30. Kapitel

16. Februar 2010

Haiti, an der Oberfläche

16.20 Uhr

„Hast du was Brauchbares finden können?“, fragte Rod und half Ondragon auf die Beine.

Der musste erst seine schwirrende Sicht in den Griff bekommen, bevor er antwortete. Mit der Hand rieb er sich den Staub aus den Augen und nickte.

„Und, weißt du jetzt, warum meine Mailmen verschwunden sind?“ Rod ließ nicht locker.

Ondragon nahm einen großen Schluck aus einer neuen Wasserflasche und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. Er schraubte die Flasche wieder zu und blinzelte seinen Freund an. „Ich denke, ich habe eine gewisse Ahnung davon bekommen, was da unten abgelaufen ist. Mit dem Verschwinden deiner Männer hat das aber, so fürchte ich, nicht viel zu tun. Das ist noch immer eine andere Baustelle.“

Verständnislos blickte Rod ihn an.

Ondragon legte dem Briten eine Hand auf die Schulter. „Später, mein Freund, später. Zuerst muss ich noch ein wenig darüber nachdenken. Voreilige Schlüsse helfen uns nicht weiter.“ Er zog sein Handy aus der Tasche und stellte fest, dass das Display gesprungen war. Zum Henker, das war schon das zweite Telefon, das er in diesem Fall zerschliss. Er schaltete es an. Leider keine Nachricht von Charlize. Nur der unbekannte Teilnehmer, der drei weitere Male versucht hatte, ihn zu erreichen.

„Und was machen wir jetzt? Wie sieht der schedule aus?“, wollte Rod wissen.

„Wir machen uns vom Acker“, Ondragon steckte das iPhone weg und sah zur Sonne hinauf. „Noch eine Stunde bis zum Sonnenuntergang. Bis dahin können wir es über den Grat schaffen. Anschließend noch zwei bis drei Stunden Marsch bis zur Küste und dann …“, er machte eine Bewegung mit der flachen Hand, „… ab der Fisch! Jamaika, stell schon mal die Cocktails kalt!“

Rod grinste und warf Ondragon die Kaugummis zu, von denen er sich einen in den Mund steckte. „Sag der Madame Bescheid, dass wir abmarschieren. Und räumt eure Rucksäcke aus. Ihr könnt die überflüssige Ausrüstung hier zurücklassen.“ Rod nickte und stapfte über den Schuttkegel zu der Madame hinüber, während Ondragon seinen Rucksack neu packte. Bis auf die Mappen, die Tütchen mit den Maiskörnern, die Kamera, Munition, seinen Wasservorrat und etwas zu essen flog alles andere raus. Prüfend hob er den Rucksack an. Er war bei weitem nicht mehr so schwer wie auf ihrem Hinweg.

Ondragon legte den Kopf in den Nacken. Oh, wie er sich nach einer Dusche und einem kühlen Bier sehnte! Er schnallte das Gepäck auf seinen Rücken und griff nach dem Gewehr. Noch drei, höchstens vier Stunden und sie wären auf dem Boot. Und bereits morgen früh säßen sie in Rods Maschine in Richtung Big Easy.

„He, Ecks! Kommst du mal?“ Die Stimme seines Freundes riss ihn aus dem herrlichen Tagtraum von frisch bezogenen Betten und eisgekühlten Getränken.

„Was ist?“ Er kletterte über den Schutthügel und blickte hinab auf Rod und die Madame, die neben dem ausgedörrten Körper des kleinen Mädchens knieten.

Shit, das hatte er ja ganz vergessen!

Er sprang den Schutthaufen hinab und machte sich in Gedanken schon auf einen Konflikt gefasst. Er wusste, was die Madame wollte. Aber das würde er auf keinen Fall zulassen! Dies war seine Operation und er hatte das Sagen!

„Ich werde nicht ohne dieses Kind gehen!“, warf ihm die Madame entschlossen entgegen, als er bei ihnen ankam. Wie vermutet, hatte sie sich bereits in ihre Meinung versteift.

Ondragon schob das Kinn vor und sagte. „Sie bleibt hier!“

„Aber Sie können das Kind doch nicht einfach so zurücklassen!“

„Sie bleibt! Und wenn Sie das nicht akzeptieren können, Madame, dann bleiben auch Sie hier! Wir sind kein Wohlfahrtsverband.“

Mit hasserfüllter Miene sprang die Madame auf. „Was sind Sie nur für ein Mensch? Sie verweigern einem Kind Ihre Hilfe?“

Hart blickte er in ihre schwarzen Augen. „In der Tat, das tue ich! Ich opfere das Leben dieses Kindes, damit es das unsere nicht in Gefahr bringt! Ist das so schwer zu verstehen?“

„Sie opfern das Kind? Sacre bleu, das glaube ich doch jetzt nicht! Sie haben es doch erst gerettet! Warum haben Sie es dann aus dem Schacht geholt, wenn Sie es jetzt hier sterben lassen wollen?“ Die Madame hatte beide Hände in die Hüften gestemmt. „Sie, Monsieur Ondragon, haben das Mädchen gerettet, also haben Sie auch die Verantwortung dafür! Und indem Sie es zu uns hochgebracht haben, liegt diese Verantwortung nun auch bei uns. Verstehen Sie das?“

Ondragon sah sie wütend an. Jetzt hatte sie es doch tatsächlich vollbracht, dass er den Konflikt mit sich selbst ausfechten musste. Das war äußerst geschickt von ihr gewesen. Und es war eine Dummheit von ihm zu glauben, dass sie ihr Gewissen einfach wie eine alte Nachttischlampe ausschalten konnte. Natürlich hatte die Madame recht. Wieder mal. Und das ärgerte ihn. Normalerweise war er derjenige, der recht hatte. Er war es absolut nicht gewohnt, dass ihm jemand mit logischen Schlussfolgerungen zuvorkam. Er presste die Zähne aufeinander und versuchte, seinen Ärger herunterzuschlucken.

„Ecks, sie hat recht.“

Genervt wandte sich Ondragon an seinen Freund und zischte: „Ich weiß das!“

„Wir können das Mädchen doch im Dorf abliefern. Das ist kein großer Umweg für uns.“ Rod blickte mitleidig auf das Mädchen.

„Aber ich will sie nicht ins Dorf bringen!“, sagte die Madame.

„Nicht? Ach, und wohin dann, wenn ich fragen darf? In ein Fünf-Sterne-Resort?“, erkundigte sich Ondragon mit ironischem Unterton.

Die Madame atmete tief durch. „Im Dorf wird sie sterben. Sie hat keine Eltern mehr. Ihr Vater ist ein Zombie und ihre Mutter liegt mit gebrochenem Genick dort drüben. Sie ist eine Waise in einem bitterarmen Land und sie ist verletzt! Sie braucht dringend medizinische Versorgung.“ Ihre Pupillen bohrten sich in die seinen. „Wir nehmen sie mit nach New Orleans. Ich nehme sie mit!“

Ondragon stieß ein ungläubiges Lachen aus. „Und wie stellen Sie sich das vor?“

„Ich werde sie gewissermaßen adoptieren. Und Sie, Monsieur Ondragon, werden dabei ihren Patenonkel spielen. Sie werden ihr neue Papiere verschaffen als meine leibliche Tochter! Das können Sie doch. Ist ein Leichtes für Sie. Und danach werden Sie nichts mehr damit zu tun haben. Das verspreche ich Ihnen!“

Oh, Mann! Die Frau war wirklich gut. Gut, im Sinne von verdammt überzeugend.

Ohne den Blick von ihr abzuwenden, schürzte er die Lippen. Zwar war seine Wut verraucht, aber er brachte es dennoch nicht über sich, einfach so einzulenken. Das entsprach nicht seinem Naturell. Seinem Naturell als Befehlsgeber. Obwohl er zugeben musste, dass sich die Madame einen guten Plan zurechtgelegt hatte. Und es stimmte. Es stellte tatsächlich kein Problem für ihn dar, eine neue Identität für das Mädchen zu beschaffen. Auch war es nicht schwer, sie mit Rods Privatflugzeug in die USA einzuschleusen. Leichteste Übung für ihn. Geradezu lächerlich einfach. Eine Frage blieb jedoch.

„Und wie bringen wir sie in ihrem Zustand zur Küste?“

Die Madame schob in selbstsicherer Pose die Brust vor und verschränkte die Arme. Ihr brennender Blick wich keinen Deut von seinem Gesicht. Es war ein Blickduell feinster Güte.

Der No-Miracle-Realist gegen die Voodoo-Queen!

Mal sehen, wer das gewann.

„Ganz einfach. Ich werde sie tragen!“, sagte die Madame schließlich.

Ah, ja? Ondragon starrte sie weiterhin an. Auch er wich nicht aus ihrer Blicklinie. So etwas konnte er ganz lässig über einige Stunden aushalten.

Die Madame machte jedoch keine Anstalten, nachzugeben. Mühelos hielt sie seinem messerscharfen Laserblick stand. Mehr noch als das. Sie schoss tapfer mit glühenden Feuerlanzen zurück und dabei schien sie beseelt von geisterhafter Energie. Übersinnlicher Energie. Voodoo-Magie.

Nach einer Weile kam es Ondragon so vor, als hielten sie sich beide gegenseitig mit ihren Traktorstrahlen gefangen. Heiß wie flüssiges Plasma kribbelte es in seinem Bauch. Es zog sich zusammen, pulsierte strahlenförmig auseinander und verformte sich erneut. So als bilde sich in seinem Innern etwas Neues, als wäre er Zeuge einer Art Evolution, die in diesem Augenblick mit ihm stattfand. Doch in was würde er sich verwandeln?

Das Plasma begann zu glühen.

Plötzlich schob sich etwas Dunkles in sein Blickfeld, das ganz erfüllt war vom glosenden Schein einer Supernova.

„Nein, nein, Leute. Beruhigt euch. Ich glaube, ich habe da eine bessere Idee!“ Wie der Kernschatten eines Planeten schob sich Rod in den grellen Strahl aus Energie und durchtrennte die magisch knisternde Verbindung dieses Duells.

Die Korona erlosch. Das Plasma kühlte ab. Und schlagartig verließ Ondragon das Kribbeln, das seine Leibesmitte erhitzt hatte. Auch die Madame schien enttäuscht. Ihre Voodoo-Augen hatten den elektrisierenden Glanz verloren und blickten beinahe erschöpft zu Boden.

„He? Habt ihr mich verstanden? Träumt ihr?“ Rod schnippte mit den Fingern vor Ondragons Nase. „Ecks, ich hab eine prima Idee. Ich werde die Kleine tragen. Sie wiegt kaum mehr als ein Kleidersack und ist dünn wie ein Zweig. Ich schneide zwei Löcher in den Boden meines Rucksacks, und wir setzen sie hinein. So kann ich sie bequem auf dem Rücken tragen. Ihr beide müsst nur den Teil meiner Ausrüstung übernehmen. Und? Was sagt ihr dazu?“

Ondragon drehte blinzelnd den Kopf und sah den Schatten seines Freundes an. Er war das schwarze Tuch, das den Zaubertrick wieder bedeckt hatte, bevor die Magie daraus hatte ans Tageslicht treten können. Er hatte es verhindert.

Was verhindert?

Dass die Magie von ihm Besitz ergriff? Dass er kurz davor gewesen war, sich zu verwandeln? Etwas zu spüren, das er noch nie zuvor gespürt hatte?

„Das ist eine gute Idee“, sagte er matt und wandte sich ab. Mit Beinen wie aus nassem Sand wankte er auf die Spitze des Schuttkegels hinauf. Und während er wie betäubt zum mystisch dunklen Wald hinüberblickte, kamen ganz allmählich seine Sinne wieder. Er hörte die Vögel im dichten Grün zwitschern, fühlte das feuchte Gewicht der tropischen Luft auf seinen Lungen und die harten Steine unter seinen Stiefeln. Auch seine geblendeten Augen erholten sich und nahmen die Welt nicht mehr wie auf einem überbelichteten Foto wahr.

Magie …

Er schüttelte die Reste dieses Gefühls ab, das fremdartig und besitzergreifend war, und drehte sich zu seinen Begleitern um, die derweil das Mädchen in den Rucksack verfrachtet hatten. Die Madame half Rod dabei, sich das Kind auf den Rücken zu schnallen. Es schlief tief und fest unter der Betäubung aus Schmerzmitteln, und ihr Kopf mit den zerzausten kleinen Zöpfen pendelte kraftlos hin und her.

Der Brite lächelte. „Leicht wie eine Feder.“ Er hakte die Daumen hinter die Tragriemen und zwinkerte ihm zu. „Können wir jetzt los?“

Ondragon nickte und setzte sich wie selbstverständlich an die Spitze der Gruppe. Obwohl ihn der Wald auf der Ebene zu seiner Rechten aus einem unerklärlichen Grund magisch anzog, entschied er, am kahlen Hang zu der Passage und über den Grat zurückzuwandern.

„Hat sich übrigens der Heuler noch mal gemeldet, als ich unten in der Mine war?“, erkundigte er sich mit einer Zunge, die sich wie ein Schwamm anfühlte und ihm nicht so recht gehorchen wollte.

„Er hat noch einmal ein Mordsgebrüll veranstaltet, sich aber nicht blicken lassen“, antwortete Rod hinter ihm.

„Hm. Auch wenn ich kaum glaube, dass er uns hier auf offenem Terrain folgen wird, sollten wir trotzdem aufmerksam sein.“

Aye!“, ächzte Rod. Seine Last schien wohl doch nicht so federleicht zu sein, wie er zuvor behauptet hatte.

Ondragon verkniff sich einen schadenfrohen Kommentar und stieg immer weiter den steinigen Hang hinauf. Über ihren Köpfen schickte die Sonne ihre letzten Strahlen über den Bergkamm wie einen wehmütigen Abschiedsgruß. Kurz darauf flossen blaue Schatten zu ihnen herab und schwappten über sie hinweg bis weit in die bewaldete Ebene hinein, die immer weiter unter ihnen zurückblieb.

Schwitzend arbeitete sich Ondragon über das wackelige Geröll voran. Schritt für Schritt in einem Meer aus gelben Steinen, in dem er plötzlich etwas entdeckte, das nicht hierhergehörte. Er machte vor dem Gegenstand Halt und hob ihn auf.

„He, schaut mal! Unser Macheten-Kerl hat sein Accessoire verloren!“ Er schwenkte die blutverklebte Machete über dem Kopf.

„Das bedeutet aber auch, dass er hier war“, entgegnete Rod, der keuchend innehielt und sich umsah. „Wir sollten besser die Augen aufhalten!“

„Ja, denn sonst kommt uns der Zombie holen! Uhhh!“, scherzte Ondragon, was die Madame mit einem bösen Blick quittierte. Lachend wandte er sich um und setzte seinen Aufstieg fort.

Als sie den schmalen Sims unterhalb des Grates erreichten, fiel die Dunkelheit vom Himmel auf sie nieder, als würde ein Becher über sie gestülpt werden.

„Scheiße!“, fluchte Rod leise vor sich hin, und Ondragon hörte, wie hinter ihm Steine in die Tiefe polterten.

„Geht’s?“, erkundigte er sich, wagte es aber nicht, sich umzuwenden. Er hatte seine Stirnlampe eingeschaltet und beleuchtete den schmalen Weg vor seinen Fußspitzen, den man kaum als solchen bezeichnen konnte. Enervierend langsam schob er sich darauf entlang, mit der linken Hand über den noch sonnenwarmen Fels tastend und mit der rechten in der Luft wedelnd.

Derweil leuchteten über der haitianischen Bergwelt die ersten Sterne am dunklen Himmel auf. Lautlos huschten Fledermäuse um ihre Köpfe und fingen die Nachtinsekten, die sich vom Licht der Lampen angezogen fühlten. Schweigend lag die Ebene mit dem Wald unter ihnen wie ein schwarzer See.

Nach einer halben Ewigkeit im Krebsgang sah Ondragon vor sich endlich die Marassa Pierres aus dem Felsengarten auftauchen.

„Gleich haben wir es geschafft“, rief er über die Schulter zurück. „Dort vorne sind die Zwillingsfelsen. Dahinter geht’s bergab!“ Beschwingt von diesem Gedanken beschleunigte Ondragon seine Schritte und erreichte wenig später den schmalen Durchschlupf zwischen den Felsen. Er packte den Stein und wandte sich um.

„Los. Hopp, hopp!“, rief er und schlüpfte durch den Spalt.

Auf der anderen Seite wehte ein frischer Wind von der Tiefebene herauf. Dort unten lag das Dorf in den Schatten der Nacht. Hier und da brannte ein Herdfeuer und über dem fernen Horizont im Westen lag noch ein letzter Schimmer Abendrot. Vage konnte Ondragon am Hang vor seinen Füßen das helle Band des Weges ausmachen, dessen Serpentinen im Zickack in die Tiefe sprangen. Er wandte sich um.

Im selben Moment traf ihn ein heftiger Schlag im Gesicht und es knackte laut vernehmlich unter seinem Auge. Überrascht schrie Ondragon auf und hob das Gewehr. Mit tränenden Augen und dem Gefühl, als stecke eine Motorsäge in seinem Jochbein, suchte er seine Umgebung ab, durchschnitt die Dunkelheit systematisch mit seiner Stirnlampe. Doch der Angreifer war nirgendwo zu entdecken.

Ondragon erblickte Rod, der sich mit seiner schweren Last auf dem Rücken durch den Spalt zwischen den Felsen schob. Etwas blitzte über dessen rechter Schulter oberhalb des Felsens auf. Zwei fahl aufglühende Augen wie bei einer Katze. Rasch ließ Ondragon seinen Lichtstrahl dorthin gleiten.

Er erfasste eine Gestalt, die geduckt auf dem Felsen kauerte. Zum Sprung bereit.

„Achtung, Rod hinter dir!“, warnte er seinen Freund und legte mit dem Gewehr auf die Gestalt an. Doch die reagierte mit unheimlicher Gewandtheit und stürzte sich mit einem keuchenden Laut auf Rod.

Der Brite ging unter der zusätzlichen Last in die Knie. Seine Hände nestelten an dem Holster seiner Pistole, doch der Angreifer fuhr ihm brutal mit den Fingern über das Gesicht und hinterließ tiefrote Striemen. Rod bäumte sich schreiend auf, versuchte den Schatten abzuschütteln, der wie ein knochiger Kobold auf seinen Schultern hockte und mit einem feuchtgurgelnden Grunzen nach dem Mädchen im Rucksack griff.

Der Zombie!

Ondragon fühlte sich wie in einem schlechten Traum gefangen, während er über den Lauf seiner Waffe zielte und sich auf die Kämpfenden zubewegte. Seine Wange pochte im Rhythmus seines rasenden Herzens – als sei sie ein Verstärker, der mit jedem Schlag glühende Nadeln in sein rechtes Auge aussandte.

Rod schrie und fluchte und versuchte, den Zombie abzuschütteln. Doch der packte das Kind am Nacken, zerrte es aus der Tragevorrichtung und sprang, ein triumphierendes Heulen ausstoßend, mit seiner Beute von Rods Rücken. Mit grotesk aufgeklapptem Kiefer stand er da und starrte Ondragon an, das Mädchen wie eine kaputte Puppe brutal am Hals haltend. Speichel quoll aus seinem aufgerissenen Mund und troff in glänzenden Fäden auf seine knochige Brust, die in löchrigen Lumpen steckte. Gurgelnde Laute drangen aus seiner Kehle, und die rosa Zunge wälzte sich hin und her wie ein Wurm.

Ondragon ließ die abscheuliche Gestalt nicht aus den Augen, bereit, jeden Moment abzudrücken, falls sie sich bewegte. Aber noch stand Rod zu dicht hinter ihr. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie die Madame im Spalt zwischen den Felszwillingen erschien und erstarrte. ZOMBIE, schienen ihre Lippen vor Entsetzen zu formen, doch sie brachte kein Wort heraus.

Im selben Moment hob der Zombie das Kind vor sich am ausgestreckten Arm hoch, als präsentiere er eine Trophäe, ein satanisches Glitzern in seinen fahlen Pupillen. Mit Grausen erkannte Ondragon, dass das Mädchen die Augen geöffnet hatte und ihn stumm flehend ansah.

Er zielte auf den Zombie, der einige Schritte auf ihn zu machte und laut stöhnte: „Chrrineeee, chrineeee!“

„Ja, los komm zu mir, du Scheusal! Du Satan aus der Hölle! Los! Komm!“, schrie er zurück und kniff sein schmerzendes Auge zu. Er sah den Zombie weiter auf sich zuwanken, das Mädchen in der Hand. Die Kreatur machte einen Schritt nach rechts und schließlich noch einen. Sie wollte ihn umschleichen wie eine verhungerte Raubkatze! Doch damit unterschrieb sie ihr Todesurteil.

Say good bye, bloody bastard!“, flüsterte Ondragon und legte seinen Finger auf den Abzug des M 16.

Doch da peitschte ein anderer Schuss durch die Nacht, und Ondragon sah voller Erstaunen, wie der Hinterkopf des Zombies in einem roten Sprühregen zerplatzte. Der Griff der knochigen Hand um den Hals des Mädchens löste sich und gab es frei, kurz bevor der dürre Körper nach hinten überkippte und dumpf auf den steinigen Untergrund schlug.

Sprachlos schaute Ondragon zu Rod. Doch nicht er hatte eine Waffe gezogen.

Hinter ihm stand die Madame und hielt das Gewehr, das sie für Rod getragen hatte, noch immer auf den toten Zombie gerichtet.

Rod wandte sich um. „Bei den Eiern von Jesse James, was für ein guter Schuss! Jetzt bin ich zwar auf dem rechten Ohr taub, aber alle Achtung, Mari-Jeanne.“

Die Angesprochene ließ das M 16 sinken, ohne die Miene zu verziehen. „Danke“, sagte sie schlicht und trat hinter Rod hervor. Mit federleichten Schritten ging sie zu der Zombieleiche, kniete sich hin und schloss das Mädchen sanft in ihre Arme.

Ondragon, der immer noch ganz baff war, verfolgte jede ihrer katzengleichen Bewegungen mit seinem Blick.

„Jesus, Sie sind eine wahre Lady Sureshot! Wo haben Sie das gelernt?“ Lachend ging Rod neben der Madame in die Hocke und sah auf den Leichnam.

„Sehen Sie sich um, dies ist mein Land, ich bin hier aufgewachsen“, hörte Ondragon sie antworten. „Es ist immer gut, wenn man sich zu verteidigen weiß. Aschhh, mon Cher, aschht. Tout se byen!“ Liebevoll strich sie dem Mädchen über den Kopf, das begonnen hatte, schwach zu wimmern.

Se Papa. Se Papa! Li fè move! Li Zombie!“, klagte das Mädchen immer wieder.

„Sie sagt, dass das dort ihr Vater ist“, übersetzte die Madame. „Er ist gefährlich. Er ist ein… Zombie.“

Ondragon schüttelte seine Starre ab und trat zu seinen Begleitern.

Li pa fe move! Li mò. Ma Ti. Mwen regret sa“, beruhigte die Madame das Kind mit leisen Worten.

Das sah mit großen Augen zu ihnen auf und sagte: „Mwen swaf anpil.“

„Sie hat Durst. Ich habe ihr gesagt, dass ihr Vater tot ist und sie keine Angst mehr zu haben braucht.“ Die Madame hielt ihr die Flasche an den Mund, und das Mädchen trank.

Kouman ou rele?“, fragte sie, als die Kleine genug getrunken hatte.

Me rele Christine. Christine Dadou.“ Schüchtern blinzelte das Kind ihnen entgegen.

Die Madame warf Rod einen bedeutungsvollen Blick zu, der nachdenklich vor sich hinmurmelte.

Indessen starrte Ondragon über die Schulter seines Freundes hinweg auf den toten Mann. Konnte das tatsächlich sein? Hatte er über all die Zeit die Madame zu Unrecht verurteilt? War das ein … Zombie? Er blickte der dürren Gestalt ins totenkopfgleiche Gesicht, oder was davon übriggeblieben war. Die graue, rissige Haut spannte sich über den Schädel wie bei einem vertrockneten Fisch. Der Mund war zu einem stummen Schrei weit aufgerissen. Die geschlossenen Augen lagen tief in den Höhlen und selbst die Nase sah so aus, als sei sie in der Hitze verdorrt und zu einem runzeligen Hautrest zusammengeschrumpft.

Der Schädel frisst die Haut, dachte Ondragon, er saugt sie in sich hinein. Wie bei jemandem, der schon lange tot ist und auf dem Friedhof verwest.

Baron Samedi!

Ein Schauer lief seinen verschwitzen Rücken hinunter.

Der Herr der Friedhöfe.

„Tja, es klingt komisch, aber der Untote ist tot!“, scherzte Rod, der seine Lampe auf dem Kopf zurechtrückte.

Ondragon wrang förmlich den Lauf seines Gewehres, auf das er sich gestützt hatte. Er war hin und her gerissen. Zombie! Das Wort brannte auf seiner Zunge wie Tabasco, dennoch wollte er es am liebsten herunterschlucken. Er fand es allzu albern, so etwas überhaupt in Erwägung zu ziehen. Außerdem hatte er sich geschworen, dass wenigstens er dieses Wort nie wieder über seine Lippen bringen wollte!

Es war absurd.

Es war bescheuert.

Aber schließlich gewann seine Neugier.

Er räusperte sich und machte sich bereit für den längsten Sprung über seinen Schatten, den er je gemacht hatte.

„Madame, stimmt das, was die Kleine sagt? Wurde er … wurde er tatsächlich zu einem Zombie gemacht?“

Die Madame richtete den Strahl ihrer Lampe auf den Toten und schaute einen Moment lang ausdruckslos auf die ausgezehrte Gestalt, die vor ihrer aller Augen in sich zusammenzusinken schien, als ziehe die Erde bereits an ihren Gliedern.

Dann schürzte sie die Lippen und schüttelte unschlüssig den Kopf.

„Was nun? Zombie, oder nicht?“, wollte jetzt auch Rod wissen.

Die Madame schwieg tief in Gedanken versunken. Dann murmelte sie etwas und berührte mit dem Zeigefinger einmal ihre Stirn und den Mund.

„Das da ist kein Zombie!“, sagte sie schließlich mit Bestimmtheit.

„Kein Zombie?“ Rod blickte sie ungläubig an. „Dann erklären Sie mir mal bitte, warum er sich wie einer benommen hat? Er ist wie ein Berserker auf meinen Rücken gesprungen und wollte Haggis aus mir machen. Und warum hat er die anderen Leute der Expedition abgeschlachtet?“

„Ich weiß es nicht. Aber eines ist sicher, er ist kein Zombie! Dafür ist er … nun, er sieht nicht wie ein Zombie aus! Schauen Sie doch …“

„Ach ja? Nicht wie ein Zombie? Dass ich nicht lache. Wie sieht dann bitteschön ein echter Zombie aus?“ Rod kam in Fahrt.

„Zumindest nicht so.“ Die Madame wies auf den Mann. „Diese Beulen überall und seine Haut. So grau. So etwas macht ein coup poudre nicht. So sieht kein Zombie Cadavre aus!“

„Aber was ist dann mit ihm passiert, dass er wie im hirnlosen Blutrausch Männer, Kinder und Frauen abgeschlachtet hat?“ Rod hob fragend beide Hände.

„Ich habe keine Ahnung. Ein Bokor war hier jedenfalls nicht am Werk. Dafür lege ich meine rechte Hand in den Sarg!“

Ondragon hörte schon längst nicht mehr richtig zu. Alles, worauf sich sein Denkapparat konzentrierte, waren die beuligen Auswüchse am Hals und am Kopf des Toten. Im Tran seiner Bewunderung für die Madame hatte er gar nicht bemerkt, dass die Königin aller Geheimnisse ihren Mantel längst gelüftet hatte. Wie vom Donner gerührt stand er da, während das letzte Zahnrädchen einrastete und die Lösung offen vor ihm lag.