu Gebote steht, das Werk aber doch in allen Theilen vollendet und zu einem Ganzen gerundet seyn soll21.

§ 13

Alle diese Betrachtungen sowohl des Nutzens, als des Nachtheils der Anwendung der Vernunft, sollen dienen deutlich zu machen, daß, obwohl das abstrakte Wissen der Reflex der anschaulichen Vorstellung und auf diese gegründet ist, es ihr doch keineswegs so kongruirt, daß es überall die Stelle derselben vertreten könnte: vielmehr entspricht es ihr nie ganz genau; daher wie wir gesehn haben, zwar viele der menschlichen Verrichtungen nur durch Hülfe der Vernunft und des überlegten Verfahrens, jedoch einige besser ohne deren Anwendung zu Stande kommen. – Eben jene Inkongruenz der anschaulichen und der abstrakten Erkenntniß, vermöge welcher diese sich jener immer nur so annähert, wie die Musivarbeit der Malerei, ist nun auch der Grund eines sehr merkwürdigen Phänomens, welches, eben wie die Vernunft, der menschlichen Natur ausschließlich eigen ist, dessen bisher immer von Neuem versuchte Erklärungen aber alle ungenügend sind: ich meine das Lachen. Wir können, dieses seines Ursprunges wegen, uns einer Erörterung desselben an dieser Stelle nicht entziehn, obwohl sie unsern Gang von Neuem aufhält. Das Lachen entsteht jedesmal aus nichts Anderm, als aus der plötzlich wahrgenommenen Inkongruenz zwischen einem Begriff und den realen Objekten, die durch ihn, in irgend einer Beziehung, gedacht worden waren, und es ist selbst eben nur der Ausdruck dieser Inkongruenz. Sie tritt oft dadurch hervor, daß zwei oder mehrere reale Objekte durch einen Begriff gedacht und seine Identität auf sie übertragen wird; darauf aber eine gänzliche Verschiedenheit derselben im Uebrigen es auffallend macht, daß der Begriff nur in einer einseitigen Rücksicht auf sie paßte. Eben so oft jedoch ist es ein einziges reales Objekt, dessen Inkongruenz zu dem Begriff, dem es einerseits mit Recht subsumirt worden, plötzlich fühlbar wird. Je richtiger nun einerseits die Subsumtion solcher Wirklichkeiten unter den Begriff ist, und je größer und greller andererseits ihre Unangemessenheit zu ihm, desto stärker ist die aus diesem Gegensatz entspringende Wirkung des Lächerlichen. Jedes Lachen also entsteht auf Anlaß einer paradoxen und daher unerwarteten Subsumtion; gleichviel ob diese durch Worte, oder Thaten sich ausspricht. Dies ist in der Kürze die richtige Erklärung des Lächerlichen.

Ich werde mich hier nicht damit aufhalten, Anekdoten als Beispiele desselben zu erzählen, um daran meine Erklärung zu erläutern: denn diese ist so einfach und faßlich, daß sie dessen nicht bedarf, und zum Beleg derselben ist jedes Lächerliche, dessen sich der Leser erinnert, auf gleiche Weise tauglich. Wohl aber erhält unsere Erklärung Bestätigung und Erläuterung zugleich durch die Entfaltung zweier Arten des Lächerlichen, in welche es zerfällt, und die eben aus jener Erklärung hervorgehn. Entweder nämlich sind in der Erkenntniß zwei oder mehrere sehr verschiedene reale Objekte, anschauliche Vorstellungen, vorhergegangen, und man hat sie willkürlich durch die Einheit eines beide fassenden Begriffes Identificirt; diese Art des Lächerlichen heißt Witz. Oder aber umgekehrt, der Begriff ist in der Erkenntniß zuerst da, und man geht nun von ihm zur Realität und zum Wirken auf dieselbe, zum Handeln über: Objekte, die übrigens grundverschieden, aber alle in jenem Begriffe gedacht sind, werden nun auf gleiche Weise angesehn und behandelt, bis ihre übrige große Verschiedenheit zur Ueberraschung und zum Erstaunen des Handelnden hervortritt: diese Art des Lächerlichen heißt Narrheit. Demnach ist jedes Lächerliche entweder ein witziger Einfall, oder eine närrische Handlung, je nachdem von der Diskrepanz der Objekte auf die Identität des Begriffs, oder aber umgekehrt gegangen wurde: ersteres immer willkürlich, letzteres immer unwillkürlich und von außen aufgedrungen. Diesen Ausgangspunkt nun aber scheinbar umzukehren und Witz als Narrheit zu maskiren, ist die Kunst des Hofnarren und des Hanswurst: ein solcher, der Diversität der Objekte sich wohl bewußt, vereinigt dieselben, mit heimlichem Witz, unter einem Begriff, von welchem sodann ausgehend er von der nachher gefundenen Diversität der Objekte diejenige Ueberraschung erhält, welche er selbst sich vorbereitet hatte. – Es ergiebt sich aus dieser kurzen, aber hinreichenden Theorie des Lächerlichen, daß, letztem Fall der Lustigmacher bei Seite gesetzt, der Witz sich immer in Worten zeigen muß, die Narrheit aber meistens in Handlungen, wiewohl auch in Worten, wenn sie nämlich nur ihr Vorhaben ausspricht, statt es wirklich zu vollführen, oder auch sich in bloßen Urtheilen und Meinungen äußert.

Zur Narrheit gehört auch die Pedanterei. Sie entsteht daraus, daß man wenig Zutrauen zu seinem eigenen Verstande hat und daher ihm es nicht überlassen mag, im einzelnen Fall unmittelbar das Rechte zu erkennen, demnach ihn ganz und gar unter die Vormundschaft der Vernunft stellt und sich dieser überall bedienen, d.h. immer von allgemeinen Begriffen, Regeln, Maximen ausgehn und sich genau an sie halten will, im Leben, in der Kunst, ja im ethischen Wohlverhalten. Daher das der Pedanterei eigene Kleben an der Form, an der Manier, am Ausdruck und Wort, welche bei ihr an die Stelle des Wesens der Sache treten. Da zeigt sich denn bald die Inkongruenz des Begriffs zur Realität, zeigt sich, wie jener nie auf das Einzelne herabgeht und wie seine Allgemeinheit und starre Bestimmtheit nie genau zu den feinen Nuancen und mannigfaltigen Modifikationen der Wirklichkeit passen kann. Der Pedant kommt daher mit seinen allgemeinen Maximen im Leben fast immer zu kurz, zeigt sich unklug, abgeschmackt, unbrauchbar: in der Kunst, für die der Begriff unfruchtbar ist, producirt er leblose, steife, manierirte Aftergeburten. Sogar in ethischer Hinsicht kann der Vorsatz, recht oder edel zu handeln, nicht überall nach abstrakten Maximen ausgeführt werden; weil in vielen Fällen die unendlich fein nüancirte Beschaffenheit der Umstände eine unmittelbar aus dem Charakter hervorgegangene Wahl des Rechten nöthig macht, indem die Anwendung bloß abstrakter Maximen theils, weil sie nur halb passen, falsche Resultate giebt, theils nicht durchzuführen ist, indem sie dem individuellen Charakter des Handelnden fremd sind und dieser sich nie ganz verleugnen läßt: daher dann Inkonsequenzen folgen. Wir können Kanten, sofern er zur Bedingung des moralischen Werths einer Handlung macht, daß sie aus rein vernünftigen abstrakten Maximen, ohne alle Neigung oder momentane Aufwallung geschehe, vom Vorwurf der Veranlassung moralischer Pedanterei nicht ganz frei sprechen; welcher Vorwurf auch der Sinn des Schillerschen Epigramms, »Gewissensskrupel« überschrieben, ist. – Wenn, besonders in politischen Angelegenheiten, geredet wird von Doktrinairs, Theoretikern, Gelehrten u.s.w.; so sind Pedanten gemeint, d.h. Leute, welche die Dinge wohl in abstracto, aber nicht in concreto kennen. Die Abstraktion besteht im Wegdenken der näheren Bestimmungen: gerade auf diese aber kommt im Praktischen sehr viel an.

Noch ist, zur Vervollständigung der Theorie, eine Afterart des Witzes zu erwähnen, das Wortspiel, calembourg, pun, zu welchem auch die Zweideutigkeit, l'équivoque, deren Hauptgebrauch der obscöne (die Zote) ist, gezogen werden kann. Wie der Witz zwei sehr verschiedene reale Objekte unter einen Begriff zwingt, so bringt das Wortspiel zwei verschiedene Begriffe, durch Benutzung des Zufalls, unter ein Wort: der selbe Kontrast entsteht wieder, aber viel matter und oberflächlicher, weil er nicht aus dem Wesen der Dinge, sondern aus dem Zufall der Namengebung entsprungen ist. Beim Witz ist die Identität im Begriff, die Verschiedenheit in der Wirklichkeit; beim Wortspiel aber ist die Verschiedenheit in den Begriffen und die Identität in der Wirklichkeit, als zu welcher der Wortlaut gehört. Es wäre nur ein etwas zu gesuchtes Gleichniß, wenn man sagte, das Wortspiel verhalte sich zum Witz, wie die Hyperbel des obern umgekehrten Kegels zu der des untern. Der Mißverstand des Worts aber, oder das quid pro quo, ist der unwillkürliche Calembourg, und verhält sich zu diesem gerade so wie die Narrheit zum Witz; daher auch muß oft der Harthörige, so gut wie der Narr, Stoff zum Lachen geben, und schlechte Komödienschreiber brauchen jenen statt diesen, um Lachen zu erregen.

Ich habe das Lachen hier bloß von der psychischen Seite betrachtet: hinsichtlich der physischen verweise ich auf das in Parerga, Bd. 2, Kap. 6, § 96, S. 134 (erste Aufl.), darüber Beigebrachte.22

§ 14

Von allen diesen mannigfaltigen Betrachtungen, durch welche hoffentlich der Unterschied und das Verhältniß zwischen der Erkenntnißweise der Vernunft, dem Wissen, dem Begriff einerseits, und der unmittelbaren Erkenntniß in der reinsinnlichen, mathematischen Anschauung und der Auffassung durch den Verstand andererseits, zu völliger Deutlichkeit gebracht ist, ferner auch von den episodischen Erörterungen über Gefühl und Lachen, auf welche wir durch die Betrachtung jenes merkwürdigen Verhältnisses unserer Erkenntnißweisen fast unumgänglich geleitet wurden, – kehre ich nunmehr zurück zur fernern Erörterung der Wissenschaft, als des, neben Sprache und besonnenem Handeln, dritten Vorzugs, den die Vernunft dem Menschen giebt. Die allgemeine Betrachtung der Wissenschaft, die uns hier obliegt, wird theils ihre Form, theils die Begründung ihrer Urtheile, endlich auch ihren Gehalt betreffen.

Wir haben gesehn, daß, die Grundlage der reinen Logik ausgenommen, alles Wissen überhaupt seinen Ursprung nicht in der Vernunft selbst hat; sondern, anderweitig als anschauliche Erkenntniß gewonnen, in ihr niedergelegt ist, indem es dadurch in eine ganz andere Erkenntnißweise, die abstrakte, übergieng. Alles Wissen, d.h. zum Bewußtsein in abstracto erhobene Erkenntniß, verhält sich zur eigentlichen Wissenschaft, wie ein Bruchstück zum Ganzen. Jeder Mensch hat durch Erfahrung, durch Betrachtung des sich darbietenden Einzelnen, ein Wissen um mancherlei Dinge erlangt; aber nur wer sich die Aufgabe macht, über irgend eine Art von Gegenständen vollständige Erkenntniß in abstracto zu erlangen, strebt nach Wissenschaft. Durch den Begriff allein kann er jene Art aussondern; daher steht an der Spitze jeder Wissenschaft ein Begriff, durch welchen der Theil aus dem Ganzen aller Dinge gedacht wird, von welchem sie eine vollständige Erkenntniß in abstracto verspricht: z.B. der Begriff der räumlichen Verhältnisse, oder des Wirkens unorganischer Körper auf einander, oder der Beschaffenheit der Pflanzen, der Thiere, oder der successiven Veränderungen der Oberfläche des Erdballs, oder der Veränderungen des Menschengeschlechts im Ganzen, oder des Baues einer Sprache u.s.w. Wollte die Wissenschaft die Kenntniß von ihrem Gegenstande dadurch erlangen, daß sie alle durch den Begriff gedachten Dinge einzeln erforschte, bis sie so allmälig das Ganze erkannt hätte; so würde theils kein menschliches Gedächtniß zureichen, theils keine Gewißheit der Vollständigkeit zu erlangen seyn. Daher benutzt sie jene oben erörterte Eigenthümlichkeit der Begriffssphären, einander einzuschließen, und geht hauptsächlich auf die weiteren Sphären, welche innerhalb des Begriffs ihres Gegenstandes überhaupt liegen: indem sie deren Verhältnisse zu einander bestimmt hat, ist eben damit auch alles in ihnen Gedachte im Allgemeinen mit bestimmt und kann nun, mittelst Aussonderung immer engerer Begriffssphären, genauer und genauer bestimmt werden. Hiedurch wird es möglich, daß eine Wissenschaft ihren Gegenstand ganz umfasse. Dieser Weg, den sie zur Erkenntniß geht, nämlich vom Allgemeinen zum Besonderen, unterscheidet sie vom gemeinen Wissen: daher ist die systematische Form ein wesentliches und charakteristisches Merkmal der Wissenschaft. Die Verbindung der allgemeinsten Begriffssphären jeder Wissenschaft, d.h. die Kenntniß ihrer obersten Sätze, ist unumgängliche Bedingung ihrer Erlernung: wie weit man von diesen auf die mehr besonderen Sätze gehn will, ist beliebig und vermehrt nicht die Gründlichkeit, sondern den Umfang der Gelehrsamkeit. – Die Zahl der oberen Sätze, welchen die übrigen alle untergeordnet sind, ist in den verschiedenen Wissenschaften sehr verschieden, so daß in einigen mehr Subordination, in andern mehr Koordination ist; in welcher Hinsicht jene mehr die Urtheilskraft, diese das Gedächtniß in Anspruch nehmen. Es war schon den Scholastikern bekannt23, daß, weil der Schluß zwei Prämissen erfordert, keine Wissenschaft von einem einzigen nicht weiter abzuleitenden Obersatz ausgehn kann; sondern deren mehrere, wenigstens zwei, haben muß. Die eigentlich klassificirenden Wissenschaften: Zoologie, Botanik, auch Physik und Chemie, sofern diese letzteren auf wenige Grundkräfte alles unorganische Wirken zurückführen, haben die meiste Subordination; hingegen hat Geschichte eigentlich gar keine, da das Allgemeine in ihr bloß in der Uebersicht der Hauptperioden besteht, aus denen aber die besonderen Begebenheiten sich nicht ableiten lassen und ihnen nur der Zeit nach subordinirt, dem Begriff nach koordinirt sind: daher Geschichte, genau genommen, zwar ein Wissen, aber keine Wissenschaft ist. In der Mathematik sind zwar, nach der Eukleidischen Behandlung, die Axiome die allein indemonstrabeln Obersätze und ihnen alle Demonstrationen stufenweise streng subordinirt: jedoch ist diese Behandlung ihr nicht wesentlich, und in der That hebt jeder Lehrsatz doch wieder eine neue räumliche Konstruktion an, die an sich von den vorherigen unabhängig ist und eigentlich auch völlig unabhängig von ihnen erkannt werden kann, aus sich selbst, in der reinen Anschauung des Raumes, in welcher auch die verwickelteste Konstruktion eigentlich so unmittelbar evident ist, wie das Axiom: doch davon ausführlich weiter unten. Inzwischen bleibt immer jeder mathematische Satz doch eine allgemeine Wahrheit, welche für unzählige einzelne Fälle gilt, auch ist ein stufenweiser Gang von den einfachen Sätzen zu den komplicirten, welche auf jene zurückzuführen sind, ihr wesentlich: also ist Mathematik in jeder Hinsicht Wissenschaft. – Die Vollkommenheit einer Wissenschaft als solcher, d.h. der Form nach, besteht darin, daß so viel wie möglich Subordination und wenig Koordination der Sätze sei. Das allgemein wissenschaftliche Talent ist demnach die Fähigkeit, die Begriffssphären nach ihren verschiedenen Bestimmungen zu subordiniren, damit, wie Plato wiederholentlich anempfiehlt, nicht bloß ein Allgemeines und unmittelbar unter diesem eine unübersehbare Mannigfaltigkeit neben einander gestellt die Wissenschaft ausmache; sondern vom Allgemeinsten zum Besonderen die Kenntniß allmälig herabschreite, durch Mittelbegriffe und nach immer näheren Bestimmungen gemachte Eintheilungen. Nach Kants Ausdrücken heißt dies, dem Gesetz der Homogeneität und dem der Specifikation gleichmäßig Genüge leisten. Eben daraus aber, daß dieses die eigentliche wissenschaftliche Vollkommenheit ausmacht, ergiebt sich, daß der Zweck der Wissenschaft nicht größere Gewißheit ist: denn diese kann auch die abgerissenste einzelne Erkenntniß eben so sehr haben; sondern Erleichterung des Wissens, durch die Form desselben, und dadurch gegebene Möglichkeit der Vollständigkeit des Wissens. Es ist deshalb eine zwar gangbare, aber verkehrte Meinung, daß Wissenschaftlichkeit der Erkenntniß in der größern Gewißheit bestehe, und eben so falsch ist die hieraus hervorgegangene Behauptung, daß nur Mathematik und Logik Wissenschaften im eigentlichen Sinne wären; weil nur in ihnen, wegen ihrer gänzlichen Apriorität, unumstößliche Gewißheit der Erkenntniß ist. Dieser letztere Vorzug selbst ist ihnen nicht abzustreiten: nur giebt er ihnen keinen besonderen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, als welche nicht in der Sicherheit, sondern in der durch das stufenweise Herabsteigen vom Allgemeinen zum Besonderen begründeten systematischen Form der Erkenntniß liegt. – Dieser den Wissenschaften eigenthümliche Weg der Erkenntniß, vom Allgemeinen zum Besonderen, bringt es mit sich, daß in ihnen Vieles durch Ableitung aus vorhergegangenen Sätzen, also durch Beweise, begründet wird, und dies hat den alten Irrthum veranlaßt, daß nur das Bewiesene vollkommen wahr sei und jede Wahrheit eines Beweises bedürfe; da vielmehr im Gegentheil jeder Beweis einer unbewiesenen Wahrheit bedarf, die zuletzt ihn, oder auch wieder seine Beweise, stützt: daher eine unmittelbar begründete Wahrheit der durch einen Beweis begründeten so vorzuziehn ist, wie Wasser aus der Quelle dem aus dem Aquädukt, Anschauung, theils reine a priori, wie sie die Mathematik, theils empirische a posteriori, wie sie alle andern Wissenschaften begründet, ist die Quelle aller Wahrheit und die Grundlage aller Wissenschaft. (Auszunehmen ist allein die auf nichtanschauliche, aber doch unmittelbare Kenntniß der Vernunft von ihren eigenen Gesetzen gegründete Logik.) Nicht die bewiesenen Urtheile, noch ihre Beweise; sondern jene aus der Anschauung unmittelbar geschöpften und auf sie, statt alles Beweises, gegründeten Urtheile sind in der Wissenschaft das, was die Sonne im Weltgebäude: denn von ihnen geht alles Licht aus, von welchem erleuchtet die andern wieder leuchten. Unmittelbar aus der Anschauung die Wahrheit solcher ersten Urtheile zu begründen, solche Grundvesten der Wissenschaft aus der unübersehbaren Menge realer Dinge herauszuheben; das ist das Werk der Urtheilskraft, welche in dem Vermögen, das anschaulich Erkannte richtig und genau ins abstrakte Bewußtseyn zu übertragen, besteht, und demnach die Vermittlerin zwischen Verstand und Vernunft ist. Nur ausgezeichnete und das gewöhnliche Maaß überschreitende Stärke derselben in einem Individuo kann die Wissenschaften wirklich weiter bringen; aber Sätze aus Sätzen zu folgern, zu beweisen, zu schließen, vermag Jeder, der nur gesunde Vernunft hat. Hingegen das anschaulich Erkannte in angemessene Begriffe für die Reflexion absetzen und fixiren, so daß einerseits das Gemeinsame vieler realen Objekte durch einen Begriff, andererseits ihr Verschiedenes durch eben so viele Begriffe gedacht wird, und also das Verschiedene, trotz einer theilweisen Uebereinstimmung, doch als verschieden, dann aber wieder das Identische, trotz einer theilweisen Verschiedenheit, doch als identisch erkannt und gedacht wird, Alles gemäß dem Zweck und der Rücksicht, die jedesmal obwalten: dies Alles thut die Urtheilskraft. Mangel derselben ist Einfalt. Der Einfältige verkennt bald die theilweise oder relative Verschiedenheit des in einer Rücksicht Identischen, bald die Identität des relativ oder theilweise Verschiedenen. Uebrigens kann auch auf diese Erklärung der Urtheilskraft Kants Eintheilung derselben in reflektirende und subsumirende angewandt werden, je nachdem sie nämlich von den anschaulichen Objekten zum Begriff, oder von diesem zu jenen übergeht, in beiden Fällen immer vermittelnd zwischen der anschaulichen Erkenntniß des Verstandes und der reflektiven der Vernunft. – Es kann keine Wahrheit geben, die unbedingt allein durch Schlüsse herauszubringen wäre; sondern die Nothwendigkeit, sie bloß durch Schlüsse zu begründen, ist immer nur relativ. Ja subjektiv. Da alle Beweise Schlüsse sind, so ist für eine neue Wahrheit nicht zuerst ein Beweis, sondern unmittelbare Evidenz zu suchen, und nur so lange es an dieser gebricht, der Beweis einstweilen aufzustellen. Durch und durch beweisbar kann keine Wissenschaft seyn; so wenig als ein Gebäude in der Luft stehn kann: alle ihre Beweise müssen auf ein Anschauliches und daher nicht mehr Beweisbares zurückführen. Denn die ganze Welt der Reflexion ruht und wurzelt auf der anschaulichen Welt. Alle letzte, d.h. ursprüngliche Evidenz ist eine anschauliche: dies verräth schon das Wort. Demnach ist sie entweder eine empirische, oder aber auf die Anschauung a priori der Bedingungen möglicher Erfahrung gegründet: in beiden Fällen liefert sie daher nur immanente, nicht transcendente Erkenntniß. Jeder Begriff hat seinen Werth und sein Daseyn allein in der, wenn auch sehr vermittelten Beziehung auf eine anschauliche Vorstellung: was von den Begriffen gilt, gilt auch von den aus ihnen zusammengesetzten Urtheilen, und von den ganzen Wissenschaften. Daher muß es irgendwie möglich seyn. Jede Wahrheit, die durch Schlüsse gefunden und durch Beweise mitgetheilt wird, auch ohne Beweise und Schlüsse unmittelbar zu erkennen. Am schwersten ist dies gewiß bei manchen komplicirten mathematischen Sätzen, zu denen wir allein an Schlußketten gelangen, z.B. die Berechnung der Sehnen und Tangenten zu allen Bögen, mittelst Schlüssen aus dem Pythagorischen Lehrsatze: allein auch eine solche Wahrheit kann nicht wesentlich und allein auf abstrakten Sätzen beruhen, und auch die ihr zum Grunde liegenden räumlichen Verhältnisse müssen für die reine Anschauung a priori so hervorgehoben werden können, daß ihre abstrakte Aussage unmittelbar begründet wird. Vom Beweisen in der Mathematik wird aber sogleich ausführlich die Rede seyn.

Wohl wird oft in hohem Tone geredet von Wissenschaften, welche durchweg auf richtigen Schlüssen aus sichern Prämissen beruhen und deshalb unumstößlich wahr seien. Allein durch rein logische Schlußketten wird man, seien die Prämissen auch noch so wahr, nie mehr erhalten, als eine Verdeutlichung und Ausführung Dessen, was schon in den Prämissen fertig liegt: man wird also nur explicite darlegen was daselbst implicite verstanden war. Mit jenen angerühmten Wissenschaften meint man jedoch besonders die mathematischen, namentlich die Astronomie. Die Sicherheit dieser letzteren stammt aber daher, daß ihr die a priori gegebene, also unfehlbare, Anschauung des Raumes zum Grunde liegt, alle räumlichen Verhältnisse aber eines aus dem andern, mit einer Nothwendigkeit (Seynsgrund), welche Gewißheit a priori liefert, folgen und sich daher mit Sicherheit aus einander ableiten lassen. Zu diesen mathematischen Bestimmungen kommt hier nur noch eine einzige Naturkraft, die Schwere, welche genau im Verhältniß der Massen und des Quadrats der Entfernung wirkt, und endlich das a priori gesicherte, weil aus dem der Kausalität folgende, Gesetz der Trägheit, nebst dem empirischen Datum der ein für alle Mal jeder dieser Massen aufgedrückten Bewegung. Dies ist das ganze Material der Astronomie, welches, sowohl durch seine Einfachheit, als seine Sicherheit, zu festen und, vermöge der Größe und Wichtigkeit der Gegenstände, sehr interessanten Resultaten führt. Z.B. kenne ich die Masse eines Planeten und die Entfernung seines Trabanten von ihm, so kann ich auf die Umlaufszeit dieses mit Sicherheit schließen, nach dem zweiten Keplerschen Gesetz: der Grund dieses Gesetzes ist aber, daß, bei dieser Entfernung, nur diese Velocität den Trabanten zugleich an den Planeten fesselt und ihn vom Hineinfallen in denselben abhält. – Also nur auf solcher geometrischen Grundlage, d.h. mittelst einer Anschauung a priori, und noch dazu unter Anwendung eines Naturgesetzes, da läßt sich mit Schlüssen weit gelangen; weil sie hier gleichsam bloß Brücken von einer anschaulichen Auffassung zur andern sind; nicht aber eben so mit bloßen und reinen Schlüssen, auf dem ausschließlich logischen Wege. – Der Ursprung der ersten astronomischen Grundwahrheiten aber ist eigentlich Induktion, d.h. Zusammenfassung des in vielen Anschauungen Gegebenen in ein richtiges unmittelbar begründetes Urtheil: aus diesem werden nachher Hypothesen gebildet, deren Bestätigung durch die Erfahrung, als der Vollständigkeit sich nähernde Induktion, den Beweis für jenes erste Urtheil giebt. Z.B. die scheinbare Bewegung der Planeten ist empirisch erkannt: nach vielen falschen Hypothesen über den räumlichen Zusammenhang dieser Bewegung (Planetenbahn), ward endlich die richtige gefunden, sodann die Gesetze, welche sie befolgt (die Keplerischen), zuletzt auch die Ursache derselben (allgemeine Gravitation), und sämmtlichen Hypothesen gab die empirisch erkannte Uebereinstimmung aller vorkommenden Fälle mit ihnen und mit den Folgerungen aus ihnen, also Induktion, vollkommene Gewißheit. Die Auffindung der Hypothese war Sache der Urtheilskraft, welche die gegebene Thatsache richtig auffaßte und demgemäß ausdrückte; Induktion aber, d.h. vielfache Anschauung, bestätigte ihre Wahrheit. Aber sogar auch unmittelbar, durch eine einzige empirische Anschauung, könnte diese begründet werden, sobald wir die Welträume frei durchlaufen könnten und teleskopische Augen hätten. Folglich sind Schlüsse auch hier nicht die wesentliche und einzige Quelle der Erkenntniß, sondern immer wirklich nur ein Nothbehelf.

Endlich wollen wir, um ein drittes heterogenes Beispiel aufzustellen, noch bemerken, daß auch die sogenannten metaphysischen Wahrheiten, d.h. solche, wie sie Kant in den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft aufstellt, nicht den Beweisen ihre Evidenz verdanken. Das a priori Gewisse erkennen wir unmittelbar: es ist, als die Form aller Erkenntniß, uns mit der größten Nothwendigkeit bewußt. Z.B. daß die Materie beharrt, d.h. weder entstehn, noch vergehn kann, wissen wir unmittelbar als negative Wahrheit: denn unsere reine Anschauung von Raum und Zeit giebt die Möglichkeit der Bewegung; der Verstand giebt, im Gesetz der Kausalität, die Möglichkeit der Aenderung der Form und Qualität; aber zu einem Entstehn oder Verschwinden von Materie gebricht es uns an Formen der Vorstellbarkeit. Daher ist jene Wahrheit zu allen Zeiten, überall und Jedem evident gewesen, noch jemals im Ernst bezweifelt worden; was nicht seyn könnte, wenn ihr Erkenntnißgrund kein anderer wäre, als ein so schwieriger auf Nadelspitzen einherschreitender Kantischer Beweis. Ja überdies habe ich (wie im Anhange ausgeführt) Kants Beweis falsch befunden und oben gezeigt, daß nicht aus dem Antheil, den die Zeit, sondern aus dem, welchen der Raum an der Möglichkeit der Erfahrung hat, das Beharren der Materie abzuleiten ist. Die eigentliche Begründung aller in diesem Sinn metaphysisch genannter Wahrheiten, d.h. abstrakter Ausdrücke der nothwendigen und allgemeinen Formen des Erkennens, kann nicht wieder in abstrakten Sätzen liegen; sondern nur im unmittelbaren, sich durch apodiktische und keine Widerlegung besorgende Aussagen a priori kund gebenden Bewußtsein der Formen des Vorstellens. Will man dennoch einen Beweis derselben geben, so kann dieser nur darin bestehn, daß man nachweist, in irgend einer nicht bezweifelten Wahrheit sei die zu beweisende schon als Theil, oder als Voraussetzung enthalten: so habe ich z. B, gezeigt, daß alle empirische Anschauung schon die Anwendung des Gesetzes der Kausalität enthält, dessen Erkenntniß daher Bedingung aller Erfahrung ist und darum nicht erst durch diese gegeben und bedingt seyn kann, wie Hume behauptete. – Beweise sind überhaupt weniger für die, welche lernen, als für die, welche disputiren wollen. Diese leugnen hartnäckig die unmittelbar begründete Einsicht: nur die Wahrheit kann nach allen Seiten konsequent seyn; man muß daher jenen zeigen, daß sie unter einer Gestalt und mittelbar zugeben, was sie unter einer andern Gestalt und unmittelbar leugnen, also den logisch nothwendigen Zusammenhang zwischen dem Geleugneten und dem Zugestandenen.

Außerdem bringt aber auch die wissenschaftliche Form, nämlich Unterordnung alles Besonderen unter ein Allgemeines und so immerfort aufwärts, es mit sich, daß die Wahrheit vieler Sätze nur logisch begründet wird, nämlich durch die Abhängigkeit von andern Sätzen, also durch Schlüsse, die zugleich als Beweise auftreten. Man soll aber nie vergessen, daß diese ganze Form nur ein Erleichterungsmittel der Erkenntniß ist, nicht aber ein Mittel zu größerer Gewißheit. Es ist leichter, die Beschaffenheit des Thieres aus der Species, zu der es gehört, und so aufwärts aus dem genus, der Familie, der Ordnung, der Klasse zu erkennen, als das jedesmal gegebene Thier für sich zu untersuchen; aber die Wahrheit aller durch Schlüsse abgeleiteter Sätze ist immer nur bedingt und zuletzt abhängig von irgend einer, die nicht auf Schlüssen, sondern auf Anschauung beruht. Läge diese letztere uns immer so nahe, wie die Ableitung durch einen Schluß, so wäre sie durchaus vorzuziehn. Denn alle Ableitung aus Begriffen ist, wegen des oben gezeigten mannigfaltigen Ineinandergreifens der Sphären und der oft schwankenden Bestimmung ihres Inhalts, vielen Täuschungen ausgesetzt; wovon so viele Beweise falscher Lehren und Sophismen jeder Art Beispiele sind. – Schlüsse sind zwar der Form nach völlig gewiß: allein sie sind sehr unsicher durch ihre Materie, die Begriffe; weil theils die Sphären dieser oft nicht scharf genug bestimmt sind, theils sich so mannigfaltig durchschneiden, daß eine Sphäre theilweise in vielen andern enthalten ist, und man also willkürlich aus ihr in die eine oder die andere von diesen übergehn kann und von da wieder weiter, wie bereits dargestellt. Oder mit andern Worten: der terminus minor und auch der medius können immer verschiedenen Begriffen untergeordnet werden, aus denen man beliebig den terminus major und den medius wählt, wonach dann der Schluß verschieden ausfällt. – Ueberall folglich ist unmittelbare Evidenz der bewiesenen Wahrheit weit vorzuziehn, und diese nur da anzunehmen, wo jene zu weit herzuholen wäre, nicht aber, wo sie eben so nahe oder gar näher liegt, als diese. Daher sahen wir oben, daß in der That bei der Logik, wo die unmittelbare Erkenntniß uns in jedem einzelnen Fall näher liegt, als die abgeleitete wissenschaftliche, wir unser Denken immer nur nach der unmittelbaren Erkenntniß der Denkgesetze leiten und die Logik unbenutzt lassen24.

§ 15

Wenn wir nun mit unserer Ueberzeugung, daß die Anschauung die erste Quelle aller Evidenz, und die unmittelbare oder vermittelte Beziehung auf sie allein absolute Wahrheit ist, daß ferner der nächste Weg zu dieser stets der sicherste ist, da jede Vermittelung durch Begriffe vielen Täuschungen aussetzt; – wenn wir, sage ich, mit dieser Ueberzeugung uns zur Mathematik wenden, wie sie vom Eukleides als Wissenschaft aufgestellt und bis auf den heutigen Tag im Ganzen geblieben ist; so können wir nicht umhin, den Weg, den sie geht, seltsam, ja verkehrt zu finden. Wir verlangen die Zurückführung jeder logischen Begründung auf eine anschauliche; sie hingegen ist mit großer Mühe bestrebt, die ihr eigenthümliche, überall nahe, anschauliche Evidenz muthwillig zu verwerfen, um ihr eine logische zu substituiren. Wir müssen finden, daß dies ist, wie wenn Jemand sich die Beine abschnitte, um mit Krücken zu gehn, oder wie wenn der Prinz, im »Triumph der Empfindsamkeit«, aus der wirklichen schönen Natur flieht, um sich an einer Theaterdekoration, die sie nachahmt, zu erfreuen. – Ich muß hier an dasjenige erinnern, was ich im sechsten Kapitel der Abhandlung über den Satz vom Grunde gesagt habe, und setze es als dem Leser in frischem Andenken und ganz gegenwärtig voraus; so daß ich hier meine Bemerkungen daran knüpfe, ohne von Neuem den Unterschied auseinanderzusetzen zwischen dem bloßen Erkenntnißgrund einer mathematischen Wahrheit, der logisch gegeben werden kann, und dem Grunde des Seyns, welcher der unmittelbare, allein anschaulich zu erkennende Zusammenhang der Theile des Raumes und der Zeit ist, die Einsicht in welchen allein wahre Befriedigung und gründliche Kenntniß gewährt, während der bloße Erkenntnißgrund stets auf der Oberfläche bleibt, und zwar ein Wissen, daß es so ist, aber keines, warum es so ist, geben kann. Eukleides gieng diesen letztern Weg, zum offenbaren Nachtheil der Wissenschaft. Denn z.B. gleich Anfangs, wo er ein für alle Mal zeigen sollte, wie im Dreieck Winkel und Seiten sich gegenseitig bestimmen und Grund und Folge von einander sind, gemäß der Form, die der Satz vom Grund im bloßen Raume hat, und die dort, wie überall, die Nothwendigkeit giebt, daß Eines so ist, wie es ist; weil ein von ihm ganz verschiedenes Anderes so ist, wie es ist; statt so in das Wesen des Dreiecks eine gründliche Einsicht zu geben, stellt er einige abgerissene, beliebig gewählte Sätze über das Dreieck auf und giebt einen logischen Erkenntnißgrund derselben, durch einen mühsäligen, logisch, gemäß dem Satz des Widerspruchs geführten Beweis. Statt einer erschöpfenden Erkenntniß dieser räumlichen Verhältnisse, erhält man daher nur einige beliebig mitgetheilte Resultate aus ihnen, und ist in dem Fall, wie Jemand, dem die verschiedenen Wirkungen einer künstlichen Maschine gezeigt, ihr innerer Zusammenhang und Getriebe aber vorenthalten würde. Daß, was Eukleides demonstrirt, alles so sei, muß man, durch den Satz vom Widerspruch gezwungen, zugeben: warum es aber so ist, erfährt man nicht. Man hat daher fast die unbehagliche Empfindung, wie nach einem Taschenspielerstreich, und in der That sind einem solchen die meisten Eukleidischen Beweise auffallend ähnlich. Fast immer kommt die Wahrheit durch die Hinterthür herein, indem sie sich per accidens aus irgend einem Nebenumstand ergiebt. Oft schließt ein apagogischer Beweis alle Thüren, eine nach der andern zu, und läßt nur die eine offen, in die man nun bloß deswegen hinein muß. Oft werden, wie im Pythagorischen Lehrsatze, Linien gezogen, ohne daß man weiß warum: hinterher zeigt sich, daß es Schlingen waren, die sich unerwartet zuziehn und den Assensus des Lernenden gefangen nehmen, der nun verwundert zugeben muß, was ihm seinem innern Zusammenhang nach völlig unbegreiflich bleibt, so sehr, daß er den ganzen Eukleides durchstudiren kann, ohne eigentliche Einsicht in die Gesetze der räumlichen Verhältnisse zu gewinnen, sondern statt ihrer nur einige Resultate aus ihnen auswendig lernt. Diese eigentliche empirische und unwissenschaftliche Erkenntniß gleicht der des Arztes, welcher Krankheit und Mittel dagegen, aber nicht den Zusammenhang Beider kennt. Dieses alles aber ist die Folge, wenn man die einer Erkenntnißart eigenthümliche Weise der Begründung und Evidenz grillenhaft abweist, und statt ihrer eine ihrem Wesen fremde gewaltsam einführt. Indessen verdient übrigens die Art, wie vom Eukleides dieses durchgesetzt ist, alle Bewunderung, die ihm so viele Jahrhunderte hindurch geworden und so weit gegangen ist, daß man seine Behandlungsart der Mathematik für das Muster aller wissenschaftlichen Darstellung erklärte, nach der man sogar alle andern Wissenschaften zu modeln sich bemühte, später jedoch hievon zurückkam, ohne sehr zu wissen warum. In unsern Augen kann jene Methode des Eukleides in der Mathematik dennoch nur als eine sehr glänzende Verkehrtheit erscheinen. Nun läßt sich aber wohl immer von jeder großen, absichtlich und methodisch betriebenen, dazu vom allgemeinen Beifall begleiteten Verirrung, sie möge das Leben oder die Wissenschaft betreffen, der Grund nachweisen in der zu ihrer Zeit herrschenden Philosophie. – Die Eleaten zuerst hatten den Unterschied, ja öfteren Widerstreit entdeckt zwischen dem Angeschauten, phainomenon, und dem Gedachten, nooumenon25, und hatten ihn zu ihren Philosophemen, auch zu Sophismen, mannigfaltig benutzt. Ihnen folgten später Megariker, Dialektiker, Sophisten, Neu-Akademiker und Skeptiker; diese machten aufmerksam auf den Schein, d.i. auf die Täuschung der Sinne, oder vielmehr des ihre Data zur Anschauung umwandelnden Verstandes, welche uns oft Dinge sehn läßt, denen die Vernunft mit Sicherheit die Realität abspricht, z.B. den gebrochenen Stab im Wasser u. dgl. Man erkannte, daß der sinnlichen Anschauung nicht unbedingt zu trauen sei, und schloß voreilig, daß allein das vernünftige logische Denken Wahrheit begründe; obgleich Plato (im Parmenides), die Megariker, Pyrrhon und die Neu-Akademiker durch Beispiele (in der Art, wie später Sextus Empirikus) zeigten, wie auch andererseits Schlüsse und Begriffe irre führten, ja Paralogismen und Sophismen hervorbrächten, die viel leichter entstehn und viel schwerer zu lösen sind, als der Schein in der sinnlichen Anschauung. Inzwischen behielt jener also im Gegensatz des Empirismus entstandene Rationalismus die Oberhand, und Ihm gemäß bearbeitete Eukleides die Mathematik, also auf die anschauliche Evidenz (phainomenon) bloß die Axiome nachgedrungen stützend, alles Uebrige aber auf Schlüsse (nooumenon). Seine Methode blieb herrschend alle Jahrhunderte hindurch, und mußte es bleiben, so lange nicht die reine Anschauung a priori von der empirischen unterschieden wurde. Zwar scheint schon des Eukleides Kommentator Proklos jenen Unterschied völlig erkannt zu haben, wie die Stelle jenes Kommentators zeigt, welche Kepler in seinem Buch de harmonia mundi lateinisch übersetzt hat: allein Proklos legte nicht genug Gewicht auf die Sache, stellte sie zu isolirt auf, blieb unbeachtet und drang nicht durch. Erst zwei tausend Jahre später daher, wird die Lehre Kants, welche so große Veränderungen in allem Wissen, Denken und Treiben der Europäischen Völker hervorzubringen bestimmt ist, auch in der Mathematik eine solche veranlassen. Denn erst nachdem wir von diesem großen Geiste gelernt haben, daß die Anschauungen des Raumes und der Zeit von der empirischen gänzlich verschieden, von allem Eindruck auf die Sinne gänzlich unabhängig, diesen bedingend, nicht durch ihn bedingt, d.h. a priori sind, und daher dem Sinnentruge gar nicht offen stehn, erst jetzt können wir einsehn, daß des Eukleides logische Behandlungsart der Mathematik eine unnütze Vorsicht, eine Krücke für gesunde Beine ist, daß sie einem Wanderer gleicht, der Nachts einen hellen festen Weg für ein Wasser haltend, sich hütet ihn zu betreten, und stets daneben auf holprigtem Boden geht, zufrieden von Strecke zu Strecke an das vermeinte Wasser zu stoßen. Erst jetzt können wir mit Sicherheit behaupten, daß, was bei der Anschauung einer Figur sich uns als nothwendig ankündigt, nicht aus der auf dem Papier vielleicht sehr mangelhaft gezeichneten Figur kommt, auch nicht aus dem abstrakten Begriff, den wir dabei denken, sondern unmittelbar aus der uns a priori bewußten Form aller Erkenntniß: diese ist überall der Satz vom Grunde: hier ist sie, als Form der Anschauung, d.i. Raum, Satz vom Grunde des Seyns: dessen Evidenz und Gültigkeit aber ist eben so groß und unmittelbar, wie die vom Satze des Erkenntnißgrundes, d.i. die logische Gewißheit. Wir brauchen und dürfen also nicht, um bloß der letztern zu trauen, das eigenthümliche Gebiet der Mathematik verlassen, um sie auf einem ihr ganz fremden, dem der Begriffe, zu beglaubigen. Halten wir uns auf jenem der Mathematik eigenthümlichen Boden, so erlangen wir den großen Vortheil, daß in ihr nunmehr das Wissen, daß etwas so sei. Eines ist mit dem, warum es so sei; statt daß die Eukleidische Methode beide gänzlich trennt und bloß das erstere, nicht das letztere erkennen läßt. Aristoteles aber sagt ganz vortrefflich, in den Analyt. post. I, 27: »Akribestera d epistêmê epistêmês kai protera, hête tou hoti kai tou dioti hê autê, alla mê chôris tou hoti, tês tou dioti(Subtilior autem et praestantior ea est scientia, quâ quod aliquid sit, et cur sit una simulque intelligimus, non separatim quod, et cur sit.) Sind wir doch in der Physik nur dann befriedigt, wann die Erkenntniß, daß etwas so sei, vereint ist mit der, warum es so ist: daß das Quecksilber in der Torricellianischen Röhre 28 Zoll hoch steht, ist ein schlechtes Wissen, wenn nicht auch hinzukommt, daß es so vom Gegengewicht der Luft gehalten wird. Aber in der Mathematik soll uns die qualitas occulta des Cirkels, daß die Abschnitte jeder zwei in ihm sich schneidender Sehnen stets gleiche Rektangel bilden, genügen? Daß es so sei, beweist freilich Eukleides im 35sten Satze des dritten Buches: das Warum steht noch dahin. Eben so lehrt der Pythagorische Lehrsatz uns eine qualitas occulta des rechtwinklichten Dreiecks kennen: des Eukleides stelzbeiniger, ja hinterlistiger Beweis verläßt uns beim Warum, und beistehende, schon bekannte, einfache Figur giebt auf einen Blick weit mehr, als jener Beweis, Einsicht in die Sache und innere feste Ueberzeugung von jener Nothwendigkeit und von der Abhängigkeit jener Eigenschaft vom rechten Winkel:

Auch bei ungleichen Katheten muß es sich zu einer solchen anschaulichen Ueberzeugung bringen lassen, wie überhaupt bei jeder möglichen geometrischen Wahrheit, schon deshalb, weil ihre Auffindung allemal von einer solchen angeschauten Nothwendigkeit ausgieng und der Beweis erst hinterher hinzu ersonnen ward: man bedarf also nur einer Analyse des Gedankenganges bei der ersten Auffindung einer geometrischen Wahrheit, um ihre Nothwendigkeit anschaulich zu erkennen. Es ist überhaupt die analytische Methode, welche ich für den Vortrag der Mathematik wünsche, statt der synthetischen, welche Eukleides gebraucht hat. Allerdings aber wird dies, bei komplicirten mathematischen Wahrheiten, sehr große, jedoch nicht unüberwindliche Schwierigkeiten haben. Schon fängt man in Deutschland hin und wieder an, den Vortrag der Mathematik zu andern und mehr diesen analytischen Weg zu gehn. Am entschiedensten hat dies Herr Kosack, Lehrer der Mathematik und Physik am Gymnasio zu Nordhausen, gethan, indem er dem Programm zur Schulprüfung am 6. April 1852 einen ausführlichen Versuch, die Geometrie nach meinen Grundsätzen zu behandeln, beigegeben hat.

Um die Methode der Mathematik zu verbessern, wird vorzüglich erfordert, daß man das Vorurtheil aufgebe, die bewiesene Wahrheit habe irgend einen Vorzug vor der anschaulich erkannten, oder die logische, auf dem Satz vom Widerspruch beruhende, vor der metaphysischen, welche unmittelbar evident ist und zu der auch die reine Anschauung des Raumes gehört.

Das Gewisseste und überall Unerklärbare ist der Inhalt des Satzes vom Grunde. Denn dieser, in seinen verschiedenen Gestalten, bezeichnet die allgemeine Form aller unserer Vorstellungen und Erkenntnisse. Alle Erklärung ist Zurückführung auf ihn. Nachweisung im einzelnen Fall des durch ihn überhaupt ausgedrückten Zusammenhangs der Vorstellungen. Er ist sonach das Princip aller Erklärung und daher nicht selbst einer Erklärung fähig, noch ihrer bedürftig, da jede ihn schon voraussetzt und nur durch ihn Bedeutung erhält. Nun hat aber keine seiner Gestalten einen Vorzug vor der andern: er ist gleich gewiß und unbeweisbar als Satz vom Grunde des Seyns, oder des Werdens, oder des Handelns, oder des Erkennens. Das Verhältniß des Grundes zur Folge ist, in der einen wie in der andern seiner Gestalten, ein nothwendiges, ja es ist überhaupt der Ursprung, wie die alleinige Bedeutung, des Begriffs der Nothwendigkeit. Es giebt keine andere Nothwendigkeit, als die der Folge, wenn der Grund gegeben ist, und es giebt keinen Grund, der nicht Nothwendigkeit der Folge herbeiführte. So sicher also aus dem in den Prämissen gegebenen Erkenntnißgrunde die im Schlußsatze ausgesprochene Folge fließt, so sicher bedingt der Seynsgrund im Raum seine Folge im Raum: habe ich das Verhältniß dieser Beiden anschaulich erkannt, so ist diese Gewißheit eben so groß, wie irgend eine logische. Ausdruck eines solchen Verhältnisses ist aber jeder geometrische Lehrsatz, eben so gut, wie eines der zwölf Axiome: er ist eine metaphysische Wahrheit und als solche eben so unmittelbar gewiß, wie der Satz vom Widerspruche selbst, der eine metalogische Wahrheit und die allgemeine Grundlage aller logischen Beweisführung ist. Wer die anschaulich dargelegte Nothwendigkeit der in irgend einem Lehrsatze ausgesprochenen räumlichen Verhältnisse leugnet, kann mit gleichem Recht die Axiome leugnen, und mit gleichem Recht die Folge des Schlusses aus den Prämissen, ja den Satz vom Widerspruch selbst: denn alles Dieses sind gleich unbeweisbare, unmittelbar evidente und a priori erkennbare Verhältnisse. Wenn man daher die anschaulich erkennbare Nothwendigkeit räumlicher Verhältnisse erst durch eine logische Beweisführung aus dem Satze vom Widerspruch ableiten will; so ist es nicht anders, als wenn dem unmittelbaren Herrn eines Landes ein anderer dasselbe erst zu Lehn ertheilen wollte. Dies aber ist es, was Eukleides gethan hat. Bloß seine Axiome läßt er nothgedrungen auf unmittelbarer Evidenz beruhen: alle folgenden geometrischen Wahrheiten werden logisch bewiesen, nämlich, unter Voraussetzung jener Axiome, aus der Uebereinstimmung mit den im Lehrsatz gemachten Annahmen, oder mit einem frühern Lehrsatz, oder auch aus dem Widerspruch des Gegentheils des Lehrsatzes mit den Annahmen, den Axiomen, den früheren Lehrsätzen, oder gar sich selbst. Aber die Axiome selbst haben nicht mehr unmittelbare Evidenz, als jeder andere geometrische Lehrsatz, sondern nur mehr Einfachheit durch geringeren Gehalt.

Wenn man einen Delinquenten vernimmt, so nimmt man seine Aussagen zu Protokoll, um aus ihrer Uebereinstimmung ihre Wahrheit zu beurtheilen. Dies ist aber ein bloßer Nothbehelf, bei dem man es nicht bewenden läßt, wenn man unmittelbar die Wahrheit jeder seiner Aussagen für sich erforschen kann; zumal da er von Anfang an konsequent lügen konnte. Jene erste Methode ist es jedoch, nach der Eukleides den Raum erforschte. Zwar gieng er dabei von der richtigen Voraussetzung aus, daß die Natur überall, also auch in ihrer Grundform, dem Raum, konsequent seyn muß und daher, weil die Theile des Raumes im Verhältniß von Grund und Folge zu einander stehn, keine einzige räumliche Bestimmung anders seyn kann, als sie ist, ohne mit allen andern im Widerspruch zu stehn. Aber dies ist ein sehr beschwerlicher und unbefriedigender Umweg, der die mittelbare Erkenntniß der eben so gewissen unmittelbaren vorzieht, der ferner die Erkenntniß, daß etwas ist, von der, warum es ist, zum großen Nachtheil der Wissenschaft trennt, und endlich dem Lehrling die Einsicht in die Gesetze des Raumes gänzlich vorenthält, ja, ihn entwöhnt vom eigentlichen Erforschen des Grundes und des Innern Zusammenhanges der Dinge, ihn statt dessen anleitend, sich an einem historischen Wissen, daß es so sei, genügen zu lassen. Die dieser Methode so unablässig nachgerühmte Uebung des Scharfsinns besteht aber bloß darin, daß sich der Schüler im Schließen, d.h. im Anwenden des Satzes vorn Widerspruch, übt, besonders aber sein Gedächtniß anstrengt, um alle jene Data, deren Uebereinstimmung zu vergleichen ist, zu behalten.

Es ist übrigens bemerkenswerth, daß diese Beweismethode bloß auf die Geometrie angewandt worden und nicht auf die Arithmetik: vielmehr läßt man in dieser die Wahrheit wirklich allein durch Anschauung einleuchten, welche hier im bloßen Zählen besteht. Da die Anschauung der Zahlen in der Zeit allein ist und daher durch kein sinnliches Schema, wie die geometrische Figur, repräsentirt werden kann; so fiel hier der Verdacht weg, daß die Anschauung nur empirisch und daher dem Schein unterworfen wäre, welcher Verdacht allein die logische Beweisart hat in die Geometrie bringen können. Zählen ist, weil die Zeit nur eine Dimension hat, die einzige arithmetische Operation, auf die alle andern zurückzuführen sind: und dies Zählen ist doch nichts Anderes, als Anschauung a priori, auf welche sich zu berufen man hier keinen Anstand nimmt, und durch welche allein das Uebrige, jede Rechnung, jede Gleichung, zuletzt bewährt wird. Man beweist z.B. nicht, daß (7+9)·8-2 / 3 = 42; sondern man beruft sich auf die reine Anschauung in der Zeit, das Zählen, macht also jeden einzelnen Satz zum Axiom. Statt der Beweise, welche die Geometrie füllen, ist daher der ganze Inhalt der Arithmetik und Algebra eine bloße Methode zum Abkürzen des Zählens. Unsere unmittelbare Anschauung der Zahlen in der Zeit reicht zwar, wie oben erwähnt, nicht weiter, als etwan bis Zehn: darüber hinaus muß schon ein abstrakter Begriff der Zahl, durch ein Wort fixirt, die Stelle der Anschauung vertreten, welche daher nicht mehr wirklich vollzogen, sondern nur ganz bestimmt bezeichnet wird. Jedoch ist selbst so, durch das wichtige Hülfsmittel der Zahlenordnung, welche größere Zahlen immer durch die selben kleinen repräsentiren läßt, eine anschauliche Evidenz jeder Rechnung möglich gemacht, sogar da, wo man die Abstraktion so sehr zu Hülfe nimmt, daß nicht nur die Zahlen, sondern unbestimmte Größen und ganze Operationen nur in abstracto gedacht und in dieser Hinsicht bezeichnet werden, wie (r-b), so daß man sie nicht mehr vollzieht, sondern nur andeutet.

Mit dem selben Recht und der selben Sicherheit, wie in der Arithmetik, könnte man auch in der Geometrie die Wahrheit allein durch reine Anschauung a priori begründet seyn lassen. In der That ist es auch immer diese, gemäß dem Satz vom Grunde des Seyns anschaulich erkannte Nothwendigkeit, welche der Geometrie ihre große Evidenz ertheilt und auf der im Bewußtseyn eines Jeden die Gewißheit ihrer Sätze beruht: keineswegs ist es der auf Stelzen einherschreitende logische Beweis, welcher, der Sache immer fremd, meistens bald vergessen wird, ohne Nachtheil der Ueberzeugung, und ganz wegfallen könnte, ohne daß die Evidenz der Geometrie dadurch vermindert würde, da sie ganz unabhängig von ihm ist und er immer nur Das beweist, wovon man schon vorher, durch eine andere Erkenntnißart, völlige Ueberzeugung hat: insofern gleicht er einem feigen Soldaten, der dem von andern erschlagenen Feinde noch eine Wunde versetzt, und sich dann rühmt, ihn erledigt zu haben26.

Diesem allen zufolge wird es hoffentlich keinem Zweifel weiter unterliegen, daß die Evidenz der Mathematik, welche zum Musterbild und Symbol aller Evidenz geworden ist, ihrem Wesen nach nicht auf Beweisen, sondern auf unmittelbarer Anschauung beruht, welche also hier, wie überall, der letzte Grund und die Quelle aller Wahrheit ist. Jedoch hat die Anschauung, welche der Mathematik zum Grunde liegt, einen großen Vorzug vor jeder andern, also vor der empirischen. Nämlich, da sie a priori ist, mithin unabhängig von der Erfahrung, die immer nur theilweise und successiv gegeben wird; liegt ihr Alles gleich nahe, und man kann beliebig vom Grunde, oder von der Folge ausgehn. Dies nun giebt ihr eine völlige Untrüglichkeit dadurch, daß in ihr die Folge aus dem Grunde erkannt wird, welche Erkenntniß allein Nothwendigkeit hat: z.B. die Gleichheit der Seiten wird erkannt als begründet durch die Gleichheit der Winkel; da hingegen alle empirische Anschauung und der größte Theil aller Erfahrung nur umgekehrt von der Folge zum Grunde geht, welche Erkenntnißart nicht unfehlbar ist, da Nothwendigkeit allein der Folge zukommt, sofern der Grund gegeben ist, nicht aber der Erkenntniß des Grundes aus der Folge, da die selbe Folge aus verschiedenen Gründen entspringen kann. Diese letztere Art der Erkenntniß ist immer nur Induktion: d.h. aus vielen Folgen, die auf einen Grund deuten, wird der Grund als gewiß angenommen; da die Fälle aber nie vollständig beisammen seyn können, so ist die Wahrheit hier auch nie unbedingt gewiß. Diese Art von Wahrheit allein aber hat alle Erkenntniß durch sinnliche Anschauung und die allermeiste Erfahrung. Die Affektion eines Sinnes veranlaßt einen Verstandesschluß von der Wirkung auf die Ursache; weil aber vom Begründeten auf den Grund der Schluß nie sicher ist, so ist der falsche Schein, als Sinnentrug, möglich und oft wirklich, wie oben ausgeführt. Erst wenn mehrere oder alle fünf Sinne Affektionen erhalten, welche auf die selbe Ursache deuten, ist die Möglichkeit des Scheines äußerst klein geworden, dennoch aber vorhanden: denn in gewissen Fällen, z.B. durch falsche Münze, täuscht man die gesammte Sinnlichkeit. Im selben Fall ist alle empirische Erkenntniß, folglich die ganze Naturwissenschaft, ihren reinen (nach Kant metaphysischen) Theil bei Seite gesetzt. Auch hier werden aus den Wirkungen die Ursachen erkannt: daher beruht alle Naturlehre auf Hypothesen, die oft falsch sind und dann allmälig richtigeren Platz machen. Bloß bei den absichtlich angestellten Experimenten geht die Erkenntniß von der Ursache auf die Wirkung, also den sichern Weg; aber sie selbst werden erst in Folge von Hypothesen unternommen. Deshalb konnte kein Zweig der Naturwissenschaft, z.B. Physik, oder Astronomie, oder Physiologie, mit einem Male gefunden werden, wie Mathematik oder Logik es konnten; sondern es bedurfte und bedarf der gesammelten und verglichenen Erfahrungen vieler Jahrhunderte. Erst vielfache empirische Bestätigung bringt die Induktion, auf der die Hypothese beruht, der Vollständigkeit so nahe, daß sie für die Praxis die Stelle der Gewißheit einnimmt und der Hypothese ihr Ursprung so wenig nachtheilig erachtet wird, wie der Anwendung der Geometrie die Inkommensurabilität gerader und krummer Linien, oder der Arithmetik die nicht zu erlangende vollkommene Richtigkeit des Logarithmus: denn wie man die Quadratur des Cirkels und den Logarithmus durch unendliche Brüche der Richtigkeit unendlich nahe bringt, so wird auch durch vielfache Erfahrung die Induktion, d.h. die Erkenntniß des Grundes aus den Folgen, der mathematischen Evidenz, d.h. der Erkenntniß der Folge aus dem Grunde, zwar nicht unendlich, aber doch so nahe gebracht, daß die Möglichkeit der Täuschung gering genug wird, um vernachlässigt werden zu können. Vorhanden aber ist sie doch: z.B. ein Induktionsschluß ist auch der, von unzähligen Fällen auf alle, d.h. eigentlich auf den unbekannten Grund, von welchem alle abhängen. Welcher Schluß dieser Art scheint nun sicherer, als der, daß alle Menschen das Herz auf der linken Seite haben? Dennoch giebt es, als höchst seltene, völlig vereinzelte Ausnahmen, Menschen, denen das Herz auf der rechten Seite sitzt. – Sinnliche Anschauung und Erfahrungswissenschaft haben also die selbe Art der Evidenz. Der Vorzug, den Mathematik, reine Naturwissenschaft und Logik als Erkenntnisse a priori vor ihnen haben, beruht bloß darauf, daß das Formelle der Erkenntnisse, auf welches alle Apriorität sich gründet, ganz und zugleich gegeben ist und daher hier immer vom Grunde auf die Folge gegangen werden kann, dort aber meistens nur von der Folge auf den Grund. An sich ist übrigens das Gesetz der Kausalität, oder der Satz vom Grunde des Werdens, welcher die empirische Erkenntniß leitet, eben so sicher, wie jene andern Gestaltungen des Satzes vom Grunde, denen obige Wissenschaften a priori folgen. – Logische Beweise aus Begriffen, oder Schlüsse, haben eben so wohl, wie die Erkenntniß der Anschauung a priori, den Vorzug, vom Grund auf die Folge zu gehn, wodurch sie an sich, d.h. ihrer Form nach, unfehlbar sind. Dies hat viel beigetragen, die Beweise überhaupt in so großes Ansehn zu bringen. Allein diese Unfehlbarkeit derselben ist eine relative: sie subsumiren bloß unter die oberen Sätze der Wissenschaft: diese aber sind es, welche den ganzen Fonds von Wahrheit der Wissenschaft enthalten, und sie dürfen nicht wieder bloß bewiesen seyn, sondern müssen sich auf Anschauung gründen, welche in jenen genannten wenigen Wissenschaften a priori eine reine, sonst aber immer empirisch und nur durch Induktion zum Allgemeinen erhoben ist. Wenn also auch bei Erfahrungswissenschaften das Einzelne aus dem Allgemeinen bewiesen wird, so hat doch wieder das Allgemeine seine Wahrheit nur vom Einzelnen erhalten, ist nur ein Speicher gesammelter Vorräthe, kein selbsterzeugender Boden.

Soviel von der Begründung der Wahrheit. – Ueber den Ursprung und die Möglichkeit des Irrthums sind seit Plato's bildlichen Auflösungen darüber, vom Taubenschlage, wo man die unrechte Taube greift u.s.w. (Theaetet., S. 167 u. ff.), viele Erklärungen versucht worden. Kants vage, unbestimmte Erklärung vom Ursprung des Irrthums, mittelst des Bildes der Diagonalbewegung, findet man in der Kritik der reinen Vernunft, S. 294 der ersten u. S. 350 der fünften Ausgabe. – Da die Wahrheit die Beziehung eines Urtheils auf seinen Erkenntnißgrund ist, so ist es allerdings ein Problem, wie der Urtheilende einen solchen Grund zu haben wirklich glauben kann und doch keinen hat, d.h. wie der Irrthum, der Trug der Vernunft, möglich ist. Ich finde diese Möglichkeit ganz analog der des Scheines, oder Truges des Verstandes, die oben erklärt worden. Meine Meinung nämlich ist (und das giebt dieser Erklärung gerade hier ihre Stelle), daß jeder Irrthum ein Schluß von der Folge auf den Grund ist, welcher zwar gilt, wo man weiß, daß die Folge Jenen und durchaus keinen andern Grund haben kann; außerdem aber nicht. Der Irrende setzt entweder der Folge einen Grund, den sie gar nicht haben kann; worin er dann wirklichen Mangel an Verstand, d.h. an der Fähigkeit unmittelbarer Erkenntniß der Verbindung zwischen Ursache und Wirkung, zeigt: oder aber, was häufiger der Fall ist, er bestimmt der Folge einen zwar möglichen Grund, setzt jedoch zum Obersatz seines Schlusses von der Folge auf den Grund noch hinzu, daß die besagte Folge allemal nur aus dem von ihm angegebenen Grunde entstehe, wozu ihn nur eine vollständige Induktion berechtigen könnte, die er aber voraussetzt, ohne sie gemacht zu haben: jenes allemal ist also ein zu weiter Begriff, statt dessen nur stehn dürfte bisweilen, oder meistens; wodurch der Schlußsatz problematisch ausfiele und als solcher nicht irrig wäre. Daß der Irrende aber auf die angegebene Weise verfährt, ist entweder Uebereilung, oder zu beschränkte Kenntniß von der Möglichkeit, weshalb er die Nothwendigkeit der zu machenden Induktion nicht weiß. Der Irrthum ist also dem Schein ganz analog. Beide sind Schlüsse von der Folge auf den Grund: der Schein stets nach dem Gesetze der Kausalität und vom bloßen Verstande, also unmittelbar in der Anschauung selbst, vollzogen; der Irrthum, nach allen Formen des Satzes vom Grunde, von der Vernunft, also im eigentlichen Denken, vollzogen, am häufigsten jedoch ebenfalls nach dem Gesetze der Kausalität, wie folgende drei Beispiele belegen, die man als Typen oder Repräsentanten dreier Arten von Irrthümern ansehn mag. 1) Der Sinnenschein (Trug des Verstandes) veranlaßt Irrthum (Trug der Vernunft), z.B. wenn man eine Malerei für ein Haut-Relief ansieht und wirklich dafür hält; es geschieht durch einen Schluß aus folgendem Obersatz: »Wenn Dunkelgrau stellenweise durch alle Nuancen in Weiß übergeht; so ist allemal die Ursache das Licht, welches Erhabenheiten und Vertiefungen ungleich trifft: ergo –.« 2) »Wenn Geld in meiner Kasse fehlt; so ist die Ursache allemal, daß mein Bedienter einen Nachschlüssel hat: ergo-.« 3) »Wenn das durch das Prisma gebrochene, d.i. herauf oder herab gerückte Sonnenbild, statt vorher rund und weiß, jetzt länglich und gefärbt erscheint; so ist die Ursache ein Mal und allemal, daß im Licht verschiedengefärbte und zugleich verschieden-brechbare homogene Lichtstrahlen gesteckt haben, die, durch ihre verschiedene Brechbarkeit auseinandergerückt, jetzt ein längliches und zugleich verschiedenfarbiges Bild zeigen: ergobibamus!« – Auf einen solchen Schluß aus einem, oft nur fälschlich generalisirten, hypothetischen, aus der Annahme eines Grundes zur Folge entsprungenen Obersatz muß jeder Irrthum zurückzuführen seyn; nur nicht etwan Rechnungsfehler, welche eben nicht eigentlich Irrthümer sind, sondern bloße Fehler: die Operation, welche die Begriffe der Zahlen angaben, ist nicht in der reinen Anschauung, dem Zählen, vollzogen worden; sondern eine andere statt ihrer.

Was den Inhalt der Wissenschaften überhaupt betrifft, so ist dieser eigentlich immer das Verhältniß der Erscheinungen der Welt zu einander, gemäß dem Satz vom Grunde und am Leitfaden des durch ihn allein geltenden und bedeutenden Warum. Die Nachweisung jenes Verhältnisses heißt Erklärung. Diese kann also nie weiter gehn, als daß sie zwei Vorstellungen zu einander in dem Verhältnisse der in der Klasse, zu der sie gehören, herrschenden Gestaltung des Satzes vom Grunde zeigt. Ist sie dahin gelangt, so kann gar nicht weiter Warum gefragt werden: denn das nachgewiesene Verhältniß ist dasjenige, welches schlechterdings nicht anders vorgestellt werden kann, d.h. es ist die Form aller Erkenntniß. Daher fragt man nicht warum 2+2=4 ist; oder warum Gleichheit der Winkel im Dreieck, Gleichheit der Seiten bestimmt; oder warum auf irgend eine gegebene Ursache ihre Wirkung folgt; oder warum aus der Wahrheit der Prämissen, die der Konklusion einleuchtet. Jede Erklärung, die auf ein solches Verhältniß, davon weiter kein Warum gefordert werden kann, zurückführt, bleibt bei einer angenommenen qualitas occulta stehn: dieser Art ist aber auch jede ursprüngliche Naturkraft. Bei einer solchen muß jede naturwissenschaftliche Erklärung zuletzt stehn bleiben, also bei einem völlig Dunkelen: sie muß daher das innere Wesen eines Steines eben so unerklärt lassen, wie das eines Menschen; kann so wenig von der Schwere, Kohäsion, chemischen Eigenschaften u.s.w., die Jener äußert, als vom Erkennen und Handeln Dieses Rechenschaft geben. So z.B. ist die Schwere eine qualitas occulta: denn sie läßt sich wegdenken, geht also nicht aus der Form des Erkennens als ein Nothwendiges hervor: dies hingegen ist der Fall mit dem Gesetze der Trägheit, als welches aus dem der Kausalität folgt; daher eine Zurückführung auf dasselbe eine vollkommen genügende Erklärung ist. Zwei Dinge nämlich sind schlechthin unerklärlich, d.h. nicht auf das Verhältniß, welches der Satz vom Grunde ausspricht, zurückzuführen: erstlich, der Satz vom Grunde selbst, in allen seinen vier Gestalten, weil er das Princip aller Erklärung ist, dasjenige, in Beziehung worauf sie allein Bedeutung hat; und zweitens. Das, was nicht von ihm erreicht wird, woraus aber eben das Ursprüngliche in allen Erscheinungen hervorgeht: es ist das Ding an sich, dessen Erkenntniß gar nicht die dem Satz vom Grunde unterworfene ist. Dieses Letztere muß hier nun ganz unverstanden stehn bleiben, da es erst durch das folgende Buch, in welchem wir auch diese Betrachtung der möglichen Leistungen der Wissenschaften wieder aufnehmen werden, verständlich werden kann. Aber da, wo die Naturwissenschaft, ja jede Wissenschaft, die Dinge stehn läßt, indem nicht nur ihre Erklärung derselben, sondern sogar das Princip dieser Erklärung, der Satz vom Grund, nicht über diesen Punkt hinausführt; da nimmt eigentlich die Philosophie die Dinge wieder auf und betrachtet sie nach ihrer, von jener ganz verschiedenen Weise. – In der Abhandlung über den Satz vom Grunde, § 51, habe ich gezeigt, wie, in den verschiedenen Wissenschaften, die eine oder die andere Gestaltung jenes Satzes Hauptleitfaden ist: in der That möchte hienach sich vielleicht die treffendeste Eintheilung der Wissenschaften machen lassen. Jede nach jenem Leitfaden gegebene Erklärung ist aber, wie gesagt, immer nur relativ: sie erklärt die Dinge in Beziehung auf einander, läßt aber immer Etwas unerklärt, welches sie eben schon voraussetzt: Dieses ist z.B. in der Mathematik Raum und Zeit; in der Mechanik, Physik und Chemie die Materie, die Qualitäten, die ursprünglichen Kräfte, die Naturgesetze; in der Botanik und Zoologie die Verschiedenheit der Species und das Leben selbst; in der Geschichte das Menschengeschlecht, mit allen seinen Eigenthümlichkeiten des Denkens und Wollens; – in allen der Satz vom Grund in seiner jedesmal anzuwendenden Gestaltung, – Die Philosophie hat das Eigene, daß sie gar nichts als bekannt voraussetzt, sondern Alles ihr in gleichem Maaße fremd und ein Problem ist, nicht nur die Verhältnisse der Erscheinungen, sondern auch diese selbst, ja der Satz vom Grunde selbst, auf welchen Alles zurückzuführen die andern Wissenschaften zufrieden sind, durch welche Zurückführung bei ihr aber nichts gewonnen wäre, da ein Glied der Reihe ihr so fremd ist, wie das andere, ferner auch jene Art des Zusammenhangs selbst ihr eben so gut ein Problem ist, als das durch ihn Verknüpfte, und dieses wieder nach aufgezeigter Verknüpfung, so gut als vor derselben. Denn, wie gesagt, eben Jenes, was die Wissenschaften voraussetzen und ihren Erklärungen zum Grunde legen und zur Gränze setzen, ist gerade das eigentliche Problem der Philosophie, die folglich insofern da anfängt, wo die Wissenschaften aufhören. Beweise können nicht ihr Fundament seyn: denn diese leiten aus bekannten Sätzen unbekannte ab; aber ihr ist Alles gleich unbekannt und fremd. Es kann keinen Satz geben, in Folge dessen allererst die Welt mit allen ihren Erscheinungen dawäre: daher läßt sich nicht eine Philosophie, wie Spinoza wollte, ex firmis principiis demonstrirend ableiten. Auch ist die Philosophie das allgemeinste Wissen, dessen Hauptsätze also nicht Folgerungen aus einem andern, noch allgemeineren, seyn können. Der Satz vom Widerspruch setzt bloß die Uebereinstimmung der Begriffe fest; giebt aber nicht selbst Begriffe. Der Satz vom Grund erklärt Verbindungen der Erscheinungen, nicht diese selbst: daher kann Philosophie nicht darauf ausgehn, eine causa efficiens oder eine causa finalis der ganzen Welt zu suchen. Die gegenwärtige wenigstens sucht keineswegs, woher oder wozu die Welt dasei; sondern bloß, was die Welt ist. Das Warum aber ist hier dem Was untergeordnet: denn es gehört schon zur Welt, da es allein durch die Form ihrer Erscheinung, den Satz vom Grund, entsteht und nur insofern Bedeutung und Gültigkeit hat. Zwar könnte man sagen, daß was die Welt sei, ein Jeder ohne weitere Hülfe erkenne; da er das Subjekt des Erkennens, dessen Vorstellung sie ist, selbst ist: auch wäre dies insoweit wahr. Allein jene Erkenntniß ist eine anschauliche, ist in concreto: dieselbe in abstracto wiederzugeben, das successive, wandelbare Anschauen und überhaupt alles Das, was der weite Begriff Gefühl umfaßt und bloß negativ, als nicht abstraktes, deutliches Wissen bezeichnet, eben zu einem solchen, zu einem bleibenden Wissen zu erheben, ist die Aufgabe der Philosophie. Sie muß demnach eine Aussage in abstracto vom Wesen der gesammten Welt seyn, vom Ganzen wie von allen Theilen. Um aber dennoch nicht in eine endlose Menge von einzelnen Urtheilen sich zu verlieren, muß sie sich der Abstraktion bedienen und alles Einzelne im Allgemeinen denken, seine Verschiedenheiten aber auch wieder im Allgemeinen: daher wird sie theils trennen, theils vereinigen, um alles Mannigfaltige der Welt überhaupt, seinem Wesen nach, in wenige abstrakte Begriffe zusammengefaßt, dem Wissen zu überliefern. Durch jene Begriffe, in welchen sie das Wesen der Welt fixirt, muß jedoch, wie das Allgemeine, auch das ganz Einzelne erkannt werden, die Erkenntniß Beider also auf das Genaueste verbunden seyn: daher die Fähigkeit zur Philosophie eben darin besteht, worein Plato sie setzte, im Erkennen des Einen im Vielen und des Vielen im Einen. Die Philosophie wird demnach eine Summe sehr allgemeiner Urtheile seyn, deren Erkenntnißgrund unmittelbar die Welt selbst in ihrer Gesammtheit ist, ohne irgend etwas auszuschließen: also Alles, was im menschlichen Bewußtseyn sich vorfindet: sie wird seyn eine vollständige Wiederholung, gleichsam Abspiegelung der Welt in abstrakten Begriffen, welche allein möglich ist durch Vereinigung des wesentlich Identischen in einen Begriff und Aussonderung des Verschiedenen zu einem andern. Diese Aufgabe setzte schon Bako von Verulam der Philosophie, indem er sagte: ea demum vera est philosophia, quae mundi ipsius voces fidelissime reddit, ed veluti dictante mundo conscripta est, et nihil aliud est, quam ejusdem simulacrum et reflectio, neque addit quidquam de proprio, sed tantum iterat et resonat. (de augm. scient., L. 2, c. 13). Wir nehmen jedoch dieses in einem ausgedehnteren Sinn, als Bako damals denken konnte.

Die Uebereinstimmung, welche alle Seiten und Theile der Welt, eben weil sie zu einem Ganzen gehören, mit einander haben, muß auch in jenem abstrakten Abbilde der Welt sich wiederfinden. Demnach könnte in jener Summe von Urtheilen das eine aus dem andern gewissermaaßen abgeleitet werden und zwar immer wechselseitig. Doch müssen sie hiezu für's Erste daseyn und also zuvor, als unmittelbar durch die Erkenntniß der Welt in concreto begründet, aufgestellt werden, um so mehr, als alle unmittelbare Begründung sicherer ist, als die mittelbare: ihre Harmonie zu einander, vermöge welcher sie sogar zur Einheit eines Gedankens zusammenfließen, und welche entspringt aus der Harmonie und Einheit der anschaulichen Welt selbst, die ihr gemeinsamer Erkenntnißgrund ist, wird daher nicht als das Erste zu ihrer Begründung gebraucht werden; sondern nur noch als Bekräftigung ihrer Wahrheit hinzukommen. – Diese Aufgabe selbst kann erst durch ihre Auflösung vollkommen deutlich werden27.

§ 16

Nach dieser ganzen Betrachtung der Vernunft, als einer dem Menschen allein eigenen, besonderen Erkenntnißkraft, und der durch sie herbeigeführten, der menschlichen Natur eigenthümlichen Leistungen und Phänomene, bliebe mir jetzt noch übrig von der Vernunft zu reden, sofern sie die Handlungen der Menschen leitet, also in dieser Rücksicht praktisch genannt werden kann. Allein das hier zu Erwähnende hat größtentheils seine Stelle an einem andern Orte gefunden, nämlich im Anhang zu dieser Schrift, wo das Daseyn der von Kant so genannten praktischen Vernunft zu bestreiten war, welche er (freilich sehr bequem) als unmittelbare Quelle aller Tugend und als den Sitz eines absoluten (d.h. vom Himmel gefallenen) Soll darstellt. Die ausführliche und gründliche Widerlegung dieses Kantischen Princips der Moral habe ich später geliefert, in den »Grundproblemen der Ethik«. – Ich habe deshalb hier nur noch Weniges über den wirklichen Einfluß der Vernunft, im wahren Sinne dieses Worts, auf das Handeln zu sagen. Schon am Eingang unserer Betrachtung der Vernunft haben wir im Allgemeinen bemerkt, wie sehr das Thun und der Wandel des Menschen von dem des Thieres sich unterscheidet, und daß dieser Unterschied doch allein als Folge der Anwesenheit abstrakter Begriffe im Bewußtseyn anzusehn ist. Der Einfluß dieser auf unser ganzes Daseyn ist so durchgreifend und bedeutend, daß er uns zu den Thieren gewissermaaßen in das Verhältniß setzt, welches die sehenden Thiere zu den augenlosen (gewisse Larven, Würmer und Zoophyten) haben: letztere erkennen durch das Getast allein das ihnen im Raum unmittelbar Gegenwärtige, sie Berührende; die Sehenden dagegen einen weiten Kreis von Nahem und Fernem. Eben so nun beschränkt die Abwesenheit der Vernunft die Thiere auf die ihnen in der Zeit unmittelbar gegenwärtigen anschaulichen Vorstellungen, d.i. realen Objekte: wir hingegen, vermöge der Erkenntniß in abstracto, umfassen, neben der engen wirklichen Gegenwart, noch die ganze Vergangenheit und Zukunft, nebst dem weiten Reiche der Möglichkeit: wir übersehn das Leben frei nach allen Seiten, weit hinaus über die Gegenwart und Wirklichkeit. Was also im Raum und für die sinnliche Erkenntniß das Auge ist, das ist gewissermaaßen in der Zeit und für die innere Erkenntniß die Vernunft. Wie aber die Sichtbarkeit der Gegenstände ihren Werth und Bedeutung doch nur dadurch hat, daß sie die Fühlbarkeit derselben verkündigt, so liegt der ganze Werth der abstrakten Erkenntniß immer in ihrer Beziehung auf die anschauliche. Daher auch legt der natürliche Mensch immer viel mehr Werth auf das unmittelbar und anschaulich Erkannte, als auf die abstrakten Begriffe, das bloß Gedachte: er zieht die empirische Erkenntniß der logischen vor. Umgekehrt aber sind diejenigen gesinnt, welche mehr in Worten, als Thaten leben, mehr in Papier und Bücher, als in die wirkliche Welt gesehn haben, und die in ihrer größten Ausartung zu Pedanten und Buchstabenmenschen werden. Daraus allein ist es begreiflich, wie Leibnitz nebst Wolf und allen ihren Nachfolgern, so weit sich verirren konnten, nach dem Vorgange des Duns Skotus, die anschauliche Erkenntniß für eine nur verworrene abstrakte zu erklären! Zur Ehre Spinoza's muß ich erwähnen, daß sein richtigerer Sinn umgekehrt alle Gemeinbegriffe für entstanden aus der Verwirrung des anschaulich Erkannten erklärt hat. (Eth. II, prop. 40, Schol. 1.) – Aus jener verkehrten Gesinnung ist es auch entsprungen, daß man in der Mathematik die ihr eigenthümliche Evidenz verwarf, um allein die logische gelten zu lassen; daß man überhaupt jede nicht abstrakte Erkenntniß unter dem weiten Namen Gefühl begriff und gering schätzte; daß endlich die Kantische Ethik den reinen, unmittelbar bei Erkenntniß der Umstände ansprechenden und zum Rechtthun und Wohlthun leitenden guten Willen als bloßes Gefühl und Aufwallung für werth- und verdienstlos erklärte, und nur dem aus abstrakten Maximen hervorgegangenen Handeln moralischen Werth zuerkennen wollte.

Die allseitige Uebersicht des Lebens im Ganzen, welche der Mensch durch die Vernunft vor dem Thiere voraus hat, ist auch zu vergleichen mit einem geometrischen, farblosen, abstrakten, verkleinerten Grundriß seines Lebensweges. Er verhält sich damit zum Thiere, wie der Schiffer, welcher mittelst Seekarte, Kompaß und Quadrant seine Fahrt und jedesmalige Stelle auf dem Meer genau weiß, zum unkundigen Schiffsvolk, das nur die Wellen und den Himmel sieht. Daher ist es betrachtungswerth, ja wunderbar, wie der Mensch, neben seinem Leben in concreto, immer noch ein zweites in abstracto führt. Im ersten ist er allen Stürmen der Wirklichkeit und dem Einfluß der Gegenwart Preis gegeben, muß streben, leiden, sterben, wie das Thier. Sein Leben in abstracto aber, wie es vor seinem vernünftigen Besinnen steht, ist die stille Abspiegelung des ersten und der Welt worin er lebt, ist jener eben erwähnte verkleinerte Grundriß. Hier im Gebiet der ruhigen Ueberlegung erscheint ihm kalt, farblos und für den Augenblick fremd, was ihn dort ganz besitzt und heftig bewegt: hier ist er bloßer Zuschauer und Beobachter. In diesem Zurückziehn in die Reflexion gleicht er einem Schauspieler, der seine Scene gespielt hat und bis er wieder auftreten muß, unter den Zuschauern seinen Platz nimmt, von wo aus er was immer auch vorgehn möge, und wäre es die Vorbereitung zu seinem Tode (im Stück), gelassen ansieht, darauf aber wieder hingeht und thut und leidet wie er muß. Aus diesem doppelten Leben geht jene von der thierischen Gedankenlosigkeit sich so sehr unterscheidende menschliche Gelassenheit hervor, mit welcher Einer, nach vorhergegangener Ueberlegung, gefaßtem Entschluß oder erkannter Nothwendigkeit, das für ihn Wichtigste, oft Schrecklichste kaltblütig über sich ergehn läßt, oder vollzieht: Selbstmord, Hinrichtung, Zweikampf, lebensgefährliche Wagstücke jeder Art und überhaupt Dinge, gegen welche seine ganze thierische Natur sich empört. Da sieht man dann, in welchem Maaße die Vernunft der thierischen Natur Herr wird, und ruft dem Starken zu: sidêreion ny toi êtor! (ferreum certe tibi cor!) Il. 24, 521. Hier, kann man wirklich sagen, äußert sich die Vernunft praktisch: also überall, wo das Thun von der Vernunft geleitet wird, wo die Motive abstrakte Begriffe sind, wo nicht anschauliche, einzelne Vorstellungen, noch der Eindruck des Augenblicks, welcher das Thier leitet, das Bestimmende ist, da zeigt sich praktische Vernunft. Daß aber dieses gänzlich verschieden und unabhängig ist vom ethischen Werthe des Handelns, daß vernünftig Handeln und tugendhaft Handeln zwei ganz verschiedene Dinge sind, daß Vernunft sich eben so wohl mit großer Bosheit, als mit großer Güte im Verein findet und der einen wie der andern durch ihren Beitritt erst große Wirksamkeit verleiht, daß sie zur methodischen, konsequenten Ausführung des edeln, wie des schlechten Vorsatzes, der klugen, wie der unverständigen Maxime, gleich bereit und dienstbar ist, welches eben ihre weibliche, empfangende und aufbewahrende, nicht selbst erzeugende Natur so mit sich bringt, – dieses Alles habe ich im Anhange ausführlich auseinandergesetzt, und durch Beispiele erläutert. Das dort Gesagte stände hier an seinem eigentlichen Platz, hat indessen, wegen der Polemik gegen Kants vorgebliche praktische Vernunft, dorthin verlegt werden müssen; wohin ich deshalb von hier wieder verweise.

Die vollkommenste Entwickelung der praktischen Vernunft, im wahren und ächten Sinne des Worts, der höchste Gipfel, zu dem der Mensch durch den bloßen Gebrauch seiner Vernunft gelangen kann, und auf welchem sein Unterschied vom Thiere sich am deutlichsten zeigt, ist als Ideal dargestellt im Stoischen Weisen. Denn die Stoische Ethik ist ursprünglich und wesentlich gar nicht Tugendlehre, sondern bloß Anweisung zum vernünftigen Leben, dessen Ziel und Zweck Glück durch Geistesruhe ist. Der tugendhafte Wandel findet sich dabei gleichsam nur per accidens, als Mittel, nicht als Zweck ein. Daher ist die Stoische Ethik, ihrem ganzen Wesen und Gesichtspunkt nach, grundverschieden von den unmittelbar auf Tugend dringenden ethischen Systemen, als da sind die Lehren der Veden, des Plato, des Christenthums und Kants. Der Zweck der Stoischen Ethik ist Glück: telos to eudaimonein (virtutes omnes finem habere beatitudinem) heißt es in der Darstellung der Stoa bei Stobäos. (Ecl., L. II, c. 7, p. 114, und ebenfalls p. 138.) Jedoch weist die Stoische Ethik nach, daß das Glück im innern Frieden und in der Ruhe des Geistes (aparaxia) allein sicher zu finden sei, und diese wieder allein durch Tugend zu erreichen: eben dieses nur bedeutet der Ausdruck, daß Tugend höchstes Gut sei. Wenn nun aber freilich allmälig der Zweck über das Mittel vergessen und die Tugend auf eine Weise empfohlen wird, die ein ganz anderes Interesse, als das des eigenen Glückes verräth, indem es diesem zu deutlich widerspricht; so ist dies eine von den Inkonsequenzen, durch welche in jedem System die unmittelbar erkannte, oder wie man sagt gefühlte Wahrheit auf den rechten Weg zurückleitet, den Schlüssen Gewalt anthuend; wie man dies z.B. deutlich sieht in der Ethik des Spinoza, welche aus dem egoistischen suum utile quaerere, durch handgreifliche Sophismen, reine Tugendlehre ableitet. Nach Dem, wie ich den Geist der Stoischen Ethik aufgefaßt habe, liegt ihr Ursprung in dem Gedanken, ob das große Vorrecht des Menschen, die Vernunft, welche ihm mittelbar, durch planmäßiges Handeln und was aus diesem hervorgeht, so sehr das Leben und dessen Lasten erleichtert, nicht auch fähig wäre, unmittelbar, d.h. durch bloße Erkenntniß, ihn den Leiden und Quaalen aller Art, welche sein Leben füllen, auf ein Mal zu entziehn, entweder ganz, oder doch beinahe ganz. Man hielt es dem Vorzug der Vernunft nicht angemessen, daß das mit ihr begabte Wesen, welches durch dieselbe eine Unendlichkeit von Dingen und Zuständen umfaßt und übersieht, dennoch durch die Gegenwart und durch die Vorfälle, welche die wenigen Jahre eines so kurzen, flüchtigen, Ungewissen Lebens enthalten können, so heftigen Schmerzen, so großer Angst und Leiden, die aus dem ungestümen Drang des Begehrens und Fliehens hervorgehn, Preis gegeben seyn sollte, und meinte, die gehörige Anwendung der Vernunft müßte den Menschen darüber hinwegheben, ihn unverwundbar machen können. Daher sagte Antisthenes: Dei ktasthai noun, ê brochon (aut mentem parandam, aut laqueum. Plut. de stoic. repugn., c. 14), d.h. das Leben ist so voller Plagen und Hudeleien, daß man entweder, mittelst berichtigter Gedanken, sich darüber hinaussetzen, oder es verlassen muß. Man sah ein, daß die Entbehrung, das Leiden, nicht unmittelbar und nothwendig hervorgieng aus dem Nichthaben; sondern erst aus dem Haben-wollen und doch nicht haben; daß also dieses Haben-wollen die nothwendige Bedingung ist, unter der allein das Nicht-haben zur Entbehrung wird, und den Schmerz erzeugt. Ou penia lypên ergazetai, alla epithymia (non paupertas dolorem efficit, sed cupiditas), Epict., fragm. 25. Man erkannte zudem aus Erfahrung, daß bloß die Hoffnung, der Anspruch es ist, der den Wunsch gebiert und nährt; daher uns weder die vielen, Allen gemeinsamen und unvermeidlichen Uebel, noch die unerreichbaren Güter beunruhigen und plagen; sondern allein das unbedeutende Mehr und Weniger des dem Menschen Ausweichbaren und Erreichbaren; ja, daß nicht nur das absolut, sondern auch schon das relativ Unerreichbare, oder Unvermeidliche, uns ganz ruhig läßt; daher die Uebel, welche unserer Individualität ein Mal beigegeben sind, oder die Güter, welche ihr nothwendig versagt bleiben müssen, mit Gleichgültigkeit betrachtet werden, und daß, dieser menschlichen Eigenthümlichkeit zufolge, jeder Wunsch bald erstirbt, und also keinen Schmerz mehr erzeugen kann, wenn nur keine Hoffnung ihm Nahrung giebt. Aus diesem allen ergab sich, daß alles Glück nur auf dem Verhältniß beruht zwischen unsern Ansprüchen und dem, was wir erhalten: wie groß oder klein die beiden Großen dieses Verhältnisses sind, ist einerlei, und das Verhältniß kann sowohl durch Verkleinerung der ersten Größe, als durch Vergrößerung der zweiten hergestellt werden: und eben so, daß alles Leiden eigentlich hervorgeht aus dem Mißverhältniß dessen, was wir fordern und erwarten, mit dem, was uns wird, welches Mißverhältniß aber offenbar nur in der Erkenntniß liegt28 und durch bessere Einsicht völlig gehoben werden könnte. Daher sagte Chrysippos: dei zên kat' empeirian tôn physei symbainontôn (Stob. Ed., L. 11, c. 7, p. 134), d.h. man soll leben mit gehöriger Kenntniß des Hergangs der Dinge in der Welt. Denn so oft ein Mensch irgendwie aus der Fassung kommt, durch ein Unglück zu Boden geschlagen wird, oder sich erzürnt, oder verzagt; so zeigt er eben dadurch, daß er die Dinge anders findet, als er sie erwartete, folglich daß er im Irrthum befangen war, die Welt und das Leben nicht kannte, nicht wußte, wie durch Zufall die leblose Natur, durch entgegengesetzte Zwecke, auch durch Bosheit, die belebte den Willen des Einzelnen bei jedem Schritte durchkreuzt: er hat also entweder seine Vernunft nicht gebraucht, um zu einem allgemeinen Wissen dieser Beschaffenheit des Lebens zu kommen, oder auch es fehlt ihm an Urtheilskraft, wenn, was er im Allgemeinen weiß, er doch im Einzelnen nicht wiedererkennt und deshalb davon überrascht und aus der Fassung gebracht wird29. So auch ist jede lebhafte Freude ein Irrthum, ein Wahn, weil kein erreichter Wunsch dauernd befriedigen kann, auch weil jeder Besitz und jedes Glück nur vom Zufall auf unbestimmte Zeit geliehn ist, und daher in der nächsten Stunde wieder zurückgefordert werden kann. Jeder Schmerz aber beruht auf dem Verschwinden eines solchen Wahns: Beide also entstehn aus fehlerhafter Erkenntniß: dem Weisen bleibt daher Jubel wie Schmerz immer fern, und keine Begebenheit stört seine ataraxia.

Diesem Geist und Zweck der Stoa gemäß, fängt Epiktet damit an und kommt beständig darauf zurück, als auf den Kern seiner Weisheit, daß man wohl bedenken und unterscheiden solle, was von uns abhängt und was nicht, daher auf Letzteres durchaus nicht Rechnung machen; wodurch man zuverlässig frei bleiben wird von allem Schmerz, Leiden und Angst. Was nun aber von uns abhängt, ist allein der Wille: und hier geschieht nun ein allmäliger Uebergang zur Tugendlehre, indem bemerkt wird, daß, wie die von uns nicht abhängige Außenwelt Glück und Unglück bestimmt, so aus dem Willen innere Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit uns selbst hervorgehe. Nachher aber ward gefragt, ob man den beiden ersteren oder den beiden letzteren die Namen bonum et malum beilegen solle? Das war eigentlich willkürlich und beliebig und that nichts zur Sache. Aber dennoch stritten hierüber unaufhörlich die Stoiker mit Peripatetikern und Epikuräern, unterhielten sich mit der unstatthaften Vergleichung zweier völlig inkommensurabeler Größen und den daraus hervorgehenden, entgegengesetzten, paradoxen Aussprüchen, die sie einander zuwarfen. Eine interessante Zusammenstellung dieser, von der stoischen Seite aus, liefern uns die Paradoxa des Cicero.

Zenon, der Stifter, scheint ursprünglich einen etwas andern Gang genommen zu haben. Der Ausgangspunkt war bei ihm dieser: daß man zur Erlangung des höchsten Gutes, d.h. der Glücksäligkeit durch Geistesruhe, übereinstimmend mit sich selbst leben solle.(homologoumenôs zên; touto d' esti kath hena logon kai symphônon zên.Consonanter vivere: hoc est secundum unam rationem et concordem sibi vivere. Stob. Ecl. eth., L. II, c. 7, p. 132. Imgleichen: Aretên diathesin einai psyxês symphônon heautê peri holon ton bion. Virtutem esse animi affectionem secum per totam vitam consentientem, ibid., p. 104.) Nun war aber dieses allein dadurch möglich, daß man durchaus vernünftig, nach Begriffen, nicht nach wechselnden Eindrücken und Launen sich bestimmte; da aber nur die Maxime unsers Handelns, nicht der Erfolg, noch die äußern Umstände, in unserer Gewalt sind: so mußte man, um immer konsequent bleiben zu können, allein jene, nicht diese sich zum Zwecke machen; wodurch wieder die Tugendlehre eingeleitet wird.

Aber schon den unmittelbaren Nachfolgern des Zenon schien sein Moralprincip – übereinstimmend zu leben – zu formal und inhaltsleer. Sie gaben ihm daher materialen Gehalt, durch den Zusatz: »übereinstimmend mit der Natur zu leben« (homologoumenos tê physei zên); welches, wie Stobäos a.a.O. berichtet, zuerst vom Kleanthes hinzugesetzt wurde und die Sache sehr ins Weite schob, durch die große Sphäre des Begriffs und die Unbestimmtheit des Ausdrucks. Denn Kleanthes meinte die gesammte allgemeine Natur, Chrysippos aber die menschliche Natur insbesondere (Diog. Laert., 7, 89). Das dieser letzteren allein Angemessene sollte nachher die Tugend seyn, wie den thierischen Naturen Befriedigung thierischer Triebe, wodurch wieder gewaltsam zur Tugendlehre eingelenkt, und, es mochte biegen oder brechen, die Ethik durch die Physik begründet werden sollte. Denn die Stoiker giengen überall auf Einheit des Princips: wie denn auch Gott und die Welt bei ihnen durchaus nicht zweierlei war.

Die Stoische Ethik, im Ganzen genommen, ist in der That ein sehr schätzbarer und achtungswerther Versuch, das große Vorrecht des Menschen, die Vernunft, zu einem wichtigen und heilbringenden Zweck, zu benutzen, nämlich um ihn über die Leiden und Schmerzen, welchen jedes Leben anheimgefallen ist, hinauszuheben, durch eine Anweisung

»Qua ratione queas traducere leniter aevum:

Ne te semper inops agitet vexetque cupido,

Ne pavor et rerum mediocriter utilium spes

und ihn eben dadurch im höchsten Grade der Würde theilhaft zu machen, welche ihm, als vernünftigem Wesen, im Gegensatz des Thieres zusteht, und von der in diesem Sinn allerdings die Rede seyn kann, nicht in einem andern. – Diese meine Ansicht der Stoischen Ethik brachte es mit sich, daß sie hier bei Darstellung dessen, was die Vernunft ist und zu leisten vermag, erwähnt werden mußte. So sehr aber auch jener Zweck, durch Anwendung der Vernunft und durch eine bloß vernünftige Ethik in gewissem Grade erreichbar ist, wie denn auch die Erfahrung zeigt, daß jene rein vernünftigen Charaktere, die man gemeinhin praktische Philosophen nennt – und mit Recht, weil, wie der eigentliche, d.i. der theoretische Philosoph das Leben in den Begriff überträgt, sie den Begriff ins Leben übertragen, – wohl die glücklichsten sind; so fehlt dennoch sehr viel, daß etwas Vollkommenes in dieser Art zu Stande kommen und wirklich die richtig gebrauchte Vernunft uns aller Last und allen Leiden des Lebens entziehn und zur Glücksäligkeit führen könnte. Es liegt vielmehr ein vollkommener Widerspruch darin, leben zu wollen ohne zu leiden, welchen daher auch das oft gebrauchte Wort »säliges Leben« in sich trägt: dieses wird demjenigen gewiß einleuchtend seyn, der meine folgende Darstellung bis ans Ende gefaßt haben wird. Dieser Widerspruch offenbart sich auch schon in jener Ethik der reinen Vernunft selbst, dadurch, daß der Stoiker genöthigt ist, seiner Anweisung zum glücksäligen Leben (denn das bleibt seine Ethik immer) eine Empfehlung des Selbstmordes einzuflechten (wie sich unter dem prächtigen Schmuck und Geräth orientalischer Despoten auch ein kostbares Fläschchen mit Gift findet), für den Fall nämlich, wo die Leiden des Körpers, die sich durch keine Sätze und Schlüsse wegphilosophiren lassen, überwiegend und unheilbar sind, sein alleiniger Zweck, Glücksäligkeit, also doch vereitelt ist, und nichts bleibt, um dem Leiden zu entgehn, als der Tod, der aber dann gleichgültig, wie Jede andere Arzenei, zu nehmen ist. Hier wird ein starker Gegensatz offenbar, zwischen der Stoischen Ethik und allen jenen oben erwähnten, welche Tugend an sich und unmittelbar, auch mit den schwersten Leiden, zum Zweck machen und nicht wollen, daß man, um dem Leiden zu entfliehn, das Leben endige; obgleich keine von ihnen allen den wahren Grund zur Verwerfung des Selbstmordes auszusprechen wußte, sondern sie mühsam allerhand Scheingründe zusammensuchen: im vierten Buch wird jener Grund im Zusammenhang unserer Betrachtung sich ergeben. Aber obiger Gegensatz offenbart und bestätigt eben den wesentlichen, im Grundprincip liegenden Unterschied zwischen der Stoa, die eigentlich doch nur ein besonderer Eudämonismus ist, und jenen erwähnten Lehren, obgleich Beide oft in den Resultaten zusammentreffen und scheinbare Verwandtschaft haben. Der oben erwähnte innere Widerspruch aber, mit welchem die Stoische Ethik, selbst in ihrem Grundgedanken, behaftet ist, zeigt sich ferner auch darin, daß ihr Ideal, der Stoische Weise, in ihrer Darstellung selbst, nie Leben oder innere poetische Wahrheit gewinnen konnte, sondern ein hölzerner, steifer Gliedermann bleibt, mit dem man nichts anfangen kann, der selbst nicht weiß wohin mit seiner Weisheit, dessen vollkommene Ruhe, Zufriedenheit, Glücksäligkeit dem Wesen der Menschheit geradezu widerspricht und uns zu keiner anschaulichen Vorstellung davon kommen läßt. Wie ganz anders erscheinen, neben ihn gestellt, die Weltüberwinder und freiwilligen Büßer, welche die Indische Weisheit uns aufstellt und wirklich hervorgebracht hat, oder gar der Heiland des Christenthums, jene vortreffliche Gestalt, voll tiefen Lebens, von größter poetischer Wahrheit und höchster Bedeutsamkeit, die jedoch, bei vollkommener Tugend, Heiligkeit und Erhabenheit, im Zustande des höchsten Leidens vor uns steht30.