38. Kapitel
28. Februar 2010
Los Angeles
17.58 Uhr
In gleichmäßigem Tempo joggte Ondragon über den Betonweg und genoss den ruhigen Rhythmus seines Atems. Es herrschten perfekte 70 Grad Fahrenheit und Windstille. Zu seiner Linken ging die Sonne über dem Pazifik unter und verwandelte die Strandpromenade von Santa Monica in den buchstäblichen California Dream. Und zu seiner Rechten spiegelte sich der Feuerball in den Fenstern der Beachfront-Appartementhäuser. Wie immer war viel los auf der palmengesäumten Promenade. Touristen, Jogger, Fahrradfahrer, Leute mit Inlinern und Skater waren unterwegs. Einer sportlicher als der andere. Auf dem Wasser nahmen die Surfer die letzten Wellen und hoben sich als schwarze Silhouetten vor dem blutroten Abendhimmel ab. Ondragon blickte voraus zum Santa Monica Pier, der Start und Ziel seiner üblichen Runde nach Venice und zurück war. Die Beleuchtung des Riesenrades auf dem Pier ging gerade an und pulsierte in psychedelischen Mustern. Jauchzendes Geschrei drang von der Vergnügungsmeile herüber.
Am Pier angelangt, kaufte Ondragon sich an einer der Fressbuden ein kaltes Wasser und gönnte sich eine kleine Pause. Nachdem sein Puls sich wieder normalisiert hatte, ging er zum Parkplatz auf dem Pier, wo er seine mattschwarze Honda Hornet geparkt hatte. Er zog sich einen Sweater über und setzte sich den Helm auf. Normalerweise fuhr er gerne ohne das Ding, aber für das, was er vorhatte, brauchte er Anonymität. Auch das Nummernschild des Bikes war nicht echt.
Er stieg auf das Motorrad und betätigte die Zündung. Die frisierte Maschine gab einen satten Ton von sich, und mit Schwung fuhr Ondragon los. Er passierte die Rampe und den Torbogen des Piers und brauste geradeaus auf der Colorado Avenue bis zur 4th Street, von wo aus er auf den noch leeren Santa Monica Freeway auffuhr. Die Verkehrsdichte änderte sich jedoch rasch, als er auf die 405 Richtung Norden wechselte. Dort standen die Autos Stoßstange an Stoßstange –der alltägliche Wahnsinn des Großraumes Los Angeles. Aber das sollte ihn nicht stören. Ondragon duckte sich über den Lenker und gab Gas.
Ab jetzt begann der Spaß!
In sportlichen Slalom umkurvte er die hupenden Hindernisse und ließ Chevy, Chrysler und Co. hinter sich. Er kam gut voran und seine Laune sprang auf der Skala für urbane Vergnügen noch einmal gewaltig in die Höhe. Stauhopping war wirklich eine Freude! Besonders mit der schnellen und wendigen Maschine zwischen seinen Beinen.
Mit einem waghalsigen Manöver schnitt er durch eine sich schließende Lücke zwischen zwei Autos, dahinter war der Korridor für das Motorrad frei. Ondragon blickte zur Seite und erkannte, dass er einen Spielgefährten bekommen hatte. Ein weiterer Motorradfahrer, bekleidet in voller Montur und Helm, glitt gekonnt durch die zähe Blechlawine. Der Typ blickte kurz zu ihm herüber und nickte. Ondragon nickte zurück und gab Gas. Das inoffizielle Rennen war eröffnet und versprach zum Ende des Tages einen hübschen Adrenalinkick.
In mörderischem Tempo raste Ondragon durch den Stau, im Korridor neben ihm der Unbekannte, der hartnäckig dranblieb. Zu beiden Seiten glitt die Blechschlange der stehenden oder nur langsam rollenden Fahrzeuge gefährlich nah an ihm vorbei und stinkende Abgase drangen in seine Lungen. Mit dem rechten Knie schrammte er nur knapp an einem Rückspiegel vorbei.
Egal, dachte Ondragon, dieser Sport war auf Dauer so oder so ungesund.
Plötzlich scherte vor ihm ein Fahrzeug aus, und um ein Haar wäre er mit ihm kollidiert, hätte sich nicht im letzten Augenblick eine Lücke aufgetan, durch die er ausweichen konnte. Fluchend und lachend gleichzeitig fuhr er weiter, sein Gehirn im Rausch der körpereigenen Drogen. Er wagte einen Blick nach links, wo sein Gegner zwei Längen hinter ihm fuhr und konzentriert nach vorne starrte.
Kurz darauf holte der Kerl ihn ein. Auf gleicher Höhe passierten sie die Abfahrt zum Wilshire Boulevard, wo Ondragon auf den viel zu schmalen Randstreifen auswich, um einen Truck zu überholen. Der Fahrer ließ verärgert sein Horn erklingen und übertönte damit das heulende Motorengeräusch der Honda.
Als die Motorradduellanten schließlich den Exit zum Sunset Boulevard erreichten, wurde der Verkehr allmählich flüssiger, und sie konnten hemmungslos Gas geben. Mit dem Drehzahlmesser im roten Bereich jagte Ondragon seine Maschine auf 140 Meilen. Der Fahrtwind zerrte an seiner dünnen Kleidung, und die Maschine schlingerte böse bei jeder Unebenheit des Highways, aber trotzdem ließ er nicht nach. Im Rückspiegel sah er, wie sein Spielgefährte allmählich kleiner wurde. Offensichtlich traute dieser sich nicht, die Geschwindigkeitsbeschränkung so großzügig auszulegen wie er. Oder seine Maschine taugte nichts.
Mit einem siegreichen Lächeln auf den Lippen fuhr Ondragon einige Meilen später auf den Mulholland Drive ab. In ruhiger Fahrt brachte er die kurvige Strecke bis zum Laurel Pass hinter sich und erreichte über die Wonderland Avenue schließlich den Sunset Plaza Drive, wo sich die Garage befand, in der er sein Motorrad parkte. Der Sunset Plaza Drive lag oberhalb des Doheny Drives, in dem seine Villa stand, aber es gab keine Verbindung zwischen den beiden Straßen. Nur ein schmaler Trampelpfad führte den Hang hinab zu seinem Haus. Das war Ondragons Fluchtweg Nr. 1 und das Motorrad normalerweise sein Fluchtfahrzeug. Der Doheny Drive war viel zu dürftig verzweigt, um im Ernstfall über ihn entkommen zu können. Über den Mulholland Drive boten sich da weitaus bessere Möglichkeiten.
Ondragon schloss das Garagentor ab und stieg im Dunkeln den Pfad hinunter bis zu seinem Garten, den er durch eine Hintertür betrat. Überall zirpten Grillen, und die frisch gepflegte Anlage bot einen idyllischen Anblick mit ihren unzähligen kleinen Laternen und dem illuminierten Pool. Fröhlich pfeifend schritt er zur Terrasse und betrat seine Villa durch den Seiteneingang. Drinnen schaltete er das Licht an und begab sich geradewegs ins Bad, wo er sich eine heiße Dusche gönnte.
Nach der kleinen Frischekur ging er in die zum Wohnzimmer offen Küche, wo seine Haushälterin ihm ein leichtes Abendessen bereitgestellt hatte.
Lupita Lopez war Mexikanerin, natürlich, aber das war auch schon alles, was das Klischee bediente. Seine Lupita war anders. Sie war 35, von stämmiger Statur, durchtrainiert wie ein Bodybuilder und konnte einen Bullen von den Hufen hauen. Denn Lupita war eine Lucha Libre und sehr erfolgreich im mexikanischen Frauen-Wrestling. Vor allem aber brauchte er sie, um das Haus in Ordnung zu halten und den Anschein an ein normalbürgerliches Heim zu wahren. In Hollywood hatte einfach jeder, der etwas auf sich hielt, Hausangestellte, so wie jeder auch einen Psychotherapeuten hatte. Ein Junggeselle wie er würde nur auffallen, wenn er kein Personal beschäftigen würde. Nun ja. Das Leben war schon kompliziert. Dennoch hatte es auch seine angenehmen Seiten.
Ondragon holte sich ein kaltes Desperados und Lupitas Salat mit dem Chipotledressing aus dem Kühlschrank und setzte sich auf das bequeme Sofa, von dem aus man einen atemberaubenden Blick über das nächtliche Los Angeles hatte. Während er aß, sah er seine Reiseunterlagen durch, die auf dem Couchtisch lagen. Sein Flug nach Zürich ging übermorgen und sein Termin in der Bank war einen Tag darauf. Und weil er schon einmal vor Ort war, würde er im Anschluss an das Geschäftliche nach St. Moritz fahren und sich ein paar Tage entspannen bei Pulverschnee und Après Ski. Charlize würde die Stellung halten, so lange er in der Schweiz weilte, und danach freibekommen, um eine Woche auf Hawaii zu chillen.
Ondragon stellte den leeren Teller auf den Tisch, auf dem die Voodoo-Kerze der Madame in einem schlichten Ständer stand. Ein kleines Andenken an die verrückte Zombiejagd in New Orleans. Mit einem vergnügten Lächeln im Gesicht holte er sein Handy hervor uns checkte zum letzten Mal an diesem Abend seine Mails. Er zog verwundert die Brauen zusammen. Vor einer halben Stunde hatte Charlize ihm noch eine Mail geschickt. Es war eine weitergeleitete Nachricht von [email protected] ohne Text aber mit einer jpg-Datei im Anhang. Es war ein Scan von einem Zeitungsauschnitt. Ondragon blickte auf das grobkörnige Schwarzweiß-Foto neben dem Artikel. Das Gesicht eines schwarzen Mannes war darauf abgebildet, doch es sagte ihm nichts. Er las den kurzen Artikel.
Wer kennt diesen Mann?
New Orleans – Gestern Nachmittag wurde auf dem Interstate 10 in Richtung Westen in der Maurepas Swamp Wildlife Region ein offensichtlich verwirrter Mann (Foto) afro-amerikanischer Abstammung aufgegriffen. Er war nur mit Unterhose bekleidet und konnte keine Angaben über seine Identität machen. Zunächst wurde er in die Nervenheilanstalt von Lake Shore gebracht, wo sein Geisteszustand untersucht werden soll. Die zuständigen Behörden bitten um Hinweise. Wer kennt diesen Mann?
Ondragon durchzuckte eine vage Erinnerung. Hastig durchsuchte er seine Mails und fand eine Nachricht, die er vor drei Tagen von der Madame bekommen hatte. Vielmehr war es ein Foto gewesen, das sie ihm geschickt hatte. Er öffnete es und starrte eine ganze Weile darauf, bis er endlich verstand. Geschockt und belustigt zugleich lehnte er sich zurück. Das Foto war von einem Grabstein. Auf welchem Friedhof er stand, wusste Ondragon nicht, dafür kannte er den Namen, der darauf eingemeißelt war: „Patrick Fouilles 9.4.1964 - 21.2.2010 – Unser Reverend“
Der gute Reverend Zombie war also durch die Erde gegangen! Er hatte seine haitianische Strafe erhalten und war wieder ausgegraben worden. Welch eine Ironie des Schicksals! Der Reverend war mit seinen eigenen Waffen geschlagen worden … und wandelte nun als Zombie weiter durchs Leben. C‘est la vie!
Mit einem amüsierten Schnalzen erhob Ondragon sich vom Sofa und ging in den Keller, wo sich in seinem Fitnessraum hinter einem klappbaren Fernsehbildschirm ein Spezialsafe der Firma Sentry verbarg.
Er öffnete den Safe mit einer sechsstelligen Geheimkombination und entnahm ihm einen beschrifteten Umschlag. Ms. Mari-Jeanne Tombeau, 616 Ursulines Avenue, New Orleans, LA 70116 stand darauf. Er griff in den Umschlag und holte das blaueingeschlagene Dokument heraus. Es war ein US-Reisepass. Er öffnete ihn, betrachtete das Foto und die Sicherheitshologramme und las den Namen: Christine Dadou Tombeau, geboren am 25.05.2001 in New Orleans.
Das Foto war nicht besonders gut, man sah der kleinen Christine noch deutlich an, wie sehr sie gelitten hatte, aber für den Zweck war es ausreichend. Ansonsten war der Pass eine ausgezeichnete Arbeit und von einem echten Dokument nicht zu unterscheiden. Zufrieden packte Ondragon ihn zurück in den Umschlag. Er würde ihn morgen zusammen mit einer gefälschten Geburtsurkunde per Kurier nach New Orleans schicken und sich auf den Anruf der Madame freuen, wenn sie ihn erhalten hatte.
Seine Hand ruhte einen Moment auf den Unterlagen von Darwin Inc., die sich in einer schwarzen Mappe befanden. In drei Tagen lägen sie in dem sichersten Safe der Welt. Ondragon schürzte die Lippen. Mal sehen, dachte er versonnen, falls ich eines Tages meinen großen Abgang plane, lasse ich vielleicht doch noch alles auffliegen. Eine Abrechnung mit der Welt sozusagen, ein globaler Rundumschlag.
Das Öffnen der Büchse der Pandora …
Ja, der Gedanke gefiel ihm. Er schloss den Tresor wieder und stieg hinauf in den Wohnbereich, wo er sich mit einem weiteren Drink wieder auf sein Sofa setzte und den Fernseher anschaltete.
Um 23.30 Uhr ging er zu Bett. Mehr denn je drängte es sich ihm auf, wie froh er darüber sein würde, wenn er endlich das Material in der Schweiz deponiert hätte. Er musste zugeben, dass ihn das Zeug in seinem Safe mehr beunruhigte, als er angenommen hatte.
Er schloss die Augen und versuchte einzuschlafen. Bald darauf träumte er von den Schweizer Alpen, von Schnee und Gletschern. Auf nagelneuen Ski fuhr er einen wunderbaren Hang in eleganten Schwüngen hinab zur Talstation, wo er sich in den Lift setzte und während der Fahrt das Panorama der schneebedeckten Berge mit dem hyazinthblauen Himmel darüber genoss. Oben angekommen blickte er über die weißen Berggipfel und stürzte sich die menschenleere Piste hinab. Die Ski glitten durch den Schnee wie über Butter und Ondragon fühlte den Rausch der Geschwindigkeit in seinen Adern prickeln. Die hohen Tannen flogen links und rechts an ihm vorbei, auch die orangefarbene Pistenbegrenzung und winkende Zombies.
Ondragon stutzte und runzelte die Stirn. Zombies? Er wandte den Kopf und tatsächlich sah er eine Reihe Zombies am Pistenrand stehen. Stern und Ellys waren dabei und auch Bolič.
Ondragon schüttelte den Kopf und fuhr weiter. Machten Zombies Skiurlaub?
Plötzlich tauchte ein weiterer Skifahrer mit sehr kleiner Statur neben ihm auf. Ondragon beobachtete, wie dieser sich ihm in waghalsigen Kurven näherte. Als er schließlich parallel zu ihm fuhr, schob der kleine Skifahrer seine Brille auf die Stirn und grinste ihn an.
Es war Per!
Ondragon blickte seinen Bruder verwundert an. Per Gustav fuhr nicht etwa auf Skiern, nein, er ritt auf zwei aufblasbaren Gummikrokodilen gen Tal.
„He, da staunst du, was?“, rief Per zu ihm herüber.
„Was, zum Teufel, machst du hier?“, fragte Ondragon, während sie gemeinsam den Berg hinunterschossen.
„Jemand hat mich zu dir geschickt. Eine gewisse Madame Tombeau! Du kennst sie doch, oder?“
„Ja, aber …“
„Ich soll dir was ausrichten!“
Ondragon wurde wütend. Konnte ihn die Voodoo-Priesterin nicht einmal in seinen Träumen in Ruhe lassen? „Sag ihr, sie soll mich mit ihrem Unfug nicht länger belästigen!“, fauchte er Per an, dessen Gesicht ernst wurde. In ihrer Schussfahrt bemerkten sie beide nicht, wie der Tannen- und Zombiewald dichter und die Piste immer schmaler wurde wie ein Trichter. Immer mehr Sterns, Ellyses und Boličs flogen vorbei.
„Es ist aber wichtig!“, rief Per eindringlich
„Ach ja?“, schnauzte Ondragon zurück. Die Piste war jetzt gerade mal so breit wie eine schmale Gasse. Schulter an Schulter rasten er und Per hinab, die Arme der Zombies griffen nach ihnen.
„Wirklich!“, bekräftigte Per und warf einen besorgten Blick zum Ende der Piste, wo Tannen so stachelig wie Dornengestrüpp auf sie warteten. Und Zombies.
„Ach, Scheiße! Dann sag es mir endlich und verschwinde danach bloß, hörst du?!“, befahl Ondragon unwirsch.
„Gut, mein lieber Paul, die Botschaft lautet: Wach auf!“
„Was?“
„WACH AUF! VERDAMMT NOCHMAL!“
Verärgert duckte sich Ondragon zur Seite, als die ersten Zweige und Fingernägel sein Gesicht zu zerkratzen drohten. Per fiel auf seinen Krokodilskiern hinter ihm zurück, so eng war die Piste mittlerweile. Musste sein Bruder ihm eigentlich alles versauen?
Ondragon stieß einen lauten Fluch aus und öffnete unwillig seine Augen. Die Piste verschwand und die dunklen Schemen seines Schlafzimmers tauchten auf, der Schrank, die Lampe, der Stuhl und die Person.
Die Person?
Noch bevor seine Nebennieren das Adrenalin ausschütten konnten, griff Ondragon nach der Waffe unter seinem Kopfkissen, richtete sie auf den Eindringling und drückte ohne zu zögern ab.
Klick.
Ein dreckiges Lachen ertönte. „Hey, das ist doch meine Waffe. Die geht manchmal nicht!“
Ondragon fühlte, wie ihm der kalte Lauf eines Schalldämpfers an seine Schläfe gedrückt wurde. Langsam hob er seinen Blick zu dem Gesicht der Gestalt, die neben seinem Bett aufragte. In einer heißen Welle entfaltete das Stresshormon nun endlich seine Wirkung, und sein Herz begann zu rasen, als er erkannte, wer es war.
Kaplan Bolič stand dort und blickte auf ihn herunter. Er trug eine Motorradhose und ein weißes T-Shirt. Grinsend reckte sich ihm Bugs Bunny vom Unterarm des Bosniers entgegen und verpasste ihm einen harten Schlag ins Gesicht.
Helle Sterne umrahmten den Cartoonhasen, und Ondragon spuckte Blut aus.
„Was willst du?“, fragte er den Eindringling, von dem er angenommen hatte, er läge tot in der Wüste von Arizona. Aber so konnte man sich irren, und wahrscheinlich war er der Nächste, der ein Loch im Kopf haben würde.
„Ich will das Zeug aus dem Labor und die anderen Sachen!“, sagte Bolič in seinem fürchterlichen Englisch.
Ondragon blinzelte. „Ist das meine Waffe?“ Er deutete mit dem Kinn auf die Sig Sauer in Boličs Hand.
„Lenk nicht ab, Klugscheißer! Wo hast du das Material?“ Die Mündung des Schalldämpfers kam Ondragons Wange gefährlich nahe, aber er ließ sich davon nur wenig beeindrucken. Stattdessen dachte er nach. Er befand sich in seinem eigenen Haus, hier kannte er sich aus. Das war sein Vorteil. Aber Bolič war nicht irgendein Gegner, er war ein erfahrener Kämpfer, der ihm womöglich ebenbürtig war. Immerhin hatte er seine Alarmanlage ausgetrickst und war außerdem bedeutend jünger als er.
„Wenn du schießt, dann wirst du nie erfahren, wo ich es versteckt habe!“, sagte Ondragon schließlich ruhig.
„Das weiß ich, aber ich kann dir wehtun, damit du es verrätst!“
„Wenn es dir Spaß macht, Captain“, entgegnete Ondragon spöttisch und überlegte indessen ruhig, wo sich seine nächste Waffe befand. Die erste Pistole war unter den Esstisch geklebt, eine zweite in der Schublade im Arbeitszimmer, und die abgesägte Pumpgun befand sich im obersten Kommodenfach im Wohnzimmer. Die dritte Pistole war im Tresor, aber das ahnte Bolič sicherlich, denn das war schließlich ein Standardversteck. Ondragon sann weiter. Das Pfefferspray war auf dem Lampenschirm versteckt und der Baseballschläger unter dem Sofa. Die japanischen Schwerter standen im Flur auf dem antiken Vertiko von 1900. Messer gab es natürlich auch: In der Küche, aber auch unter dem Teppich im Wohn- und Schlafzimmer, über der Türfüllung im Arbeitszimmer, und im Fitnessraum am Ergometer. Das war womöglich das einzige, das in realistischer Nähe sein würde. Aber wollte er einen Messerkampf mit einem bosnischen Kriegsveteran? Nicht wirklich.
Bugs Bunny schnellte wieder auf ihn zu, und Boličs Faust krachte gegen seinen Kopf. Dabei entblößte er ein Hakenkreuz auf der Innenseite seines Oberarms.
Ondragon hob beschwichtigend beide Hände. „Ich komm ja schon. Was willst du überhaupt mit dem Zeug?“
„Das geht dich einen Scheißdreck an!“ Bolič zerrte ihn auf die nackten Füße, weil es ihm nicht schnell genug ging.
„Aha, jetzt verstehe ich es!“, rief Ondragon aus. „Wie konnte ich nur eine solch lange Leitung haben. Du bist der Maulwurf bei DeForce! Du wusstest über den Auftrag Bescheid und über die Möglichkeit, Darwin Inc. zu erpressen. Und du kanntest Ellys schon vorher, nicht wahr?“ Er deutete auf das Tattoo, das genauso aussah wie das Hakenkreuz-Emblem auf der Flagge der White Power Bewegung, die er in Ellys‘ secret room entdeckt hatte. Da war also die Verbindung!
„Ihr habt euch bei einem White-Power-Treffen kennengelernt, und Ellys hat dir geraten, dich bei DeForce zu bewerben, richtig? Und Spider wusste nichts von alledem. Es sollte keine Verbindung zwischen euch geben.“
„Halt die Schnauze!“
„Ich hab also recht!“ Ondragon grinste und kassierte dafür von hinten einen Tritt in die Wade, was ihn zu Fall brachte. Unsanft packte Bolič ihn an den Haaren und riss ihn wieder auf die Beine.
„Aua, das tut ja sogar weh“, scherzte Ondragon.
„Ich mache gleich noch ganz andere Sachen mit dir, Wichser! Los, zeig mir jetzt, wo das Zeug ist.“ Bolič stieß ihn grob vor sich her aus dem Schlafzimmer und zur Treppe.
Ondragon ließ es geschehen und stieg provokativ träge die Treppe hinab, während er nicht aufhörte dem Bosnier Fragen zu stellen. „Du hast Ellys von deinem geplanten inside sellout erzählt, weil er der Einzige war, der an das Material herankommen würde, und er hat Stern eingeweiht als Unterstützung gegen Green. Aber warum warst du nicht mit von der Partie, als wir die beiden zusammen mit diesem dubiosen Reverend hochgenommen haben? Hmm, lass mich überlegen. Ah, ich hab’s! Du hast Ellys und Stern nur benutzt, damit sie die Drecksarbeit machen, und anschließend wolltest du dir die lästigen Mitwisser vom Hals schaffen und die Kohle alleine einstreichen. Ganz schön clever.“
Bolič lachte gehässig. „Tja, und ich musste mir nicht einmal die Hände schmutzig machen, weil ihr gekommen seid und die beiden für mich aus dem Weg geräumt habt. Das war außerordentlich nett von euch.“
„Und du hast wirklich gedacht, dein Plan funktioniert?“
„Hat er doch, oder?“ Wieder lachte der Bosnier.
„Was ist mit Spider? Willst du ihn auch noch beseitigen, wenn das hier vorbei ist?“
„Mal sehen. Und jetzt Fresse halten!“
Sie hatten den Fuß der Treppe erreicht. Rechts ging es zur Küche und zum Wohnzimmer und links zum Arbeitszimmer und den anderen Räumen … und zur Treppe in den Keller. Ondragon zögerte. Wohin sollte er Bolič führen? Sollte er einen Messerkampf mit ungewissem Ausgang riskieren oder es doch besser mit einer Schusswaffe versuchen? Die nächste lag in der Kommode, keine zehn Schritte von ihm entfernt.
Aber Bolič war nicht blöd, er bemerkte sein Zögern und ahnte, was er vorhatte. Wieder erhielt er einen schmerzhaften Tritt mit dem Motorradstiefel in die Waden.
„Denk gar nicht daran!“, zischte der Bosnier. „Mit Sicherheit hast du hier überall Waffen verborgen. Schließlich weiß ich, wer du bist!“
„Ja, ja, eine Scheißlegende. Vielen Dank für die Blumen!“
„Das war kein Kompliment, du Arsch! Ich wollte dir damit nur klarmachen, dass du keinen Blödsinn zu versuchen brauchst. Und jetzt? Wo geht’s lang? Und keine Umwege, wenn ich bitten darf. Für jeden Schritt, den du mich in die falsche Richtung führst, schieße ich dir einen Finger von der Hand. Da es deine Waffe ist, weißt du, dass die Munition für sieben Finger und deinen Kopf reicht. Sieben Finger, sieben Schritte. Also? Überleg es dir gut.“
Shit! So schaffte er es nicht bis zur Kommode. Er musste sich Bolic wohl oder übel beugen. Auch wenn es im Angesicht des Todes lächerlich erschien, wollte er doch nicht ohne seine Finger ins Jenseits gehen. Er wandte sich nach links zur Treppe und stieg langsam, gefolgt von Bolič, nach unten.
„Immer hübsch brav sein, Mr. O, dann lasse ich dich vielleicht ganz, bevor ich dich umlege.“
Ondragon spürte, wie das Adrenalin in seiner Blutbahn zu verebben begann und seine Aufmerksamkeit gefährlich nachließ. Er biss sich auf die aufgeplatzte Lippe. Sein Gehirn musste weiter auf Hochtouren laufen, nur so hätte er Aussicht auf Erfolg gegen diesen Bullen von einem Mann. Bemüht, die Flamme seiner Wut weiter am Köcheln zu halten, dachte er sich hässliche Dinge aus, die er mit Bolič anstellen würde, falls Fortuna sich gnädig zeigte und das Blatt doch noch wendete. Unterdessen ging er langsam zum Ende des Ganges, wo sich der Fitnessraum befand.
Wenig später standen sie vor der Tür.
„Na los, worauf wartest du noch? Geh rein!“
Ondragon tat, wie ihm geheißen, und konzentrierte sich im Geiste auf das Messer, das mit Klettband am Lenker des Ergometers befestigt war. Das Fitnessgerät stand nicht weit von dem Bildschirm entfernt, hinter dem sich der Tresor verbarg. Es war seine einzige Chance, er musste sie wahrnehmen.
Bolič schaltete die Deckenlampe ein und schubste Ondragon in den Raum. Im hellen Licht schien das Messer von weitem geradezu zu blinken. Verdammt, hoffentlich entdeckte Bolič es nicht.
Sich nicht das Geringste anmerken lassend ging Ondragon auf die Wand mit dem Bildschirm zu und näherte sich bis auf zwei Armeslängen dem Ergometer. Bolič hatte immer noch die Waffe auf ihn gerichtet, das spürte er mit all seinen angespannten Sinnen. Alles was er tun musste, war, ihn kurz abzulenken. Aber Bolič trug mit Sicherheit auch ein Messer bei sich.
Egal, Paul Eckbert! Hopp oder topp! Du musst es versuchen. Sonst hat er gewonnen.
Bei diesem Gedanken mahlten seine Kiefer hart aufeinander.
Der großartige Mr. Ondragon wird in seinem eigenen Haus und im Pyjama von einer kommunistischen Kampfmaschine hingerichtet. Na, prima. Aber immerhin war sein Henker ein Vollprofi.
Unauffällig schielte er zu der glänzenden Klinge am Ergometer. Er brauchte nur einen Satz zu machen und schon hätte er sie. Dafür aber auch drei Kugeln im Rücken!
Mit geschlossenen Augen zählte er auf Japanisch bis zehn: ichi … ni … san … shi … go … roku … shichi … hachi …
kyu …
… ju!
Er langte nach dem Knopf an der Wand und ließ den Bildschirm nach vorne schwingen. Dahinter kam der Safe zum Vorschein, und Bolič stieß einen erfreuten Laut aus, was bedeutete, dass er seine Aufmerksamkeit in diesem Moment auf den Tresor gerichtet hatte und nicht auf ihn.
Ondragon reagierte blitzschnell. Er hob mit gewaltigem Schwung sein Bein, drehte sich herum und trat dem überraschten Bolič die Waffe aus der Hand. Sie flog in hohem Bogen durch den Raum und landete mit einem Poltern hinter der Hantelbank. Durch und durch Profi machte Bolič nicht den Versuch, hinterherzuhechten, sondern zog mit einer fließenden Bewegung, die erahnen ließ, wie gut er im Nahkampf ausgebildet war, eine matte Militärklinge aus seinem Stiefel. Mit einem Schrei stürzte der Bosnier sich auf ihn.
Ondragon wich seinem Hieb aus und riss das Messer vom Lenker des Ergometers. Noch in derselben Bewegung warf er sich herum und konnte gerade noch rechtzeitig einen weiteren gezielten Stich auf seinen Bauch mit einer Krav-Maga-Technik abwehren.
Bolič war nicht überrascht, dass auch sein Gegner im Nahkampf bewandert war, und schien sogar damit gerechnet zu haben, denn er fing sich in seiner Vorwärtsbewegung mühelos ab und drehte sich trotz seiner Körpermasse geschmeidig um.
Nun standen sich die beiden Kontrahenten gegenüber wie beim Kampf der Gladiatoren, in der rechten Faust ein Messer, die andere bereit, Zähne und Knochen zu zertrümmern. Leider hatte Bolič den Vorteil der Tür in seinem Rücken.
Ondragon warf einen raschen Blick zur Hantelbank. Die Sig Sauer dahinter zu erwischen, war bei der Schnelligkeit des Bosniers unmöglich.
„Kurva!“, hörte er Bolič in dessen Muttersprache fluchen. „Du Hurensohn, ich mach dich kalt!“
„Keine falschen Versprechungen!“, entgegnete Ondragon angriffslustig und lenkte seinen Blick auf die Körpermitte seines Gegners.
Der Angriff des Bosniers kam aus dem Nichts, und die Wucht des Aufpralls presste Ondragon die Luft aus den Lungen. Sie stürzten beide zu Boden, und Bolič begrub Ondragon unter sich. Der Bosnier packte sein Handgelenk und drückte es nach unten, während Ondragon bemüht war, den fleischigen Arm des mindestens vierzig Pfund schwereren Mannes nach oben zu stemmen. Angestrengtes Keuchen erfüllte den Raum, und Inch für Inch senkte sich die matte Klinge des Bosniers auf die ungeschützte Brust seines Gegners. Ondragon spürte, wie seine Hand mit dem Messer einzuschlafen drohte, weil Bolič ihm das Blut abdrückte. Seine tauben Finger verloren immer mehr an Kraft. Mit aller Macht kämpfte er gegen das Gewicht des Bosniers an, versuchte, ihn mit einer Beintechnik von sich herunter zu bekommen, doch Bolič blieb dreckig lachend auf ihm sitzen und drückte mit gnadenloser Ausdauer sein Messer weiter nach unten. Die Spitze traf auf Ondragons Brust und durchschnitt die Haut, traf jedoch auf Widerstand und bohrte sich in eine Rippe. Mit einem Schrei tat Ondragon das Einzige, was ihm noch übrig blieb. Er zog Bolič trotz des eindringenden Messers mit einem Ruck zu sich hinab, nutzte dessen Masse aus, die der überrumpelte Bosnier nicht zu halten vermochte, und knallte ihm die Stirn auf die Nase.
Überrascht heulte Bolič auf, und endlich gelang es Ondragon, ihn mit einer Beinschere abzuwerfen. Mit einem raschen Satz war er auf den Füßen und stieß seine Klinge in Boličs Rücken. Doch der Hieb war wegen der Taubheit in seinen Fingern nicht fest genug gewesen. Der Bosnier bäumte sich brüllend wie ein abgestochenes Schwein auf, und stieß mit seinem Messer zu. Ondragon spürte den Schmerz in der Seite, als die Klinge seine Haut aufriss, packte aber Bolič am Arm und brach ihn knackend über seinem Knie. Das Messer fiel zu Boden. Grunzend warf sich Bolič herum und rammte Ondragon den Ellenbogen seines anderen Arms in den Bauch. Ondragon klappte vornüber und spuckte aus, was noch in seinem Magen war, genau auf Boličs Rücken.
Dieser Scheißkerl war nicht kaputtzukriegen!, dachte er, während ihm die Galle in der Kehle brannte und er mit einem Auge die Tür anvisierte. Für den Bullen Bolič brauchte er mehr als nur ein kleines Messerchen. Er wich einem Aufwärtshaken des Bosniers aus und hechtete zum rettenden Ausgang. Mit großen Schritten rannte er zur Treppe. Doch mit erschreckender Geschwindigkeit kam Bolič hinter ihm her gepoltert.
Drei Stufen auf einmal nehmend, sprang Ondragon die Treppe hinauf. Die Wunde in seiner Brust hatte heftig angefangen zu bluten. Der rote Saft lief ihm schon das Bein hinab und drohte, ihn auf den Steinstufen ausrutschen zu lassen. Mit einem letzten großen Sprung, bei dem er vor Schmerz aufschrie, erreichte er den Treppenabsatz, doch Bolič war direkt hinter ihm. Wie ein Raubtier warf er sich auf ihn und erwischte ihn am Fuß. Ondragon stürzte, fiel der Länge nach hin und prallte mit der Schulter gegen das Vertiko. Etwas darauf geriet ins Schwanken und fiel auf ihn herab. In seiner Verzweiflung griff Ondragon danach. Er sah, wie Bolič auf ihn zukam, einer amoklaufenden Dampfwalze gleich, den massigen Körper angespannt und die Faust des gesunden Arms geballt. Bugs Bunny lächelte ihm entgegen, und Ondragon sah, wie sich der Bosnier an den Rücken griff und das Messer herauszog.
Hastig fingerte er an dem länglichen Gegenstand in seinen Händen herum und fand den Griff. Bolič stampfte auf ihn zu, mächtig wie ein Riese, das Messer in der Hand und auf dem Gesicht den Ausdruck des Triumphes. Der Boden bebte förmlich unter seinen Schritten.
„Hurensohn, jetzt bist du dran!“ Bolič ließ sich fallen, die Spitze des Messers voran.
Eher unbewusst rollte sich Ondragon herum, kam auf die Füße und zog ganz automatisch die lange Klinge aus der Scheide. Mit einer fließenden Bewegung schlug er zu.
Polternd rollte Boličs Kopf durch den Flur und hinterließ eine blutige Spur. Wie eine gefällte Eiche krachte sein Körper auf den Boden. Einen Augenblick später badeten Ondragons Füße in einer sich rasch ausbreitenden Blutlache.
„Wie gut, dass hier gefliest ist“, sagte er leise, wischte das Blut von dem Samuraischwert aus dem 17. Jahrhundert und steckte es zurück in die Scheide. Es war aus seinem Ständer von der Kommode direkt in seine Hände gefallen.
Bushido!
Fortuna kannte also doch den Weg des Kriegers.
Ondragon grinste in die Dunkelheit des Flurs. Gutes Mädchen!
Er sah auf die Sauerei am Boden und seufzte. Er würde Lupita aus dem Schlaf klingeln müssen. Und er würde einen nächtlichen Ausflug unternehmen müssen.
Er ging, blutige Fußspuren hinterlassend, ins Wohnzimmer, wo sein Handy lag. Er drückte auf Rods Nummer.
„Ich habe den Maulwurf!“, sagte er kurz angebunden. „Du kannst die Suche nach ihm einstellen. Es war Bolič!“
„Kaplan Bolič?“, fragte Rod entgeistert. „Aber der ist doch tot!“
„Ja, das ist er jetzt in der Tat.“
„Wirst du mir erzählen, was passiert ist?“
„Nicht jetzt.“
„Okay, dann eben zu einer anderen Gelegenheit.“
„Ja, das ist besser.“ Ondragon legte auf und wählte eine andere Nummer. Er sprach kurz mit dem Mann am anderen Ende und legte dann wieder auf, um anschließend seine Haushälterin über ihren außertariflichen Einsatz zu informieren. Ohne zu Murren erklärte sie sich bereit, zu kommen. Ondragon warf das Telefon auf das Sofa und ging zurück in den Flur, wo er sich daranmachte, Bolič auf sein heißes Grab vorzubereiten … im Brennofen des Zementwerkes in Riverside. Nicht ein Mikron würde von dem Bosnier übrigbleiben. Und womöglich würden seine Atome doch noch einen guten Zweck erfüllen, vielleicht in irgendeinem Fundament eines kalifornischen Einfamilienhauses.