27. Kapitel
15. Februar 2010
Haiti, N 18° 13‘ 50,7‘‘, W 72° 34‘ 6,36‘‘
20.32 Uhr
„Holy Shit! Gibt es hier Wölfe?“, fragte Rod mit gedämpfter Stimme.
Ondragon, dem der Schrei ebenfalls unter die Haut gefahren war, hob eine Hand, um seinen Freund zum Schweigen zu bringen. Panikmache konnte er jetzt nicht gebrauchen. Er löschte die Stirnlampe und lauschte in die Nacht hinaus, in der nichts zu hören war außer dem metallischen Sägen der Zikaden.
Dann ertönte es erneut.
Es drang aus dem schwarzen Dickicht des Waldes unten aus der Senke und schwebte in der warmen Luft zu ihnen den Hang hinauf.
Ein schauriges Heulen, langgezogen und heiser. Der Ton endete in einem Keuchen und verebbte vollends.
Keiner wagte es, sich zu rühren. Aber Ondragon konnte spüren, was die anderen beiden dachten. Denn es schlich sich unweigerlich auch in seine Gedanken.
Zombie!
Verdammt, er konnte nicht zulassen, dass er sich von so etwas Absurdem Angst einjagen ließ. Für den Schrei gab es bestimmt eine vernünftige Erklärung. Womöglich war es ein Tier oder jemand von der Expeditionsgruppe gewesen, der verletzt war und verzweifelt um Hilfe rief. Wenn Letzteres der Fall war, würden sie ihm nicht helfen können, das erlaubte der schedule nicht.
„Wir bleiben auf jeden Fall hier oben und behalten den Abhang im Auge“, befahl er. „Alle Lampen bleiben gelöscht, es sei denn, ich gebe die Anweisung, sie anzuschalten! Klar?“ Er sah in die Runde. „Ich übernehme die erste Wache und Rod die zweite. Sie, Madame, können schlafen. Keine Sorge, Sie sind hier in Sicherheit. Was auch immer dort unten geschrien hat, es wird uns nichts anhaben können, denn es kann nicht unbemerkt zu uns heraufgelangen. Und sollte es trotzdem versuchen, sich uns zu nähern, werden wir es gebührend in Empfang nehmen.“ Er klopfte auf das M 16, zu dem er automatisch gegriffen hatte, als der Schrei ertönt war. „So, und nun kommen wir alle ein bisschen runter und konzentrieren uns auf den morgigen Tag!“ Demonstrativ ließ er sich auf einem Felsen nieder und begann, in die Dunkelheit zu spähen.
Rod reichte ihm das Essen. „Ist nicht lecker, aber bevor du mir vom Fleisch fällst …“
„Danke.“ Ondragon nahm die Alu-Schale.
„Und, was glaubst du, war das?“, flüsterte Rod so leise, dass die Madame es nicht hören konnte. Sie hatte sich hinter ihnen gerade wieder auf ihren Schlafsack gelegt.
„Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Aber falls du denkst, es sei der Macheten-Zombie gewesen, dann vergiss es! So etwas gibt es nicht! Möglich, dass die Voodoo-Leute an diesen Unsinn glauben, wir aber sollten uns von diesem Gerede nicht beeinflussen lassen.“
„Ich lasse mich nicht beeinflussen, Ecks. Ich bin nur der Auffassung, dass man solche Dinge nicht komplett ignorieren sollte, auch wenn sie noch so fantastisch klingen. Vielleicht gibt es Zombies ja doch.“
Ondragon wandte sich seinem Freund zu und zischte: „Rod! Tu mir bitte den Gefallen, und erwähne nie wieder das Wort Zombie, ja? Mann, ich dachte, du seist abgeklärt genug, um zu wissen, wann du einem Märchen aufsitzt und wann nicht!“ Er war enttäuscht. Wieso glaubte plötzlich auch Roderick DeForce an diesen Quatsch? Er seufzte. War er der einzige normale Mensch auf dieser Welt?
Rod bemerkte die gereizte Stimmung seines Freundes und zog sich mit einer Entschuldigung auf sein Lager zurück. Bald hörte Ondragon nur noch die ruhigen Atemzüge seiner beiden Begleiter.
Die erste Hälfte der Nacht verlief ereignislos. Kein weiterer Schrei ertönte, und niemand versuchte, zu ihnen heraufzuklettern. Nur einmal hörte Ondragon, wie irgendwo über ihm am Hang leise Steinchen rieselten. Er stand auf und lauschte in die Richtung, aber es blieb ruhig. War wahrscheinlich nur lockeres Gestein, das sich von selbst gelöst hatte. Er setzte sich wieder auf den Felsen und sah auf die Uhr.
Eine Stunde später weckte er Rod und legte sich selbst hin. Müde schloss er die Augen und schlief sofort ein, mit einer Hand auf der Waffe.
Am nächsten Morgen hatte auch Rod nichts weiter zu berichten, und Ondragon war froh darüber. Die Zombie-Hysterie ging ihm allmählich auf die Nüsse. Er blickte zu der Madame hinüber. Sie nippte versonnen an ihrem Wasser und verhielt sich bemerkenswert ruhig. Die Nacht auf dem Felsen schien ihr nicht viel ausgemacht zu haben. Ihm hingegen zwickte es im Rücken. Er wusste schon, warum er die Wildnis nicht mochte. Sie ließ einen immer älter erscheinen als man war.
Wenig später packten sie ihre Sachen zusammen und schulterten ihre Rucksäcke. Doch bevor sie den Abstieg in Angriff nahmen, sondierte Ondragon das Gelände ein weiteres Mal mit seinem Fernglas. Alles sah so aus wie am Tag zuvor. Er winkte die Madame heran.
„Wo liegt der zweite Schacht der Mine von hier aus gesehen?“
Sie holte die zerknitterten Notizen hervor und deutete schließlich nach Westen. „Dort am Rand zum Canyon. Da, wo der Wald aufhört.“
„Bestens, dann können wir einen Bogen um das lästige Gestrüpp machen und gehen gleichzeitig etwaigen Hinterhalten aus dem Weg.“ Er blickte Rod in die eisblauen Augen. Sein Freund hatte sich heute ebenfalls ein Tuch um den Kopf gewunden und sah aus wie eine weißhaarige Ausgabe von Willem Dafoe in Platoon. Ondragon lächelte in sich hinein. Endlich war Rod wieder im Combat-Modus. So gefiel er ihm schon wesentlich besser!
Einen breiten Texasakzent imitierend, sagte der Brite: „Sir, yes, Sir!“ Und tippte sich grinsend mit zwei Fingern an die Stirn.
„Okay, Privates, dann folgt mir unauffällig“, gab Ondragon zurück und setzte sich an die Spitze des kleinen Trupps.
Sie ließen die bewaldete Senke rechterhand liegen und arbeiteten sich am steinigen Hang in Richtung Westen vor. Das Gelände fiel hier steil zum Canyon ab, den der Ti Rivière de Jacmel im Laufe der Jahrtausende in den gelblichen Fels hineingefressen hatte.
Als sie endlich am Rand der Schlucht eintrafen, drohte die Sonne sie bereits zu verbrennen, obwohl es gerade mal neun Uhr war. Ondragon wies seine Begleiter an, sich zu disziplinieren und so wenig wie möglich zu trinken. Vor nicht einmal drei Tagen wäre er beinahe wegen Wassermangels krepiert, und das wollte er nur ungern wiederholen. Da sie mit leichtem Gepäck unterwegs waren, hatte er den Wasservorrat knapp bemessen. Drei Gallonen pro Nase für die drei bis vier Tage der Operation. Zur Not hatten sie noch Wasseraufbereitungstabletten dabei, dann könnten sie welches aus einem Fluss oder Brunnen schöpfen, ohne davon krank zu werden.
Grimmig schaute er sich um. Sie standen auf einem kleinen, kahlen Buckel. Rechts von ihnen lag der grüne Pool des Urwaldes, und links fiel ein schroffer Felssturz bergab in das trockene Flusstal.
„Wo ist der Schacht?“, sagte er mehr zu sich selbst als zu den anderen.
Er bekam trotzdem eine Antwort.
„Da hinten. Das sieht doch aus wie eine Abraumhalde.“ Rod wies auf mehrere kleine Kuppen, die wie Aufschüttungen aus Geröll aussahen, außerdem wirkte das Gestein der Haufen etwas heller als das anstehende rundherum.
„Du könntest recht haben. Das sehen wir uns mal an. Aber seid vorsichtig! Ich habe keine Lust, dass uns der Schreihals von gestern Nacht überrumpelt!“
Mit Bedacht näherten sie sich den Kuppen. Als sie dort ankamen, flog plötzlich ein Schwarm Geier auf und erhob sich kreischend in die Lüfte. Erschrocken hielt die kleine Gruppe inne und wartete mit eingezogenen Köpfen, bis sich die dunkle Wolke aus schlagenden Flügeln und Krallen entfernt hatte und nur noch das entfernte Krächzen der Aasfresser an ihre Ohren drang. Ihnen schwante nichts Gutes.
Und nachdem Rod zwischen die Geröllkegel gespäht hatte, bestätigte er schließlich, was alle vermutet hatten: „Noch eine Leiche.“
Aber Ondragon wollte sich selbst vergewissern und trat neben den halb angefressenen Kadaver, der mit dem Gesicht nach unten in einer Mulde lag. Hinter ihm hielt die Madame sorgfältig Abstand, um nicht den süßlichen Gestank einatmen zu müssen, der von der Toten ausging – denn es war erneut eine Frau. Man konnte deutlich ihren Brustansatz erkennen, und außerdem hatte sie einen Rock getragen, der nun zerfetzt um ihre dürren Beine hing.
„Muss wohl die Mutter sein. Mitglied Nummer drei der Expedition.“ Unwillkürlich erschauerte Ondragon. Er wollte sich nicht vorstellen, wie das Mädchen und der zweite Junge wohl aussehen mochten, falls sie das Schicksal dieser Frau teilten und irgendwo dort im Gebüsch verrotteten. Trotz des unappetitlichen Anblicks hockte er sich hin und betrachtete den Kadaver genauer. Er trug keine Schnittwunden oder anderweitige Verletzungen. Sämtliche offene Stellen waren von den Aasfressern zugefügt worden. Ondragon sah auf den Kopf der Frau und zuckte unwillkürlich ein weiteres Mal zurück, als er erkannte, was mit ihr geschehen war. Man konnte schließlich nicht von einer natürlichen Körperhaltung sprechen, wenn der Hinterkopf zur Brust hinwies. Jemand hatte ihr buchstäblich und mit brutaler Gewalt den Hals umgedreht!
Rasch erhob er sich und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Was für ein Schlachtfest.
„Sie hat sich das Genick gebrochen“, kommentierte Rod das Offensichtliche. „Ein Sturz, oder …“
„Kein Sturz!“ Ondragon sah sich um. Auf dem Schotter um die Kuppen war nichts zu erkennen. Nur der Rand des Waldes starrte sie aus einiger Entfernung dunkel an. Wurden sie gerade von dort aus beobachtet? Er kniff die Augen zusammen, konnte aber nichts Verdächtiges ausmachen. Er war sich jedoch sicher: Falls sie angegriffen würden, dann aus Richtung der Bäume.
„Hey, Leute! Kommt mal her. Ich hab den Schacht gefunden!“ Rod winkte sie heran. Er war über ein paar weitere Kuppen geklettert und blickte nun in ein viereckiges, schwarzes Loch. „Sieht einladend aus, nicht?“ Er ging auf die Knie und lugte über den Rand. „Den Boden kann man nicht sehen.“ Er nahm einen Stein und ließ ihn fallen. Kurz darauf war ein dumpfer Aufprall zu hören. „Vierzig Fuß, schätze ich, vielleicht fünfzig.“
„Unser Seil ist lang genug.“ Ondragon setzte den Rucksack ab und holte die Kletterausrüstung hervor. „Nur, wo machen wir es fest?“ Suchend sah er sich um.
„Da hinten habe ich alte Holzbalken gesehen, vermutlich alte Stützpfeiler“, sagte die Madame.
Sie gingen zu den schwarz verwitterten Balken, die am Rand der Schotterkegel verstreut lagen, und prüften das oberschenkeldicke Holz. Die meisten waren morsch, einer aber schien stabil und lang genug zu sein, um ihn über den Schacht legen zu können. Gemeinsam trugen sie ihn zu dem Loch, schoben ihn diagonal über eine Ecke und fixierten ihn zu beiden Seiten mit einer Handvoll Felsen, die sie mühsam herbeirollten.
„Gut!“ Ondragon klopfte sich den Staub von den Handschuhen. „Bevor wir uns ans Werk machen, muss ich noch was erledigen. Bereitet schon mal alles vor. Ich werde dann hinuntersteigen und die Lage checken.“ Er zückte sein Handy und sah auf das Display. Ein unbekannter Teilnehmer hatte versucht, ihn zu erreichen. Kurz überlegte er zurückzurufen, wählte dann aber die Nummer seiner Assistentin. Es klingelte. Drei Mal, fünf Mal, dann ging die Mailbox dran. Ondragon legte auf. Seltsam, Charlize war doch hoffentlich nicht in Schwierigkeiten. Er sah, dass er vor einer Stunde eine E-Mail von ihr bekommen hatte, öffnete sie und las:
Hey Chef,
im Anhang findest du zwei Zeitungsartikel. Die sind sehr interessant! Habe sie heute früh im Archiv der Zeitung von Portland gefunden, nachdem ich einen Hinweis erhalten habe. Sonst alles O.K. hier, habe noch keine Verfolger entdecken können. Sei bitte vorsichtig, wenn du in die Mine gehst. Ich hab da so ein Gefühl, dass dort mit gefährlichem Zeugs rumhantiert wurde.
Charlize
Er sah auf die Akkuanzeige. Noch genug Saft, um die Zeitungsartikel anzusehen. Er öffnete den Anhang.
Tödlicher Pilz breitet sich in Oregon aus
(04.10.2006, The Oregonian)
Die Ausbreitung eines hochinfektiösen Mikroorganismus in Oregon bereitet der Gesundheitsbehörde Sorgen. US-Wissenschaftler haben den Erreger als eine Variante des Hefepilzes Cryptococcus neoformans identifiziert, der bisher nur immunschwachen Patienten gefährlich werden konnte. Diese neue Variante aber vermag nun auch bei gesunden Menschen schwere bis tödliche Erkrankungen auszulösen.
Portland – Ärzte in Oregon sind ratlos, nachdem seit dem Sommer vermehrt Pilzinfektionen auch bei gesunden Menschen auftreten. Eine unbekannte Variante eines Hefepilzes, der bislang nur für immungeschwächte Patienten mit HIV-Erkrankung oder nach einer Organtransplantation gefährlich war und eigentlich nur in tropischen und subtropischen Klimazonen vorkommt, greift nun auch gesunde Menschen an. Mittlerweile haben Forscher den Übeltäter als Mutation der bekannten Art, Cryptococcus neoformans, identifiziert. Cryptococcus mattesii ist aggressiv und weist eine weit höhere Letalität auf. Das Team um Dr. Abel Brouwers von der Boise State University in Idaho warnt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, wann der Pilz sich auch bis nach Washington und dem bevölkerungsreichen Kalifornien ausbreite.
Bisher starben sieben der 30 erkrankten Menschen an der neuen, aggressiveren Form des Pilzes, das entspricht einer Sterblichkeitsrate von fast 25 Prozent. Nicht alarmierend findet das die Gesundheitsbehörde und mahnt die Medien, die Bürger nicht unnötig zu beunruhigen. Die Zahlen seien zu niedrig und nicht ausreichend durch Studien belegt, um eine staatenübergreifende Seuchenwarnung zu rechtfertigen.
Die Sporen von Cryptococcus mattesii dringen über die Lunge des Menschen in die Blutbahn ein und lösen nach einer Inkubationszeit von wenigen Tagen eine Reihe von Symptomen aus, beginnend mit schwerem Husten und starken Schmerzen im Brustbereich. Die erkrankten Menschen leiden unter erhöhter Schleimbildung in Nase und Rachen und starken Nervenschmerzen. Dazu kommen später Atemnot, Fieberanfälle, Gewichtsverlust und Kopfschmerzen. Der Erreger greift auch Nervenzellen und Lymphknoten an, wobei es zu Schwellungen und Bildung von Beulen zumeist im Kopf- und Halsbereich kommt. Bei schwerem Verlauf kann es zu einer Hirnhautentzündung kommen. Bekannt ist, dass Cryptococcus mattesii auch domestizierte Tiere wie Hunde, Katzen und Schafe befällt. Von Mensch zu Mensch soll der Pilz sich allerdings nicht übertragen. Eine sogenannte Kryptokokkose ist schwer zu diagnostizieren, lässt sich aber durch eine Behandlung mit Antimykotika therapieren.
Wo der neue Pilz herkommt, der sich durch Zellteilung vermehrt, ist noch nicht geklärt. Dr. Brouwers vermutet, dass eine Ursache im Klimawandel liegen könnte. Der Pilz aus den Tropen hat sich womöglich mit seinen harmlosen Artverwandten aus den gemäßigten Breiten genetisch rekombiniert und kann nun auch in kälteren Klimazonen überleben. Bisher blieben alle Untersuchungen von Boden- und Wasserproben sowie von Gewebeproben befallener Haustiere erfolglos. Zurzeit arbeitet Dr. Brouwers an der Analyse der Gensequenzen des neuen Pilzes, wodurch er sich Aufschluss über die Entstehung der Variante erhofft.
Forscher sind alarmiert. Kommt Erreger aus Labor?
(29.11.2006, The Oregonian)
Seit Sommer 2006 breitet sich eine mysteriöse Pilzinfektion in Oregon aus und droht, die Staatsgrenzen nach Washington und Kalifornien zu überschreiten. Haben wir die für alle Menschen bedrohliche Variante eines Hefepilzes, Cryptococcus mattesii, bald in ganz Amerika?
Portland - Zunächst vermuteten die Forscher der Gruppe um Dr. Abel Brouwers von der Boise State Universität Idaho den Ursprung des tödlichen Erregers Cryptococcus mattesii in dessen Eigenschaft, sich selbst mit harmloseren Varianten genetisch zu rekombinieren. Jetzt deuten Untersuchungen der Gensequenzen des Pilzes darauf hin, dass diese Mutation nicht auf natürlichem Wege entstanden sein kann. Dr. Brouwers spricht seinen Verdacht laut aus. Er glaubt, dass die aggressive Variante des Hefepilzes aus einem Labor entwichen sein könnte. Da es in Oregon nur ein Unternehmen gibt, das im Bereich der Mikrobiologie tätig ist, führten erste Vermutungen zunächst zu der Darwin Inc. Firmengruppe, ansässig in Portland.
Darwin Inc. streitet jedoch alle Vorwürfe ab. Der Konzern schließt aus, dass der Erreger aus einem seiner Laboratorien stammt, zudem gäbe es am Standort Portland keine Forschung an einem Pilz aus der Familie der Filobasidiaceae, zu der auch der Hefepilz Cryptococcus mattesii zählt.
Auch das US-Landwirtschaftministerium, mit dem Darwin Inc. eng zusammenarbeitet, bestätigt, dass die Portland-Laboratorien mit den höchsten Sicherheitsstandards ausgestattet und alle Mitarbeiter aus dem Biotechbereich dazu verpflichtet seien, sich einer halbjährlichen Sicherheitseinweisung und Routineuntersuchung zu unterziehen.
„Es gibt keinerlei Möglichkeiten, dass Keime oder gentechnisch verändertes Material aus dem Labor gelangen können“, beruhigte ein Sprecher von Darwin Inc. die Menschen in Portland, die in der Nachbarschaft zu den Forschungs-Einrichtungen wohnen und in einem offenen Brief in der gestrigen Sonntagsausgabe von The Oregonian ihre Bedenken geäußert haben. „Trotzdem werden wir sämtliche Sicherheitsmaßnamen noch einmal prüfen und verstärken“, versprach der Sprecher. Auch Darwin Inc. sei besorgt. Besonders seitdem klar ist, dass der Erreger nun auf Kalifornien und Washington überzugreifen drohe. Man habe im vergangenen Monat eine Sonderabteilung eingerichtet und überprüfe nun gemeinsam mit Mikrobiologen von der Portland State Universität, um welchen Erreger es sich handele und woher er stammen könnte. Einige Stimmen behaupten, das sei lediglich ein Ablenkungsmanöver des Konzerns, der einen Laborunfall zu vertuschen versuche.
Das Biotech-Unternehmen mit weltweiten Ablegern ist schließlich nicht nur bekannt für seine umfangreichen Forschungen auf dem Saatgut- und Herbizidsektor, sondern auch für seine aggressive Vorgehensweise gegenüber Kritikern und die systematische Aufkauftaktik von Konkurrenzunternehmen. Darwin Inc. unterhält in Portland und Umgebung eine Anzahl von Laboratorien, in denen gentechnisch verändertes Saatgut von Nutzpflanzen hergestellt wird. Diese Pflanzen werden mit den Erbinformationen von anderen Pflanzen oder Bakterien veredelt, um sie resistent gegen Insektenbefall, Trockenstress oder Bodenversalzung zu machen, was laut Darwin Inc. einen großen Nutzen für die zukünftige Bevölkerung der Erde darstelle und in ein paar Jahren schon – wenn alle Forschungen abgeschlossen sind – das Welthungerproblem lösen könne.
Ob dahinter wirklich edle Absichten oder Profitgier und Schlamperei stecken, bleibt offen.
Aber nachdem auch eine Ermittlung des Gesundheitsamtes keine Hinweise darauf ergab, dass der Erreger, den die Wissenschaft inzwischen Cryptococcus mattesii lethaliensis getauft hat, aus den Laboren von Darwin Inc. stammt, scheint der Biotech-Riese entlastet zu sein.
Ondragon tippte schnell eine SMS an Charlize:
Finde mehr über diesen Dr. Brouwers heraus. Versuche, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ich gehe jetzt in die Mine, drück mir die Daumen. Danke – Paul
Dann schaltete er das Handy aus und dachte einen Moment lang nach. War das eine Spur? Vage setzte sich ein Bild in seinem Kopf zusammen. Aber leider war es recht unscharf, und er würde noch weitere Bausteine benötigen, um es vollends zu verstehen. Oregon – Haiti. Er konnte den Zusammenhang förmlich wittern, bekam ihn aber nicht zu fassen, um ihn ans Licht zu zerren. Er biss sich auf die Unterlippe. In dieser Mine hier in Haiti musste es etwas geben, das gefährlich war. Nur aus diesem einen Grund hatte Darwin Inc. die Versiegelung in Auftrag gegeben. Sie hatten um jeden Preis vermeiden wollen, dass es ins Freie gelangte. Etwa der tödliche Pilz?
Ondragon erinnerte sich, dass Rod etwas von Mais gesagt hatte. Forschungen an Mais und Soja. Damit konnte der Pilz doch nichts zu tun haben, oder? Aber was konnte stattdessen an Mais so riskant sein, dass man es in eine Mine verlagerte, weit weg von den offiziellen Labors? Ondragon kamen die Symptome in den Sinn, welche Bolič gezeigt hatte, kurz bevor er … nun ja, bevor er verstorben war. Husten, Fieber, Gliederschmerzen. Also vielleicht doch der Pilz? Hatte der Springer sich damit infiziert? Aber er war ja gar nicht auf Haiti gewesen. Dafür jedoch Stern. War der hier in der Mine mit einem heimtückischen Erreger in Kontakt gekommen? Die Mailmen hatten die Leichen in den Schacht gebracht, bevor sie ihn gesprengt hatten. Sie hatten die Toten berührt. Woran waren die Darwin-Mitarbeiter überhaupt gestorben? Waren sie tatsächlich von herabstürzenden Trümmern erschlagen worden, so wie er zuvor angenommen hatte? Oder hatte etwas Anderes sie getötet? Ondragon überlegte. Über eine mögliche Todesursache hatte nichts in den Berichten gestanden. Aber wenn Stern den Erreger – oder was auch immer – in sich getragen hatte, konnte er unmöglich Bolič damit angesteckt haben. Die beiden waren einander niemals begegnet. Verdammt, das war einfach zu verworren!
Ondragon wandte sich zu seinen beiden Begleitern um, die inzwischen die Ausrüstung bereitgelegt hatten. Ein Utensil fehlte allerdings noch. Schnell ging er zu seinem Rucksack und zog die Gasmaske heraus.
Die anderen sahen ihn fragend an.
„Was ist denn mit dir los? Du bist ja ganz blass um die Nase.“ Rod erhob sich und trat auf Ondragon zu.
„Ich glaube, in dem Labor dort unten ist an einem gefährlichen Erreger geforscht worden. Deshalb die Versiegelung. Die Infos habe ich von Charlize bekommen. Ohne Atemschutz gehe ich nicht da rein! Ich habe keine Lust, mir etwas einzufangen.“
„Bist du dir sicher?“
„Nein, aber ich will kein Risiko eingehen. Besser, ihr haltet eure auch bereit.“ Er deutete auf die Maske. „Habt ihr alles vorbereitet?“
Rod nickte und hielt ihm das Klettergeschirr entgegen. Ondragon schlüpfte hinein, entledigte sich aber zuvor der schusssicheren Weste. Die würde ihn da unten nur behindern. Er nahm seinen leeren Rucksack und füllte ihn mit den Dingen, die er brauchen würde: Panzerband, eine zweite Taschenlampe, Batterien, eine Wasserflasche und die Dynamitstangen samt Zündschnurverlängerung. Dann legte er die Sprechfunkeinheit an. Zum Glück hatte er Charlize Kehlkopfmikrofone besorgen lassen. Die konnte man gut mit einer Gasmaske kombinieren. Er prüfte die Verbindung zu Rod.
„Alles klar, ich höre dich deutlich, Ecks“, bestätigte dieser den Empfang.
„Gut, ich werde womöglich länger unten bleiben, dabei halten wir ständig Kontakt. Entweder finde ich einen bereits vorhandenen Eingang zum Labor – was ich nicht glaube –, oder ich lege die Dynamitladungen und komme wieder rauf. Dann sprengen wir und ich gehe wieder runter.“
„Ist das nicht riskant, in der Mine zu sprengen?“, fragte die Madame. „Ich meine, der Schacht und die Gänge könnten komplett einstürzen.“
„Das könnten sie in der Tat. Aber es ist unsere einzige Möglichkeit, ins Labor zu gelangen.“
Die Madame nickte mit sichtlichem Unbehagen.
Ondragon gab sich jedoch nicht der Illusion hin, dass sie sich etwa um ihn Sorgen machte. Auch wenn ihm die Vorstellung gefiel. Er schulterte den Rucksack. „Und haltet die Augen offen, der Macheten-Kerl schleicht hier herum.“
„Der soll hier nur aufkreuzen, dann machen wir ihn kalt!“ Rod spuckte auf den staubigen Boden.
Ondragon nahm das Ende des Seils, das Rod mit einer Bandschlinge und zwei gegenläufigen Karabinern am Holzbalken befestigt hatte, ließ es in den Schacht hinabfallen und fädelte es danach doppelt durch sein Sicherungsgerät am Gurt. Dann stellte er sich an den Rand und rückte seine Stirnlampe zurecht. Höhlenforschung war schon immer eines seiner Steckenpferde gewesen. Außerdem war er froh, der Sonne zu entkommen. Er blickte in den Schacht, der ihm schwarz entgegengähnte. Ein letztes Mal kontrollierte er seine Ausrüstung. Sein Messer trug er am Unterschenkel befestigt und die Pistole im Holster. Dann schob er sich die Gasmaske vor das Gesicht, hob einen Daumen und ließ sich wie ein Taucher in den Abgrund hinab. Mit einem Ruck griff das Seil, und er seilte sich, die rechte Hand an der Sicherheitsschlinge, langsam ab. Fuß um Fuß sackte er in die stille Finsternis des Berges hinein. Seine Stirnlampe beleuchtete die roh behauene Schachtwand, an der aus unzähligen kleinen Rissen und Spalten Feuchtigkeit sickerte und am Fels hinabrann. Die Luft wurde kühl, blieb aber feucht. Wie ein dünner Film legte sich kalter Schweiß auf seine Arme.
Nach ungefähr 25 Fuß verharrte er und versuchte, einen Blick nach unten zu werfen. Dort war irgendwo die Sohle des Schachtes, aber Ondragon konnte sie noch nicht sehen. War das verdammte Loch doch tiefer als sie geschätzt hatten? Er ließ sich weiter hinab. Nur das Schaben des Seils durch die Karabiner und das Ächzen des Luftfilters der Maske drangen an sein Ohr. Schließlich berührten seine Füße den Grund und er kam mit beiden Beinen zum Stehen. Schnell löste er sich vom Seil und sprach leise in das Mikrofon:
„Ich bin unten.“
„Roger!“, antwortete Rod aus dem Knopf in seinem Ohr. Der Empfang war auch hier unten noch ganz gut. Blieb abzuwarten, wie es sich tiefer im Berg damit verhielt.
„Ich seh mich jetzt um.“ Ondragon ließ das Licht umherschweifen. Glücklicherweise führte vom Schacht aus nur ein Gang in den Berg. Erleichtert atmete er auf. Doch gerade als er geduckt losgehen wollte, vernahm er ein Geräusch. Ein leises Scharren.
Er blieb stehen.
War noch jemand hier unten? Oder waren es nur Ratten und anderes Viehzeugs? Er zog die Pistole aus dem Holster und leuchtete mit der Lampe in den Gang. Der Lichtstahl fuhr über feuchten Fels und uralten Unrat auf dem Boden. Doch halt! Was war das gewesen? Ein Stück Holz mit Stoff?
Ondragon ließ den Strahl zu dem seltsamen Gegenstand zurückkehren.
Es war ein Bein.
Genauer gesagt, zwei Beine, die aus einem schmutzigen Rock heraus in den Gang ragten, nur dass eines davon doppelt so dick war wie das andere.
Noch eine Leiche?
Ondragon machte sich auf einen weiteren hässlichen Anblick gefasst und näherte sich dem Körper, der mit dem Rücken an die Wand gelehnt dasaß.
Als er in das Gesicht der Leiche leuchtete, öffnete sie die Augen.
Mit einem überraschten Schrei prallte Ondragon zurück.
Auch dem Mädchen entfuhr ein schriller Laut. Abwehrend hob es beide Arme.