8. Kapitel
08. Februar 2010
New Orleans, Louisiana
11.45 Uhr
Ondragon stand vor dem Laden und die Sonne schien ihm ins Gesicht. Er war irritiert. Nicht nur von der seltsamen Begegnung mit Madame Tombeau, sondern mehr noch von seinen eigenen Gefühlen. Seine vernunftbegabte Seite glaubte der Voodoo-Queen kein einziges Wort. Zombies! Das war der Gipfel der Lächerlichkeit! So etwas gab es nur in schlechten B-Movies. Aber da war auch noch sein Instinkt. Und der erinnerte ihn immer wieder an den toten Bolič und dessen rätselhaftes Verschwinden. War der Bosnier tatsächlich durch das Pulver in dem Brief zu einem wandelnden Leichnam geworden? Und wenn ja, wo war er hin?
Ach, was!
Ondragon setzte sich seine Sonnenbrille auf. Das war doch alles blanker Unsinn. Ein Toter war tot – außer man hieß vielleicht Jesus. Aber dabei hatte bekanntlich der Liebe Gott höchstpersönlich die Finger im Spiel gehabt und kein Schwarzmagier. Was natürlich nicht heißen sollte, dass Jesus ein Zombie war …
Ondragon schüttelte energisch den Kopf. Zu welchen absurden Gedanken er sich hinreißen ließ! Eine geschlagene halbe Stunde lang hatte er sich mit Madame Tombeau darüber gestritten, ob es Zombies gab oder nicht. Dabei hatte sie ihm sogar erklärt, was es mit dem Brief auf sich hatte. Son corps doit être comme une bouteille vide. Das bedeutete angeblich, der Empfänger des Briefes hätte ein Urteil empfangen und würde in naher Zukunft von einem Schwarzmagier zu einem Zombie gemacht werden. Mit Magie und dem coup poudre würde sein Körper zu einem leeren Gefäß umgewandelt, in das der Bokor anschließend seinen eigenen Willen pflanzen könne. Nach der Zombifizierung sei das Opfer ein willenloses Geschöpf, zwar mit verstärkten Körperkräften, aber ohne Geist; ein Sklave, der tut, was man ihm befiehlt. Dies sei, laut der Madame, das schrecklichste Schicksal, das einen Haitianer treffen könne. Doch auch diese Erklärung hatte Ondragon nicht von der Existenz von Zombies überzeugt. Das Ganze war einfach zu abgedreht.
Aber Madame Tombeau hatte nicht lockergelassen und ihn beschworen, wenigstens ein kleines Amulett zu tragen, das sie ihm vorne im Laden in die Hand gedrückt hatte, gegen die Zombiemagie! Ondragon schnaubte abfällig. Allmählich kam er sich vor wie die leere Flasche, in die sie ihren Hexen-Humbug zu füllen gedachte.
Mit einem weiteren Kopfschütteln stopfte er das säckchenartige Amulett in die Hosentasche und holte sein Handy hervor. Es musste eine andere Erklärung für das Verschwinden von Boličs Leiche geben. Er wählte die Nummer seiner Assistentin. Vielleicht hatte sie ja etwas Neues.
Doch leider verneinte Charlize seine Frage, und Ondragon erinnerte sie schroffer als beabsichtigt an die Videoaufnahmen. Danach legte er auf, steckte sich missmutig einen Kaugummi zwischen die Zähne und ging zurück zum Hotel, wo er seine Kleidung wechselte. Für den Besuch bei Sylvester Stern wollte er seine Sig Sauer mitnehmen und nicht bloß auf das Messer vertrauen, dass er versteckt unter seiner Touri-Kluft am Bein getragen hatte. Also legte er sich das Holster an und zog eine leichte Windjacke darüber. Die Flip Flops tauschte er gegen seine Cowboystiefel.
Auf der kurzen Fahrt nach Chalmette versuchte Ondragon erneut, Sylvester Stern ans Telefon zu bekommen. Leider erfolglos wie immer.
Ohne Umwege geleitete ihn das Navi in seinem iPhone durch die Straßen des trostlosen Vorortes von New Orleans. Chalmette war damals von Katrina komplett zerstört worden und zählte deswegen heute nicht gerade zu den gehobenen Adressen. Dennoch befanden sich mittendrin ein paar ganz ansehnliche, neu gebaute Häuser. Das von Stern lag ganz am Ende einer Straße, die von einem Kanal mit Damm begrenzt wurde. Dahinter folgte meilenweit nichts als tückisches, moskitoverseuchtes Sumpfgebiet.
Ondragon parkte den Wagen um die nächste Ecke an einer größeren, unbebauten Fläche und ging zurück zu Sterns Domizil, das einen ähnlichen Verwahrlosungsgrad wie das von Ellys‘ aufwies. Es war offenkundig, dass jene Junggesellen sich nicht besonders liebevoll um ihren Grund und Boden kümmerten, auch Sterns Vorgarten war mehr ein Unkrautparadies als grüner Rasen.
Er klopfte an Sterns Tür und sah sich um. Die Nachbarhäuser sahen verlassen aus, zumindest ließ sich niemand blicken und es standen auch keine Autos in den Auffahrten. Wahrscheinlich waren die Leute bei der Arbeit oder im Supermarkt, wie es sich für anständige Amerikaner gehörte.
Nachdem auch beim zweiten Klopfen niemand aufmachte, entschloss sich Ondragon, von hinten in das Haus einzudringen. Er streifte sich seine Handschuhe über und schlich durch den Garten zur Hintertür, die er nach wenigen Augenblicken geöffnet hatte. Mit gezogener Waffe betrat er das Haus durch das Wohnzimmer und schaute sich in alle Richtungen um. Ein leicht säuerlicher Geruch drang in seine Nase und sofort fühlte er sich an die verbrauchte Luft in Boličs Zimmer erinnert. Schnell ging er durch die Räume. Zuerst unten, dann im oberen Stockwerk, wo der Gestank stärker wurde. Als er das Schlafzimmer öffnete und auf das Bett blickte, war er wenig überrascht.
Sylvester Stern lag mit dem Rücken auf der Matratze, die Augen geschlossen, das Gesicht friedlich. Das Laken war halb zurückgeschlagen, darunter kam ein Pyjama zum Vorschein. Ein Arm hing aus dem Bett und Bugs Bunny grinste ihm von der entblößten Haut des kräftigen Unterarms entgegen. Kein Zweifel, das war der blonde Mailman aus Ellys‘ Fotogalerie.
Ondragon trat ans Bett und überprüfte Puls und Atmung. Danach stach er Stern zur Vorsicht mit dem Finger in die weiche Stelle hinter dem Ohr, was sehr schmerzhaft gewesen wäre, wenn der Mann nicht schon vor längerer Zeit seinen letzten Atemzug getan hätte. Nachdenklich richtete Ondragon sich auf. Es war das gleiche Szenario wie bei Bolič. Und es sah wahrlich nicht so aus, als würde Stern demnächst von den Toten auferstehen, um als Zombie die Gegend unsicher zu machen.
Er machte mehrere Fotos von der Leiche und suchte anschließend das Haus nach Sterns Handy und Laptop ab. Aber er fand nichts. Beides war verschwunden wie bei Ellys.
Als nächstes klopfte er sämtliche Wände nach dem secret room des Mailman ab. Er fand ihn nach nicht allzu langer Zeit hinter einem Spiegel im Gästezimmer, das sich neben Sterns Schlafzimmer befand. Der Spiegel war mannshoch und ließ sich öffnen wie eine Tür. Von innen hatte er einen Griff, damit man ihn zuziehen konnte. Dabei stellte Ondragon fest, dass der Spiegel durchsichtig war. Man konnte von innen nach außen gucken, und er vermutete, dass der secret room gleichzeitig auch so etwas wie ein Zufluchtsort war, von dem aus man mögliche Eindringlinge geschützt beobachten konnte. So genial wie einfach.
Ondragon knipste die Glühbirne an, und das gelbliche Licht erhellte einen schmalen Raum, der ähnlich ausgestattet war wie der von Tyler Ellys: Regale an beiden Wänden, ordentlich gefüllt mit Waffen und Spezialausrüstung in Koffern – aber dieses Mal ohne unliebsame Büchersammlung. Überhaupt war hier kein Hinweis auf eine ähnlich rechtsgerichtete Gesinnung zu finden, wie sie Ellys gepflegt hatte. Ondragon klappte die Koffer auf. Pistolen, Handgranaten und Munition kamen zum Vorschein, aber kein Voodoo-Kram.
Nachdem er einige Fotos geschossen hatte, verließ er den Raum und kehrte zu dem Toten zurück, der immer noch genauso dalag.
Was hast du erwartet? Ondragon schnaubte verächtlich über seine eigenen närrischen Gedanken. Er legte seine Waffe griffbereit auf das Bett und begann mühsam, den Leichnam zu entkleiden. Er hatte schon viele Tote gesehen, manche waren harmlos gewesen, einige aber auch äußerst unappetitlich. Aber im Laufe der Zeit hatte er in der äußerlichen Untersuchung von Leichen einige Erfahrungen gesammelt, die ihm nun half, die Zeichen und Male zu deuten, die ein toter Körper tragen konnte.
Die Haut von Stern war blass und kühl und der Körper schlaff, was bedeutete, dass der Todeszeitpunkt entweder weniger als sechs Stunden oder über drei Tage zurückliegen musste. Die Leichenstarre galt als eines der sogenannten sicheren Todeszeichen und war bei Zimmertemperatur nach sechs bis zwölf Stunden vollständig ausgeprägt. Nach drei bis vier Tagen löste sie sich wieder und der Körper erschlaffte. Da Ondragon von Alejandro Green wusste, dass er vor knappen 40 Stunden mit Stern telefoniert hatte (vorausgesetzt, Green sagte die Wahrheit), musste Stern also in den vergangenen sechs Stunden gestorben oder ermordet worden sein.
Er begutachtete die Gliedmaßen des Toten. An den Händen und Unterarmen waren blutige Striemen zu erkennen und unter Sterns Fingernägeln fand er Hautpartikel. Entweder hatte Stern sich gewehrt oder er hatte sich die Kratzspuren selbst beigebracht. Warum, war Ondragon jedoch nicht klar. Er hielt die Luft an und drehte Stern auf den Bauch. Der Gestank war überwältigend – süßlich dumpf, so als sei der Leichnam mit Parfüm einbalsamiert worden. Aufmerksam betrachtete er die Haut auf dem Rücken. Sie wies ein paar gerötete Stellen auf, die aber keine Leichenflecken sein konnten, da der Tote dafür noch nicht lange genug dalag. Auch sonst fand er keine Auffälligkeiten oder Anzeichen für eine Todesursache. Ondragon rollte den Leichnam zurück auf seine ursprüngliche Position, dabei rutschte seine Waffe von der Matratze und fiel polternd zu Boden. Fluchend kniete er sich hin und griff unter das Bett. Doch anstatt auf hartes Metall trafen seine Finger auf etwas Raschelndes. Ondragon beugte sich hinab und sah unter das Bett. Dort lag ein zerknülltes Blatt Papier. Noch während er es hervorzog, ahnte er bereits, was es war. Heiße Wogen der Furcht überschlugen sich in seinem Magen. Hatte er sich erneut unwissentlich in Gefahr begeben?
Mit angehaltenem Atem und möglichst viel Abstand strich er das Papier glatt. Auf dem Blatt stand ein einziger Satz: „Sylvester Stern, dein Körper soll eine leere Flasche sein!“ Daneben erkannte Ondragon die gleiche krakelige Zeichnung eines Sarges wie bei Ellys.
Er bemerkte seinen eigenen hektischen Herzschlag erst, nachdem er seine Augen von dem Papier hatte lösen können. Mit Mühe versuchte er, sich zu besinnen.
Nicht der Brief war das Gefährliche, sondern das Pulver.
Er beugte sich hinab. Wo war der Umschlag?
Er lag neben seiner Waffe. Ondragon griff in seine Jackentasche, denn in weiser Voraussicht hatte er mehrere Zipbags mitgenommen. Vorsichtig steckte er Brief und Umschlag in einen Plastikbeutel, und diesen wiederum in drei weitere. Kein einziges Nanopartikel dieser Substanz sollte nach außen dringen können.
Danach verließ er auf schnellstem Wege das Haus. Er hatte genug gesehen und würde sofort zu Madame Tombeau fahren. Er würde sie mitnehmen und ihr beweisen, dass Stern ein richtiger echter Toter war und kein Untoter, obwohl er diesen Zombie-Brief bekommen hatte.
Während er nach New Orleans zurückfuhr, beruhigte sich sein Herzschlag nur quälend langsam. Gegen seinen Willen hielt die Angst vor dem Pulver seinen Kreislauf auf einer unerwünscht hohen Frequenz.
Das ist doch alles Quatsch! Er schlug mit der Hand auf das Lenkrad. Du kannst nicht wirklich an so etwas Albernes wie Zombies glauben! Ondragon fischte sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer von Alejandro Green. Er musste den Mailman warnen. Er war der letzte aus der Crew, der noch unversehrt war. Die ganze Geschichte erweckte allmählich den Anschein, als beseitige jemand nach und nach die Mitglieder der MSC. Nur, was war der Grund dafür? Hatten sie bei einem ihrer Jobs etwas gesehen, das sie nicht sehen sollten?
Am anderen Ende der Leitung meldete sich die Mailbox. Scheiße! Schnell wechselte Ondragon zu der Nummer von Roderick DeForce. Er brauchte endlich Informationen. Es klingelte. Wenn sein Freund nicht bald dranging, dann …
„The person you want …“ Ondragon schleuderte das Handy gegen das Armaturenbrett. Es prallte mit einem knirschenden Geräusch ab und landete auf dem Beifahrersitz. Mit einem Seitenblick gewahrte er, dass das Display einen Sprung hatte. Plötzlich wurde er ganz ruhig.
Was regst du dich so auf? Ist doch scheißegal, was passiert. Du kannst jederzeit aus diesem bescheuerten Fall aussteigen. Offensichtlich scheint es Rod auch nicht gerade wichtig zu sein, was mit seinen Mitarbeitern los war, anderenfalls hätte er sich längst gemeldet. Und Bolič und Stern sind tot, denen kannst du sowieso nicht mehr helfen. Unterste Priorität also. Und Rod bezahlt deine Spesen. Vergiss den Zombie-Quatsch! Du bist in New Orleans. Geh auf die Bourbon Street und amüsier dich. Lass die Puppen tanzen!
Ondragon bog in die Tiefgarage des Hotels ein und parkte sein Auto. Es war 15.15 Uhr und höchste Zeit, etwas zu essen. Er begab sich in das populäre Seafood-Restaurant „The Bourbon House“ und bestellte sich zwei Dutzend Austern mit scharfer Cajun-Sauce.
Vom Restaurant aus ging er direkt zum Voodoo-Laden von Madame Tombeau. Er wollte eine zweite Konsultation erwirken. Es gab da noch einige Dinge, die er wissen musste.
Von ihrem Kassentresen aus begrüßte ihn Natalie mit einem wissendenden Lächeln auf ihren Lippen. „Monsieur Ondragon, da sind Sie ja. Leider ist Madame Tombeau nicht zu sprechen. Sie hat eine séance magique mit einem Kunden. Aber sie wusste, dass Sie noch einmal wiederkommen und sagte, ich solle Ihnen das hier geben.“ Sie hielt ihm eine Papiertüte entgegen.
Ondragon verbarg seine Verwunderung, nahm die Tüte und sah hinein. Getrocknete Kräuter befanden sich darin.
„Sie helfen gegen die Magie méchante der Zombifzierung. Madame sagte, Sie seien damit in Berührung gekommen und würden womöglich danach verlangen. Nehmen Sie es ein wie einen Tee. Einfach mit heißem Wasser überbrühen und trinken. Das wendet die Augen des Diab von Ihnen ab, den der Bokor auf Sie gehetzt hat.“
„Das ist doch Blödsinn!“, motzte Ondragon. „Niemand hat irgendetwas auf mich gehetzt, erst recht keinen Diab oder Teufel. Ich glaube nicht an diesen Blödsinn, klar? Alles, was ich möchte, ist, Madame Tombeau in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen. Wann ist sie wieder da?“ Er hatte den Spuk gründlich satt, genauso wie das süffisante Lächeln und die Überheblichkeit, mit der diese Voodoo-Hexe ihn ansah.
Natalies Lächeln wurde noch herablassender. „Madame wird bis in den späten Abend beschäftigt sein. Aber sie hat Sie in ihren Club eingeladen und das trotz Ihrer conduite mauvaise, Ihres schlechten Benehmens. Aber sie scheint Sie für einen besonders interessanten Fall zu halten. Deshalb die Einladung.“
Schlechtes Benehmen? Ich? Verflogen war die so mühsam gewonnene Contenance nach dem Essen. Ondragon war kurz davor, der Dame ihr Kopftuch um den Hals zu legen und …
„Der Club heißt ‚Voodoo-Child‘ und ist in der Dumaine Street, Nummer 34.“ Sie hielt einen Schlüssel mit einem eingravierten Totenkopf hoch. „Das macht Sie zum Mitglied, Monsieur. Gehen Sie damit durch die rote Tür und zeigen Sie ihn dem Mann am Eingang. Madame wird Sie finden.“
Ondragon nahm wortlos den Schlüssel und die Tüte mit den Anti-Zombiekräutern und verließ mit großen Schritten den Laden. Diese gekünstelte Geheimnistuerei ging ihm gewaltig auf die Nerven. Voodoo, Hoodoo, Schmoodoo! Er kam sich vor wie in einem afrikanischen Ammenmärchen.
Um sich abzureagieren, setzte er sich als einziger Gast in eine Bar und bestellte ein großes Bier. Die Jukebox verstummte und Ondragon genoss die Ruhe, während das kühle Getränk seine Kehle hinabrann. Über seinem Kopf versuchte der Ventilator die schwüle Luft zu zerschneiden, in der der Geruch nach Regen und Fäulnis mitschwang. Draußen wurde es schlagartig dunkel, als Gewitterwolken sich vor die Nachmittgassonne schoben. Wenig später prasselte der Regen auch schon auf die heiße Straße und setzte sie binnen Sekunden unter Wasser.
Na toll, dachte Ondragon und bestellte sich ein zweites Bier, das ihm der Barkeeper über den Tresen reichte und danach der Jukebox einen Tritt gab.
„Verfluchtes Ding! Eben ging es doch noch!“
Ist eigentlich ganz schön so, sinnierte Ondragon und lauschte mit halbgeschlossenen Augen dem beruhigenden Geräusch des Regens, in das sich ein an- und abschwellendes Rauschen mischte, immer wenn ein Auto vor der offenen Tür vorbeiglitt. Noch war die Bourbon Street nicht für Fahrzeuge gesperrt, das würde erst nach Sonnenuntergang geschehen.
Allmählich drang kühlere Luft in die Bar und Ondragon entspannte sich. Draußen huschten leichtbekleidete Touristen über den Bürgersteig, der nur zum Teil von den Balkonen überdacht war. Wie aus mittelalterlichen Wasserspeiern rauschte das Wasser durch die Löcher in der Regenrinne auf die Straße, und wer nicht aufpasste, nahm eine unfreiwillige Dusche. Ondragon grinste, als ein junges Pärchen im schützenden Eingang der Bar Halt machte und sich leidenschaftlich küsste, nass von Kopf bis Fuß. Immer mehr Passanten stellten sich unter und warteten das Ende des Regens ab. Die Leuchtreklame illuminierte ihre Silhouetten in allen Farben des Regenbogens. Plötzlich entstand eine Bewegung in der Gruppe vor der Tür. Ein Mann drängelte sich zwischen den wartenden Menschen hindurch. Er schien so früh am Nachmittag schon sturzbetrunken und torkelte unbeholfen. Mit starrem Blick wankte er am Eingang vorbei und wandte kurz seinen Kopf. Für den Bruchteil einer Sekunde blickte er in die Bar.
Ondragon sprang auf und blinzelte verdutzt.
War das möglich?
Er lief zur Tür, doch der empörte Barkeeper hechtete ihm hinterher und hielt ihn am Ärmel zurück.
„He, Freundchen, erst bezahlen, dann gehen!“
Ondragon griff in die Tasche, drückte dem Mann hastig eine Zwanzigdollarnote in die Hand und tauchte in die Menge vor der Tür ein. Auf Zehenspitzen sah er sich über die Köpfe der Menschen hinweg um, doch der schwankende Mann war verschwunden.
Ondragon trat hinaus auf die offene Straße in den Regen, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Augenblicklich war er nass bis auf die Haut, Wasser rann ihm in Mund und Augen. Ein Blitz erhellte jäh das trübe Zwielicht der Bourbon Street, aber leider konnte auch das Himmelsleuchten nicht helfen, die rätselhafte Erscheinung zu finden, die er vor wenigen Minuten noch angestarrt hatte. Der Typ hatte zwar eine Sonnenbrille getragen und auch sonst war in der Menschenmenge nicht viel von ihm zu erkennen gewesen …
Es war unmöglich – und doch hatte Ondragon es erkannt.
Das blasse Gesicht des Bosniers.
Der Portier des Royal Sonesta Hotels blickte den Gast mitleidig an, der ganz offensichtlich New Orleans‘ innigen, aber feuchten Kuss zu spüren bekommen hatte, und murmelte nur zurückhaltend sein „Good evening, Sir.“
Ondragon stapfte grußlos an ihm vorbei durch die Lobby und begab sich ohne Umweg in sein Zimmer, wo er eine warme Dusche nahm. Er beruhigte sich erst wieder, als er wenig später im Bademantel auf dem Bett saß und die Stimme seiner Assistentin am Telefon hörte.
„Chef, ich wollte dich gerade anrufen. Ich habe mir die Videobänder des Hotels angesehen! Es war nicht besonders schwer, den Angestellten des Überwachungsdienstes dazu zu überreden.“
Ondragon verzog amüsiert dem Mund. Ihre Argumente waren schon immer recht überzeugend gewesen. Lebhaft konnte er sich vorstellen, wie der Hotelangestellte hoffnungslos in ihrem Weltklasse-Dekolleté versunken war. Am Ende hatte er womöglich gar nicht kapiert, was mit ihm geschehen war. Ondragon beneidete ihn beinahe darum. „Sehr gut, und was hast du in Erfahrung bringen können?“
„Du wirst nicht glauben, was ich gesehen habe, zuerst wollte ich es ja selbst kaum glauben!“
„Raus damit, Charlize. Spann mich nicht unnötig auf die Folter!“
„Yossha, Chef! Man sieht zuerst dich, wie du das Zimmer betrittst und wenig später wieder rauskommst mit einem Aktenkoffer in der Hand. Dann kommt für Stunden nichts. So gegen ein Uhr nachts geht die Zimmertür auf und Bolič kommt heraus. Aber er sieht ganz merkwürdig aus.“
„Wieso merkwürdig?“, fragte Ondragon alarmiert.
„Er ist blass wie eine frisch gekalkte Zaunlatte und wankt, als hätte er mächtig einen im Kahn! Kann sich kaum auf den Beinen halten. Er torkelt zum Lift und fährt nach unten. Und jetzt geschieht das Mysteriöse. Ich habe mir auch die Aufnahmen aus der Lobby angeschaut. Eine Kamera war so ausgerichtet, dass man durch das Glas der Drehtür auf die Einfahrt des Hotels blicken konnte. Bolič wankt vom Fahrstuhl auf die Tür zu und verfängt sich dort. Er dreht mehrere Runden in der Tür wie ein Irrer, schlägt immer wieder mit Fäusten auf das Glas ein und schreit dabei, als hätte er das Prinzip einer Drehtür nicht kapiert. Das alles geschieht offensichtlich unbemerkt von der Nachtwache an der Rezeption, denn niemand kommt ihm zu Hilfe. Nach mindestens einem Dutzend Umdrehungen findet er endlich den Ausgang und bleibt draußen abrupt stehen. Und jetzt kommt‘s: Vor der Tür steht wie aus dem Nichts eine dunkle Gestalt. Man kann sie leider nicht gut erkennen, das Gesicht ist im Schatten. Aber eines sieht man ganz deutlich: Der Typ trägt einen schwarzen Frack und einen Zylinder!“
Ondragon lachte verblüfft auf. „Einen Zylinder? Was soll das denn? War das ein später Hotelgast, der von einer Hochzeit kam?“
„Ich glaube kaum, denn Bolič hat sich vor ihm verneigt und ist dann zusammen mit ihm gegangen. Sie sind ganz eindeutig gemeinsam verschwunden.“
Ondragons Gedanken überschlugen sich. „Sind Boličs Sachen immer noch in dem Zimmer? Wie lange hat er das überhaupt gebucht? Ist sein Verschwinden mittlerweile aufgefallen?“
„Auch das habe ich überprüft, Chef. Seine Sachen sind noch immer da und die Reservierung läuft für insgesamt zehn Tage. Quasi bis übermorgen. Dementsprechend ist sein Verschwinden im Hotel noch nicht bekannt.“
„Äußerst sonderbar“, murmelte Ondragon und versuchte, Charlizes Beobachtungen in eine Reihe mit seinen eigenen zu bringen. Ein Mann, den er zuvor für tot befunden hat, steht Stunden später wieder auf. Offenbar sturzbetrunken lässt er seine Sachen im Zimmer zurück und trifft sich mit einem anderen Mann, der einen Zylinder trägt. Beide verschwinden. Das war vor zwei Tagen in Tucson. Heute taucht Bolič, oder zumindest ein Mann, der ihm verdammt ähnlich sieht, in New Orleans auf. Auch er wirkt weggetreten. Was hatte das zu bedeuten?
„Chef?“
„Ja?“
„Was soll ich jetzt tun? Hier läuft doch nichts mehr.“
„Setz dich in den nächsten Flieger nach Miami und suche dort einen gewissen Alejandro Green auf. Ich schicke dir noch seine Kontaktdaten. Er gehört zu der Crew, der auch Tyler Ellys und Sylvester Stern angehörten. Ich habe Stern heute tot in seinem Haus aufgefunden. Er sah genauso aus wie Bolič, und ich befürchte, dass Green dasselbe blüht, wenn es nicht schon zu spät ist, denn ich kann ihn nicht erreichen. Ich hänge leider noch etwas länger hier in New Orleans fest.“
„Gehst du etwa fremd, Paul-san?“
Ondragon lächelte. „Eifersüchtig?“
„Nicht im Geringsten. Eine Stadt im Sumpf kann einer kalifornischen Beautyqueen nicht das Wasser reichen!“
„Wo du recht hast, hast du recht, Charlize“, er wurde ernst. „Sei in Miami bitte vorsichtig. Hier treibt jemand ein ganz übles Spiel.“
„Hai, Paul-san.“
Er legte auf und fuhr sich durchs nasse Haar. Ein prüfender Blick in den Spiegel bestätigte die Verwerfung von Sorgenfalten in Form des Sankt-Andreas-Grabens auf seiner Stirn. Ansonsten sah er passabel aus. Sein dunkler Haaransatz wies trotz seiner angebrochenen vierten Lebensdekade kaum graue Einsprenkelungen auf und seine Gesichtshaut war – bis auf die Sorgenfalten auf der Stirn selbstverständlich – recht straff. Die kalifornische Bräune unterstrich seine grünen Augen und gab ihm etwas Jungenhaftes, das er gerne einsetzte, wenn es darum ging, das andere Geschlecht zu bezirzen. Alles in allem war es eine ansehnliche Ausstattung, die vorzüglich dazu taugte, einen netten Abend in The Big Easy zu verbringen. Natürlich hatte er vor, die Einladung der Madame in den Club anzunehmen, denn eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften war schließlich immer noch seine unsterbliche, fast katzenhafte Neugier. Und insgeheim hoffte er, dass es sich mit dem Rest seiner Charakteristika genauso verhielt, denn sieben Leben konnte er in seinem Job gut gebrauchen.
Er hob die USA Today vom Boden auf, die er vorhin beim Eintreten mit einem Fußtritt ins Zimmer befördert hatte. Ein wenig im Weltgeschehen zu schmökern, konnte nicht schaden, bevor er sich schick machte. Er schlug die Zeitung auf und sein Blick gefror. Ein plötzliches Maschinengewehrfeuer begann in seiner Brust zu hämmern und seine Finger wurden von dem heftigen Tremor erfasst, den er längst überwunden glaubte. Zitternd ließ er die Zeitung fallen und mit ihr das Ding, das in ihr versteckt gewesen war.
Eine Puppe aus Lumpen.
Sein Gesicht war von einem Foto ausgeschnitten und auf den Kopf der Puppe geklebt worden. Im rechten Auge des scheußlichen Lumpenmannes steckte eine lange Nadel … und als Kopf der Nadel diente ein glitschiger, aufgespießter Augapfel.
Noch im selben Atemzug schossen stechende Schmerzen durch seine rechte Gehirnhälfte und Ondragon schlug sich die Hände an die Schläfen, kurz bevor er zum Klo stolperte und Austern und Bier dem Mississippi übergab.