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13. Die Krone aus Eis

 

Das war damals. Dies ist jetzt.

»Ach, Potzblitz«, ächzte Kleiner Gefährlicher Stachel auf dem Dach des Karrenschuppens.

Das Feuer ging aus, und das Schneetreiben ließ nach. Kleiner Gefährlicher Stachel hörte einen Schrei weit oben am Himmel und wusste genau, was er zu tun hatte. Er streckte die Arme in die Luft und schloss die Augen, als ein Bussard herabstieß, ihn packte und mit sich hochriss.

Darauf stand er total. Als er die Augen wieder öffnete, schaukelte unter ihm die Welt, und in der Nähe erklang eine Stimme: »Komm schnell hier rauf, Junge!«

Er griff nach dem dünnen Ledergeschirr weiter oben, zog daran und spürte, wie die Krallen ihn sachte losließen. Dann hangelte er sich im Wind hoch, streckte den Arm über die Federn des Vogels hinweg und bekam den Gürtel des Piloten Hämisch zu fassen.

»Rob meint, du bis' alt genug für die Unterwelt«, sagte Hamisch über seine Schulter hinweg. »Rob holt den Helden. Du hast großes Glück, kleiner Junge.«

Der Bussard ging in Schräglage.

Unten... floh der Schnee. Er schmolz nicht, sondern wich von den Lammungspferchen zurück wie das Meerwasser bei Ebbe oder wie ein tiefes Luftholen, das nur wie ein Seufzen klingt.

Morag glitt über das Lammungsfeld, auf dem sich Männer verwirrt umsahen. »Ein totes Schaf und ein Dutzend tote Lämmer«, sagte Hämisch. »Aber keine große kleine Hexe! Er hat sie mitgenommen.«

»Wohin?«

Hämisch steuerte Morag in einem weiten Kreis nach oben. Im Bereich der Farm schneite es nicht mehr, aber anderenorts kam der Schnee noch immer wie ein weißer Hammer herunter.

Und dann nahm er Gestalt an.

»Dort oben«, sagte Hamisch.

 

Na schön, ich lebe noch. Da bin ich ziemlich sicher.

Ja-

Und ich fühle die Kälte um mich herum, aber ich friere nicht, was für andere Leute schwer zu verstehen wäre. Und ich kann mich nicht bewegen. Überhaupt nicht.

Alles um mich herum ist weiß. Und das gilt auch für das Innere meines Kopfes.

Wer bin ich?

Ich erinnere mich an den Namen Tiffany. Ich hoffe, das war ich.

Alles um mich herum ist weiß. Das ist schon einmal geschehen. Es war eine Art Traum oder Erinnerung oder etwas anderes, für das ich kein geeignetes Wort weiß. Überall

um mich herum fiel das Weiß. Es türmte sich um mich herum auf und hob mich hoch. Es war... das Kreideland, das stumm unter uralten Meeren entstand.

Das bedeutet mein Name.

Er bedeutet: Land unter Welle.

Und wie eine Welle kehrten die Farben in ihre Gedanken zurück. Vor allem das Rot des Zorns.

Wie konnte er es wagen!

Die Lämmer zu töten!

Oma Weh hätte das nicht zugelassen. Sie verlor nie ein Lamm. Sie konnte sie ins Leben zurückholen.

Ich hätte diesen Ort gar nicht erst verlassen dürfen, dachte Tiffany. Vielleicht hätte ich bleiben und versuchen sollen, mir alles selbst beizubringen. Aber wenn ich nicht gegangen wäre, wäre ich dann noch immer ich?

Wüsste ich dann, was ich jetzt weiß? Wäre ich so stark geworden wie meine Großmutter, oder wäre ich zu einer Gacklerin geworden? Nun, jetzt werde ich stark sein.

Wenn das mörderische Wetter nur blinder Natur entsprang, konnte man bloß fluchen, aber wenn es auf zwei Beinen herumlief... dann war es Krieg. Und jetzt würde er sie kennen lernen!

Tiffany versuchte, sich zu bewegen, und das Weiß gab nach. Es fühlte sich wie harter Schnee an, aber nicht kalt. Es fiel von ihr ab und hinterließ ein Loch.

Ein glatter, leicht transparenter Boden erstreckte sich vor ihr. Große Säulen reichten zu einer Decke empor, die sich über einer Art Nebel verbarg.

Ringsherum waren Wände, die aus der gleichen Substanz bestanden wie der Boden. Sie schienen aus Eis zu sein - Tiffany konnte sogar kleine Luftblasen darin erkennen -, aber sie fühlten sich nicht besonders kalt an.

Der Raum war sehr groß und enthielt keinerlei Möbel. Es war die Art von Raum, die ein König bauen ließ, um damit auzudrücken: »Seht nur, ich kann es mir leisten, all diesen Platz zu vergeuden!«

Das Geräusch von Tiffanys Schritten hallte von den Wänden wider, als sie losging und die Umgebung erforschte. Sie fand nicht einmal einen Stuhl. Und wie bequem wäre er schon gewesen, wenn sie einen entdeckt hätte?

Schließlich stieß sie auf eine Treppe, die nach oben führte (beziehungsweise nach unten, wenn man oben stand). An sie schloss sich ein weiterer Saal an, in dem es wenigstens Möbel gab. Es waren Sofas von der Art, auf der sich gewöhnlich reiche Frauen rekeln, die müde, aber schön aussehen. Oh, und es gab Urnen, recht große Urnen, und auch Statuen, alle aus diesem warmen Eis. Die Statuen stellten Athleten und Götter dar und ähnelten damit den Bildern in Buchfinks Mythologie. Sie machten altertümliche Dinge, warfen zum Beispiel Speere oder töteten mit bloßen Händen riesige Schlangen. Sie trugen keinen Fetzen am Leib, aber alle Männer hatten Feigenblätter, die sich, wie Tiffany bei einer kurzen Überprüfung feststellte, nicht lösen ließen.

Und es brannte ein Feuer. Daran war einerseits seltsam, dass die Scheite ebenfalls aus dem warmen Eis bestanden, und andererseits: Die Flammen waren blau - und kalt.

Die Fenster in dieser Etage liefen spitz zu, aber sie begannen ein ganzes Stück über dem Boden und zeigten nur den Himmel, an dem die bleiche Sonne wie ein Geist zwischen den Wolken schwebte.

Eine weitere Treppe führte in ein Stockwerk mit noch mehr Statuen, Sofas und Urnen. Wer konnte an einem solchen Ort wohnen? Jemand, der nicht essen oder schlafen musste. Jemand, der sich keine Bequemlichkeit wünschte.

»W interschmied!«

Tiffanys Stimme hallte von Wand zu Wand, mit einem »... IED... Ied... ied...«, das schließlich verklang.

Noch eine Treppe, und diesmal fand Tiffany etwas Neues. Auf einer Plinthe, vielleicht für eine Statue bestimmt, lag eine Krone. Besser gesagt, sie lag nicht darauf, sondern schwebte einen halben Meter darüber, drehte sich langsam und glitzerte wie Raureif. Etwas weiter entfernt stand eine Statue, kleiner als die anderen, aber umgeben von blauen, grünen und goldenen Lichtern, die schimmernd tanzten.

Sie sahen aus wie die Mittlichter, die man im tiefsten Winter manchmal über den Bergen im Zentrum der Welt beobachten konnte. Manche Leute hielten sie für lebendig.

Die Statue war genauso groß wie Tiffany.

»Winterschmied!« Noch immer keine Antwort. Ein hübscher Palast, ohne Küche, ohne Bett... Aber warum auch? Er musste nicht essen oder schlafen. Für wen war der Palast bestimmt?

Tiffany kannte die Antwort bereits: Für mich.

Sie streckte die Hand nach den tanzenden Lichtern aus, und sie glitten über ihren Arm, breiteten sich um ihren Körper aus und schufen ein Kleid, das wie der Mondschein auf Schnee glitzerte. Tiffany war erst verblüfft und dann verärgert. Und dann wünschte sie sich einen Spiegel, bekam ein schlechtes Gewissen, reagierte darauf mit neuem Ärger und beschloss: Wenn sie rein zufällig einen Spiegel fand, so wollte sie nur deshalb hineinblicken, um festzustellen, wie verärgert sie war.

Nachdem sie eine Zeit lang gesucht hatte, fand sie tatsächlich einen Spiegel: eine Eiswand so grün, dass sie fast schwarz war.

Sie sah sehr verärgert aus. Aber sie glitzerte auch wunderschön. Überall funkelten goldene, blaue und grüne Punkte, wie in klaren Winternächten am Himmel.

»Winterschmied!«

Bestimmt beobachtete er sie. Er konnte überall sein.

»Also gut! Ich bin hier! Das weißt du!«

»Ja, ich weiß«, sagte der Winterschmied hinter ihr.

Tiffany wirbelte herum und versetzte ihm erst mit der einen und dann mit der anderen Hand eine Ohrfeige. Genauso gut hätte sie versuchen können, einen Felsen zu ohrfeigen. Er lernte jetzt schnell.

»Das ist für die Lämmer«, sagte Tiffany und schüttelte die schmerzenden Hände. »Wie kannst du es wagen! Das war nicht nötig!«

Der Winterschmied wirkte jetzt viel menschlicher. Entweder trug er echte Kleidung, oder er hatte sich große Mühe gegeben, sie echt aussehen zu lassen. Er war sogar... nun, attraktiv. Nicht mehr kalt, nur noch... cool.

Er ist nichts weiter als ein Schneemann, protestierten ihre Zweiten Gedanken. Denk daran. Er ist nur zu schlau, Kohlen für die Augen und eine Möhre für die Nase zu benutzen.

»Autsch«, sagte der Winterschmied, als wäre ihm gerade eingefallen, dass man in so einem Fall so etwas sagte. »Ich verlange, dass du mich gehen lässt!«, fauchte Tiffany. »Jetzt sofort.« So ist es richtig, meinten ihre Zweiten Gedanken. Du möchtest, dass er sich hinter den Stieltöpfen im obersten Küchenregal versteckt. Sozusagen...

»In diesem Moment bin ich ein Sturm, der tausend Meilen entfernt Schiffe zertrümmert«, sagte der Winterschmied ganz ruhig. »Ich lasse Wasserrohre an einem schneebedeckten Ort platzen. Ich gefriere den Schweiß auf der Stirn eines Sterbenden, der sich in einem schrecklichen Schneesturm verirrt hat. Ich krieche leise unter Türen durch. Ich hänge von Dachrinnen. Ich streichele den Pelz des schlafenden Bären tief in seiner Höhle und fließe im Blut der Fische unterm Eis.«

»Das ist mir egal!«, erwiderte Tiffany. »Ich wollte hier nicht her! Und auch du solltest nicht hier sein!«

»Gehst du mit mir, Kind?«, fragte der Winterschmied. »Ich tue dir nichts. Hier bist du sicher.«

»Vor was?«, fragte Tiffany. Wenn man zu viel Zeit mit Fräulein Tick verbrachte, blieb das nicht ohne Einfluss auf die eigene Ausdrucksweise, und deshalb änderte sie ihre Frage zu: »Wovor?«

»Vor dem Tod«, antwortete der Winterschmied. »Hier wirst du nie sterben.«

Hinten in der Kreidegrube der Wir-sind-die-Größten war noch mehr Kreide aus der Wand geschabt worden, um einen Tunnel zu schaffen, etwa anderthalb Meter hoch und ebenso lang.

Davor stand Roland de Chumsfanleigh (dafür konnte er nichts). Seine Vorfahren waren Ritter gewesen, und die hatten sich in den Besitz des Kreidelands gebracht, indem sie die Könige töteten, die sich für seine Eigentümer hielten. Damals ließ sich das alles nur mit Schwertern bewerkstelligen. Mit Schwertern und Köpfeabschlagen. So war man in der alten Zeit zu Land gekommen, und dann wurden die Regeln geändert, und plötzlich brauchte man kein Schwert mehr für den Besitz von Land, sondern nur noch ein Stück Papier. Aber Rolands Vorfahren hatten ihre Schwerter sicherheitshalber behalten, für den Fall, dass die Leute die Sache mit dem Papier für unfair hielten, denn immerhin konnte man es nie allen recht machen.

Er hatte sich immer gewünscht, gut mit einem Schwert umgehen zu können, und es war wie ein Schock gewesen, als er feststellen musste, wie schwer so ein Ding war. Beim Luftschwert war er ein wahrer Meister.

Vor dem Spiegel konnte er gegen sein Spiegelbild kämpfen und fast jedes Duell gewinnen. Mit einem echten Schwert ging so etwas nicht. Wenn man damit ausholte, riss es einen um. Roland gelangte allmählich zu dem

Schluss, dass Papiere vielleicht eher was für ihn waren. Außerdem brauchte er eine Brille, was unter einem Helm problematisch sein konnte, insbesondere dann, wenn man selbst mit einem Schwert angegriffen wurde.

Er trug jetzt einen Helm und hielt ein Schwert in der Hand, das viel zu schwer für ihn war, was er natürlich nie zugegeben hätte. Hinzu kam ein Kettenhemd, in dem er kaum gehen konnte. Die Größten hatten sich alle Mühe gegeben, es seiner Körpergröße anzupassen, aber der Schritt hing bis zu den Knien hinab und schlackerte ulkig, wenn er sich bewegte.

Ich bin kein Held, dachte er. Ich habe ein Schwert, das ich nur mit beiden Händen heben kann, und einen Schild, der ebenfalls sehr schwer ist, und ich habe ein Pferd mit Gardinen drum herum, das ich zu Hause lassen musste (und meine Tanten rasten sicher völlig aus, wenn sie den Salon betreten), aber innen drin bin ich ein Junge, der gern wissen möchte, wo's zum Klo geht...

Aber sie hat mich vor der Feenkönigin gerettet. Wenn sie das nicht getan hätte, wäre ich noch immer ein dummer Junge anstatt... ahm... ein junger Mann, der hofft, nicht allzu dumm zu sein.

Die Wir-sind-die-Größten hatten sich einen Weg durch den nächtlichen Schneesturm gekämpft und waren in sein Zimmer zurückgestürmt, und jetzt, so sagten sie, war es an der Zeit, dass er für Tiffany zum Helden wurde...

Nun, er war dazu bereit, so viel stand fest. Ganz klar. Aber er hatte sich die Sache irgendwie anders vorgestellt. »Das sieht aber nicht nach dem Eingang zur Unterwelt aus«, sagte er.

»Oh, jede Höhle kann 'n Eingang sein«, erwiderte Rob Irgendwer, der auf Rolands Helm saß. »Aber man muss das Geheimnis des Wackelschritts kennen. Na schön, Großer Yan, du als Erster...«

Der Große Yan trat an das Kreideloch heran. Er streckte die Arme nach hinten und winkelte sie an. Er lehnte sich nach hinten, wobei er ein Bein ausstreckte, um das Gleichgewicht zu halten. Dann wackelte er einige Male mit dem Fuß in der Luft, beugte sich vor und verschwand, sobald der Fuß den Boden berührte.

Rob Irgendwer hämmerte mit der Faust an Rolands Helm.

»Also los, großer Held!«, rief er. »Auf in die Unterwelt!«

Es gab keinen Weg hinaus. Tiffany wusste nicht einmal, ob es einen Weg herein gab.

»Wenn du die Sommerfrau wärst, würden wir tanzen«, sagte der Winterschmied. »Aber ich weiß jetzt, dass du es nicht bist, obwohl du es zu sein scheinst. Doch um deinetwillen bin ich nun ein Mensch, und ich brauche Gesellschaft.«

Tiffanys Gedanken rasten, und im Kopf sah sie Bilder: die keimende Eichel, ihre fruchtbaren Füße, das Füllhorn. Ich bin gerade genug Göttin, um einige Dielenbretter, eine Eichel und eine Hand voll Samen zu täuschen, dachte sie.

Ich bin wie er. Genug Eisen für einen Nagel macht einen Schneemann nicht zum Menschen, und zwei Eichenblätter machen mich nicht zu einer Göttin.

»Komm«, sagte der Winterschmied, »lass mich dir meine Welt zeigen. Unsere Welt.«

Als Roland die Augen öffnete, sah er nur Schatten. Nicht die Schatten von Dingen - nur Schatten, die wie Spinnweben dahinschwebten.

»Ich habe gedacht, es würde hier... heißer sein«, sagte er und versuchte, seine Erleichterung nicht durchklingen zu lassen. Um ihn herum erschienen überall kleine blaue Männer aus dem Nichts.

»Ah, du denkst an Höllen«, sagte Rob Irgendwer. »Da geht's recht brutzelig zu, stimmt schon. Unterwelten hingegen sin' eher düster. Dort enden die Leute, wenn sie sich verirren, weißte.«

»Was? Du meinst, wenn man in einer dunklen Nacht die falsche Abzweigung nimmt...«

»Oh, nein! Ich meine, wenn die Leute tot sin' und es eigentlich gar nich' sein sollten, un' wenn es für sie keinen anderen Ort gibt, wohin sie gehen können, oder wenn sie durch 'ne Lücke in der Welt fallen un' den Weg nich' kennen. Manche von ihnen begreifen nich' einmal, wo sie sin', die armen Seelen. Passiert immer wieder, so was. Un' in einer Unterwelt gibt's nich' viel zu lachen. Diese hieß einmal Limbo, weil die Eingangstür sehr niedrig war. Seit unserm letzten Besuch scheint's mit ihr ziemlich bergab gegangen zu sein.« Er hob die Stimme. »Un' ein Applaus für den jungen Kleinen Gefährlichen Stachel, der uns zum ersten Mal begleitet!« Ein rauer Jubel erklang, und der Kleine Gefährliche Stachel winkte mit seinem Schwert.

Roland bahnte sich einen Weg durch die Schatten, die ihm tatsächlich Widerstand entgegensetzten. Die Luft war grau hier unten. Manchmal hörte er ein Stöhnen, oder ein Husten in der Ferne... oder Schritte, die sich ihm näherten.

Er zog sein Schwert und spähte durch die Düsternis.

Die Schatten teilten sich, und eine sehr alte Frau in einem zerrissenen, abgewetzten Kleid schlurfte vorbei und zog einen großen Karton hinter sich her. Er hüpfte auf und ab, während sie daran zerrte. Sie würdigte Roland keines Blickes.

Er ließ das Schwert sinken.

»Ich dachte, hier gäbe es Ungeheuer«, sagte er, als die Alte in der Düsternis verschwand.

»Ja«, erwiderte Rob Irgendwer grimmig. »Es gibt sie tatsächlich. Denk an was Festes, ja?«

»An was Festes?!«

»Im Ernst! Denk an 'nen hübschen großen Berg oder 'nen Hammer! Was auch immer du machst, du darfst nich'

wünschen, bedauern oder hoffen!«

Roland schloss die Augen und hob dann die Hand, um sie zu berühren.

»Ich kann noch immer sehen! Obwohl meine Augen geschlossen sind!«

»Ja, und mit geschlossenen Augen siehst du sogar noch mehr. Sieh dich um, wenn du dich traust!«

Mit gesenkten Lidern trat Roland einige Schritte vor und blickte sich um. Nichts schien sich verändert zu haben. Vielleicht war es noch ein wenig düsterer. Und dann sah er es: ein orangefarbenes Blitzen, eine Linie in der Dunkelheit, die sich mal zeigte und mal nicht.

»Was war das?«, fragte er.

»Wir wissen nich', wie sie heißen«, antwortete Rob. »Wir nennen sie Bogels oder Irrwichte.«

»Es sind Lichtblitze?«

»Oh, der eben war weit entfernt«, sagte Rob. »Wenne einen aus der Nähe sehen willst... Er steht direkt neben dir.«

Roland wirbelte herum.

»Ach, da hast du 'nen typischen Fehler gemacht«, sagte Rob im Plauderton. »Du hast die Augen geöffnet!« Roland schloss die Augen wieder. Der Bogel stand fünfzehn Zentimeter von ihm entfernt.

Er zuckte nicht zusammen. Er schrie nicht. Schließlich wusste er, dass hunderte von kleinen blauen Männern ihn beobachteten.

Zuerst dachte er: Es ist ein Skelett. Als der Bogel erneut aufblitzte, sah er wie ein Vogel aus, wie ein großer Vogel in der Art eines Reihers. Dann wurde er zu einem Strichmännchen, wie von einem Kind gezeichnet.

Immer wieder zeichnete er sich selbst in die Dunkelheit, mit dünnen, brennenden Linien.

Er zeichnete sich einen Mund und beugte sich vor, um hunderte von nadelspitzen Zähnen zu zeigen. Dann verschwand er.

Ein Murmeln kam von den Größten.

»Gut gemacht«, lobte Rob Irgendwer. »Du hast ihm in den Mund geschaut und bis' keinen Schritt zurückgewichen.«

»Ich war zu entsetzt, um wegzulaufen, Herr Irgendwer«, erwiderte Roland.

Rob Irgendwer beugte sich zum Ohr des Jungen hinunter.

»Ja«, flüsterte er. »Das kenne ich gut! Es gibt viele Männer, die zu Helden wurden, weil sie zu entsetzt waren, um wegzulaufen! Aber du hast nich' geschrien und dir nich' in die Hose gemacht, und das is' gut. Bestimmt laufen uns noch mehr Bogels über den Weg. Lass sie nich' in deinen Kopf rein! Sorg dafür, dass sie draußen bleiben!«

»Wie bitte? Was machen sie denn mit... ? Nein, sag es mir nicht!«, stieß Roland hervor.

Er schritt durch die Schatten und blinzelte, damit ihm nichts entging. Die alte Frau war fort, aber die Düsternis füllte sich mit Leuten. Die meisten standen nur herum oder saßen allein auf Stühlen. Andere wanderten stumm umher. Sie kamen an einem Mann in verschlissener alter Kleidung vorbei, der seine eigene Hand anstarrte, als sähe er sie zum ersten Mal.

Roland bemerkte eine weitere Frau, die leicht hin- und herschwankte und mit leiser, mädchenhafter Stimme ein völlig unsinniges Lied sang. Sie schenkte ihm ein sonderbares, irres Lächeln, als er vorbeiging. Direkt hinter ihr stand ein Bogel.

»Na schön«, sagte Roland grimmig. »Sag mir, was sie tun.«

»Sie fressen deine Erinnerungen«, erklärte Rob Irgendwer. »Deine Gedanken ham für sie Substanz. Wünsche un' Hoffnung dienen ihnen als Nahrung! Eigentlich sin' sie Ungeziefer. So was passiert, wenn sich niemand um Orte wie diesen kümmert.«

»Und wie kann ich sie töten?«

»Oh, das war 'ne sehr scheußliche Stimme, mit der du gerade gesprochen hast. Hört euch den großen kleinen Helden an! Achte nich' auf sie, Jungchen. Sie greifen noch nich' an, und wir haben etwas zu erledigen.«

»Ich hasse diesen Ort!«

»Ja, in der Hölle geht's lebhafter zu«, räumte Rob Irgendwer ein. »Langsamer jetzt, wir sin' am Fluss.«

Ein Fluss strömte durch die Unterwelt. Er war so dunkel wie der Boden, und träge, ölige Wellen rollten ans Ufer. »Ah, ich glaube, davon habe ich gehört«, sagte Roland. »Es gibt einen Fährmann, nicht wahr?«

JA

Er stand plötzlich da, in einem langen, flachen Boot. Natürlich war er ganz in Schwarz gekleidet. Sein Gesicht verbarg sich unter einer weit heruntergezogenen schwarzen Kapuze, und irgendwie hatte man den Eindruck, dass das auch ganz gut so war.

»Hallo, Kumpel«, sagte Rob Irgendwer fröhlich. »Wie geht's?«

O NEIN, NICHT WIEDER IHR, sagte die dunkle Gestalt mit einer Stimme, die man eher spürte als hörte. HABT IHR NICHT HAUSVERBOT?

»Nur 'n kleines Missverständnis«, sagte Rob und kletterte an Rolands Rüstung hinab. »Du musst uns reinlassen, weil wir schon tot sin'.«

Die Gestalt streckte den Arm aus. Der Ärmel des schwarzen Kapuzenmantels rutschte zurück, und das, was da auf Roland zeigte, sah ihm ganz wie ein Knochenfinger aus.

ABER ER MUSS DEN FÄHRMANN BEZAHLEN, sagte die dunkle Gestalt anklagend, mit einer Stimme aus Grüften und Friedhöfen.

»Erst wenn ich auf der anderen Seite bin«, erwiderte Roland mit fester Stimme.

»Na komm schon!«, wandte sich der Doofe Wullie an den Fährmann. »Du siehst doch, dassa 'n Held is'! Und wenn man keinem Helden vertrauen kann, wem dann?«

Die Kapuze musterte Roland, und es kam ihm wie hundert Jahre vor.

NA SCHÖN.

Die kleinen blauen Männer stürmten mit dem für sie typischen Enthusiasmus das halb verrottete Boot, und es ertönten Rufe wie »Potzblitz!«, »Bier her, Bier her, oder wir falln um!« und »Jetzt fahrn wir übern Styx!«. Roland kletterte vorsichtig an Bord, wobei er den Fährmann argwöhnisch im Auge behielt.

Die Gestalt zog ein großes Ruder durchs Wasser, und die Fahrt begann mit einem Knarren, dem kurz darauf, zur Empörung des Fährmanns, lauter Gesang folgte. Das heißt, es war mehr oder weniger Gesang, mit unterschiedlichem Tempo und ohne Rücksicht auf die Melodie:

„Ein Schiff wird kommen kommen liebe den Hafen drum stehe ich am Kai am A so lieb wie keinen ein Schiff wird kommen kommen ein Schiff ein Schiff...«

SEID ENDLICH STILL

kommen ein Schiff ein Schiff wird kommen und meinen Traum erfüllen meinen Traum meinen Traum und meine Sehnsucht stillen ein Schiff ein Schiff

DAS IST WOHL KAUM ANGEMESSEN!

»Ein Schiff wird kommen kommen kommen und ich freu mich so auf das Schiff Und den einen so lieb wie keinen ein Schiff ein Schiff ein Schiff Wird kommen-«

»Herr Irgendwer?«, fragte Roland, während das Boot über die Wellen hüpfte.

»Ja?«

»Warum sitze ich neben einem blauen Käse mit einem Streifen Schottenkaro um den Bauch?«

»Ach, das is' Horace«, sagte Rob Irgendwer. »Der Kumpel vom Doofen Wullie. Er belästigt dich doch nich', oder?«

»Nein. Aber er versucht zu singen!«

»Ja, alle Schimmelkäse summen ein bisschen.«

»Mnamnam mnam mnamnam«, summte Horace.

Das Boot stieß ans andere Ufer, und der Fährmann trat schnell an Land.

Rob Irgendwer kletterte Rolands arg mitgenommenen Kettenhemdärmel hoch und flüsterte: »Lauf los, wenn ich dir ein Zeichen gebe!«

»Aber ich kann den Fährmann bezahlen. Ich habe das Geld«, erwiderte Roland und klopfte auf seine Tasche. »Was?«, fragte Rob. Er schien dies für eine sonderbare und gefährliche Idee zu halten.

»Ich habe das Geld«, wiederholte Roland. »Es kostet zwei Cent, den Fluss der Toten zu überqueren. Das ist ein alter Brauch. Man legt den Toten zwei Cent auf die Augen, damit sie den Fährmann bezahlen können.«

»Bist wirklich 'n gescheiter Bursche, kein Zweifel«, sagte Rob, als Roland zwei Kupfermünzen in die Knochenhand

des Fährmanns legte. »Aber du hast wohl nich' daran gedacht, vier Cent einzustecken?«

»In dem Buch stand nur, dass die Toten zwei Cent mitnehmen«, sagte Roland.

»Ja, das mag stimmen«, pflichtete ihm Rob bei. »Aber das liegt daran, dass die Toten nich' mit einer Rückkehr rechnen!«

Roland blickte über den dunklen Fluss zurück. An dem Ufer, das sie verlassen hatten, blitzten viele orangefarbene Lichter.

»Ich bin Gefangener der Feenkönigin gewesen, Herr Irgendwer«, sagte er.

»Ja, ich weiß.«

»Ein Jahr habe ich in ihrer Welt verbracht, aber es schienen nur einige Wochen zu sein... Allerdings vergingen die Wochen wie Jahrhunderte. Es war so... langweilig, dass ich mich nach einer Weile an fast nichts mehr erinnern konnte. Weder an meinen Namen noch daran, wie sich der Sonnenschein anfühlt, oder an den Geschmack von echtem Essen.«

»Ja, ich weiß, wir ham dabei geholfen, dich zu retten. Du hast dich nie bedankt, aber das haben wir dir nich' übel genommen, weil du die meiste Zeit über nich' bei Sinnen warst.«

»Dann erlaub mir, dass ich dir jetzt danke, Herr Irgendwer.«

»Schon gut. Gern geschehen. Keine Ursache.«

»Sie hielt Geschöpfe, die einen mit Träumen fütterten, bis man verhungerte. Ich verabscheue Dinge, die einem das nehmen wollen, was einen ausmacht. Solche Dinge möchte ich töten, Herr Irgendwer. Und zwar alle. Wenn man jemandem die Erinnerungen wegnimmt, so nimmt man ihm sein Ich. All das, was ihn zu dem macht, was er ist.«

»Das is' ein gutes Vorhaben«, sagte Rob. »Aber wir ham hier einen Dschob zu erledigen. Potzblitz, so was passiert nun mal, wenn sich keiner um irgendwas kümmert und Bogels alles übernehmen.«

Ein großer Haufen Knochen lag auf dem Weg. Es handelte sich eindeutig um Tierknochen. Die halb zerfallenen Halsbänder und verrosteten Ketten boten deutliche Hinweise.

»Drei große Hunde?«, fragte Roland.

»Ein sehr großer Hund mit drei Köpfen«, sagte Rob Irgendwer. »Diese Rasse is' sehr beliebt in Unterwelten. Kann die Kehle eines Mannes durchbeißen. Dreimal!«, fügte er mit Wonne hinzu. »Aber wenn man drei Hundekekse in einer Reihe auf den Boden legt, sitzt das arme Tier den ganzen Tag davor, zerrt an seiner Kette und winselt. Is' nich' besonders intelligent.« Er trat nach den Knochen. »Ach, früher hatten solche Orte noch richtig Charakter. Guck dir mal an, was sie mit dem hier gemacht haben.«

Etwas weiter entfernt stand etwas auf dem Weg, das vermutlich ein Dämon war. Das Wesen hatte ein schreckliches Gesicht mit so vielen Reißzähnen, dass einige davon bestimmt nur zum Angeben da waren. Es war auch mit Flügeln ausgestattet, obwohl es bestimmt nicht fliegen konnte. Das Geschöpf hatte ein Stück von einem Spiegel gefunden, blickte alle paar Sekunden hinein und schauderte.

»Herr Irgendwer«, sagte Roland, »gibt es hier unten irgendetwas, das ich mit diesem Schwert töten könnte?« »Nein«, antwortete Rob Irgendwer. »Bogels kannste damit nicht abmurksen. Es is' kein magisches Schwert, verstehste?«

»Warum schleppe ich es dann herum?«

»Weil du 'n Held bist. Wer hat je von einem Helden ohne Schwert gehört?«

Roland zog das Schwert aus der Scheide. Es war schwer und hatte ganz und gar nichts mit dem blitzschnellen silbernen Ding zu tun, das er sich vor dem Spiegel vorgestellt hatte. Es war mehr eine Keule aus Metall mit einer Schneide.

Er nahm es in beide Händen, holte aus und warf es in die Mitte des langsamen, dunklen Flusses.

Kurz bevor es ins Wasser fiel, reckte sich ein weißer Arm aus dem Fluss und fing es auf. Die Hand schwang das Schwert einige Male und verschwand dann damit im Wasser.

»Ist das normal?«, fragte Roland.

»Ein Mann, der sein Schwert wegwirft?«, brüllte Rob. »Nein! Es ist nicht normal, wenn ein Mann ein gutes Schwert ins Wasser wirft!«

»Nein, ich meine die Hand«, sagte Roland. »Sie...«

»Ach, die tauchen hin und wieder auf.« Rob Irgendwer winkte ab, als geschähe es jeden Tag, dass sich mitten im Fluss irgendwelche Unterwasser-Schwertjongleure zeigten. »Aber jetzt bis' du unbewaffnet!«

»Du hast doch gesagt, dass ich mit dem Schwert keine Bogels töten kann!«

»Ja, aber ohne ein Schwert sieht ein Held einfach nicht heldenhaft genug aus«, erwiderte Rob und eilte weiter. »Ein Held, der Gefahren mit bloßen Händen trotzt, ist doch noch heldenhafter, oder?«, fragte Roland, während die anderen Größten hinter ihnen hertrotteten.

»Ja, nun, eigentlich schon«, sagte Rob Irgendwer widerstrebend. »Aber er könnte auch noch toter sein.« »Außerdem habe ich einen Plan«, sagte Roland.

»Du hast einen Plan?«, fragte Rob.

»Ja.«

»Aufgeschrieben?«

»Bisher nur gedacht und...« Roland verstummte. Die ständig umhergleitenden Schatten hatten sich geteilt, und vor ihnen wurde eine große Höhle sichtbar.

Drinnen leuchtete ein schwaches gelbes Licht, in dessen Mitte sich etwas befand, das wie eine Steinplatte aussah. Darauf lag eine kleine Gestalt.

»Da sind wir«, sagte Rob Irgendwer. »War doch gar nich' so schlimm, oder?«

Roland blinzelte. Hunderte von Bogels drängten sich um die Steinplatte, wahrten aber einen gewissen Abstand, als hätten sie irgendwie Respekt davor.

»Da... liegt jemand«, sagte er.

»Die Sommerfrau«, erwiderte Rob. »Das wird jetzt ganz schön figeliensch.«

»Figeliensch?«

»Ah... kompliziert«, erklärte Rob. »Göttinnen können 'n bisschen heikel sein. Achten sehr auf ihr Imädsch un' so.«

»Können wir sie uns nicht einfach schnappen und weglaufen?«, fragte Roland.

»Oh, ja, früher oder später wird's dazu kommen«, sagte Rob. »Aber vorher musst du sie küssen. Kriegst du das hin?«

Roland wirkte ein wenig angespannt, brachte aber hervor: »Ja... äh... ich denke schon.«

»Die Frauen erwarten das, weißt du«, fuhr Rob fort.

»Und dann laufen wir weg?«, fragte Roland hoffnungsvoll.

»Ja, denn dann versuchen die Bogels wahrscheinlich, uns aufzuhalten. Sie mögen's nich', wenn jemand weglaufen will. Los mit dir, Junge.«

Ich habe einen Plan, dachte Roland, während er auf die Steinplatte zuging. Und ich konzentriere mich darauf, damit ich nicht daran denken muss, dass ich durch eine Horde Kritzelmonster gehe, die nur da sind, wenn ich blinzle und meine Augen tränen. Was man im Kopf hat, ist für sie also Nahrung, ja?

Gleich muss ich blinzeln, gleich muss ich blinzeln, gleich muss ich blinzeln...

... blinzel. Es war sofort wieder vorbei, aber das Schaudern dauerte viel länger. Sie waren überall gewesen, und jeder Mund voller Zähne sah ihn an. Eigentlich sollte man mit Zähnen nicht sehen können.

Roland lief vorwärts, und seine Augen tränten, weil er sie die ganze Zeit über offen hielt. Er blickte auf die Gestalt hinab, die dort in dem gelben Licht lag. Es war ein Mädchen, und es atmete, es schlief, und es sah wie Tiffany Weh aus.

Von der höchsten Stelle des Eispalastes konnte Tiffany meilenweit sehen, und meilenweit sah sie nichts anderes als Schnee. Nur im Kreideland zeigte sich Grün. Es war wie eine Insel.

»Siehst du, wie ich lerne?«, fragte der Winterschmied. »Das Kreideland gehört dir. Dort wird der Sommer kommen, damit du glücklich bist. Und du wirst meine Braut sein, damit ich glücklich bin. Und alle werden glücklich sein. Glück ist, wenn die Dinge richtig sind. Jetzt bin ich Mensch. Ich verstehe diese Dinge.«

Schrei nicht, heul nicht, sagten Tiffanys Dritte Gedanken. Und erstarre auch nicht zu Eis.

»Oh... ich verstehe«, sagte sie. »Und im Rest der Welt bleibt es Winter?«

»Nein, es gibt einige Breiten, die meinen Frost nie spüren werden«, erwiderte der Winterschmied. »Aber in den Bergen, und in den Ebenen bis hin zum Runden Meer... allerdings.«

»Millionen von Menschen werden sterben!«

»Aber nur einmal, verstehst du? Das ist es, was es so wundervoll macht. Und danach gibt es keinen Tod mehr!« Und Tiffany sah es vor sich, wie auf einer Silvesterkarte: an Zweigen festgefrorene Vögel; Pferde und Kühe, die reglos auf den Feldern standen; gefrorene Grashalme, spitz wie Dolche; kein Rauch aus irgendeinem Schornstein; eine Welt ohne Tod, weil es nichts mehr gab, das sterben konnte, und alles glitzerte wie Lametta.

Sie nickte bedächtig. »Sehr... vernünftig«, sagte sie. »Aber es wäre schade, wenn sich überhaupt nichts mehr regen würde.«

»Oh, das ist kein Problem«, entgegnete der Winterschmied. »Schneeleute. Ich kann sie zu Menschen machen!« »Genug Eisen für einen Nagel?«, fragte Tiffany.

»Ja! Es ist leicht. Ich habe eine Wurst gegessen! Und ich kann denken! Ich habe nie zuvor gedacht. Ich war ein Teil. Jetzt bin ich für mich. Man muss für sich sein, um zu wissen, wer man ist.«

»Du hast Rosen aus Eis für mich gemacht«, sagte Tiffany.

»Ja! Da wurde ich bereits zu mir selbst!«

Aber die Rosen sind am Morgen geschmolzen, dachte Tiffany und sah zur blassen gelben Sonne hinauf. Sie hatte gerade genug Kraft, den Winterschmied zum Funkeln zu bringen. Er denkt tatsächlich wie ein Mensch, dachte sie und beobachtete das sonderbare Lächeln. Er denkt wie ein Mensch, der nie einem anderen Menschen begegnet ist. Er gackelt. Er ist so irre, dass er nie verstehen wird, wie irre er ist.

Er hat keine Ahnung, was »menschlich« bedeutet. Er weiß nicht, welch schreckliche Dinge er vorhat. Er... versteht einfach nicht. Und er ist so glücklich, dass er fast schon süß ist...

Rob Irgendwer hämmerte an Rolands Helm.

»Na los, Junge«, drängte er.

Roland starrte auf die leuchtende Gestalt. »Das kann nicht Tiffany sein!«

»Sie is' eine Göttin, sie kann wie alles aussehen«, sagte Rob Irgendwer. »Nur ein Küsschen auf die Wange, in Ordnung? Werd bloß nicht zu enthusiastisch, wir ham nich' den ganzen Tag Zeit. Eine kleines Küsschen, und wir verschwinden von hier.«

Etwas stieß gegen Rolands Fußknöchel. Es war ein Schimmelkäse.

»Mach dir keine Sorgen wegen Horace, er will nur, dass du das Richtige tust«, sagte der verrückte kleine blaue Mann, von dem Roland inzwischen wusste, dass er der Doofe Wullie war.

Er trat durch das knisternde Glühen hindurch näher, denn niemand möchte vor einem Käse als Feigling dastehen. »Das ist ein mir bisschen... peinlich«, sagte er.

»Potzblitz, bring's endlich hinter dich!«

Roland beugte sich vor und hauchte der Schlafenden einen Kuss auf die Wange.

Sie öffnete die Augen, und er wich hastig einen Schritt zurück.

»Das ist nicht Tiffany Weh!«, sagte er und blinzelte. Um sie herum standen die Bogels so dicht wie Grashalme. »Jetzt nimm ihre Hand und lauf los«, sagte Rob Irgendwer. »Die Bogels werden bestimmt unangenehm, wenn sie merken, dass wir wegwollen.« Er klopfte fröhlich an den Helm und fügte hinzu: »Aber das macht nichts,

nicht wahr? Denn wir ham 'nen Plan!«

»Hoffentlich habe ich mir alles richtig überlegt«, sagte Roland. »Meine Tanten meinten immer, ich wäre oberschlau.«

Rob Irgendwer erwiderte: »Freut mich zu hören, is' schließlich immer noch besser als unterschlau. So, un' jetzt schnapp dir die Sommerfrau und lauf!«

Roland versuchte, den Blick der jungen Frau zu meiden, als er ihre Hand nahm und sie behutsam von der Steinplatte zog. Sie sagte etwas in einer Sprache, die er nicht verstand, aber es hörte sich nach einem Fragezeichen am Ende des Satzes an.

»Ich bin gekommen, um dich zu retten«, sagte er. Sie sah ihn mit den goldenen Augen einer Schlange an.

»Das Schafmädchen ist in Schwierigkeiten«, erwiderte sie mit einer Stimme, die unangenehm hallte und zischte. »Sehr traurig, sehr traurig.«

»Nun, äh, wir sollten uns besser beeilen«, brachte Roland hervor. »Wer auch immer du bist...«

Die Nicht-Tiffany lächelte. Es war ein beunruhigendes Lächeln, irgendwie spöttisch. Sie liefen los.

»Wie kämpft ihr denn gegen die?«, keuchte Roland, als das Heer aus kleinen blauen Männern durch die Höhlen rannte.

»Ach, wir schmecken ihnen nich' besonders«, antwortete Rob Irgendwer, während sich die Schatten vor ihnen teilten.

»Vielleicht liegt's daran, dass wir gern ans Saufen denken, verstehste, davon werden sie beschwipst. Weiter, weiter!«

Und genau in diesem Moment schlugen die Bogels zu, obwohl man eigentlich nicht von Zuschlagen reden konnte. Es war eher so, als liefe man in eine Wand aus flüsternden Stimmen. Nichts versuchte, einen zu packen. Es waren keine Klauen im Spiel. Wenn tausende von schwachen kleinen Wesen wie Garnelen oder Fliegen versuchen würden, jemanden aufzuhalten - so würde es sich anfühlen.

Doch der Fährmann wartete schon auf sie. Er hob die Hand, als Roland zum Boot wankte.

DAS MACHT SECHS CENT, sagte er.

»Sechs?«, wiederholte Roland.

»Meine Güte, wir waren nich' länger als zwei Stunden hier unten, und schon sin' sechs Cent daraus geworden!«, sagte der Doofe Wullie.

EINE TAGESRÜCKFAHRKARTE, EIN EINZELFAHRSCHEIN, sagte der Fährmann.

»So viel habe ich nicht!«, rief Roland. Er spürte ein leichtes Ziehen im Kopf. Seine Gedanken mussten sich anstrengen, um den Mund zu erreichen.

»Überlasst das mir«, sagte Rob Irgendwer. Er drehte sich zu den anderen Größten um und trommelte auf Rolands Helm, damit es still wurde.

»Na schön, Jungs«, verkündete er. »Wir bleiben hier!«

WAS? fragte der Fährmann. O NEIN IHR VERLASST DIE UNTERWELT! ICH WILL EUCH NICHT NOCH MAL HIER UNTEN HABEN! WIR FINDEN NOCH IMMER FLASCHEN VOM LETZEN MAL AB INS BOOT MIT EUCH AUF DER STELLE!

»Potzblitz, das geht nich', Kumpel«, sagte Rob Irgendwer. »Wir haben die Pflicht, diesem Jungen zu helfen, weißte. Wo er nich' hingeht, gehen auch wir nich' hin!«

MAN ERWARTET VON NIEMANDEM, DASS ER HIERBLEIBEN WILL !, protestierte der Fährmann.

»Ach, bald geht's hier wieder richtig rund«, sagte Rob Irgendwer grinsend.

Der Fährmann trommelte mit den Fingern auf den Ruderschaft. Sie klickten wie Würfel.

NA SCHÖN. ABER EINS MÖCHTE ICH KLARSTELLEN: ES WIRD AUF KEINEN FALL GESUNGEN!

Roland zerrte das Mädchen ins Boot. Die Bogels kamen zwar nicht näher, aber als der Fährmann das Boot vom Ufer abstieß, trat der Große Yan Roland auf den Fuß und deutete nach oben. Hunderte gekritzelte Linien aus orangefarbenem Licht huschten über die Höhlendecke. Und am anderen Ufer waren es noch mehr.

»Was macht der Plan, Herr Held?«, fragte Rob Irgendwer leise und kletterte vom Helm des Jungen herunter.

»Ich warte auf den richtigen Moment«, sagte Roland von oben herab. Dann schaute er die Nicht-Tiffany an. »Ich bin gekommen, um dich hier rauszubringen«, sagte er, wobei er versuchte, ihr nicht in die Augen zu sehen. »Du?«, fragte die Nicht-Tiffany so, als fände sie diese Vorstellung amüsant.

»Nun, wir«, korrigierte sich Roland. »Alles ist...«

Mit einem dumpfen Schlag stieß das Boot auf der anderen Seite des Flusses ans Ufer, wo die Bogels so dicht an dicht standen wie die Halme auf einem Kornfeld.

»Also los«, sagte der Große Yan.

Roland zog die Nicht-Tiffany einige Schritte weit mit sich und blieb dann stehen. Wenn er blinzelte, bestand der Weg vor ihnen aus einer einzigen wimmelnden, orangefarbenen Masse. Wieder spürte er das leichte Ziehen, nicht stärker als eine Brise. Aber es machte sich auch in seinem Gehirn bemerkbar. Kalt und nagend. Das war idiotisch. Es konnte nicht klappen. Es überforderte ihn. Mit solchen

Dingen kam er nicht zurecht. Er war eigensinnig, unbedacht und ungehorsam, wie seine... Tanten... sagten.

Hinter ihm rief der Doofe Wullie in seiner fröhlichen Art: »Sorg dafür, dass deine Tanten stolz auf dich sin'!« Roland drehte sich halb um. »Meine Tanten?«, erwiderte er zornig. »Ich erzähl dir mal was von meinen Tanten...«

»Keine Zeit, Junge!«, rief Rob Irgendwer. »Mach dich ans Werk!«

Roland blickte sich um. In seinem Kopf loderte der Zorn.

Unsere Erinnerungen sind real, dachte er. Und ich lasse mir das nicht bieten!

Er wandte sich an die Nicht-Tiffany und sagte: »Hab keine Angst.« Dann streckte er die linke Hand aus und flüsterte: »Ich erinnere mich... an ein Schwert...«

Als er die Augen schloss, war es da - so leicht, dass er es kaum fühlte, so dünn, dass er es kaum sah, ein Strich in der Luft, der hauptsächlich aus Schärfe bestand. Tausend Feinde hatte er damit im Spiegel getötet. Dieses Schwert war nie zu schwer und bewegte sich wie ein Teil von ihm, und jetzt hielt er es in der Hand. Eine Waffe, die alles niederstreckte, was einen festhielt, log und stahl. Er packte fest zu und lächelte.

»Vielleicht kann man tatsächlich jemanden in einem Rutsch zum Helden machen«, sagte Rob Irgendwer nachdenklich, während gekritzelte Bogels aus dem Nichts entstanden und wieder verloschen. Er sah den Doofen Wullie an. »Doofer Wullie«, sagte er, »erinnerst du dich, wie ich dir mal versichert hab, dass du manchmal genau das Richtige sagst?«

Der Doofe Wullie wirkte verblüfft. »Um ganz ehrlich zu sein, Rob: Nein, ich erinnere mich nich' daran, dass du mir jemals so was gesagt hast.«

»Ach?«, erwiderte Rob Irgendwer. »Nun, wenn ich es getan hätte, so wäre dies eine jener Gelegenheiten gewesen.«

Der Doofe Wullie sah Rob besorgt an. »Das is' doch in Ordnung, oder? Ich habe was Richtiges gesagt?«

»Ja, das hast du, Doofer Wullie. Zum ersten Mal. Ich bin stolz auf dich«, sagte Rob.

Ein fettes Grinsen machte sich im Gesicht des Doofen Wullie breit. »Potzblitz! He, Jungs, ich habe...«

»Aber übertreib es nich'«, fügte Rob hinzu.

Roland schwang sein Schwert aus Luft, und die Bogels teilten sich wie Spinnweben. Es kamen mehr und immer mehr, doch der silberne Strich fand sie alle und hieb ihm den Weg in die Freiheit frei. Die Angreifer wichen zurück, versuchten es mit neuen Formen und schreckten vor der Hitze des Zorns in Rolands Kopf zurück. Das Schwert summte. Bogels wanden sich um die Klinge, kreischten, sanken zu Boden und lösten sich zischend auf...

... und jemand hämmerte an seinen Helm. Schon seit einer ganzen Weile.

»Hä?«, fragte Roland und öffnete die Augen.

»Es sin' keine mehr da«, sagte Rob Irgendwer. Schwer atmend sah Roland sich um. Ob er die Augen schloss oder nicht: In den Höhlen gab es keine orangefarbenen Streifen mehr. Die Nicht-Tiffany beobachtete ihn mit einem seltsamen Lächeln.

»Entweder wir gehen jetzt, oder du kannst warten, bis noch mehr von den Biestern aufkreuzen«, brummte Rob Irgendwer.

»Und da sind sie schon«, sagte Billy Breitkinn. Er deutete über den Fluss. Eine Masse aus reinem Orange strömte in die Höhle, so viele Bogels , dass es zwischen ihnen keine Lücken mehr gab.

Roland zögerte. Er rang noch immer nach Atem.

»Ich mach dir 'nen Vorschlag«, sagte Rob Irgendwer in tröstendem Ton. »Wenn du 'n braver Junge bis' und die Dame rettest, bringen wir dich noch mal hierher, mit 'nem gut gefüllten Picknickkorb, und dann machen wir uns 'nen schönen Tag.«

Roland blinzelte. »Ah, ja«, sagte er. »Ahm... Entschuldigung. Ich weiß gar nicht, was da eben geschehen ist...« »Auf geht's!«, rief der Große Yan. Roland ergriff die Hand der Nicht-Tiffany.

»Un' schau dich nicht um, bis wir die Unterwelt verlassen ham«, sagte Rob Irgendwer. »Das is' sonne Art Tradition.«

Oben auf dem Turm erschien die Eiskrone in den blassen Händen des Winterschmieds. Selbst im matten Sonnenschein funkelte sie heller als Diamanten. Sie bestand aus reinstem Eis - ohne Luftblasen, Risse und Verschmutzungen.

»Die habe ich für dich gemacht«, sagte er. »Die Sommerfrau wird sie nie tragen«, fügte er traurig hinzu.

Sie passte perfekt und fühlte sich gar nicht kalt an.

Der Winterschmied trat zurück.

»Und jetzt ist es vollbracht«, sagte er.

»Auch für mich gibt es etwas zu vollbringen«, sagte Tiffany »Aber zuerst möchte ich etwas wissen. Du hast also die Dinge gefunden, aus denen der Mensch besteht?«

»Ja!«

»Woher wusstest du, was dafür nötig ist?«

Der Winterschmied erzählte ihr stolz von den Kindern, während Tiffany vorsichtig Luft holte und versuchte, sich

zu entspannen. Seine Logik war sehr... logisch. Wenn eine Möhre und zwei Kohlen einen Haufen Schnee zu einem Schneemann machen können, dann kann aus einem großen Eimer mit Salzen, Gasen und Metall zweifellos ein Mensch werden. Es... ergab einen Sinn. Zumindest für den Winterschmied.

»Aber du solltest auch den Rest des Lieds kennen«, sagte Tiffany. »Es handelt vor allem davon, woraus Menschen bestehen, nicht davon, was Menschen sind.«

»Es gab einige Dinge, die ich nicht finden konnte«, sagte der Winterschmied. »Sie ergaben keinen Sinn. Sie hatten keine Substanz.«

»Ja.« Tiffany nickte traurig. »Ich schätze, es geht dabei um die letzten drei Zeilen. Genau das meine ich. Tut mir wirklich leid.«

»Aber eines Tages werde ich sie finden«, sagte der Winterschmied. »Ganz bestimmt.«

»Das hoffe ich«, erwiderte Tiffany. »Und nun... Hast du jemals von Boffo gehört?«

»Was ist dieses Boffo?«, fragte der Winterschmied beunruhigt. »Im Lied war nicht die Rede davon!«

»Oh, mit Boffo verändern die Menschen die Welt, indem sie sich selbst täuschen«, erklärte Tiffany. »Es ist wundervoll. Boffo zufolge haben die Dinge nur dann Macht, wenn die Menschen ihnen Macht verleihen. Man kann Dinge zu Magie machen, aber man kann mit Magie keinen Menschen aus Dingen machen. Es ist nur ein Nagel im Herzen. Nur ein Nagel.«

Die Zeit ist gekommen, und ich weiß, was es zu tun gilt, dachte Tiffany verträumt. Ich weiß, wie die Geschichte enden muss. Ich muss dafür sorgen, dass sie das richtige Ende bekommt.

Sie zog den Winterschmied an sich und sah die Überraschung in seinem Gesicht. Schwindel und Benommenheit erfassten sie; es fühlte sich an, als würden ihre Füße über dem Boden schweben. Die Welt wurde... einfacher, zu einem Tunnel, der in die Zukunft führte. Tiffany sah nur noch das Gesicht des Winterschmieds, hörte nur noch ihren eigenen Atem und fühlte allein den warmen Sonnenschein auf dem Haar.

Es war zwar nicht die brennende Sonne des Sommers, aber es gab weit und breit kein größeres Feuer.

Wohin auch immer mich dies bringt, ich entscheide, dorthin zu gehen, dachte sie und ließ die Wärme in sich hineinfließen. Ich entscheide. Es ist meine Entscheidung. Und ich muss mich auf die Zehenspitzen stellen, fügte sie hinzu.

Donner in meiner rechten Hand. Blitz in meiner linken.

Feuer über mir...

»Bitte nimm den Winter weg«, sagte sie. »Kehr in deine Berge zurück. Bitte.«

Eis vor mir...

»Nein. Ich bin der Winter. Ich kann nichts anderes sein.«

»Dann kannst du auch kein Mensch sein«, sagte Tiffany. »Die letzten drei Zeilen lauten: >Genug Kraft, um ein Haus zu bauen, genug Zeit, ein Kind zu halten, genug Liebe, um ein Herz zu brechen.<«

Gleichgewicht... und es kam schnell, aus dem Nichts, und hob sie innerlich hoch.

Die Mitte der Wippe bewegt sich nicht. Sie fühlt weder Oben noch Unten. Sie befindet sich im Gleichgewicht.

Gleichgewicht... Und seine Lippen waren wie blaues Eis. Tiffany würde später um den Winterschmied weinen, der ein Mensch sein wollte.

Gleichgewicht... und die alte Kelda hatte ihr einmal gesagt: »Es gibt ein klitzekleines Stück in dir, das nicht schmilzt und nicht zerfließt.«

Zeit zum Schmelzen.

Tiffany schloss die Augen und küsste den Winterschmied ...

... und holte die Sonne herunter.

Eis zu Feuer.

Der ganze obere Teil des Eispalastes schmolz in einem weißen Lichtblitz, der noch hundert Meilen entfernt Schatten an Wände warf. Eine Säule aus Dampf donnerte empor, von Blitzen durchsetzt, breitete sich wie ein Schirm über der Welt aus und verdunkelte die Sonne. Dann fiel ein sanfter, warmer Regen aus ihr, der kleine Wurmlöcher in den Schnee bohrte.

Tiffanys Kopf, der normalerweise immer voller Gedanken steckte, war leer. Sie lag auf einer Eisplatte im warmen Regen und hörte, wie um sie herum der Palast einstürzte.

Manchmal ist all das, was man tun kann, getan, und dann kann man sich nur noch zusammenrollen und darauf warten, dass das Donnern aufhört.

Es lag noch etwas anderes in der Luft, ein goldenes Schimmern, das verschwand, wenn Tiffany den Blick darauf zu richten versuchte, und dann wieder in ihrem Augenwinkel erschien.

Der Palast schmolz wie ein Wasserfall. Die Platte, auf der sie lag, rutschte und schwamm eine Treppe hinunter, die sich in einen Fluss verwandelte. Über ihr stürzten riesige Eissäulen um, verwandelten sich noch im Fallen in warmes Wasser und erreichten den Boden schließlich als Sprühregen.

Leb wohl, glitzernde Krone, dachte Tiffany. Leb wohl, Kleid aus tanzendem Licht, und lebt wohl, ihr Eisrosen

und Schneeflocken. Wie schade. Wie schade.

Und dann war Gras unter ihr, und so viel Wasser strömte an ihr vorbei, dass sie aufstehen musste, um nicht zu ertrinken. Sie schaffte es zumindest, sich hinzuknien, und wartete, bis sie sich erheben konnte, ohne von den Beinen gerissen zu werden.

»Du hast etwas, das mir gehört, Kind«, ertönte eine Stimme hinter ihr. Tiffany drehte sich um, und das goldene Licht wurde zu einer Gestalt. Sie sah aus wie sie selbst, aber die Augen ähnelten denen... einer Schlange. Unter den gegenwärtigen Umständen, noch mit dem Tosen der Sonnenhitze in den Ohren, wunderte Tiffany gar nichts mehr.

Langsam holte sie das Füllhorn aus der Tasche und reichte es der Gestalt.

»Du bist die Sommerfrau, nicht wahr?«, fragte sie.

»Und du bist das Schafmädchen, das meinen Platz einnehmen wollte.« Ein Zischen begleitete die Worte.

»Das wollte ich gar nicht!«, erwiderte Tiffany hastig. »Warum siehst du wie ich aus?«

Die Sommerfrau setzte sich ins dampfende Gras. Es ist sehr seltsam, sich selbst zu beobachten, und Tiffany bemerkte, dass sie einen kleinen Leberfleck am Nacken hatte.

»Man nennt so etwas Resonanz«, sagte die Sommerfrau. »Weißt du, was das ist?«

»Es bedeutet >mitschwingen<«, erwiderte Tiffany.

»Woher weiß ein Schafmädchen so etwas?«

»Ich habe ein Wörterbuch«, sagte Tiffany. »Und außerdem bin ich eine Hexe.«

»Nun, während du dir Dinge von mir angeeignet hast, Schafmädchen, habe ich mir Dinge von dir angeeignet«, sagte die Sommerfrau. Sie erinnerte Tiffany stark an Annagramma. Und das war eine Erleichterung. Sie klang nicht klug oder nett... Sie war nur eine andere Person, die zufälligerweise über große Macht verfügte, aber nicht übermäßig klug war und einem, ehrlich gesagt, ein bisschen auf die Nerven ging.

»Wie sieht deine wahre Gestalt aus?«, fragte Tiffany.

»Es ist die Gestalt der Hitze auf einer Straße und des Duftes eines Apfels.« Klingt hübsch, dachte Tiffany. Ist aber nicht sonderlich hilfreich.

Sie setzte sich neben die Göttin. »Bin ich in Schwierigkeiten?«, fragte sie.

»Wegen dem, was du mit dem Winterschmied angestellt hast? Nein. Er muss jedes Jahr sterben, so wie ich. Wir sterben, schlafen und erwachen. Außerdem war es... unterhaltsam.«

»Ach, es war unterhaltsam, wie?«, fragte Tiffany und kniff die Augen zusammen.

»Was willst du?«, fragte die Sommerfrau. Ja, dachte Tiffany, genau wie Annagramma. Versteht nicht einmal einen Wink mit dem Zaunpfahl.

»Was ich will?«, erwiderte Tiffany. »Nichts. Ich möchte nur, dass es Sommer wird, das genügt.«

Die Sommerfrau musterte sie verwundert. »Aber Menschen wollen immer etwas von Göttern.«

»Hexen lassen sich nicht bezahlen. Grünes Gras und blauer Himmel reichen völlig aus.«

»Was? Aber das kriegst du sowieso!« Die Sommerfrau klang sowohl verwirrt als auch verärgert, und das erfüllte Tiffany mit einer klammheimlichen Schadenfreude. »Gut«, sagte sie.

»Du hast die Welt vor dem Winterschmied gerettet!«

»Eigentlich habe ich sie vor einem törichten Mädchen gerettet, Fräulein Sommer. Ich habe nur das wiedergutgemacht, was ich vorher angerichtet habe.«

»Wegen eines dummen Fehlers willst du keine Belohnung haben? Das wäre aber dumm von dir.«

»Nein, das wäre nur vernünftig«, sagte Tiffany. Es war ein gutes Gefühl, das zu sagen. »Der Winter ist vorbei. Das weiß ich. Ich war von Anfang an dabei. Ich habe entschieden, dorthin zu gehen, wohin es mich brachte. Es war meine Entscheidung, dass ich mit dem Winterschmied tanzte.«

Die Sommerfrau stand auf. »Erstaunlich«, sagte sie. »Und seltsam. Und jetzt trennen sich unsere Wege. Aber vorher muss noch eins getan werden. Steh auf, junge Frau.«

Tiffany kam der Aufforderung nach, und als sie dem Sommer ins Gesicht sah, wurden die goldenen Augen zu Gruben, die sie aufsogen.

Und dann füllte der Sommer sie aus. Vermutlich vergingen nicht mehr als einige Sekunden, aber in ihrem Innern schien es viel länger zu dauern. Tiffany fühlte, wie es war, als leichte Brise an einem Frühlingstag durch grüne Kornfelder zu streichen, einen Apfel reifen und den Lachs über die Stromschnellen springen zu lassen... Die Eindrücke stürmten alle auf einmal auf sie ein und verschmolzen zu einem großen, glitzernden, goldgelben Gefühl von Sommer ...

... der heißer wurde. Die Sonne stand jetzt rot an einem glühenden Himmel. Wie warmes Öl glitt Tiffany durch die Luft bis in die sengende Stille der tiefsten Wüste, wo selbst

Kamele sterben. Nichts Lebendiges gab es dort. Nichts bewegte sich außer Asche.

Sie schwebte ein ausgetrocknetes Flussbett entlang, an dessen Ufern weiße Tierknochen lagen. Es gab keinen Schlamm, nicht einen Tropfen Flüssigkeit in diesem Ofen von einem Land. Es war ein Fluss aus Steinen:

Achate, gebändert wie ein Katzenauge; lose herumliegende Granate; Sternachate oder Donnereier mit ihren

Farbringen; braune Steine, orangefarbene, cremeweiße, manche mit schwarzen Adern, alle von der Hitze poliert. »Dies ist das Herz des Sommers«, zischte die Stimme der Sommerfrau. »Fürchte mich ebenso sehr wie den Winterschmied. Wir gehören euch nicht, obwohl ihr uns Gestalt und Namen gebt. Feuer und Eis sind wir, im Gleichgewicht. Dräng dich nicht noch einmal zwischen uns...«

Und endlich regte sich etwas an diesem leblosen Ort. Aus Lücken zwischen den Steinen kamen sie hervor, wie lebendig gewordene Steine: bronzefarben und rot, dunkelbraun und gelb, schwarz und weiß, gescheckt und mit tödlich glänzenden Schuppen.

Die Schlangen kosteten die kochende Luft mit gespaltenen Zungen und zischten triumphierend.

Die Vision verschwand. Die Welt kehrte zurück.

Das Wasser war abgelaufen. Der immer währende Wind hatte Wolkenschleier aus Nebel und Dunst gezupft, aber die unbesiegbare Sonne fand einen Weg hindurch. Und wie es immer geschieht, und immer viel zu schnell, wird das Seltsame und Wundervolle zu einer Erinnerung, und die Erinnerung zu einem Traum. Morgen ist es fort.

Tiffany wanderte dort durchs Gras, wo der Palast gestanden hatte. Einige Eisbrocken waren übrig geblieben, aber in einer Stunde würden sie alle geschmolzen sein. Wolken standen am Himmel, aber die zogen fort. Die normale Welt drängte mit ihren langweiligen kleinen Liedern auf sie ein. Sie schritt über eine Bühne, die Vorstellung war vorbei, und wer konnte jetzt sagen, dass sich das alles wirklich zugetragen hatte?

Irgendwas zischte im Gras. Tiffany griff danach und hob ein Stück Metall hoch. Es hatte noch etwas von der Hitze in sich, die es verbogen hatte, aber man konnte erkennen, dass es ein Nagel gewesen war...

Nein, ich nehme kein Geschenk an, nur damit sich der Schenkende besser fühlt, dachte sie. Warum sollte ich?

Ich suche mir meine Geschenke selbst. Sie fand mich... »unterhaltsam«, mehr nicht.

Aber er... Er machte mir Rosen und Eisberge und Eisblumen, ohne zu verstehen...

Tiffany drehte sich um, als sie plötzlich Stimmen hörte. Die kleinen blauen Männer kamen über die Hänge gelaufen, so schnell, dass ein Mensch gerade noch mit ihnen Schritt halten konnte. Und Roland hielt Schritt mit ihnen, auch wenn er ein wenig keuchte und in seinem übergroßen Kettenhemd wie eine Ente lief.

Tiffany lachte.

Zwei Wochen später kehrte Tiffany nach Lancre zurück. Roland brachte sie bis nach Zweihemden, und der spitze Hut beförderte sie den Rest des Weges. Sie hatte Glück. Der Kutscher erinnerte sich an Fräulein Tick, und da es auf dem Dach einen freien Platz gab, hatte er keine Lust, das ganze Theater noch einmal durchzumachen. Die Straßen waren überflutet, in den Gräben plätscherte es laut, und angeschwollene Flüsse saugten an den Brücken.

Zuerst besuchte sie Nanny Ogg, die unbedingt alles genau wissen wollte. Das sparte Zeit, denn wenn man mit Nanny Ogg gesprochen hatte, wussten wenig später alle davon. Als Nanny hörte, was genau Tiffany mit dem Winterschmied gemacht hatte, wollte sie gar nicht wieder aufhören zu lachen. Dann lieh sich Tiffany Nannys Besen und flog langsam über den Wald zu Fräulein Verrats Hütte.

Dort war ziemlich viel los. Auf der Lichtung gruben Männer im Gemüsegarten die Erde um, und massenhaft Leute warteten vor der Tür. Tiffany landete ein Stück entfernt im Wald, schob den Besen in einen Kaninchenbau und ihren Hut unter einen Busch und ging dann zu Fuß.

Dort, wo der Weg auf die Lichtung führte, steckte eine Art Puppe in einer Birke, bestehend aus vielen zusammengebundenen Zweigen. Sie war neu und machte einem irgendwie Angst, was sie vermutlich auch sollte. Tiffany ging durch den Wald zum Hintereingang.

Niemand sah, wie sie den Riegel der Spülküchentür hob und in die Hütte schlüpfte. Sie lehnte sich an die Küchenwand und stand ganz still.

Aus dem Nebenzimmer war die unverkennbare Stimme von Annagramma zu hören.

»...nur ein Baum, verstehst du? Fällt ihn und teilt das Holz. Einverstanden? Und jetzt gebt euch die Hand. Na los. Ich meine es ernst. Gebt euch richtig die Hand, oder ich werde echt sauer! Gut. Fühlt sich gleich besser an, nicht wahr? Schluss mit diesen Dummheiten...«

Nachdem sich Tiffany zehn Minuten lang angehört hatte, wie Leute ausgeschimpft, angemeckert und auf Trab gebracht wurden, verließ sie die Hütte wieder, huschte durch den Wald und kehrte auf dem Weg zur Lichtung zurück. Eine Frau eilte ihr entgegen, blieb aber stehen, als Tiffany sagte: »Entschuldigung, wohnt hier eine Hexe?«

»Ooooh, ja«, antwortete die Frau und musterte Tiffany neugierig. »Du bist nicht von hier, was?«

»Nein«, sagte Tiffany und dachte: Ich habe hier monatelang gelebt, Frau Fuhrmann, und wir sind uns fast jeden Tag begegnet. Aber ich habe immer den Hut getragen. Die Leute sprechen immer mit dem Hut. Ohne den Hut bin ich verkleidet.

»Nun, hier wohnt Fräulein Falkin«, sagte Frau Fuhrmann so, als widerstrebte es ihr, ein Geheimnis preiszugeben. »Sie verwandelt sich in ein schreckliches Ungeheuer, wenn sie zornig wird! Ich habe es selbst

gesehen! Uns tut sie natürlich nichts«, fügte sie hinzu. »Viele junge Hexen sind hierher gekommen, um von ihr zu lernen!«

»Meine Güte, sie muss wirklich gut sein!«, sagte Tiffany.

»Sie ist erstaunlich«, fuhr Frau Fuhrmann fort. »Nur fünf Minuten war sie hier und schien bereits alles über uns zu wissen!«

»Na so was«, sagte Tiffany. Als hätte es jemand aufgeschrieben. Zweimal. Aber das wäre nicht annähernd so interessant, nicht wahr? Und wer würde glauben, dass eine echte Hexe ihr Gesicht bei Boffo gekauft hat?

»Und sie hat einen Kessel, in dem es grün blubbert«, sagte Frau Fuhrmann mit großem Stolz. »Das Zeug quillt andauernd über den Rand. Das ist richtige Hexerei, jawohl.«

»Klingt ganz danach«, entgegnete Tiffany. Keine ihr bekannte Hexe hatte mit einem Kessel jemals etwas anderes gemacht als Eintopf gekocht, aber aus irgendeinem Grund glaubten die Leute tief in ihrem Herzen, dass es in einem Hexenkessel grün blubbern sollte. Das war vermutlich der Grund dafür, warum Herr Boffo Artikel Nr. 61 im Angebot hatte: »Blubbernder grüner Kessel mit allem Drum und Dran, $ 14, Nachfüllpackungen Grün jeweils $ 1«.

Nun, es funktionierte. Eigentlich sollte es das nicht, aber die Menschen waren eben Menschen. Tiffany nahm an, dass Annagramma momentan nicht sonderlich daran interessiert war, Besuch zu empfangen, erst recht nicht von jemandem, der den Boffo-Katalog von A bis Z kannte. Deshalb holte sie ihren Besen und machte sich auf den Weg zu Oma Wetterwachs.

Hinter ihrer Hütte befand sich jetzt ein Hühnerhof. Die Umzäunung bestand aus biegsamen, sorgfältig miteinander verflochtenen Haselnusszweigen. Zufriedenes Gackern war von drinnen zu hören.

Oma Wetterwachs trat gerade durch die Hintertür und sah Tiffany an, als hätte sich diese nur kurz die Füße vertreten.

»Ich habe in der Stadt zu tun«, sagte sie. »Es würde mir nichts ausmachen, wenn du mitkommst.« Das war nach Omas Maßstäben ein Empfang mit Blaskapelle und einer feierlichen Begrüßungsrede. Tiffany schloss sich ihr an, und sie gingen den Weg entlang.

»Ich hoffe, es geht dir gut, Frau Wetterwachs«, sagte sie und musste sich beeilen, um nicht hinter Oma zurückzubleiben.

»Ich weiß nur, dass ich noch immer hier bin, nach einem weiteren Winter«, antwortete Oma Wetterwachs. »Du siehst gut aus, Mädchen.«

»Oh, danke.«

»Wir haben von hier oben den Dampf gesehen«, sagte Oma.

Tiffany schwieg. Das war alles? Tja. Von Oma durfte man nicht mehr erwarten.

Nach einer Weile fragte die alte Hexe: »Bist zurückgekommen, um deine Freundinnen zu treffen, nicht wahr?« Tiffany atmete tief durch. In Gedanken war sie dies zigmal durchgegangen: was sie sagen würde, was Oma sagen würde, was sie ihr an den Kopf werfen würde, was Oma ihr an den Kopf werfen würde...

»Du hast es geplant, nicht wahr?«, platzte es aus ihr heraus. »Wenn du eine der anderen vorgeschlagen hättest, so hätte vermutlich sie die Hütte bekommen, und deshalb hast du mich vorgeschlagen. Und du hast gewusst, du hast gewusst, dass ich ihr helfen würde. Und es hat alles geklappt, nicht wahr? Ich wette, alle Hexen in den Bergen wissen inzwischen, was geschehen ist. Ich wette, Frau Ohrwurm kocht vor Zorn. Und das Beste an allem ist: Niemand ist zu Schaden gekommen. Annagramma macht dort weiter, wo Fräulein Verrat aufgehört hat, die Dorfbewohner sind zufrieden, und du hast gewonnen! Oh, bestimmt behauptest du, dass es mich beschäftigen, vom Winterschmied ablenken und wichtige Dinge lehren sollte, aber du hast trotzdem gewonnen!«

Oma Wetterwachs ging ruhig weiter. Nach einer Weile sagte sie: »Wie ich sehe, hast du deinen Flitterkram zurück.«

Es war so, als würde es blitzen, ohne zu donnern. Oder als ob man einen Stein in einen Teich warf, ohne dass es platschte.

»Was? Oh. Das Pferd. Ja! Weißt du, ich...«

»Was für ein Fisch?«

»Äh... ein Hecht«, sagte Tiffany.

»Manche mögen Hecht, aber mir schmeckt er zu schlammig. In den meisten Geschichten ist es ein Lachs.«

Und das war's. Gegen Omas Ruhe kam man einfach nicht an. Tiffany konnte schimpfen und quengeln, soviel sie wollte, es nützte nichts. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass Oma jetzt wenigstens wusste, dass sie es wusste. Es war nicht viel, aber mehr bekam sie nicht.

»Und das Pferd ist nicht der einzige Flitterkram, wie ich sehe«, fuhr Oma fort. »MagieH, wie?« Sie hängte an jede Art von Magie, die sie nicht mochte, ein großes H an.

Tiffany blickte auf den Ring an ihrem Finger. Er glänzte matt. Er würde nicht rosten, solange sie ihn trug, hatte ihr der Schmied gesagt. Wegen der Fette in ihrer Haut. Er hatte sich sogar die Zeit genommen, mit einem kleinen Meißel winzige Schneeflocken hineinzuritzen.

»Es ist nur ein Ring, den ich aus einem Nagel machen lassen habe«, sagte sie.

»Genug Eisen für einen Ring«, murmelte Oma, und Tiffany blieb abrupt stehen. Konnte sie wirklich fremde Gedanken lesen? Es musste etwas in der Art sein.

»Und warum wolltest du einen Ring?«, fragte Oma.

Aus vielerlei Gründen, von denen ihr keiner richtig klar war. Sie sagte nur: »Zu jenem Zeitpunkt schien es mir eine gute Idee zu sein.« Sie wartete auf die Explosion.

»Dann war es das vermutlich«, sagte Oma sanft. Sie blieb ebenfalls stehen und deutete in die Richtung von Nanny Oggs Haus. »Ich habe sie eingezäunt. Natürlich wird sie auch auf andere Weise geschützt, aber manche Tiere sind zu dumm, um sich abschrecken zu lassen.«

Sie meinte die junge Eiche, die bereits anderthalb Meter hoch war. Ein Zaun aus Pfählen und miteinander verwobenen Zweigen umgab sie.

»Wächst schnell, für eine Eiche«, sagte Oma. »Ich behalte sie im Auge. Aber komm jetzt, ich möchte es nicht verpassen.« Mit schnellen Schritten setzte sie sich wieder in Bewegung. Tiffany lief ihr verwundert nach.

»Was willst du nicht verpassen?«, schnaufte sie.

»Den Tanz natürlich!«

»Ist es dafür nicht zu früh?«

»Nicht hier oben. Die Tänze beginnen hier!«

Oma Wetterwachs eilte über schmale Pfade und an Gärten hinter Häusern vorbei, bis sie schließlich den Dorfplatz erreichte, der voller Leute war. Kleine Buden waren errichtet worden, und viele Menschen standen mit irgendwie hoffnungslosem und leicht verlegenem Gesicht herum, wie sie es immer tun, wenn sie ihrem Herzen folgen und etwas tun, was ihrem Verstand peinlich ist. Aber wenigstens gab es heiße Dinge an Spießen zu essen. Außerdem gab es viele weiße Hühner. Die Eier waren sehr gut, hatte Nanny Ogg gesagt, es wäre eine Schande gewesen, sie zu schlachten.

Oma ging nach vorn durch. Sie musste sich keinen Weg durch die Menge bahnen - die Leute machten ihr Platz, ohne es zu merken.

Sie waren gerade rechtzeitig eingetroffen. Ein Haufen Kinder lief die Straße entlang zur Brücke, dicht vor den Tänzern, die - vom Narren mit dem Zylinder angeführt - wie ganz einfache, normale Männer wirkten - Männer, wie Tiffany sie oft gesehen hatte, bei der Arbeit in einer Schmiede oder beim Lenken eines Karrens. Sie alle trugen weiße Kleidung, oder zumindest Sachen, die einmal weiß gewesen waren, und wie das Publikum wirkten sie ein wenig verlegen. Ihre Mienen drückten aus, dass dies eigentlich alles nur ein Spaß war und nicht zu ernst genommen werden sollte. Sie winkten sogar Leuten in der Menge zu. Tiffany sah sich um und bemerkte Fräulein Tick, Nanny und sogar Frau Ohrwurm. Es waren fast alle Hexen da, die sie kannte. Auch Annagramma, ohne ihre kleine Boffo-Ausrüstung und mit einem sehr stolzen Gesichtsausdruck.

Im vergangenen Herbst war es ganz anders, dachte Tiffany. Es war dunkel, still, ernst und geheim, das genaue Gegenteil von dem hier. Wer beobachtete den Tanz aus dem Schatten heraus?

Wer beobachtet ihn jetzt im Licht? Wer muss sich hier verstecken?

In diesem Moment nahm Oma Wetterwachs den Hut ab und setzte das Kätzchen Du auf den Boden.

Ein Trommler und ein Mann mit einem Akkordeon schoben sich durch die Menge, begleitet vom Wirt der Dorfkneipe, der acht große Krüge Bier auf einem Servierbrett trug (denn kein erwachsener Mann tanzt mit bunten Bändern am Hut und Glöckchen an der Hose vor seinen Freunden, wenn nicht die reelle Aussicht auf ein großes Bier besteht).

Als es etwas ruhiger geworden war, schlug der Trommler einige Male auf die Trommel, und der Akkordeonspieler spielte einen lang gezogenen Akkord, das offizielle Signal dafür, dass der Moriskentanz beginnt. Wer sich dann immer noch nicht aus dem Staub macht, ist selbst schuld.

Die Zwei-Mann-Kapelle legte los. Die Männer bezogen Aufstellung, jeweils zu dritt und in zwei Reihen einander gegenüber, zählten den Takt und sprangen dann in die Luft...

Tiffany drehte sich zu Oma um, während zwölf genagelte Stiefel Funken sprühend auf den Boden knallten. »Erklär mir, wie man jemandem den Schmerz nimmt«, brüllte sie gegen den Lärm des Tanzes an.

Wumm!

»Das ist schwer«, antwortete Oma, ohne den Blick von den Tänzern abzuwenden. Wumm machten die Stiefel erneut.

»Kann man ihn aus dem Körper holen?«

Wumm!

»Manchmal. Oder ihn verstecken. Oder einen Käfig dafür basteln und ihn forttragen. Aber all das ist gefährlich, und er wird dich töten, wenn du ihn nicht respektierst, junge Dame. Das ist ein undankbares Unterfangen. Du bittest mich darum, dir zu zeigen, wie man die Hand ins Maul des Löwen legt.«

Wumm!

»Ich muss es wissen, um dem Baron zu helfen. Es geht ihm sehr schlecht. Es gibt viel für mich zu tun.«

»Ist es deine Entscheidung?«, fragte Oma, während sie weiter den Tanz beobachtete.

»Ja!«

Wumm!

»Meinst du den Baron, der keine Hexen mag?«, fragte Oma. Ihr Blick wanderte über die Gesichter in der Menge. »Wer mag Hexen schon, wenn er ihre Hilfe noch nie gebraucht hat, Frau Wetterwachs?«, erwiderte Tiffany liebenswürdig.

Wumm!

»Dann wären wir quitt, Frau Wetterwachs«, fügte Tiffany hinzu. Wenn man den Winterschmied geküsst hat, dann traut man sich so einiges. Und Oma Wetterwachs lächelte, als hätte Tiffany all das getan, was sie von ihr erwartete.

»Ha! Tatsächlich?«, erwiderte sie. »Na schön. Komm zu mir, bevor du gehst. Dann schauen wir mal, was du mitnehmen kannst. Und hoffentlich bist du imstande, die Türen wieder zu schließen, die du öffnest. Und jetzt beobachte die Leute! Manchmal zeigt sie sich!«

Tiffany wandte sich dem Tanz zu. Der Narr war erschienen, ohne dass sie es gemerkt hatte - er ging herum und sammelte Geld mit seinem fleckigen Zylinder. Wenn ein Mädchen aussah, als würde es bei einem Kuss quieken, so küsste er es. Und manchmal, von einem Augenblick zum anderen, sprang er in den Tanz und huschte im Durcheinander der Tänzer umher, ohne einen von ihnen zu berühren.

Dann sah Tiffany es. Die Augen einer Frau auf der anderen Seite des Tanzes blitzten golden auf, nur für einen Moment. Nachdem sie es das erste Mal gesehen hatte, sah sie es wieder: in den Augen eines Jungen, eines Mädchens, in denen des Mannes mit dem Bier... Es glitt umher, um dem Narren zuzuschauen...

»Die Sommerfrau ist hier!«, sagte Tiffany und merkte, dass sie mit dem Fuß im Takt der Musik auf den Boden klopfte. Sie merkte es, weil ein schwererer Stiefel gerade darauf getreten war und ihn sanft, aber fest am Boden festhielt. Daneben blickte Du mit blauäugiger Unschuld zu ihr auf, aus der für einen Sekundenbruchteil die goldenen Augen einer Schlange wurden.

»Das soll sie auch«, sagte Oma Wetterwachs und nahm den Stiefel fort.

»Ein paar Münzen fürs Glück, Fräulein?«, erklang eine Stimme in der Nähe. Sie hörte, wie Geld in einem alten Zylinder klimperte.

Tiffany drehte sich um und sah in violett-graue Augen. Das Gesicht darum herum war faltig und gebräunt und lächelte. Der Mann hatte einen goldenen Ohrring. »Eine Münze oder zwei von der hübschen Dame?«, bettelte er. »Vielleicht Silber oder Gold?«

Manchmal weiß man einfach, wie es weitergehen muss, dachte Tiffany.

»Eisen?«, fragte sie, zog den Ring vom Finger und ließ ihn in den Hut fallen.

Der Narr holte ihn hervor und warf ihn hoch. Tiffanys Blick folgte dem Ring, aber irgendwie befand er sich nicht mehr in der Luft, sondern steckte am Finger des Mannes.

»Eisen genügt«, sagte er und gab ihr einen plötzlichen Kuss auf die Wange.

Er war nur ein wenig kalt.

Viele kleine blaue Männer drängten sich auf den Galerien der Höhle, aber es herrschte Stille. Das war wichtig. Die Ehre des Clans stand auf dem Spiel.

In der Mitte lag ein großes Buch, größer als Rob Irgendwer und voller bunter Bilder. Die Reise hinab in die Erdhöhle hatte viele Flecken darauf hinterlassen.

Rob war herausgefordert worden. Jahrelang hatte er sich für einen Helden gehalten, un' dann hatte die Hexe der Hexen gesagt, dassa eigentlich gar keiner war. Nun, der Hexe der Hexen konnte man nich' widersprechen, aber er würde sich der Herausforderung stellen, un' ob, sonst wollte er nich' mehr Rob Irgendwer heißen.

»Wo is' meine Kuh?«, las er. »Is' das meine Kuh? Es macht >gack<! Es is' ein... ein... Huhn! Das is' nich' meine Kuh! Und dann is' hier noch ein kleines Bild mit zwei Hühnern drauf. Wieder eine Seite geschafft, nich' wahr?« »Allerdings, Rob«, bestätigte Billy Breitkinn.

Die versammelten Größten jubelten, während Rob um das Buch herumlief und winkte.

»Un' das hier is' viel schwerer als Abker, nich' wahr?«, fragte er nach seiner Runde. »Das war leicht! Hatte 'ne sehr vorhersehbare Handlung. Wer auch immer der Autor is', hat sich nich' überanstrengt, meiner Meinung nach.«

»Meinst du Das ABC}«, fragte Billy Breitkinn.

»Ja.« Rob Irgendwer sprang auf und ab und rammte die Fäuste einige Male in die Luft. »Hast du nich' was Schwierigeres?«

Der Dudler sah den Stapel mitgenommen wirkender Bücher an, die die Größten auf unterschiedliche Art und Weise gesammelt hatten.

»Etwas, in dem ich mich so richtig festbeißen kann«, fügte Rob hinzu. »Ein dickes Buch.«

»Dies hier heißt Prinzipien moderner Buchführung«, sagte Billy skeptisch.

»Un' das is' 'n großes heroisches Buch zum Lesen?«, fragte Rob, während er auf der Stelle lief.

»Ja, wahrscheinlich schon, aber...«

Rob Irgendwer unterbrach ihn, indem er die Hand hob. Er schaute zu Jeannie hinüber, die von einer Schar kleiner Größter umgeben war. Sie schenkte ihm ein Lächeln, und seine Söhne beobachteten ihren Vater mit stummer Bewunderung. Eines Tages, dachte Rob, werden sie imstande sein, selbst an das längste Wort heranzutreten und ihm einen ordentlichen Tritt zu geben. Nicht einmal Kommas oder hinterhältige Semikolons werden sie aufhalten!

Er musste ein Held sein.

»Ich hab 'n gutes Gefühl bei diesem Lesen«, sagte Rob Irgendwer. »Her mit dem Buch!«

Den ganzen Morgen über las er die Prinzipien moderner Buchführung, aber um es interessanter zu machen, dichtete er eine Menge Drachen hinzu.