6. Kapitel

07. Februar 2010

im Dorf Nan Margot, Süd-Haiti

15.25 Uhr

Christine Dadou stand am Grab und starrte auf das weißgetünchte Holzkreuz, auf dem geschrieben stand: „Ici repose Frédéric Dadou“ und darunter „20.05.2002 - 12.01.2010“.

Der Friedhof, den sich die drei Dörfer der Umgebung teilten, lag am Nordrand von Nan Margot, dort wo der staubige Hang zum Gebirge hin anstieg. Er war in den letzten Wochen um die doppelte Fläche angewachsen. Christine sah von den vielen frischen Kreuzen hinauf in den Himmel, wo einige weiße Wolken dahinzogen. Eine leichte Brise ließ die Wipfel der wenigen umstehenden Bäume flüstern, die Luft roch ungewohnt leicht und sauber. Das erste Mal nach dem schrecklichen Unglück fühlte Christine sich in der Lage, wieder richtig atmen zu können. Das lag aber nicht am freundlichen Wetter, sondern vielmehr daran, dass mittlerweile alle Leichen aus den Trümmern des Dorfes geborgen und begraben worden waren … und der Seewind endlich den allgegenwärtigen Verwesungsgestank vertrieb.

Christines Gedanken reisten unweigerlich zurück an den Tag, an dem die Erde sich aufgetan hatte, als wolle sie die gesamte Menschheit verschlingen. So hatten es die Priester in ihren Messen zumindest immer beschrieben: Gott würde einst die Erde von allen Sünden reinwaschen.

Christine war froh, dass der Liebe Gott sie verschont hatte. Aber was hatte ihr Bruder Ihm getan, dass er sterben musste? Sie machte sich noch immer schreckliche Vorwürfe, weil sie an dem Tag allein auf dem Weg nach Hause gewesen war – ohne ihren Bruder. Obwohl sie nicht viel daran hätte ändern können, da die Lehrerin nur ihr gestattet hatte, früher zu gehen, weil ihr unwohl gewesen war.

Frédéric hatte in der Schule bleiben müssen und gerade am Mathematikunterricht teilgenommen, als es passierte. Zusammen mit seinen einundzwanzig Mitschülern war er von der einstürzenden Betondecke des Klassenzimmers erschlagen worden wie auch der Großteil von Christines Klassenkameradinnen im Nebenraum. Es hatte eine Woche gedauert, bis man Frédéric endlich unter den Bergen von Schutt gefunden hatte. Sein kleiner Körper hatte unter der weißen Staubschicht, die seine dunkle Haut bedeckte, kaum eine Verletzung aufgewiesen. Ihr Bruder hatte ausgesehen, als ob er schliefe. Wäre da nicht der eingedrückte Schädel gewesen. Ein Betonbrocken hatte ihn am Hinterkopf getroffen und die Knochen ins Gehirn gedrückt.

Christine erinnerte sich an den Anblick des Wundkraters und des getrockneten Blutes darin, das sich mit dem Dreck und der gelblichen Masse vermischt hatte, die aus Frédérics Kopf ausgetreten war. Sie hatte viel geweint seitdem, hatte ihren Bruder und das Schicksal der Menschen aus ihrem Dorf betrauert, aber nun waren ihre Tränen versiegt. An anderen Tagen waren ihre Augen immer feucht geworden, wenn sie Frédérics Namen auf dem Kreuz gelesen hatte, doch seit einiger Zeit hatte sie keine Kraft mehr dafür. Sie sah täglich so viel Leid, und darüber war die heilsame Quelle ihrer Trauer schlichtweg versiegt, ohne dass sie es so recht bemerkt hatte. Sie spürte die Taubheit ihrer Gefühle, konnte aber nichts daran ändern. Jeden Tag arbeitete sie gemeinsam mit ihrer Mutter am Wiederaufbau ihrer Hütte und bei der Bewirtschaftung des Wenigen, das ihnen geblieben war.

Im Stillen dankte Christine dem Lieben Gott und Bondieu, dem Obersten aller Loas, dafür, dass ihr zumindest die Mutter geblieben und sie nicht zu einer Waisen geworden war. Sie hatte von den vielen Tausend Kindern gehört, die ihre Eltern bei der fürchterlichen Katastrophe verloren hatten und nun hilflos in den Straßen der zerstörten Städte umherirrten. Für Christine ein Albtraum. Aber zum Glück war ihre Mutter noch da.

Cécile Dadou hatte ihrer Tochter berichtet, sie hätte im Wald Holz gesammelt, als sich der Boden unter ihren Füßen in wogende Erdwellen verwandelt und sie von den Füßen gerissen hatte. Auch die Bäume um sie herum waren ins Wanken geraten und hatten wie betrunkene Riesen mit ihren Ästen nach ihr geschlagen. Angstvoll hatte sie sich zusammengekauert, während einige der Bäume entwurzelt worden und mit einem lauten Krachen umgefallen waren. Wie durch ein Wunder hatte Christines Mutter keinen Kratzer abbekommen und war zu ihrer Hütte geeilt, nachdem das Zittern im Boden nachgelassen und die Baumriesen sich wieder beruhigt hatten. Fassungslos hatte sie auf die Trümmer gestarrt, ihre Gedanken ebenso paralysiert wie ihr Körper. Da hatte sie plötzlich einen Laut aus den Überresten der Hütte vernommen – ein Rufen. Mit Schrecken hatte sie erkannt, dass es ihre Tochter war, die da um Hilfe rief. Ohne zu zögern, hatte sie mit bloßen Händen begonnen die Trümmer beiseitezuräumen, und nach einer quälend langen Schinderei war sie endlich zu Christine vorgedrungen. Mit Freudentränen in den Augen hatte die Mutter ihre Tochter aus einem Spalt bergen können. Das Mädchen war bis auf einen Schock unversehrt geblieben, da das Bett, unter das sie geflüchtet war, sie davor bewahrt hatte, vom Dach erschlagen zu werden.

Christine war überglücklich gewesen, schließlich aus der erstickenden Enge ihres rettenden Verstecks zu entkommen. Sie hatte geweint und ihre Mutter umarmt. Beide hatten noch nicht begriffen, was geschehen war, und so hatten sie lange im Staub vor dem Schutt ihres einstigen Heims gehockt und einander festgehalten.

Eines jedoch hatte Christine währenddessen fieberhaft beschäftigt. Lag ihr Vater, der zu einem Zombie geworden war und sie verfolgt hatte, auch unter den Trümmern begraben? War er nun wirklich tot?

Nur widerwillig erinnerte sie sich heute an die grauenvoll verrenkte Fratze ihres Vaters mit dem heruntergerissenen Kiefer und dem Blut, das sein zerlumptes Hemd besudelt hatte.

Erst zwei Tage nach dem Beben hatte sie sich getraut, ihrer Mutter von dem Zombie zu erzählen, der einst ihr Vater gewesen war. Dabei hatte sie nicht etwa Angst davor gehabt, Cécile würde ihr nicht glauben oder sie gar auslachen, nein, ihr Grauen ragte in viel tiefere Abgründe hinab. Ihre Mutter hatte auch nicht gelacht. Sie war eine sehr gläubige Frau und wusste, dass ihre Tochter sich diese grausige Geschichte nicht bloß ausgedacht hatte. Für sie war klar, dass ihr Ehemann Etienne Dadou von einem Bokor zu einem Zombie gemacht worden war.

Ein Schauer durchfuhr Christines Körper bei diesem Gedanken und legte sich wie eine zweite Haut auf ihre Arme. Sie griff nach ihrem neuen Gris-Gris am Hals, blickte wieder zum Grabkreuz ihres Bruders und wünschte sich, daneben noch eines stehen zu sehen … wünschte sich, darauf den Namen Etienne Dadou zu lesen.

Cécile Dadou hatte nach Christines Bericht nicht lange gezögert und alsbald die Mambo des Dorfes geholt, die in jenen Tagen viel zu tun gehabt hatte, denn überall gab es unzählige Leichen, die ordnungsgemäß bestattet werden mussten. Schließlich wollte niemand, dass einer seiner Liebsten als Untoter zurückkehrte.

Auch Christines Bruder war nach überliefertem Brauch unter die Erde gebracht worden. Die Befreiung seines Ti-bon-ange, seines Seelengeistes, hatte mehrere Tage gedauert und ihre Mutter die letzten Ersparnisse gekostet. Zuerst war Frédéric entkleidet und mit einer aromatischen Essenz gewaschen worden, deren Zusammensetzung nur die Mambo kannte und die den Körper für einen Schwarzmagier unbrauchbar machen sollte. Dann hatte die Priesterin seine Nasenlöcher und Ohren mit Watte verstopft und den Mund mit einer Kinnbinde fixiert, damit er die beschwörenden Worte eines Zauberers nicht hören und ihm keine Antwort aus seinem Grab geben konnte.

Aufmerksam hatte Christine die Mambo bei ihren Verrichtungen beobachtet, die währenddessen sanft mit dem Toten gesprochen hatte, als schlafe er lediglich. Wie alle Anwesenden hatte auch sie vor der Zeremonie ihre Taschen geleert und nach außen gestülpt, um zu verhindern, dass der Tote etwas von ihr mit sich in die Unterwelt nehmen konnte und so Macht über sie bekäme. Trotzdem hatte Christine Angst, dass ihr Bruder sie in ihren Träumen heimsuchen würde, auch wenn die Mambo alles tat, um das zu verhindern.

Ohne Schuhe wurde Frédéric schließlich in den Sarg gelegt – damit erschwerte man ihm die steinige Rückkehr als Untoter zu seinen lebenden Angehörigen. Genauso war es Sinn und Zweck, den Toten auf sehr verschlungenen Wegen zum Friedhof zu bringen und den Sarg, kurz bevor er in das Grab hinabgelassen wurde, noch einmal zu drehen. Das sollte ihn endgültig verwirren und seine Wiederkehr vereiteln.

Erst als die Erde den Sarg bedeckt und die Grube sich bis zum Rand gefüllt hatte, war die Erleichterung in Christines verkrampfte Glieder geströmt. Frédérics Körper war in seinem Grab und geschützt vor den Machenschaften der Verbündeten des Baron Samedi! Er würde ganz gewiss nicht wiederkommen.

Christines Vater hatte jedoch kein solches Begräbnis bekommen. Er war nach seinem Verschwinden der Macht eines Bokor anheimgefallen. Dennoch war es nicht zu spät, ihn zu retten. Zusammen mit der Priesterin hatten Christine und Cécile die restlichen Trümmer des Hauses nach dem Leichnam durchsucht. Doch keine Spur von Etienne Dadou. Er musste das Beben „überlebt“ und sich aus dem Schutt befreit haben und wandelte nun immer noch da draußen herum als ruheloser Zombie Cadavre.

Christine ließ ihren Blick über die violetten Schatten der Berge streifen. Irgendwo dort oben zwischen den Büschen und Felsen verbarg er sich … und beobachtete sie.