14. Kapitel

In den Bergen nördlich von Nan Margot, Süd-Haiti

Die schlurfenden Schritte kamen näher, und die beiden jungen Männer sprangen auf und drohten der Dunkelheit vor dem Zaun mit ihren Macheten. Christine duckte sich in den Schatten ihrer Mutter und wartete, dass die Priesterin etwas tat. Doch die murmelte nur etwas vor sich hin, das wie eine Beschwörung klang, blieb aber ansonsten wie angewurzelt stehen.

Ein leises, kaum hörbares Stöhnen schwebte in der kühlen Nachtluft zu ihnen herüber.

Christine starrte mit aufgerissenen Augen in die Richtung, aus der der Laut gekommen war. Ist das mein Vater dort draußen? Der Gedanke jagte ihr Angst ein, hauchte ihr ins Gesicht wie kalte Grabesluft. Sie wollte Etienne Dadou nicht noch einmal gegenüberstehen, wollte ihn nicht noch einmal ansehen müssen – nicht so, nicht als Zombie. Mit Schrecken erinnerte sie sich an die Verstümmelungen, die er sich in seiner Rage zugefügt hatte, als er das Gris-Gris aus seinem Mund hatte ziehen wollen. Sie hörte das Knacken seines Kiefers und das unartikulierte Gurgeln aus seiner Kehle, sah das fast schwarze Blut.

Plötzlich rührte sich die Mambo. Sie griff in ihre Tasche, holte etwas heraus, das aussah wie ein Dolch und rief den beiden Männern zu, sie sollten ihr folgen. Dann verschwand sie in der Dunkelheit. Die beiden Gehilfen blickten einander zögernd an.

Allez, dare-dare!“, erklang es fordernd aus den Schatten, und schließlich beeilten sich die Männer, der Priesterin hinterherzulaufen.

Zurück blieben Christine und ihre Mutter, die zwar beruhigend auf ihre Tochter einredete, gleichzeitig aber nach der Machete griff, die zu ihren Füßen lag. Christine klammerte sich an ihren Arm. In ihr tobte ein Konflikt. Sie wusste, dass ihre Mutter die Einzige unter ihnen war, die noch immer glaubte, ihr Ehemann könne gerettet werden. Davon waren weder die Mambo noch die beiden Gehilfen überzeugt gewesen. Auch Christine hatte von vornherein geahnt, dass die Mambo ihren Vater würde töten müssen, um ihn vom Fluch zu befreien. Es gab keinen anderen Weg, denn sie hatte ihn gesehen, hatte seine gewaltige Kraft und seinen für alle Zeit zerstörten Geist gespürt. Etienne Dadou war längst verloren.

Der herbe Geschmack von Furcht stieg in Christines Kehle auf. Was, wenn die Mambo nicht mächtig genug war? Nicht stark genug, um den Zombie zu besiegen? Sie warf ihrer Mutter einen verstohlenen Blick zu. Sie musste ihr davon erzählen. Nur wie? Wie konnte sie ihr beibringen, dass Etienne Dadou nichts anderes mehr war als ein brutales, entstelltes Monster? Christine wand sich wie unter Schmerzen.

Geräusche drangen von jenseits des Zauns zu ihnen herüber. Es raschelte und knackte laut im Gestrüpp, und Rufe ertönten, so als hätten die Priesterin und ihre beiden Begleiter die Jagd aufgenommen. Als Bestätigung hallte ein empörtes Jaulen von den Bäumen wider – die Stimme des Zombies. Die Rufe der Jäger wurden erregter. Christine hörte heraus, wie jemand „Vorsicht!“ rief, dann einen entsetzten Schrei. Danach war es wieder still. Obwohl sie am ganzen Leib zitterte, sprang sie auf.

„Die Mambo wird es schaffen, Christine. Ich bin sicher, dass sie die Richtige ist, nur sie kann Etienne retten. Komm zu mir, dir wird nichts geschehen.“ Ihre Mutter wollte sie an sich ziehen, doch Christine rührte sich nicht. Sie biss sich auf die Lippen. Nur allzu gerne wollte sie den Worten ihrer Mutter glauben, doch sie konnte nicht. Sie hatte dem Zombie gegenübergestanden, war Zeuge seiner wilden übernatürlichen Kraft geworden. Düstere Vorahnungen drängten sich ihr auf. Und plötzlich konnte sie die Gewissheit spüren, die wie ein Nagel in ihr Fleisch geschlagen wurde: Die Mambo, so achtunggebietend und einflussreich sie auch sein mochte, würde keine Gewalt über dieses Wesen haben. Die Diabs, die der Bokor rief, waren zu mächtig, sie würden die Priesterin töten.

Unvermittelt setzte das Geschrei vor dem Zaun wieder ein. Es klang, als hätten die Jäger ihr Opfer umzingelt, denn auch das Jaulen wurde aggressiver. Wie ein Tier in Bedrängnis brüllte der Zombie seine Verfolger an.

Abrupt drehte Christine sich zu ihrer Mutter um und sah sie eindringlich an. „Mama, ich habe ihn gesehen! Papa … er ist nicht mehr er selbst … und wird sie töten!“ Sie sah, dass ihre Mutter ihr nicht glaubte. Sie packte sie beim Arm und schüttelte sie. „Mama, ich bitte dich! Lass uns verschwinden!“ In ihrem Rücken steigerte sich das Geschrei zu einem wilden Kampfgeheul. Der Tumult klang furchterregend.

Die Teufel zerfleischen sich gegenseitig, dachte Christine und zog ihre Mutter mit sich. Sie mussten hier verschwinden, sonst säßen sie innerhalb des eingezäunten Bereiches in der Falle. Aber Cécile Dadou war zu verängstigt, um sich bewegen zu können. Christine nahm ihr die Machete aus der Hand und zog sie mit Gewalt am Arm mit sich.

Nur wenige Herzschläge später erreichten sie das Loch im Zaun und schlüpften hindurch. Das Kampfgeschrei nahm eine unerträgliche Intensität an. Eine Person kreischte ihre Panik in unverständlicher Artikulation heraus. Es klang wie ein Schwein, dem die Kehle durchstoßen wird. Sie drängte ihre Mutter, noch schneller zu laufen, fort von den schrecklichen Geräuschen des Gemetzels, von dem sie längst ahnte, wie es ausgehen würde. Dann nahm das Schreien ein jähes Ende, und mehrere dumpfe Schläge schallten hinter Christine und ihrer Mutter in die Nacht. Das Blut gefror ihr in den Adern. Das hörte sich an wie … wie eine Machete, die Fleisch zerhackte, dachte sie und erkannte im selben Moment voller Grauen, dass sie nicht mehr wusste, wo sie sich befanden. Die Bäume, Steine und Sträucher sahen im Dunkeln aus wie überall, und Christine hatte keine Ahnung, wo sich der Weg zurück zum Grat oder zum Dorf befand.

In ihrer kopflosen Flucht hatte sie den Fehler begangen, einfach loszurennen, ohne darauf zu achten, wohin. Tränen stiegen ihr in die Augen. Tränen der Wut auf sich selbst! Weil sie es nicht geschafft hatte, ihrer Mutter alles zu erzählen. Weil sie zu feige gewesen war, ihr zu erklären, dass Etienne Dadou längst tot war! Es war ihre Schuld, dass Menschen starben – in diesem Augenblick, zerrissen und zerstückelt von einem Zombie. Sie war schuld. Heulend zog sie ihre paralysierte Mutter mit sich, die nicht begreifen konnte, was da hinter ihnen her war.

Während sie lief, spürte Christine, wie der Boden unter ihren Füßen allmählich abfiel. Dann waren sie also doch auf dem richtigen Weg nach unten zum Dorf. Sie zog an der Hand ihrer Mutter. „Komm, Mama, wir schaffen es. Bald sind wir zu Hause.“

Dass sich ihre Annahme als ein folgeschwerer Irrtum erwies, bemerkte sie erst, als es zu spät war. Das Gelände wurde felsiger, und sie schürften sich die Köchel an den scharfkantigen Geröll auf. Mehrmals stürzte Christine auf dem unwegsamen Hang und schlug mit der nackten Haut auf Gestein. Auch ihre Mutter stolperte und prallte unglücklich mit der Schulter gegen einen Felsblock, wo sie vor Schmerzen stöhnend zusammenbrach. Christine hörte plötzlich Schritte aus dem Dunklen auf sie zukommen. Der Zombie folgte ihnen! Sie wollte ihre Mutter hochziehen. „Los, komm! Wir müssen weiter. Er ist hinter uns her! Ich höre ihn.“

„Christine! Ich … ich kann nicht. Ich glaube, mein Arm ist gebrochen.“ Cécile betastete ihren Oberarm.

„Aber, Mama, wir müssen weiter, sonst …“

„Lass mich hier“, wehrte ihre Mutter ab.

„Nein!“ Christine zerrte an der erlahmten Gestalt. „Bitte! Er kommt!“

„Lass ihn kommen, ich–“

Ihre Mutter konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn ein großer Schatten fiel von oberhalb des Hangs auf sie herab. Mit eiskaltem Entsetzen erkannte Christine das unförmige Gesicht ihres Vaters. Doch ehe sie eine Warnung ausstoßen konnte, packte der Zombie ihre Mutter brutal an den Haaren und zerrte sie mit Gewalt zu sich hin.

Cécile Dadou schrie schrill auf und versuchte verzweifelt, sich aus dem Griff zu befreien. Todesmutig warf sich Christine, die Machete zum Schlag erhoben, auf das albtraumhafte Monster. Sie musste ihrer Mutter helfen. Cécile war die Einzige, die von ihrer Familie noch übrig war!

Der Zombie aber sah sie kommen. Mit einem Ruck seiner Faust brach er Cécile Dadou das Genick und hob die andere zur Abwehr. Christine hörte zuerst das Knacken der Halswirbel ihrer Mutter und dann das Knirschen ihres eigenen Jochbeins, bevor die Faust ihres Vaters ihr das Gesicht zerschmetterte. Wie ein Feuerwerk aus grellen Lichtnadeln explodierten die Schmerzen in der plötzlichen Stille ihrer Gedanken. Benommen prallte Christine von der Faust zurück und stürzte mit dem Rücken voran ins Leere. Nach einer vermeintlichen Ewigkeit des Fallens schlug sie heftig auf dem Boden auf und verlor das Bewusstsein.