29. Kapitel

16. Februar 2010

Haiti, in der Mine

Das Labor von Darwin Inc.! Die Bruthöhle des Bösen!

Ondragon prüfte noch einmal den Sitz seiner Gasmaske und kroch durch das Loch auf die andere Seite, wo er sich im Korridor bequem aufrichten konnte. Sich auf alle Szenarien einstellend, aber auch mit unkontrolliert wachsender Neugier ließ Ondragon den Lichtstrahl seiner Lampe durch den weißgetünchten Flur wandern. Er sah sieben verschlossene Stahltüren mit kleinen Fenstern, vier links, drei rechts. Eine achte lag am Ende des Ganges.

Ondragon beleuchtete die Schilder neben den Türen: Office, Archive/Storage, Kitchen/Canteen, Lab III, Staircase/Exit, Lab I, Lab II, Greenhouse.

Am anderen Ende des Flurs angelangt, öffnete er zunächst den Zugang zum Treppenhaus. Dahinter tat sich ein weiterer kleiner Raum mit einer noch massiveren roten Stahltür auf, die deutliche Dellen nach innen aufwies. Er versuchte, sie zu öffnen. Es gelang ihm aber nur einen winzigen Spalt breit, denn auf der anderen Seite versperrte etwas Schweres den Weg. Ondragon leuchtete in den Spalt und sah staubige Gesteinsbrocken, die bis unter die Decke aufgetürmt waren. Das musste der Schacht gewesen sein, den die Mailmen erfolgreich gesprengt und verschlossen hatten. Keine Chance, da irgendwie nach oben zu kommen. Ondragon ließ von der Schutztür ab und wandte sich der nächsten zu. Lab I. Unter dem Fenster der Tür prangten gleich mehrere Warnhinweisschilder aber kein Biohazard-Symbol.

Er drückte die Klinke, betrat den dunklen Raum hinter der Tür und sah sich um. Er erkannte die für ein Labor typische Einrichtung. Stahlregale voll mit Glasbehältern, Computermonitore, Mikroskope und andere technische Gerätschaften, geflieste Tische, darauf Schalen und Phiolen mit Alufolie bedeckt, Schränke mit und ohne Glastüren, darin Petrischalen und wieder unzählige Flaschen aus braunem und weißem Glas, Pipetten, Pinzetten und weitere Utensilien. Nur, dass durch das Erdbeben alles neu gemischt worden zu sein schien. Einiges Mobiliar war verrückt worden und zu Bruch gegangen. Nicht identifizierbare Flüssigkeiten waren aus zerborstenen Behältern ausgetreten und hatten sich auf dem Fußboden zu einer Lache vereint, die allerdings schon längst eingetrocknet war und an den Rändern kristallin glitzerte.

Die Wände des Labors waren durchzogen mit frischen Rissen. Betonstaub war daraus hervor gerieselt. Lichtkästen wie aus einer altmodischen Röntgenpraxis hingen schief neben Whiteboards, die mit Formeln beschriftet und Bildern von Helixmodellen und sequenzierten, senkrechten Strichcodes behängt waren. Ondragon besah sich die abgebildeten Codes näher. Die ungleichmäßig hell und dunkel gestreiften Abschnitte wurden von allen nur erdenklichen Kombinationen der Buchstaben A C G T flankiert, welche, so wusste er noch aus dem Biologieunterricht, die vier Nukleinbasen in der DNA betitelten. Doch das war es auch schon mit seinem bescheidenen Wissen über die Genetik, und leider konnte er nirgendwo einen für ihn verwertbaren Hinweis darauf entdecken, an was genau hier geforscht worden war. Mit den kryptischen Notizen am Whiteboard konnte er beim besten Willen nichts anfangen, und einen Organismus anhand seiner Gensequenz zu erkennen, beinhaltete sein recht gut ausgestattetes Repertoire an Fähigkeiten bisher nicht.

Er leuchtete in die Bechergläser auf einem der Tische, in denen jemand portionsweise ein gelbliches Pulver gefüllt hatte. Auf dem Etikett einer Plastikspritzflasche daneben stand aqua dest.

Ondragon ging zu einem der Whiteboards zurück, machte einige Fotos mit einer kleinen Kamera, die er mitgenommen hatte, und zog anschließend eine der Sequenzierungen mit dem Titel DWIN 411-Crypt unter einem Heftmagnet weg. Er faltete das Papier zusammen und steckte es in eine der Seitentaschen an seiner Hose.

Dann verließ er das wenig aufschlussreiche Labor und blieb einen Moment vor der nächsten Tür mit der Aufschrift Lab II stehen. Unheilvoll leuchtete das gelbe Dreieck mit dem Symbol für biologische Gefahren im Licht seiner Stirnlampe. Er starrte lange darauf, bis sein Blick auf eine Unregelmäßigkeit in der Gesamtstruktur gelenkt wurde, ein Fehler im Bild. Fünf bräunliche Streifen waren von innen an das kleine, mit Sicherheitsdraht durchzogene Fenster über dem Warnschild geschmiert worden.

Blut, sagte ihm sein Instinkt, und er zog die Waffe aus dem Holster, auch wenn es kaum eine Möglichkeit gab, dass hier unten noch jemand am Leben war. Das Beben hatte vor über einem Monat stattgefunden und selbst wenn die Labormitarbeiter Vorräte gehabt haben sollten, konnten die nicht bis in alle Ewigkeit gereicht haben. Wie viele wohl hier in dem Labor gearbeitet haben mochten? Vier tote Mitarbeiter hatten die Mailman ja in den Schacht gebracht.

Auf das Schlimmste gefasst, machte Ondragon mit einer Hand die Tür auf. In einer Schleuse, die sich dahinter befand, hingen gelbe Schutzanzüge mit großen Gesichtsmasken, die ihn anstarrten wie Zyklopenaugen. Er schoss ein paar Bilder und drehte sich um. Auf der Innenseite der Tür verliefen die rostbraunen Steifen vom Fenster bis zur Klinke, wo sich zwei Handabdrücke befanden. Jemand musste versucht haben, sie zu öffnen. Die Frage war nur, wo hielt sich dieser Jemand jetzt auf? Noch in Labor II, oder irgendwo anders in dieser unterirdischen Anlage? Ondragon trat an die nächste Tür, die ebenfalls ein Sichtfenster besaß, und blickte hindurch. Sein Atem in der Maske stockte und seine Hand gefror auf dem Knauf.

In einer zweiten Schleuse lagen zwei Körper.

Ein Mann und eine Frau mit zerzausten dunklen Haaren. Zwei Weiße. Das glaubte er zumindest im grell reflektierenden Licht seiner Lampe zu erkennen, denn die Haut der Toten hatte die eher fahle Farbe von Brühwurst. Von beuliger Brühwurst. An unzähligen Stellen an Kopf und Hals der aufgedunsenen Leichen wölbten sich hühnereigroße Beulen hervor. Sie sahen aus, als seien sie in einen Schwarm von Killerhornissen geraten.

Sachte zog Ondragon seine Hand wieder vom Knauf zurück. Diesen Raum und den angrenzenden Sicherheitsbereich würde er nicht betreten, auch wenn es ihm noch so sehr in den Fingern juckte, aber dafür war er einfach nicht ausgerüstet. Er hatte sich schon jetzt einem viel zu großen Risiko ausgesetzt. Was, wenn der Erreger, der hier offensichtlich ausgebrochen war, nicht nur über die Atemwege in den menschlichen Körper gelangte?

In seinem Hinterkopf glomm wie eine Signalrakete hell und heiß die Panik auf, doch schnell löschte er ihre unheilflüsternde Hitze mit einer dicken Schaumschicht aus Vernunft und zog sich aus der ersten Schleuse zurück auf den Korridor. Nachdem er die Tür hinter sich verschlossen hatte, wandte er sich nach rechts.

Bleib ruhig! Noch ist nicht klar, was die Darwin-Leute getötet hat. Es könnte auch etwas Anderes gewesen sein als ein tödlicher Erreger. Um sich abzulenken, las er das nächste Schild: „Greenhouse.“ Was mochte ihn wohl hier erwarten? Ondragon holte unter seiner Maske tief Luft und ließ die Tür aufschwingen. Die Pistole vor sich gerichtet, tauchte er einen Schritt nach dem anderen in die schwüle Dunkelheit ein, die sofort den Schweiß aus seinen Poren treten ließ.

Wieder betrat er eine Art Schleuse, die vier Mal so groß war wie die davor. Als Einrichtung gab es mehrere große Becken mit Wasserhähnen, einen langen, gelben Schlauch, der sorgfältig aufgerollt an einer Wandhalterung hing, einen großen Edelstahltisch, auf dem ein Stapel transparente Plastiktüten und so etwas wie eine große Zuckerschaufel neben einer Waage und einem Klemmbrett lagen. Auf der gegenüberliegenden Seite leisteten zwei verstummte Kühlschränke einem Ungetüm von Stahlschrank Gesellschaft, bei dem es sich mit Sicherheit um einen Trockenschrank handelte. Ondragon hatte so etwas schon einmal im Haus-Labor von Dr. Strangelove gesehen.

Er warf zuerst einen Blick in die Kühleinheiten, die schon seit einem Monat keinen Strom mehr hatten. Sorgfältig aufgereihte und mit unleserlichen Kürzeln beschriftete Plastikbehältnisse, in denen sich dunkle, verschimmelte Klumpen befanden, schauten ihm entgegen. Wahrscheinlich Proben.

Nur – Proben wovon?

Er ging zu dem klobigen Trockenschrank und zog die Türen auf. Auf Stahlrosten standen Blechschalen ordentlich in Reih und Glied. In den Schalen je eine Handvoll gelber, brauner und rötlicher Körner. Anscheinend Mais.

Mais!

Ondragon rief sich den Artikel über den Genmais von Darwin Inc. ins Gedächtnis. DWIN 411! Vor nicht einmal zehn Minuten hatte er einen Hinweis darauf in die Tasche gesteckt und es nicht gemerkt. Er holte das Papier hervor und faltete es auseinander. DWIN 441-Crypt. Was für eine Sorte Mais war das wohl? Auf jeden Fall musste sie so geheim sein, dass hier in einem hermetisch abgeriegelten und weit außer Landes verlagerten Hochsicherheitstrakt daran geforscht wurde. Geheim oder gefährlich?

Vermutlich beides.

Ondragon steckte das Bild mit der Gensequenz wieder ein, machte Fotos von dem Raum und trat vor die Schiebetür, die in einen weiteren dunklen Bereich führte und deren Glasscheibe zu einem Spinnennetzmuster gesprungen war. Er schob die Tür auf, an der kein Warnhinweis zu sehen war, und fand sich in einem unterirdischen Wald wieder.

Einem Wald aus Maispflanzen.

Fasziniert blickte er sich um. Der Raum war riesig. Nicht besonders hoch, aber dafür erstreckte er sich geschätzte dreißig Yards in den Berg. An der roh behauenen Felsendecke hingen in regelmäßigen Abständen UV-Lampen und Stromleitungen, und eine Art Bewässerungssystem aus schwarzen Schläuchen durchzog netzartig den ganzen Raum. Das Ganze war ein unterirdisches Gewächshaus mit künstlichem Sonnenlicht und Berieselungsanlage. Ondragon staunte nicht schlecht. Die alte Silbermine war weitläufiger, als er gedacht hätte, und Darwin Inc. hatte offenbar keine Kosten und Mühen gescheut, hier eine hochtechnologische Forschungseinrichtung entstehen zu lassen. Das alles musste Millionen von Dollar gekostet haben! Millionen von Dollar, deren Investition sich aus Sicht von Darwin Inc. auszahlen musste, denn sonst hätten sie niemals so viel Aufwand betrieben.

Die Madame hatte wohl recht damit gehabt, als sie behauptete, ein Projekt dieser Größe könne unmöglich von der Obrigkeit des Inselstaates unbemerkt bleiben. Die haitianischen Behörden mussten davon gewusst haben, und er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie nur zu gerne den Koffer mit dem Schweigegeld von der amerikanischen Biotech-Firma angenommen hatten.

Aufmerksam setzte er seine Suche nach Hinweisen fort, streifte durch die Reihen von hochgewachsenen Maispflanzen, die einzeln in Kübeln herangezogen worden waren, und schoss Bilder. Leider waren die Stauden mittlerweile vertrocknet und sahen aus wie dürre Knochenskelette. Ihre vergilbten Blätter hingen herab und raschelten, als er mit einer Hand darüberfuhr. Nur die reifen Kolben ragten vom Stamm der Pflanzen ab wie mahnende Zeigefinger. Ondragon brach einen davon ab und pellte ihn aus der Schicht aus Fruchtblättern. In einem willkürlichen Mix aus Gelb und Rot wanden sich die Maiskörner um den Kolben.

Ondragon kannte sie von mexikanischen Restaurants her, wo sie oft als Dekoration verwendet wurden.

Aber du hast solche Maiskörner auch noch woanders gesehen – erst kürzlich! Kurz blitzte es in seinem Gedächtnis auf. Überleg doch mal ganz scharf. Wo war das gewesen? Er fühlte es in seinem Innern pochen. Diese Art von bunten Körnern war ihm vor nicht allzu langer Zeit untergekommen. Nur wo, verdammt nochmal? In Tucson im Hotel Congress? Dort hatten sie ihre Eingangshalle ja mit allerhand mexikanisch-indianischem Kitsch dekoriert. Oder war es in Madames Voodoo-Laden gewesen?

Die Erleuchtung wollte ihm einfach nicht kommen und deshalb wischte Ondragon die krampfartigen Zuckungen seiner Zentrifuge beiseite. Wahrscheinlich hatte es sowieso nicht mit dem Fall Darwin Inc. zu tun. Er warf den Maiskolben in den Blumenkübel und besah sich einige der Schildchen genauer, die an den Behältern angebracht waren.

DWIN 411-Crypt C034, DWIN 411-Crypt C035, DWIN 411-Crypt C036. Es waren ganz offensichtlich fortlaufende Nummern. Aber was hatte es bloß mit DWIN 411-Crypt auf sich? Was konnte diese Pflanze? Was machte sie so besonders, dass man sie hier in aller Heimlichkeit züchtete?

Er selbst würde hier unten womöglich niemals eine Antwort auf diese Fragen finden, nur ein Experte in Sachen Gentechnik konnte etwas mit diesen Pflanzen und den daran gekoppelten Experimenten anfangen. Er würde sich also Material besorgen müssen, um dieses dann später begutachten lassen zu können.

Rasch verließ Ondragon das Gewächshaus und steuerte auf die Tür mit der Aufschrift „Office“ zu. Dort erhoffte er sich, bessere und transportfähigere Beweise zu finden. In Form eines USB-Sticks zum Bespiel. Oder CDs. Er trat in das Büro, in dem mehrere Schreibtische mit Computern standen, ein offener Aktenschank und KEIN Bücheregal!

Er atmete auf und begann, sich die Schubladen vorzunehmen. Kurioserweise standen diese alle offen und waren durchwühlt worden. Auf dem Boden davor lag ein Durcheinander aus Zetteln und Schreibutensilien. Er wandte sich um. Auch der Aktenschrank gab keinerlei elektronische Speichermedien her. Als sei alles in dem Raum systematisch danach durchkämmt worden.

Ondragon überlegte und starrte dabei einen Riss in der Decke an. Die ganze Festplatte aus dem Computer auszubauen, würde zu lange dauern. Außerdem gab es im gesamten Laborbereich über ein Dutzend Rechner, und es war nicht klar, auf welchem sich die relevanten Daten verbargen.

Als er den Aktenschrank erneut durchforstete, fand er eine Mappe mit dem Firmenlogo und der Aufschrift DWIN 411-Crypt/ C-Class/ Lab III/ Hum. Exprmt. Er blätterte sie kurz durch, nahm seinen Rucksack ab und stopfte die Mappe und noch eine weitere, auf der Weedsweep II stand, hinein. Dann verließ er das Büro und begab sich nach nebenan in den Archiv-Raum, dessen rückwärtige Wand aus einem riesigen Apothekerschrank mit unzähligen Schubladen bestand. Auch hier standen einige der Schubfächer bereits offen. Es sah aus, als streckten sie ihm spöttisch die Zunge heraus und riefen: „Du kommst zu spät!“

Ondragon sah in die Fächer. Sie waren angefüllt mit kleinen durchsichtigen Tüten. Allerdings waren diese hier zugeschweißt, mit Klebeetiketten versehen und nach einem System geordnet. Auch hier dominierte die Bezeichnung DWIN 411-Crypt. Ondragon angelte drei der Tüten heraus und sah sie sich an. Rote und gelbe Maiskörner, immer zwölf an der Zahl, waren locker darin verpackt. Er steckte die Tüten in seine Tasche und sah auf die Uhr. Eineinhalb Stunden blieben ihm noch. Er hatte also ausreichend Zeit, die letzten beiden Räume zu untersuchen.

Als er die Kantine betrat, prallte er jählings zurück.

Der Raum glich eher einer Schlachthalle als einem Aufenthaltsraum.

An einer Wand befanden sich eine Spüle, ein umgekippter Kühlschrank und mehrere Schränke mit herausgefallenem und zerbrochenem Porzellan, und in der Mitte des Raumes war eine Reihe Tische mit Stühlen platziert. Ringsum zierten groteske Muster aus getrocknetem Blut die Wände, den Linoleumfußboden und das Mobiliar, sogar an der Decke waren Spritzer.

Das kalte Licht der Stirnlampe streifte die plumpen Körper von drei aufgedunsenen Leichen, die im Raum verstreut lagen. Angewidert verzog Ondragon das Gesicht und war heilfroh, durch seine Maske nichts riechen zu können. Er wandte sich nach rechts und betrachtete die erste Leiche einer Frau mit blonden Haaren, die direkt neben ihm mit geöffneten Augen und den Rücken an die Wand gelehnt dasaß, die Beine lang vor sich ausgestreckt. Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht, und ihre eingetrockneten, verdrehten Augäpfel glommen gelblich unter den langen, dunklen Wimpern. Die Zähne hatte sie zu einer unnatürlich breiten Grimasse gebleckt. Ein Eindruck, der nur deswegen entstand, weil sich die verdorrten Lippen bereits weit über die Zähne zurückgezogen hatten.

Ondragon trat näher an die Frau heran und sah, dass sich ihre Hände mit den lackierten Nägeln um einen Gegenstand gekrallt hatten, der in ihrer Brust steckte. Ein zartes Rinnsal aus eingetrocknetem Blut war unter ihren Händen hervorgesickert und hatte den Stoff ihrer Bluse rot gefärbt. Ein metallisch glänzender Skalpellgriff blitzte zwischen den Fingern hindurch. Das chirurgische Instrument musste ihr mit einem solch brutalen Stoß in die Brust gerammt worden sein, dass sie sofort tot gewesen war, denn sonst wäre mehr Blut aus der Wunde getreten.

Ondragon schoss zwei Bilder. Kalt erhellte der Blitz das totenstarre Gesicht der Frau.

Dann richtete er sich wieder auf und blickte auf die zwei weiteren Leichen, die mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lagen, als seien sie in kopfloser Flucht übereinander gestolpert. Auf ihren schneeweißen Laborkitteln waren große braune Rosetten erblüht wie Kaffeeflecken auf einer Tischdecke am Kuchenbuffet. Den dicken, weißlichen Hals des obenauf liegenden Mannes zierte eine schwarzgeränderte Wunde. Es sah beinahe so aus, als hätte ihm jemand ein Stück Fleisch aus dem Hals gerissen. Eine große dunkle Lache hatte sich unter ihm und auf dem anderen Mann gebildet. Vermutlich war seine Halsschlagader zerfetzt worden.

Ondragon machte auch von dem grausigen Paar ein Foto. Der Blitz zuckte einmal über ihre Körper. Zweimal. Plötzlich erstarrte er. Was war das?

Im Licht des Blitzes war ihm etwas aufgefallen, das er zuvor nicht wahrgenommen hatte. Er leuchtete mit der Lampe dorthin. Spuren nackter Füße führten von der großen Blutlache fort.

Ondragons Nackenhärchen stellten sich auf, als er auf den Hacken herumfuhr und mit der Lampe den Spuren folgte. Sie verschwanden durch die Tür, durch die er eben gekommen war. Er hob die Waffe. Sein Atem ging schnell und seine Haut hatte sich zu einer kalten Hülle fest um seinen Kopf zusammengezogen. Alles an ihm befand sich in höchster Alarmbereitschaft. Auch seine Gedanken rasten in Schallgeschwindigkeit durch die Hirnwindungen und versuchten, das, was hier passiert war, zu rekonstruieren.

Irgendjemand musste hier mächtig in Rage geraten sein und all seine Kollegen abgemurkst haben. Aber wer von den Laborratten war es gewesen? Und warum hatte er das getan? War er nach dem Beben der Hysterie verfallen und durchgedreht, weil sie hier unten eingesperrt waren? Laut der Berichte der Mailmen war der Eingang zum Labor zwar frei von Geröll gewesen, aber die Treppe war eingestürzt. Die Mitarbeiter hatten hier also festgesessen, als das Massaker geschah. Und was war mit den vier Darwin-Angestellten, die sich an der Oberfläche befunden hatten? Waren sie von dem Beben überrascht und getötet worden? Und wo hatten die Toten überhaupt gelegen, bevor die Mailmen sie weggeschafft hatten?

„Verdammte Scheiße!“, entfuhr es Ondragon unter der Maske. Zum wiederholten Male wünschte er sich, die Berichte hätten mehr Informationen über die Toten an der Oberfläche enthalten. So blieb ihm nichts anderes übrig als zu spekulieren. Und er hasste es zu spekulieren. Aber es gab nicht den geringsten Anhaltspunkt. Auch in den Wohncontainern an der Oberfläche war nichts Auffälliges gewesen. Kein Blut, keine Spuren eines Kampfes. Und auch sonst hatte es auf dem Gelände keine Anzeichen auf etwas anderes als ein Erdbeben gegeben. Er tappte im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln!

Und das machte ihn rasend.

Es war, als fordere ihn eine höhere Macht zum Duell heraus. Die Königin aller Geheimnisse wollte ihn verhöhnen. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Er musste dieses Duell gewinnen!

Mit verbissener Miene und erhobener Waffe verließ er das Horrorszenario in der Kantine und folgte den Fußspuren.

Sie führten zu der letzten Tür.

Hinein, aber nicht wieder heraus.

Das hatte er vorhin gar nicht bemerkt, weil er nur auf die Schilder geachtet hatte. Der Killer musste sich noch immer in Lab III aufhalten.

Vorsichtig drehte Ondragon den Knauf und stieß die Tür in einen weiten Bogen auf. Einen Moment lang zielte er mit der Pistole in den Raum.

Nichts rührte sich im weißen Lichtstrahl seiner Lampe.

Sein Gehör auf jedes noch so kleine Geräusch justiert, betrat er das dritte Labor, in dem eine chaotische Unordnung herrschte. Regale waren umgestürzt, und überall lagen durchsichtige Hartplastikkästen auf dem Boden, aus denen helle Streu gerieselt war. Zwischen den Boxen fand Ondragon leere Wasserspender, Futternäpfe mit Maiskörnern und zahlreiche kleine, in sich zusammengefallene Kadaver mit weißem Fell und langen rosa Schwänzen.

Versuchsratten.

Ondragon hob einen Behälter auf und las die Beschriftung. Rattus norvegicus/RTS44 – Crypt-Class III. Demnach waren hier unten auch Tierversuche durchgeführt worden. Wahrscheinlich waren die Ratten mit dem Genmais gefüttert worden, um zu sehen, ob er für den Verzehr geeignet war. Nichts Ungewöhnliches. Bis auf die Tatsache, dass einige der erstarrten Körper getrocknetes Blut am Maul und im Fell aufwiesen. Andere hatten in höllischer Pein ihren Kopf so weit zurückgebogen, dass es aussah, als wollten sie sich selbst ins Rückgrat beißen.

Er dokumentierte das Chaos mit seiner Kamera und bahnte sich danach einen Weg durch die umgefallenen Kästen. Die Stirnlampe auf den Boden gerichtet, stieß er hier und da mit der Fußspitze eine tote Ratte beiseite und folgte den immer schwächer werdenden Fußspuren, bis er schließlich in einen weiteren Raum gelangte, in dem an der linken Seite sechs große Gitterkäfige aufgereiht waren. Darin lagen leblose graue Fellknäuel.

Rhesusaffen, dachte Ondragon. Ihre kleinen vertrockneten Händchen hatten sich in unvorstellbarer Todesqual an die Gitterstäbe geklammert – verdurstet und verhungert in einer tödlichen Falle. Genau wie die Mitarbeiter des Labors in einer Falle gesessen hatten. Was für eine Ironie des Schicksals!

Nur mit einem Unterschied.

Unter den Menschen war einer gewesen, der wahnsinnig geworden war und in bestialischer Raserei seine sämtlichen Artgenossen niedergemetzelt hatte. Naja, nicht alle, denn die zwei Toten in Lab II waren mit großer Sicherheit durch einen bösartigen Erreger dahingerafft worden, der, so hoffte Ondragon, zumindest nur bis in die Schleuse und nicht weiter gelangt war.

Er suchte den Boden nach der blutigen Spur ab, die nur noch schwer zu erkennen war, aber eindeutig zu einer von drei Durchgängen führte, die wie Gefängnistüren aussahen, massiv und mit einem verriegelten Sichtfenster im oberen Bereich. Linkerhand neben dem Türrahmen befand sich jeweils ein kleines Kästchen mit Tasten und erloschenen Kontrolllampen. Elektronische Schlösser also. Die waren nach dem Stromausfall, den das Beben ausgelöst hatte, zweifellos einfach so aufgegangen.

Aber was befand sich dahinter? Welche Art von Versuchstier war hier mit dem Mais gefüttert worden?

In Ondragon hatte sich bereits eine fürchterliche Ahnung manifestiert. Er besah sich die Türen. Nummer eins und zwei waren nur angelehnt. Nummer drei, unter der die blutige Barfußspur verschwand, war verschlossen. Ondragon spürte, wie sein Innerstes sich gegen die Ahnung sträubte, die sich immer stärker in sein Bewusstsein drängte. Das hier war …

Seine Finger umfassten das kalte Metall des Schiebeschutzes vor dem Sichtfenster der Nummer drei. Laut hörte er seinen Atem in der Maske rasseln und ächzen. Der Filter würde nicht mehr allzu lange halten, schoss es ihm durch den Kopf.

Außerdem ist es höchste Zeit, von hier zu verschwinden, wenn du nicht willst, dass Rod und die Madame ohne dich abhauen. Mach also hin!

Mit einem kurzentschlossenen Ruck zog er den Schutz beiseite und ließ das Licht seiner Lampe durch den kleinen Raum auf der anderen Seite streifen. Es beleuchtete das Innere einer Zelle, die vielleicht vier mal vier Schritt groß und in einem sterilen Weiß gestrichen war. Auf einer Pritsche ihm gegenüber lag ein Mensch in fötaler Haltung, den Rücken der Tür zugewandt, die nackten Fußsohlen mit rostrotem Blut beschmiert. Er war ganz eindeutig von dunkler Hautfarbe, auch wenn der Ebenholzton sich in ein schlammiges Grau verwandelt hatte. Fleckige und an einigen Stellen zerrissene Kleidung hing um seinen abgemagerten Leib. Still lag die Gestalt da, von der Ondragon nicht wusste, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.

War sie tot wie alle anderen hier unten?

Um das herauszufinden, würde er in die Zelle gehen müssen. Er seufzte. Natürlich würde er das tun, denn es galt immer noch, das Duell gegen die Königin aller Geheimnisse zu gewinnen!

Behutsam zog er am Türgriff. Ohne einen Laut schwang die Nummer drei auf und gab den Blick vollständig auf das Zelleninnere frei. Ein Waschbecken und eine Toilette aus Edelstahl in der linken vorderen Ecke ergänzten die spartanische Einrichtung.

Auf leisen Sohlen und mit zum Zerreißen gespannten Nerven schlich Ondragon auf die Gestalt zu, die Pistole im Anschlag. Fast jeden Moment rechnete er damit, dass der dürre Körper aufspringen und ihn anfallen könnte.

Doch er tat nichts dergleichen. Reglos lag er da wie ein übergroßes, mumifiziertes Baby.

Mit dem Lauf seiner Waffe stieß Ondragon schließlich an den mageren Rücken der Gestalt, aus dem das Rückgrat hervorstach wie die Stacheln einer Urzeitechse.

Nichts geschah.

Er stieß die Gestalt noch einmal an, und als sie sich immer noch nicht rührte, drehte Ondragon sie um. Es überraschte ihn wenig, in das ausgemergelte Gesicht eines Haitianers undefinierbaren Alters zu blicken. Die breiten Wangenkochen ragten wie Schutzschilde hervor und ließen die Augenhöhlen noch tiefer erscheinen. Der Mann hatte die Lider geschlossen und die Lippen zu einem beinahe seligen Lächeln verzogen. Blut bedeckte sein Kinn und seine Brust. Und die fahle Haut spannte sich um seinen Schädel, der wie sein Hals mit Beulen übersät war. Es sah fast so aus, als hätte die Beulenpest wieder Saison.

Ondragon holte die Kamera hervor und schoss ein paar Bilder.

Grell reflektierten die Blitzlichter von den Wänden, vom Leichnam, vom getrockneten Blut.

Mit einem Schlag packte Ondragon das Grauen, und er taumelte zurück. Bis hier hin war es ihm gelungen, es zu unterdrücken, doch nun sprang es wie ein Derwisch aus dem Bannkreis der Selbstbeherrschung und riss sämtliche Wälle ein. Wie ein Rammbock traf ihn die Übelkeit in den Magen, und Ondragon gab ein Stöhnen von sich. Prickelnd stieg ihm der Ekel immer weiter die Kehle empor und kroch über seinen Gaumen.

Jetzt nicht in die Maske kotzen!

Mit beiden Händen auf den Bauch gepresst, zwang er seine außer Rand und Band geratenen vegetativen Funktionen wieder zur Ruhe. Schhhht, ruhig, Brauner. Schhht, schhht.

Allmählich wurde sein Atem wieder langsamer. Aber er hatte immer noch das Gefühl, zu ersticken. Wahrscheinlich bekommst du unter der Maske zu wenig Luft und leidest an Sauerstoffmangel. Das verursacht Halluzinationen.

Aber der Tote vor ihm auf der Pritsche war keine Halluzination. Er war echt, genau wie das menschenverachtende Verbrechen, das hier unten begangen worden war. Ondragon bezwang die Übelkeit und verließ schnell die Zelle. Was in den anderen beiden Kerkern war, wollte er gar nicht erst sehen.

Laut hallten seine Schritte von den Wänden des Korridors wider, als er zu dem Loch im rückwärtigen Teil der Anlage rannte. Seine Gedanken nur auf das Eine fixierend, schlüpfte er hindurch und stolperte durch den schmalen Tunnel, bis er das löchrige Felsgewölbe erreichte. Vor dem großen Felsbrocken, der frisch von der Decke gefallen war und größtenteils den Durchgang zu dem Stollen dahinter versperrte, blieb er stehen.

Er musste den Zugang zu diesem Labor des Grauens für immer verschließen!

Tastend untersuchte er die Felsen über der frischen Abbruchstelle. Sie waren brüchig, und bei der kleinsten Berührung rieselten kleine Steine aus den breiten Rissen. Ohne lang zu fackeln, riss sich Ondragon den Rucksack vom Rücken und holte das restliche Dynamit hervor. Es waren noch drei Stangen übrig. Genug, um den Durchgang zu versiegeln, aber mit zu wenig Zündschnur. Er würde sich ein MacGyver-Gadget bauen müssen.

Ondragon blickte auf die Uhr und fluchte. Noch dreißig Minuten, bis sich Rod und die Madame auf den Weg machen würden! Hastig wühlte er nach dem Panzerband, riss einen Streifen von der Rolle und umwickelte damit alle drei Dynamitstangen. Danach zog er aus zwei der Stangen die Zündschnüre heraus und verband sie zu einer langen Schnur mit der dritten. Das Dynamitpäckchen quetschte er in einen Riss in der Wand direkt unter der maroden Einsturzstelle und zog die Schnur in den Gang, so weit sie es zuließ. Wieder wühlte er im Rucksack und förderte aus einem Nebenfach eine Pappschachtel zutage. Die Esbitstäbchen für den Campingkocher. Er packte alle aus und legte sie wie eine Reihe umgestürzter Dominosteine als Verlängerung zu der Zündschnur auf den Boden des Ganges bis zu einem der Stützbalken. Er sah zurück. Jetzt hatte er drei Fuß Zündschnur und etwa genauso viel Esbitstrecke. Das reichte noch nicht! Erneut griff Ondragon zum Panzerband und drehte ein mehrere Schritt langes Stück zu einem Seil. Das fädelte er zwischen Stollendecke und dem quer liegenden Holzträger hindurch, so dass beide Enden hinunterhingen. An dem einen Ende befestigte er seine Wasserflasche aus Plastik und an der anderen einen etwa gleichschweren Stein. Beides ließ er drei Fingerbreit über dem Boden baumeln. Dann schnippte er sein Sturmfeuerzeug an und stellte es an das Ende der Esbitspur knapp unter den hängenden Stein. Er ließ ihn probeweise hinab und richtete das Feuerzeug noch einmal neu aus. Ja, so könnte es funktionieren.

Schnell packte er alles zurück in den Rucksack und zückte sein Messer. Mit der Spitze stach er ein kleines Loch in den Flaschenboden, und sofort begannen kleine Wassertropfen daraus hervorzuquellen. Die Flasche würde tropfenweise immer leichter werden und ab einem bestimmten Zeitpunkt das Gegengewicht des Steines am anderen Ende nicht mehr halten können. Der Stein würde sich herabsenken und das Feuerzeug umstoßen. Genau auf die Esbitspur. Das Feuer würde sich die Spur entlangfressen und die Zündschnur erreichen. Und dann: BÄNG!

Hoffentlich.

Ondragon wandte sich um und nahm die Beine in die Hand. Den Rucksack fest in seiner Faust stolperte er durch den Stollen dem rettenden Schacht entgegen. Hastig kletterte er den Geröllhaufen zum Durchschlupf hinauf und robbte in den Spalt. Etwas zog an seinem schweißnassen T-Shirt. Der Stoff am Rücken musste sich in einer Felsnase an der Decke verfangen haben. Bei dem Versuch, ihn zu lösen, riss er sich den rechten Unterarm an einem scharfkantigen Stein auf und fluchte dumpf unter seiner Maske. Teufel, war der Spalt enger geworden? Ondragon wand sich hin und her, bis der Felshaken ihn endlich freigab. Schnell kroch er weiter. Unter der verdammten Gasmaske bekam er immer weniger Luft. Ihm wurde schon ganz schummrig. Mit aller Gewalt und verschleierter Sicht schob er den Rucksack vor sich her bis zum Ende des Engpasses. Mit dem Kopf voran rutschte er den Geröllhaufen hinab und stemmte sich auf die Beine. Geduckt floh er weiter durch den Stollen, mal auf zwei Beinen, mal mit den Händen nach vorn abgestützt wie ein Gorilla auf Speed. Immer wieder wurde er von Schutt und Trümmern aufgehalten, bei deren Überquerung er wertvolle Sekunden verlor. Wie ein Irrlicht hüpfte dabei der weiße Schein seiner Stirnlampe vor ihm her, als wolle es ihn necken, es zu fangen. Doch dann gewahrte er endlich fahles Licht am Ende des Stollens und blickte wenig später geblendet zu der rettenden Öffnung hinauf.

Er fädelte das Kletterseil in seinen Gurt, zog sich die Maske vom Gesicht und brüllte, so laut er konnte, zu dem grellen Viereck hinauf, wo augenblicklich ein Kopf erschien.

„Halt dich fest, Ecks! Wir ziehen dich rauf!“, rief Rod von oben herab.

Gleich drauf spannte sich das Seil, und Stück für Stück wurde Ondragon in die Höhe gehoben.

Gott sei Dank!

Die Sprengladung detonierte, als er auf der Hälfte des Schachtes hing. Ein Zittern ging durch die Luft und ein Grollen drang aus den Felsen um ihn herum, als knurre ihn der Berg an, weil er es gewagt hatte, ihn noch einmal zu verwunden. Steine lösten sich aus der Schachtwand und fielen auf ihn herab. Dann stieg eine Staubwolke von unten herauf und hüllte ihn ein. Ondragon hielt die Augen geschlossen und klammerte sich am Seil fest.

„Los, zieht!“, rief er durch den nach Stein schmeckenden Nebel. „Zieht weiter!“

Als er endlich den Schachtrand zu packen bekam und sich hinaushievte, war die tropisch schwüle Luft, die dickflüssig wie Sirup in seine mit Staub gepuderte Nase drang, das Süßeste, was er jemals eingeatmet hatte.