1. Kapitel

04. Februar 2010

Los Angeles, Kalifornien

7.25 Uhr

Der Morgen war dunstig und die Sicht über L.A. mies. Trotzdem schaute Paul Ondragon durch das armdicke Teleskop. Das lichtstarke Okular erfasste das schattenhafte 28-stöckige Hochhaus am Sunset Boulevard zu Füßen der westlichen Hollywood Hills, und Ondragon stellte es scharf. Die einzelnen Fenster an der Nordfassade des Gebäudes der Golden State Credit Bank waren gut zu erkennen. Hinter einigen davon konnte er schon Menschen bei der Arbeit sehen. Bläulich leuchteten ihre Computermonitore. Das waren die frühen Vögel. Ihnen würde er sich gleich anschließen. Doch vorher same procedure as every morning.

Ondragon schwenkte das Teleskop auf das oberste Stockwerk, auf das letzte Bürofester ganz links. Er blickte auf die Uhr. Kurz vor halb acht. Er ließ eine Minute verstreichen. Dann sah er, wie das Licht in dem Büro angeschaltet wurde, und ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. Kurz darauf erschien Charlize Tanaka am Fenster des Büros und goss die Yuccapalme auf der Fensterbank mit einer roten Gießkanne. Das war das verabredete Zeichen. Alles in Ordnung. Keine Unregelmäßigkeiten.

Einen Moment lang schaute seine Assistentin aus dem Fester und setzte sich dann an ihren Schreibtisch.

Es war kein Zufall, dass Paul Eckbert Ondragon im obersten Stockwerk jenes Bankgebäudes sein Büro hatte. Das gesamte Hochhaus war so sicher wie Fort Knox gegen Einbrüche geschützt (naja, fast wie Fort Knox) und, was viel wichtiger war, von seiner Villa am Doheny Drive aus gut zu beobachten. Das Gebäude bot ihm den optimalen Arbeitsort – obwohl es sich dabei ironischerweise um eine Bank handelte und seine Prinzipien es ihm verboten, jemals für Banken zu arbeiten. Dennoch sprach nichts dagegen, in einer Bank zu arbeiten. Schließlich wurden Banken durch modernste Überwachungstechnik geschützt, und dieses spezielle Kreditinstitut verfügte gleich über mehrere ausgeklügelte Fluchtwege für ihn und Charlize – falls es mal brenzlig werden sollte. Aber wer brach schon bei einer Bank im obersten Stockwerk ein, wenn sich der Tresor im Keller befand?

Zufrieden wandte sich Ondragon vom Teleskop ab, das vor dem großen Panoramafenster im Wohnzimmer aufgebaut war, und ging zum Tresen der offenen Küche, wo der dreifache Espresso auf ihn wartete, den er morgens stets zu sich zu nehmen pflegte. Mit einem großen Schluck leerte er die Tasse, griff nach seinem Jackett, das auf der Stuhllehne am Esstisch hing, und fühlte routinemäßig in seiner Hosentasche nach dem Autoschlüssel. Dabei fuhren seine Finger über den Talisman, der an dem Schlüssel hing, ein kitschiger Berliner Bär, der ihm vor einigen Jahren das Leben gerettet hatte.

Alles war an seinem Platz, er konnte sich also beruhigt auf den kurzen Weg zur Arbeit machen. Als er gerade die Haustür öffnen wollte, klingelte sein Handy. Mit gerunzelter Stirn fischte er das iPhone aus dem Jackett, sah auf das Display, und die Falten auf seiner Stirn wurden noch tiefer. Die Vorwahl der Nummer war die der Vereinten Arabischen Emirate, jedoch hatte er dort im Moment keinen Auftrag laufen.

Nach einem weiteren Klingeln beschloss er dranzugehen. „Ondragon!“

„Hi, Ecks! Bis du gerade bei einem Job, oder können wir sprechen?“

Ecks – das war eine etwas eigenwillige Abkürzung für Eckbert. Und nur ein Mensch auf der ganzen Welt nannte ihn so. Ondragons Züge erhellten sich. „Rod! Na so was! Schön, von dir zu hören. Nein, ich bin frei, du kannst sprechen. Was gibt es denn? Und warum hast du eine Nummer aus den UAE?“

„Ach, weißt du, ich habe das Mainoffice von DeForce Deliveries vor zwei Monaten von Mombasa nach Dubai verlegt. Hier hat man mir einfach bessere Konditionen angeboten. Und, wo treibst du dich rum?“

„Du wirst es nicht glauben, Rod, aber ich bin zu Hause.“

„Nicht zu fassen. Das ist aber ein seltener Zustand.“

„Kannst du wohl sagen, die Geschäfte laufen nicht schlecht in letzter Zeit. Die Mädels von American Airlines sehe ich öfter als meine Assistentin im Büro. Und wie steht‘s bei DeForce?“

„Ich kann nicht klagen. Die Krisenherde der Welt werden nicht weniger, und überall benötigt man unsere Spezialtransporte. Aber das ist nicht der Grund, warum ich dich anrufe, Ecks. Ich meine, um mit dir über das Business zu plaudern.“

Vielleicht hatte Ondragon sich das eingebildet, aber sein alter Freund klang beim letzten Satz auf einmal nicht mehr ganz so fröhlich. „Sondern?“, hakte er nach.

„Nun, Ecks, es ist so … ich brauche deine Hilfe!“

Ondragon legte das Jackett beiseite und setzte sich auf den Stuhl am großen Esstisch. Wenn Roderick DeForce seine Hilfe benötigte, dann musste er wirklich tief in der Scheiße stecken. „Schieß los“, sagte er.

„Einer meiner Mailmen ist verschwunden. Du kennst ihn nicht, er ist erst seit vier Jahren bei uns. Aber er ist ein sehr guter Mann. Zuverlässig. Tyler Ellys heißt er und wohnt in Tucson. Er bearbeitet zusammen mit ein paar anderen Kollegen Mittel- und Südamerika.“

„Ich wusste gar nicht, dass du auch auf unseren Kontinent expandiert hast.“

Der Boss von DeForce Deliveries lachte. „Tja, man geht mit der Zeit, obwohl das meiste immer noch in der arabischen Welt und in Afrika zu holen ist. Daran hat sich nichts geändert, seit du uns verlassen hast, Ecks. Was ich im Übrigen immer noch bedauere. Aber du warst schon immer auf einem ganz anderen Zug unterwegs. Einem Expresszug mit defekten Bremsen.“

„Sehr charmant, Rod.“

„Du weißt, wie sehr ich dich schätze, Ecks.“

In der Tat, das wusste Ondragon. Der fünfzehn Jahre ältere Roderick DeForce hatte ihn unter seine Fittiche genommen, als er in der wirren Zeit nach seinem Studium nicht so recht gewusst hatte, wohin mit sich und seinem beinahe krankhaften Zwang, jedes Problem lösen zu wollen, das sich ihm darbot. Der gebürtige Brite hatte Ondragons ungewöhnliches Talent erkannt und ihn zu DeForce geholt. Dabei hatte Rod seinem Schützling nicht nur uneingeschränktes Vertrauen in seine Fähigkeiten geschenkt, er war auch so etwas wie eine Vaterfigur für ihn gewesen.

Mehr Vater, als der Mann, der mich aufgezogen hat, dachte Ondragon bitter. Die Zeit bei DeForce Deliveries war eine verdammt gute gewesen. Dort hatte er viele „nützliche“ Dinge gelernt, die ihm jetzt zugute kamen.

„Und was hat es jetzt mit diesem Tyler Ellys auf sich?“, fragte er seinen ehemaligen Boss.

„Nun, wie ich schon sagte, er ist verschwunden. Den genauen Zeitpunkt kenne ich nicht, aber er ist gestern nicht bei seinem Job aufgetaucht. Er hatte seine Order via Bulletinboard im Internet bekommen wie üblich, aber die anderen Jungs haben vergeblich am Flughafen von Buenos Aires auf ihn gewartet. Ellys war immer zuverlässig. Dass er nicht erschienen ist, sieht ihm nicht ähnlich. Ich habe einen Springer zu ihm nach Tucson geschickt, um nachzusehen, wo er steckt. Sein Haus ist leer, sein Auto steht in der Garage. Keine Spur von Ellys.“

„Und was sagt die Polizei dazu? Du hast sie doch sicher eingeschaltet.“

„Das ließ sich nicht vermeiden. Die Cops haben Ellys‘ Haus oberflächlich untersucht, aber nichts gefunden. Auch die Nachbarn haben nichts gesehen, absolute Fehlanzeige.“

„Und was gedenkt die Polizei zu unternehmen?“

„Ach, du weißt doch, wie die Truppe ist“, schnaubte Rod wütend. „Wenn es keinerlei Hinweise auf eine Gefährdung der Person gibt, kommt der Fall auf den Ablagestapel. Und da liegt er dann zusammen mit sämtlichen Vermisstenfällen, die es in den USA seit Beginn des vorigen Jahrhunderts gegeben hat.“

„Vielleicht ist Tyler Ellys ausgestiegen“, gab Ondragon zu bedenken. „So etwas kommt doch immer mal wieder vor. Die Jungs verkraften nicht, was sie bei den Jobs zu sehen bekommen, und quittieren den Dienst.“

„Nicht Ellys. Der ist ein Ex-Navy-Seal. Ein ganz harter Bursche. Für den lege ich meine Hand ins Feuer. Der hat auch die schmutzigen Sachen erledigt, ohne mit der Wimper zu zucken.“

„Wo war er denn als letztes?“

„In Mexiko, Leichentransport von Monterrey nach Nuevo Laredo an der Grenze.“

Leichentransport. Was das hieß, wusste Ondragon noch zu gut. Eine kritische Ware wurde in einem Sarg und mit einer echten Leiche getarnt durch ungesichertes Gebiet an den Zielort überführt. Schwieriges Terrain, feindliche Kräfte, gefährliche Fracht – kein Problem. Für so etwas gab es DeForce Deliveries. Ein privater Lieferdienst sozusagen. Die Kundenliste war lang und erlaucht. Nicht nur Firmen buchten die Mailmen von DeForce, auch staatliche Behörden, wenn diese mit ihren herkömmlichen Mitteln nicht mehr weiterkamen. Ondragon hatte selbst solche Transporte in Somalia und Afghanistan durchgeführt, als er Anfang der Neunziger bei DeForce unter Vertrag gestanden hatte. Riskante Missionen, die nicht wenige Männer das Leben gekostet hatten. Aber er war damals stolz darauf gewesen, einer dieser knallharten Mailmen zu sein – denn Rod beschäftigte nur die besten und abgebrühtesten Männer.

Gegen alle Vermutungen war DeForce ein legales Unternehmen. Ein Dienstleister wie Fed Ex, nur eben von der extremen Sorte. Und Roderick DeForce war Gründer und Haupteigner der Firma, die er 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer ins Leben gerufen hatte, zunächst mit Sitz in Kairo. Aber auch wenn Rod selbst nicht rausging, hielt er doch wie eine Spinne im Netz alle Fäden in der Hand und überwachte sämtliche Aktionen von seinem Büro aus. Daher lautete sein Deckname innerhalb der Firma auch „Spider“.

Spider hörte alles und sah alles, denn er besaß Zugang zu mehreren privaten wie staatlichen Satelliten. Er wusste immer, welche Aktion wo stattfand und mit welcher Crew. Ondragon hegte den Verdacht, dass das Verschwinden von Tyler Ellys seinen Freund gerade aus diesem Grund wurmte. Rod hatte einen Mitarbeiter aus den Augen verloren und das bedeutete, er hatte keine Kontrolle mehr über ihn. Ondragon wusste, wie sehr Rod es hasste, wenn sich jemand oder etwas seinem Einfluss entzog.

„Und was genau willst du jetzt von mir?“, fragte er seinen alten Tutor.

Roderick DeForce zögerte, als fiele es ihm schwer, seinen ehemaligen Mitarbeiter um einen Gefallen zu bitten. Ondragon fragte sich, was seinen Freund bewogen hatte, ausgerechnet ihn zu kontaktieren. Hatte Rod doch jede Menge fähiger Leute in seinen eigenen Reihen.

Vielleicht ist es etwas Internes, dachte er. Etwas, das nur ein Außenstehender erledigen kann. Jemand, der sein absolutes Vertrauen genießt.

„Ecks, das klingt jetzt womöglich etwas banal, aber ich möchte dich damit beauftragen, Tyler Ellys zu finden“, sagte Rod schließlich. „Meine Leute sind dafür nicht ausgebildet. Das sind keine Detektive.“

„Das bin ich auch nicht.“

„Ich weiß, Ecks, Vermisstenfälle sind viel zu trivial für dich, du brauchst anspruchsvollere Nüsse zum Knacken.“

„Rod, bei aller Liebe, ich …“

„Ich bitte dich als Freund. Und selbstverständlich erhältst du ein Honorar zu deinen üblichen Konditionen. Außerdem sollte der Fall trotz allem eine gewisse Herausforderung für dich darstellen, wenn ich dir erzähle, was mein Springer im Haus von Ellys gefunden hat, bevor die Polizei es finden konnte.“

Ondragon seufzte. Konnte er seinem alten Freund diesen Gefallen abschlagen? Natürlich nicht. Außerdem siegte wie immer seine Neugier. „Einverstanden, Rod. Dann mal los. Was hat er gefunden?“

„Vielen Dank, Ecks. Ich stehe tief in deiner Schuld.“

„Schon gut, lad‘ mich einfach mal in dein neues Büro nach Dubai ein.“

„Das Ticket ist schon gebucht!“ Rod lachte kurz auf. Er schien erleichtert zu sein. Dann wurde er wieder ernst. „Also, mein Springer verschaffte sich Zutritt zum Haus. Die Räume sahen aus, als hätte Ellys sie eben erst verlassen. Im Wohnzimmer lief der Fernseher und drei leere Bierdosen standen neben einem Dutzend vollen. Sonst war nichts Ungewöhnliches zu entdecken, trotzdem durchsuchte der Springer sorgfältig das Haus, wie ich es ihm aufgetragen habe. In der Mülltonne fand er schließlich einen zerknüllten Brief. Es war ein weißer Umschlag mit nur einem Bogen Papier darin. Darauf stand – und das ist seltsam – auf Französisch: Tyler Ellys, dein Körper soll eine leere Flasche sein. Darunter war ein Sarg gemalt.“

„Und was soll das bedeuten? Ist das eine Morddrohung?“ Ondragon war nicht sonderlich beeindruckt von dieser Enthüllung. Seine Motivation für diesen Fall wollte nicht so richtig in Gang kommen.

„Ich weiß es nicht. Der Springer hat den Brief. Du solltest dich mit ihm in Tucson in Verbindung setzen, ich schicke dir seine Nummer per SMS. Er kann dir alles erzählen, was er weiß.“

Ondragon überlegte. Ein verschwundener Mailman, ein Brief auf Französisch, keine Spuren. Das klang nicht gerade spannend. Jedoch bat Roderick DeForce persönlich um seine Mithilfe und das allein machte den Fall interessant. „Nun gut“, lenkte Ondragon ein, „mein Mustang müsste sowieso mal wieder bewegt werden. Ich mache mich so bald als möglich auf den Weg. Ich melde mich, wenn ich in Tucson bin.“

Am anderen Ende erklang ein erleichtertes Seufzen. „Vielen Dank, Ecks.“

„Nichts zu danken.“

„Und pass auf dich auf!“

Nachdem er aufgelegt hatte, starrte Ondragon das Telefon an. In all der Zeit, die er für Roderick DeForce gearbeitet hatte, hatte dieser niemals Pass auf dich auf! gesagt. Merkwürdig, dass er es ausgerechnet jetzt tat. Aber vielleicht war sein Freund auch einfach alt geworden. Und das Alter brachte bekanntlich nicht nur körperliche Gebrechen mit sich, sondern auch das Gespenst der Angst. Und war es erst einmal erschienen, haftete es an einem wie eine Krankheit.

Je länger Ondragon darüber nachsann, desto stärker überkam ihn das Gefühl, dass mehr hinter dem Verschwinden von Tyler Ellys stecken könnte, als er zunächst angenommen hatte. Und auch mehr, als Rod am Telefon hatte zugeben wollen.

Er drückte auf die Wahltaste und rief Charlize an. Heute würde er nicht ins Büro kommen.