2. Kapitel

04. Februar 2010

irgendwo auf dem Interstate Highway 10 nach Osten

15.40 Uhr

Nach Tucson waren es genau 501 Meilen. Acht Stunden Fahrt durch die trockensten Wüsten des Kontinents – die Mojave und Sonora Desert, eine lebensfeindlicher als die andere. Doch sein betagter 69er Mustang ignorierte tapfer die Tatsache, dass sein schwarzes Äußeres die Sonnenstrahlen förmlich ansaugte, während die Hitze flirrende Fata Morganas auf die schnurgerade Straße zauberte. Drinnen im kühlen Hauch der Klimaanlage saß Ondragon am Steuer, kaute Kaugummi und hörte laut I’m easy von Faith No More. Sein rechter Cowboystiefel lag locker auf dem Gaspedal und auf seinem Gesicht ein entspannter Ausdruck.

Der Grund, warum er die Wüste mochte, war, dass es leere Natur war. Hier gab es nichts, was einem auf die Nerven gehen konnte. Keine Mücken, keine größeren Tiere wie Bären oder Wölfe, die einen mit einem Lachshäppchen verwechselten, und kein tückisches Unkraut, das danach trachtete, einen zu Fall zu bringen. Und das Beste: Man hatte freie Sicht in alle Richtungen! Ein Feind hatte es also schwer, sich unbemerkt an ihn heranzuschleichen. Kein Wasser bedeutete auch: kein Leben. Kein Leben: keine bösen Überraschungen. Die Wüste war ein sehr klarer, einfacher Ort. Nicht wie der Wald, wo alles zugewuchert und unwegsam war.

Nur ungern erinnerte sich Ondragon an seinen Aufenthalt in Minnesota vergangenen Sommer. Dort hatte ihm der Wald sein bösartiges Wesen offenbart. Er war ein grünes Biest, das Menschen verschlang und nicht wieder ausspuckte. Und dann das Viehzeugs dort … Nein, wenn schon draußen im Freien, dann in der Wüste! Obwohl die Arktis bestimmt auch so ihre Vorteile besaß. Ein kaltes weißes Nichts. Herrlich!

Dergestalt in Gedanken versunken glitt Ondragon in seinem Mustang dahin und näherte sich Meile um Meile seinem Ziel. Im Rückspiegel sank die Sonne am Horizont immer tiefer und die karge, kakteenbewachsene Landschaft um ihn herum verwandelte sich in das legendäre Farbenspiel einer Achtzigerjahre-Fototapete, bevor die Finsternis sich mit undurchdringlicher Schwärze herabsenkte.

Die Stadt Tucson tauchte aus der Wüstennacht auf wie ein rettender Hafen im dunklen Meer. Eine strahlende Oase im Nichts. Einladend glommen die Lichter und verhießen kühle Getränke und Gesellschaft. Alles, was ein einsamer Wüstenreiter sich wünschen konnte nach einem staubigen Tag auf der Piste.

Ondragon checkte im Hotel Congress in Downtown ein. Es galt zwar als etwas laut und unkomfortabel, aber die Bar und das Essen hatten den Ruf, von allerbester Güte zu sein. Viel essentieller aber war, dass in dem hip zurechtgestylten Backsteingebäude von anno 1920 immer reger Betrieb herrschte, man also ein- und ausgehen konnte, ohne bemerkt zu werden. Auch zu später Stunde. Dafür nahm Ondragon die Unannehmlichkeiten des kleinen, nicht allzu luxuriösen Zimmers in Kauf. Normalerweise gönnte er sich nur die besten Hotels. Wenn man wie er ständig unterwegs war, dann waren ein sauberes, bequemes Bett und guter Service unverzichtbar.

Nachdem er seine Reisetasche aufs Zimmer gebracht und die Etage nach etwaigen Fluchtwegen untersucht hatte, ging er hinunter in die Lobby, bestellte sich etwas zu essen und genehmigte sich einen Whiskey Sour an der Bar. Für heute war es genug. Die eintönige Fahrt hatte ihn geschlaucht. Er würde sich morgen früh mit dem Springer in Verbindung setzen und danach das Haus von Tyler Ellys selbst in Augenschein nehmen. Ein kleiner Vorabcheck aus gebührender Entfernung, bevor er zur näheren Durchsuchung schritt.

„Ja?“, fragte eine brüchige Männerstimme am andern Ende des Telefons, nachdem Ondragon am Morgen auf seinem Zimmer die Nummer des Springers gewählt hatte.

„Kaplan Bolič?“

„Ja.“

„Hier spricht Mr. O, Spider hat mich beauftragt, mit Ihnen in Verbindung zu treten im Fall des verschwundenen Mailman.“ Er benutzte vorsichtshalber die DeForce-Decknamen.

„Ich weiß Bescheid. Ich bin im Hotel Arizona, Zimmer 506. Kommen Sie einfach zu mir, Mr. O.“

Das ist nicht weit entfernt, dachte Ondragon. Nur ein paar Blocks. „Gut, ich komme gegen Mittag“, sagte er.

„Ich bin da. Es geht mir sowieso beschissen. Habe mir wohl ‘ne Grippe oder so was eingefangen. Kopf- und Gliederschmerzen. Bleibe deshalb auf dem Zimmer.“

„Ich wollte mir zuerst das Ellys-Haus ansehen. Gibt es vorab schon etwas, das ich wissen sollte?“

Bolič hustete lautstark. „Ich habe alles gründlich durchsucht. Bis auf den Brief habe ich nichts gefunden. Das Einzige, das mir aufgefallen ist, war, dass die Vorhänge zugezogen waren und der Fernseher lief, als ich ankam. Ach ja, und das offene Bier.“

„Könnte bedeuten, dass Ellys am Abend oder in der Nacht verschwunden ist.“

„Das vermute ich auch.“

„Und die Polizei?“, fragte Ondragon weiter.

„Die glaubt, er sei abgehauen. Weiß der Geier, warum. Sie sagen, das kommt öfter vor, als man denkt. Schulden, Stress mit ‘ner Frau oder einfach nur Wüstenkoller.“

„Wüstenkoller?“

„Ja, es soll Menschen geben, die halten die ewige Sonne und die öde Landschaft hier auf Dauer nicht aus.“

„Hat das Haus Tyler Ellys gehört?“

„Ja, er hat es vor drei Jahren gekauft, kurz nachdem er bei DeForce angefangen hat.“

„Wo ist er geboren?“

Der Mann am anderen Ende hustete erneut. „In Denver. Oh Mann, mir ist ganz schön schwindelig.“

Ondragon schürzte die Lippen. Das Ganze kam ihm merkwürdig vor. Niemand ließ einfach so sein Haus zurück, Wüstenkoller hin oder her. Da schien die Polizei wie so oft auf dem Holzweg zu sein. „Und der Brief?“, wollte er wissen.

„Nichts Besonderes, außer dem Text.“

„Ich hole ihn mir nachher bei Ihnen ab.“

„Sie können jederzeit vorbeikommen, Mr. O. Ach, und wären Sie vielleicht so freundlich, mir ein paar Paracetamol mitzubringen?“

„Geht klar.“ Ondragon steckte das Handy weg und überprüfte seine Pistole. Die leichte, in Europa als Polizeiwaffe eingesetzte Sig Sauer trug er immer in einem Holster unter seinem Jackett. Heute hatte er den feinen Zwirn allerdings gegen eine beigefarbene Windjacke und Jeans getauscht. Es empfahl sich nicht, in einer schlichten Wohngegend wie der von Tyler Ellys in maßgeschneidertem Anzug herumzulaufen, auch wenn das seine bevorzugte Arbeitskleidung war. Ondragon legte viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres, aber er wusste auch, wann welche Kleidung angemessen war. Das hatte er von seinem Vater, einem deutschen Diplomaten mit beinahe militärischen Manieren, unauslöschlich eingebläut bekommen. Diplomatie und gewandtes Auftreten waren alles – wenn es nach seinem Alten ging. Doch eines hatte Ondragon im Laufe seines Lebens dazugelernt: unauffällig zu sein war noch viel mehr! Für manche Unternehmungen war es unabdingbar, mit seiner Umgebung eins zu werden. Ondragon verglich sich selbst gern mit einem Tiger. Außerhalb des Bambuswaldes fiel er auf wie ein bunter Hund, doch bewegte er sich innerhalb seines Reviers, verschmolzen seine Streifen mit dem Geflecht des Dschungels und er wurde unsichtbar.

Er ignorierte das Gesetz Arizonas, seine Waffe immer offen zu tragen, und steckte die Waffe ins Holster. Dann erhob er sich von der Bettkante und ging in das winzige Bad, um im Spiegel zu kontrollieren, ob sein dunkles Haar die gewünschte Verwegenheit eines Wüstenbewohners aufwies. Danach löschte er das Licht und verließ das Zimmer.

Mit dem Taxi fuhr er zur nächstgelegenen Autovermietung, bei der Charlize tags zuvor einen Wagen für ihn hatte reservieren lassen, und übernahm einen langweilig silbernen Chevrolet Impala mit hiesigem Nummernschild und getönten Scheiben. Damit fuhr er auf den Highway in Richtung Osten, wo er die Abfahrt zum Pima Airfield nahm, dem größten Flugzeugfriedhof der Welt, und das nahezu mitten in Tucson. Meile um Meile folgte er der Straße, die zu beiden Seiten von ausgedienten Militärmaschinen hinter langen Stahlzäunen gesäumt wurde, bis er schließlich links in die Escalante Road einbog. Tylers Ellys‘ Haus lag in der East Barrow Street, die parallel dazu verlief. Langsam lenkte Ondragon den Wagen durch das auf dem Reißbrett angelegte Wohnviertel. Aufmerksam beobachtete er jedes Haus. Als er bei Ellys‘ Adresse anlangte, prägte er sich die Begebenheiten rund um das Gebäude sorgfältig ein und fuhr im gleichen Tempo weiter um nicht aufzufallen.

Wieder draußen auf der Escalante Road parkte er den Impala am Straßenrand neben ein paar Touristen, die raunend die stillgelegten Herrscher der Lüfte durch den Maschendraht fotografierten, und tat so, als interessiere er sich ebenfalls für die verschwenderische Menge an Leichtmetallschrott. Durch die Gläser seiner Sonnenbrille sah er sich dabei unauffällig um. Gegenüber auf der anderen Straßenseite lag das Wohnviertel, in dem sich Ellys‘ Haus befand. Die Nachbarschaft sah nicht gerade einladend aus mit der von der Wüstensonne zu gelblichen Skeletten verdorrten Vegetation in den Vorgärten.

Nach einer Weile löste Ondragon sich von der Gruppe und überquerte die Straße. Zwischen zwei Häusern, vor deren Garagen keine Autos standen, schlug er sich auf einem kleinen Weg zur hinteren Grenze zu Ellys‘ Grundstück durch und zwängte sich in eine buschbewachsene Lücke zwischen den hohen Lattenzäunen, welche die Grundstücke umschlossen. Durch ein Astloch beobachtete er den Garten und die Rückseite des Ellys-Hauses. Der Rasen war tot, und das schon seit längerem, obwohl mit Sicherheit eine unterirdische Sprinkleranlage vorhanden war. Tyler Ellys legte wohl nicht viel Wert auf einen grünen Garten. Auch das Haus machte keinen allzu frischen Eindruck. Obwohl es nicht älter als zehn Jahre sein konnte, hatte es einen neuen Anstrich dringend nötig, denn das Holz bleckte unter der aufgeplatzten hellbraunen Farbe hervor wie bleiche Knochen unter verwelkter Haut. Ondragon stellte fest, dass es keinen Zaun zwischen den Grundstücken Ellys und Diego gab. Offensichtlich verstand sich Ellys recht gut mit seinem Nachbarn. Nur bei der Rasenpflege war Mr. Diego augenscheinlich etwas gewissenhafter. Knallgrün und frisch beregnet leuchtete das Bahamasgras auf dessen Gartenhälfte im Licht des Vormittages. Auch die Fassade des Diego-Hauses war in jüngster Zeit gestrichen worden.

Ondragon begutachtete erneut das Eigenheim des Vermissten. Die Fenster waren noch immer mit Vorhängen verschlossen. Die Polizei hatte anscheinend nichts verändert.

Plötzlich huschte ein Schatten vor Ondragons Augen am Astloch vorbei. Schnell nahm er etwas Abstand vom Zaun. War da noch jemand, der das Haus beobachtete?

Leise Schritte waren auf der anderen Seite zu hören. Die Person schien direkt am Zaun zu stehen. Ondragon hielt den Atem an, weil er fürchtete, der andere könnte ihn hören. Es kratzte ein paar Mal am Holz der Latten, dann erklangen weitere Schritte. Was zum Teufel tat der Kerl da?

Erst als es hinter dem Zaun leise zu singen begann, wusste Ondragon, wer das auf der anderen Seite war. Er entspannte sich. Das dort war kein unsichtbarer Gegner, das konnte nur Mr. Diegos Tochter sein. Kaplan Bolič hatte ihn zuvor über die unmittelbaren Nachbarn von Ellys aufgeklärt. Mr. Diego war Witwer und lebte mit seinen beiden Kindern, der fünf Jahre alten Maria und dem dreijährigen Xavier, zusammen.

Ondragon näherte sich dem Astloch und konnte das kleine Mädchen nun auch sehen. Fröhlich hopste es vom verdorrten Ellys-Rasen hinüber zum frischen Diego-Grün. Wie die Vision von einer kleinen Weltenwanderin, die vom Reich der Toten hinüber in das der Lebenden schritt.

Maria lief barfuß und trug ein blaues Kleid. Ihr dunkles Haar war zu zwei lustigen Zöpfen gebunden und um ihren Hals baumelten verschiedene selbstgebastelte Ketten aus Nüssen und Samenhülsen. Ondragon beobachtete, wie sie durch eine Hintertür im Diego-Haus verschwand.

Noch eine halbe Stunde verharrte er hinter dem Zaun, aber nichts Nennenswertes geschah. Kurz nach elf verließ er sein Versteck und ging unauffällig zum Auto zurück, auf dem sich schon der Staub der Wüste niedergelassen hatte. Mit laufender Klimaanlage notierte er sich die neuesten Erkenntnisse auf seinem kleinen Notizblock und fuhr anschließend zurück ins Zentrum. An der Tucson Mall parkte er und ging in den riesigen Gebäudekomplex. Er brauchte ein paar Utensilien für seinen nächtlichen Ausflug.

Nachdem er alles eingekauft hatte, kehrte er zum Hotel zurück und nahm in dem dazugehörigen Restaurant ein ausgezeichnetes Mittagessen zu sich.

Zu Fuß machte er sich wenig später auf den Weg zum Arizona Hotel. Er betrat die Lobby durch den Haupteingang, ließ die Rezeption mit einem Nicken links liegen und begab sich zu den Fahrstühlen, wo er seine frisch gekaufte Baseballkappe zurechtrückte, um sein Gesicht vor den überall installierten Sicherheitskameras zu verbergen. Dann drückte er auf den Knopf für den siebten Stock. Dort angekommen schlüpfte er in das angrenzende Treppenhaus und stieg wieder zwei Stockwerke tiefer ins fünfte. Manche würden jetzt sagen, er wäre paranoid, aber Ondragon hatte die Erfahrung gemacht, dass man niemals vorsichtig genug sein konnte. Deshalb klopfte er auch erst an die Tür mit der Nummer 506, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand auf dem Flur war.

Zunächst antwortete ihm bloß Stille, schließlich ein gedämpftes Stöhnen und darauf ein „Wer ist da?“

„Mr. O“, flüsterte Ondragon.

Auf der anderen Seite ertönte das Klappern der Kette des Sicherheitsschlosses und die Tür öffnete sich. Ondragon trat an der großen, aber gebeugten Gestalt vorbei ins Zimmer, in dem er sich sofort umsah, aber nichts Besonderes entdeckte.

Der Springer schloss die Tür, legte die Sicherheitskette wieder davor und schlurfte zum Bett, auf das er sich kraftlos fallen ließ. Er war nur mit einem Bademantel bekleidet und sah grauenhaft aus. Sein unrasiertes Gesicht hatte die graue Färbung von Leberwurst, die zu lange an der Luft gelegen hatte, und ein dünner Schweißfilm schimmerte auf den slawisch hohen Wangenknochen. Die dunklen Augen lagen gerötet in den Höhlen und offenbarten einen fiebrigen Glanz. Kaplan Bolič schien wirklich krank zu sein.

Ondragon zog die kleine Papiertüte aus der Jackentasche und warf sie ihm zu. „Die Paracetamol.“

„Danke.“ Bolič fing sie auf und holte mit zittrigen Fingern die Schachtel mit den Pillen heraus. Er nahm gleich zwei und spülte sie mit einem Glas Wasser runter. Danach legte er sich stöhnend zurück auf sein Kopfkissen und blickte Ondragon aufmerksam an. „Sie sind also der berühmt berüchtigte Mr. O! Bei DeForce gelten Sie noch immer als eine Art Held. Auch Spider spricht nur in höchsten Tönen von Ihnen.“

Ondragon schwieg. Es war ihm unangenehm, dass die DeForce-Leute von ihm sprachen, als sei er eine verdammte Legende. Stattdessen versuchte er den Mann vor sich einzuschätzen. Gemäß Rods Angaben war Bolič gebürtiger Bosnier und hatte das Kriegshandwerk bereits mit zwölf Jahren erlernt, nachdem er 1995 dem Massaker von Srebrenica entkommen war. Danach kamen die Fremdenlegion und privater Personenschutz. Seit vier Jahren arbeitete er als sogenannter Springer für DeForce mit der Homebase Moskau. Springer waren jene Leute, die nicht zu der Stammbesetzung einer Crew gehörten. Sie waren freie Mitarbeiter, welche die Lücken füllten, die Stammleute hinterließen, wenn sie aus welchen Gründen auch immer ausfielen, oder ein Waffenarm mehr benötigt wurde. Springer arbeiteten weltweit, sie waren nicht auf ein bestimmtes Gebiet spezialisiert. Sie waren die Söldner bei DeForce, die Männer fürs Grobe. Echte Mercenarios. Bolič war zwar von einer Krankheit geschwächt, machte aber ansonsten nicht den Eindruck, besonders zimperlich zu sein. Unter seinem Bademantel verbarg sich ein bulliger, durchtrainierter Körper, der bestimmt die eine oder andere Narbe als Erinnerung trug.

Genauso sehe ich unter meiner Kleidung auch aus, dachte Ondragon. Niemand ahnt, dass wir vom Kampf gezeichnete Männer sind, die bis zum Äußersten gehen würden, um ihr Ziel zu erreichen. Und er wusste, dass das Töten für jeden, der bei DeForce arbeitete, reiner Selbsterhaltungstrieb war. Bei einem Einsatz musste man zusehen, am Leben zu bleiben und die Fracht abzuliefern. Nichts anderes zählte. In diesem Grundsatz waren er und Bolič einander gleich.

„Also gut, Kaplan …“

Captain!

Ondragon sah ihn stirnrunzelnd an.

„Nennen Sie mich Captain. Der Name gefällt mir besser.“ Er winkte mit der Hand, dass Ondragon fortfahren sollte.

Dieser war bereits ziemlich genervt von den Allüren des Bosniers, setzte aber den angefangen Satz fort: „Captain … am besten, Sie zeigen mir jetzt den Brief, den Sie in Tylers Ellys‘ Müll gefunden haben.“ Er zog sich einen Stuhl heran, während Bolič sich ächzend vorbeugte und in der Nachttischschublade herumkramte. Dabei versuchte Ondragon, nicht auf die obligatorische Bibel in der Schublade zu blicken. Seine tiefe Abneigung war nicht prinzipiell gegen das Religiöse gerichtet, vielmehr missfiel ihm das Buch als solches. Obwohl seine Phobie vor Büchern genau an dem Tag begonnen hatte, an dem er auch seinen Glauben an Gott verloren hatte, war die Abscheu gegen alles Gedruckte und zwischen zwei Buchdeckel Gebundene stärker als sein Zorn gegen Gott. Schließlich waren es die Tonnen von Büchern gewesen, die seinen Zwillingsbruder Per Gustav damals im Alter von zehn Jahren erschlagen hatten und nicht Gott.

Ovdje molim, hier bitte, der Brief.“ Bolič hielt ihm eine durchsichtige Zipbag unter die Nase. Darin steckten ein zerknüllter und wieder geglätteter Briefbogen und ein Umschlag ohne Beschriftung.

Ondragon, der sich gern aus seinen deprimierenden Gedanken um seinen toten Bruder reißen ließ, nahm die Plastiktüte entgegen und wendete sie vor dem Licht der Nachttischlampe hin und her.

„Lag unter einer Schicht Reisig und einem toten Vogel in der Tonne hinterm Haus.“

Ondragon las die Zeile laut vor: „Tyler Ellys, son corps doit être comme une bouteille vide – dein Körper soll eine Flasche sein. Seltsam. Sprechen Sie Französisch, Kaplan? Äh, Captain?“

Bien sûr.“ Sein Akzent war fürchterlich.

Ondragon hingegen beherrschte Französisch als eine von vielen Sprachen akzentfrei, aber er wollte wissen, was Bolič davon hielt. Schließlich arbeitete dieser für Rod und hatte vielleicht eine Ahnung, ob der Brief etwas mit einem DeForce-Job zu tun haben könnte. Er betrachtete die ungelenke Zeichnung unter den Druckbuchstaben. Es war ein längliches, sechseckiges Gebilde mit einem Kreuz darauf. Sollte wohl einen Sarg darstellen. „Was, denken Sie, könnte das bedeuten?“

„Ich habe nicht den blassesten Schimmer. Wahrscheinlich ist das ein Drohbrief und Ellys hat das Nervenflattern bekommen und sich abgesetzt, oder er ist bereits in der Hölle.“

„Sie glauben, er ist tot?“

„Ja, Geierfutter.“

„Kannten Sie Tyler Ellys?“

„Nein. Aber das ist meine Meinung, Mr. O. Er ist tot.“ Bolič verschränkte die massigen Unterarme vor der Brust. „Tyler Ellys liegt irgendwo da draußen in der Wüste mit ‘ner Kugel im Kopf und wir vergeuden hier nur unsere Zeit!“

„Aber wer hätte einen Grund, ihn umzulegen?“ Ondragon ließ nicht locker, was den Bosnier sichtlich nervte.

„Woher soll ich das wissen, ich bin kein Privatschnüffler, sondern Soldat! Vielleicht ist der verdammte Yankee jemandem zu sehr auf die Füße getreten mit seiner charmanten Art. Oder einer hatte ‘ne Rechnung mit ihm offen, kann ja schon mal passieren bei dem Job. Ist mir jedenfalls egal, ab jetzt übernehmen Sie den Fall! Dann können Sie sich damit herumschlagen. Ich bin jedenfalls raus aus der Sache!“ Er rieb sich die Stirn. „Wenn diese Scheißkopfschmerzen nicht wären! Seit ich bei Ellys war, geht es mir beschissen. Man könnte meinen, ein Fluch läge auf dem Haus. Ich kann kaum noch geradeaus gucken.“ Er hängte noch eine wüste Verwünschung in bosnischer Sprache dran und ließ seine Faust in ein Kissen krachen, dabei bemerkte Ondragon die Tätowierung auf der Innenseite seines Unterarms, die sich alle DeForce-Mitglieder früher oder später stechen ließen: Bugs Bunny als Postbote mit einem Paket in der Hand. Er selbst besaß dieses „Kunstwerk“ zum Glück nicht, denn es hätte sich mit dem japanischen Drachen, den er seit seinem achtzehnten Lebensjahr auf der Brust trug, im wahrsten Sinne des Wortes „gebissen“.

„Hat Ellys irgendwelche Freunde?“, fragte er den blassen Springer.

„Hab‘ ich alles schon abgecheckt. Sind Typen aus seiner Crew, aber die wissen auch nichts. Sie können ja gerne auch nochmal mit denen telefonieren. Hier sind die Nummern.“ Bolič warf ihm einen Notizblock zu. „Darin steht alles, was ich zusammengetragen habe. Nehmen Sie es, ich brauche es nicht mehr.“

Ondragon blätterte durch die Seiten. Es war nicht viel an Informationen. Er steckte den Block in seine Jackentasche. „Sollte ich sonst noch irgendetwas wissen?“

„Nicht, dass ich wüsste. Nehmen Sie bloß auch diesen Brief mit!“

„Ist er auf Fingerabdrücke untersucht worden?“

„Nee, das müssen Sie machen, dafür bin ich nicht ausgerüstet. Aber Rod sagte mir, dass Sie es sind.“

Na, da weiß der gute Rod aber mehr als ich, dachte Ondragon und steckte auch den Brief in seine Tasche.

„Und nun verschwinden Sie, Mr. O! Ich brauche meine Ruhe.“

„Wie kann ich Sie erreichen?“

„Am liebsten gar nicht, aber ich werde hier wohl noch eine Weile rumliegen, bis ich in der Lage bin, ein Flugzeug zu besteigen.“

Wohl eher, bis Rod es dir erlaubt, mein Bester! Ondragon tippte sich zum Abschied an die Stirn und ging.

„Viel Glück, Kollege!“, schallte es mit bosnischem Akzent hinter ihm her, als er die Zimmertür hinter sich schloss.