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6. Füße und Sprossen

 

In der Hütte hingen die Betten zum Lüften, die Böden waren gefegt und der Korb mit Brennholz gefüllt. Auf dem Küchentisch lag Fräulein Verrats Nachlass: alle Löffel, Pfannen und Teller, im trüben Licht sorgfältig aufgereiht. Tiffany packte einige der Käselaibe ein; immerhin hatte sie sie selbst gemacht.

Der Webstuhl stand still in seinem Zimmer. Er wirkte wie eine Ansammlung von Tierknochen, doch unter dem großen Stuhl lag in schwarzes Papier eingewickelt das von Fräulein Verrat erwähnte Paket. Es enthielt einen aus brauner Wolle gewebten Mantel, so dunkel, dass er fast schwarz war. Er sah recht warm aus.

Das war's dann. Zeit zu gehen. Wenn Tiffany sich hinlegte und an einem Mäuseloch lauschte, konnte sie im Keller ein vielstimmiges Schnarchen hören. Die Größten waren der Ansicht, dass man sich nach einem schönen Begräbnis hinlegen und schlafen sollte. Sie zu wecken wäre keine gute 162

Idee gewesen. Die kleinen blauen Männer würden Tiffany schon finden. Sie fanden sie immer.

War das alles? Oh, nein, nicht ganz. Sie nahm Das ungekürzte Wörterbuch und Buchfinks Mythologie mit dem »Tazn der Jahrezseiten« aus dem Regal und steckte sie unter die Käselaibe in einen Beutel. Dabei öffneten sich die Bücher, und mehrere Dinge fielen auf den steinernen Boden, unter anderem ein paar vergilbte alte Briefe, die sie wieder in die Bücher legte.

Darunter war auch der Boffo-Katalog. Den Umschlag zierten ein grinsender Clown und die Worte:

Boffos Scherzartikel Und Schabernack zum Brüllen komisch!

Jede Menge Streiche!!!

WENN ES ZUM LACHEN IST. DANN IST ES EIN BOFFO!

Mit unserem Scherzartikel-Geschenkpaket bist du der Mittelpunkt der Party!!!

Sonderangebot des Monats:Rote Nasen zum halben Preis!!!

 

Ja, man konnte jahrelang versuchen, eine Hexe zu sein. Oder man gab viel Geld bei Herrn Boffo aus und wurde eine, sobald der Postbote kam.

Tiffany blätterte fasziniert darin herum. Das Angebot bestand aus Schädeln (für $ 8 extra leuchteten sie im Dunkeln), falschen Ohren, seitenweise komischen Nasen (bei Nasen über $ 5 gab es einen gespenstisch baumelnden Popel gratis dazu) und Masken in Hülle und Fülle. Die Beschreibung von Maske Nr. 19 lautete beispielsweise: Böse Hexe de Luxe, mit zerzaustem, fettigem Haar, verfaulten Zähnen und behaarten Warzen (werden lose mitgeliefert und können an beliebiger Stelle angebracht werden!!!). Fräulein Verrat hatte offenbar keine derartige Maske gekauft, vielleicht deshalb, weil die Nase wie eine Möhre aussah, oder, was Tiffany für wahrscheinlicher hielt, weil die Haut quietschgrün war. Ebenso hatte sie darauf verzichtet, sich »furchterregende Hexenhände« ($8 das Paar, mit grüner Haut und schwarzen Fingernägeln) und »stinkende Hexenfüße« ($ 9) zu besorgen.

Tiffany legte den Katalog ins Buch zurück. Sie durfte ihn nicht zurücklassen, denn dann hätte Annagramma ihn gefunden, und Fräulein Verrats Boffo wäre herausgekommen.

Und das war's dann: ein zu Ende gegangenes Leben, die Überreste ordentlich weggeräumt. Eine Hütte, sauber und leer. Ein Mädchen, das sich fragte, was als Nächstes geschehen würde. Es würde bestimmt etwas »arrangiert«.

Klonk-klank.

Tiffany rührte sich nicht und sah sich auch nicht um. Ich falle nicht auf Boffo rein, dachte sie. Es gibt eine

Erklärung für das Geräusch, und sie hat nichts mit Fräulein Verrat zu tun. Mal sehen... Ich habe den Kamin gereinigt, nicht wahr? Und ich habe den Schürhaken an die Seite gelehnt. Aber wenn man dabei nicht aufpasst, fällt er heimtückischerweise früher oder später um. Ja, genau. Wenn ich mich umdrehe und zum Kamin schaue, werde ich feststellen, dass der Schürhaken umgefallen ist und auf dem Feuerrost liegt. Das Geräusch stammte gar nicht von irgendeiner geisterhaften Uhr.

Sie drehte sich langsam um. Der Schürhaken lag auf dem Feuerrost.

Und jetzt, dachte sie, wäre es ganz gut, nach draußen an die frische Luft zu gehen. Hier drinnen ist es ein bisschen traurig und muffig. Deshalb will ich nach draußen, weil es hier drin traurig und muffig ist. Nicht, weil ich mich vor irgendwelchen eingebildeten Geräuschen fürchte. Ich bin nicht abergläubisch. Ich bin eine Hexe. Hexen sind nicht abergläubisch. Wir sind der Aberglauben der Menschen. Ich möchte nur nicht hier drin bleiben. Ich habe mich hier sicher gefühlt, als Fräulein Verrat noch lebte - es war wie unter einem großen Baum Zuflucht zu suchen -, aber ich glaube, jetzt ist es hier nicht mehr sicher. Wenn der Winterschmied die Bäume meinen Namen rufen lässt... dann halte ich mir eben die Ohren zu. Das Haus kommt mir vor, als würde es sterben, und ich gehe nach draußen.

Es hatte keinen Sinn, die Tür abzuschließen. Die Dorfbewohner hatten sich schon zu Lebzeiten von Fräulein Verrat davor gefürchtet, die Hütte zu betreten, und jetzt würden sie sich von ihr fernhalten, bis eine andere Hexe sie zu ihrem Zuhause machte.

Eine blasse, wie ein zerlaufenes Ei wirkende Sonne schien durch die Wolken, und der Wind hatte den Frost fortgeweht. Doch hier in den Bergen wich der kurze Herbst schnell dem Winter; von jetzt an würde ständig der Geruch von Schnee in der Luft liegen. Noch weiter oben in den Bergen ging der Winter nie zu Ende. Selbst im Sommer war das Wasser der Bäche durch den schmelzenden Schnee eiskalt.

Tiffany setzte sich mit ihrem alten Koffer und dem Beutel auf einen alten Baumstumpf und wartete auf die »Arrangements«. Annagramma würde bestimmt bald eintreffen, darauf konnte man wetten.

Von hier aus gesehen wirkte die Hütte bereits verlassen. Sie schien...

Ich habe heute Geburtstag. Der Gedanke drängte sich in den Vordergrund. Ja, heute war ihr Geburtstag. Tod hatte ihr Alter genau gewusst. Den einen großen Tag im Jahr, der ganz allein ihr gehörte, hatte sie in all der Aufregung ganz vergessen, und jetzt waren schon zwei Drittel davon um.

Hatte sie Petulia und den anderen jemals erzählt, an welchem Tag sie geboren war? Tiffany konnte sich nicht daran erinnern.

Dreizehn Jahre. Aber schon seit Monaten hatte sie sich als »fast dreizehn« betrachtet. Bald würde sie »fast vierzehn« sein.

Sie wollte sich gerade ein wenig dem Selbstmitleid hingeben, als es hinter ihr leise raschelte. Tiffany drehte sich so schnell um, dass Horace der Käse einen Satz rückwärts machte.

»Oh, du bist's«, sagte sie. »Wo bist du gewesen, du unartiger kleiner Ju... Käse! Ich habe mir Sorgen um dich gemacht!«

Horace sah beschämt aus, aber es ließ sich kaum feststellen, wie er das fertig brachte.

»Kommst du mit mir?«, fragte Tiffany.

Horace war sofort von einer bejahenden Aura umgeben.

»Na schön, in den Beutel mit dir.« Tiffany öffnete ihn, aber Horace wich zurück.

»Wenn du unartig bist...« Sie unterbrach sich. Ihre Hand juckte. Sie blickte auf und sah... den Winterschmied.

Er musste es sein. Zuerst war er nur Schnee, der durch die Luft wirbelte, aber als er über die Lichtung schritt, wurde er kompakter und menschlicher und verwandelte sich in einen jungen Mann mit wehendem Mantel und Schnee auf Haaren und Schultern. Diesmal war er nicht transparent, nicht ganz, aber eine Art Wellen schienen ihn zu durchlaufen, und Tiffany glaubte, schemenhaft die Bäume hinter ihm sehen zu können.

Hastig trat sie ein paar Schritte zurück, doch der Winterschmied überquerte die Lichtung mit der Geschwindigkeit eines Schlittschuhläufers. Tiffany konnte einfach weglaufen, aber es hätte bedeutet, dass... nun, dass sie weglief, und warum sollte sie das tun? Sie hatte doch nichts an die Fenster anderer Leute gekritzelt!

Was sollte sie sagen? Was nur?

»Ah, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du meine Halskette gefunden hast«, sagte sie und wich noch etwas weiter zurück. »Und die Schneeflocken und die Rosen waren wirklich sehr... das war sehr lieb. Aber... ich glaube nicht, dass wir... Nun, du bestehst aus Kälte, und ich nicht... Ich bin ein Mensch und bestehe aus... menschlichen Dingen...«

»Du musst sie sein«, sagte der Winterschmied. »Du hast mitgetanzt! Und jetzt bist du hier, in meinem Winter.« Irgendwas stimmte nicht mit dieser Stimme. Sie klang so, als hätte der Winterschmied gelernt, die Worte zu sprechen, ohne zu verstehen, was sie bedeuteten.

»Ich bin zwar eine Sie«, erwiderte Tiffany unsicher. »Aber ich weiß nicht, ob ich irgendwer sein muss. Ah... bitte, das mit dem Tanz tut mir wirklich leid, ich wollte das nicht, es ist einfach so...«

Er hat noch immer die gleichen violett-grauen Augen, stellte sie fest. Violett-grau, in einem aus gefrierendem

Nebel bestehenden Gesicht. Und es war ein hübsches Gesicht. »Weißt du, ich wollte nicht, dass du denkst...«, begann sie.

»Du wolltest nicht?«, wiederholte der Winterschmied erstaunt. »Es geht hier nicht ums Wollen, sondern ums Sein\«

»Was... willst du damit sagen?«

»Potzblitz!«

»O nein...«, murmelte Tiffany, als Größte aus dem Gras auftauchten.

Die Wir-sind-die-Größten wussten nicht, was das Wort »Furcht« bedeutet. Manchmal wünschte Tiffany, sie hätten ein Wörterbuch gelesen. Sie kämpften wie Tiger, sie kämpften wie Dämonen, sie kämpften wie Riesen. Aber sie kämpften nicht so, als hätten sie mehr als einen Teelöffel Gehirn.

Sie griffen den Winterschmied mit Schwertern, Köpfen und Füßen an, und der Umstand, dass alles durch ihn hindurchging wie durch einen Schatten, störte sie überhaupt nicht. Wenn ein Größter mit dem Stiefel auf ein Bein aus Dunst zielte und sich stattdessen selbst gegen den Kopf trat, so war er damit zufrieden.

Der Winterschmied ignorierte die Größten, als wären sie nur ein Schwärm Schmetterlinge.

»Wo ist deine Macht? Warum bist du so angezogen?«, fragte der Winterschmied. »Da stimmt doch etwas nicht!« Er trat vor und packte Tiffanys Arm viel fester, als es mit einer Geisterhand eigentlich möglich sein sollte.

»Das ist so nicht richtig!«, rief er. Am Himmel über der Lichtung zogen die Wolken schnell dahin.

Tiffany versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen. »Lass mich los!«

»Du bist sie!«, rief der Winterschmied und zog sie an sich.

Tiffany wusste zwar nicht, woher der Schrei kam, aber die Ohrfeige versetzte ihm ihre Hand ganz automatisch. Sie traf die Gestalt so fest an der Wange, dass das Gesicht für einen Moment verschwamm - es sah aus, als hätte sie ein Bild verschmiert.

»Komm mir nicht zu nahe!«, schrie sie. »Rühr mich nicht an!«

Etwas flackerte hinter dem Winterschmied. Wegen des eisigen Nebels und vor lauter Zorn und Entsetzen konnte Tiffany es nicht klar erkennen, aber etwas Dunkles, Verschwommenes huschte über die Lichtung, so verzerrt wie eine durch Eis betrachtete Gestalt. Für einen finsteren Moment ragte es hinter dem durchsichtigen Winterschmied auf, und dann wurde es zu Oma Wetterwachs, und zwar genau dort, wo der Winterschmied stand... in ihm.

Er stieß einen Schrei aus und zerstob dann zu Dunst.

Oma Wetterwachs stolperte blinzelnd vorwärts.

»Urrrgh, es wird eine Weile dauern, diesen Geschmack aus dem Kopf zu bekommen«, sagte sie. »Mach den Mund zu, Mädchen. Es könnte etwas hineinfliegen.«

Tiffany machte den Mund zu. Es hätte etwas hineinfliegen können.

»Was... was hast du mit ihm gemacht?«, brachte sie hervor.

»Damit«, schnappte Oma Wetterwachs und rieb sich die Stirn. »Es heißt: >Was hast du damit gemacht ?< Es ist ein Es, kein Er! Ein Es, das glaubt, ein Er zu sein! Und jetzt gib mir deine Halskette!«

»Was? Aber sie gehört mir!«

»Glaubst du, ich will mit dir diskutieren?«, herrschte Oma Wetterwachs sie an. »Sehe ich vielleicht so aus? Gib mir die Kette! Wehe, du gehorchst nicht!«

»Aber ich...«

Oma Wetterwachs senkte die Stimme und sagte mit einem durchdringenden Zischen, das viel schlimmer war als ein Schreien: »Durch sie findet es dich. Möchtest du, dass es dich noch mal findet? Jetzt ist es nur ein Nebel. Was glaubst du, wie weit er sich noch verdichten kann?« Tiffany dachte an das sonderbare Gesicht, das sich nicht so bewegte, wie sich ein echtes Gesicht bewegen sollte, und an die seltsame Stimme, die Wörter wie Backsteine zusammensetzte ...

Sie öffnete den kleinen, silbernen Verschluss und hielt die Kette hoch.

Das ist doch nur Boffo, dachte sie. Jeder Stock ist ein Zauberstab, jede Pfütze eine Kristallkugel. Dies ist nur ein... ein Ding. Ich brauche es nicht, um ich selbst zu sein.

Doch, ich brauche es.

»Du musst mir die Halskette geben«, sagte Oma Wetterwachs sanft. »Ich kann sie nicht nehmen.«

Sie streckte die Hand aus.

Tiffany ließ das silberne Pferd auf ihren Handteller fallen und versuchte, nicht zuzusehen, wie sich Oma Wetterwachs' Finger klauenartig darum schlössen.

»Gut«, sagte Oma zufrieden. »Jetzt müssen wir gehen.«

»Du hast mich beobachtet«, sagte Tiffany missmutig.

»Den ganzen Morgen«, erwiderte Oma. »Du hättest mich sehen können, wenn du auf den Gedanken gekommen wärst, nach mir Ausschau zu halten. Aber bei der Beerdigung hast du dich nicht schlecht geschlagen, das muss

ich sagen.«

»Ich habe mich gut geschlagen!«

»Das habe ich gesagt.«

»Nein.« Tiffany zitterte noch immer. »Das hast du nicht.«

Oma Wetterwachs tat so, als hätte sie nichts gehört. »Ich habe nie viel von Schädeln und dergleichen gehalten. Zumindest nicht von künstlichen. Aber Fräulein Verrat...« Sie stockte, und Tiffany sah, wie sie zu den Baumwipfeln blickte.

»Ist er das wieder?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete Oma, und es klang so, als wäre sie enttäuscht. »Nein, es ist das junge Fräulein Falkin. Und Frau Letizia Ohrwurm. Haben nicht lange gewartet, wie ich sehe. Fräulein Verrat ist noch nicht mal kalt.« Sie schniefte. »Andere Leute hätten vielleicht den Anstand, sich nicht gleich wie die Aasgeier auf ihre Hütte zu stürzen.«

Die beiden Besen landeten in einiger Entfernung. Annagramma wirkte nervös, und Frau Ohrwurm sah aus wie immer: groß, blass, sehr gut gekleidet, mit jeder Menge okkultem Schmuck und einem Gesichtsausdruck, der darauf hinwies, dass sie einen zwar für lästig hielt, aber so großzügig war, es nicht zu zeigen. Außerdem sah sie Tiffany immer so an - wenn sie sich überhaupt dazu herabließ, sie anzusehen -, als wäre sie irgendein sonderbares Geschöpf, das sie nicht recht durchschaute.

Frau Ohrwurm begegnete Oma Wetterwachs immer mit förmlicher, kühler Höflichkeit. Das ärgerte Oma sehr, aber so waren Hexen nun einmal. Wenn sie einander absolut nicht leiden konnten, waren sie so höflich wie Herzoginnen.

Als sich Frau Ohrwurm und Annagramma näherten, verneigte sich Oma Wetterwachs tief und nahm den Hut ab. Frau Ohrwurm verbeugte sich ebenfalls, nur noch etwas tiefer.

Tiffany beobachtete, wie Oma aufsah und sich dann noch mal zwei, drei Zentimeter tiefer beugte.

Frau Ohrwurm schaffte es, sich noch einen halben Zentimeter tiefer zu verneigen.

Tiffany und Annagramma wechselten über die geplagten Rücken hinweg einen hoffnungslosen Blick. Manchmal zog sich diese Sache über Stunden hin.

Oma Wetterwachs grunzte und richtete sich auf. Mit rotem Gesicht folgte Frau Ohrwurm ihrem Beispiel. »Gesegnet sei unser Treffen«, sagte Oma ruhig. Tiffany verzog das Gesicht. Diese Worte kamen einer Kriegserklärung gleich. Wenn Hexen sich anschrien und einander mit dem Finger in die Rippen pieksten, war das ein gewöhnlicher Streit, doch gewähltes, ruhiges Sprechen zeugte von offener Feindschaft.

»Wie nett von dir, uns zu begrüßen«, sagte Frau Ohrwurm.

»Ich hoffe, du bist bei guter Gesundheit?«

»Ich halte mich in Form, Fräulein Wetterwachs.« Annagramma schloss die Augen. Nach Hexenmaßstäben war das ein Tritt in den Magen.

»Es heißt Frau Wetterwachs, Frau Ohrwurm«, sagte Oma. »Wie du sehr wohl weißt, nicht wahr?«

»Oh, ja. Natürlich. Es tut mir so leid.«

Nach diesem heftigen Schlagabtausch sagte Oma: »Ich gehe davon aus, dass Fräulein Falkin hier alles zu ihrer Zufriedenheit vorfindet.«

»Bestimmt hat sich...« Mit fragendem Gesichtsausdruck schaute Frau Ohrwurm Tiffany an.

»Tiffany«, soufflierte Tiffany.

»Tiffany. Natürlich. Was für ein hübscher Name... Bestimmt hat sich Tiffany alle Mühe gegeben«, sagte Frau Ohrwurm. »Aber natürlich werden wir die Hütte läutern und weihen, für den Fall, dass es hier irgendwelche... Störfaktoren gibt.«

Ich habe doch schon alles geschrubbt, dachte Tiffany.

»Störfaktoren?«, wiederholte Oma Wetterwachs, und selbst der Winterschmied hätte nicht eisiger sprechen können.

»Und Besorgnis erregende Schwingungen«, fügte Frau Ohrwurm hinzu.

»Oh, darüber weiß ich Bescheid«, warf Tiffany ein. »Das liegt an dem losen Dielenbrett in der Küche. Wenn man da drauftritt, wackelt die Anrichte.«

Frau Ohrwurm überhörte Tiffanys Hinweis. »Es war die Rede von einem Dämon«, sagte sie. »Und von... Schädeln.«

»Aber...«, begann Tiffany. Omas Hand schloss sich so fest um ihre Schulter, dass sie nicht weitersprach.

»Meine Güte«, sagte Oma Wetterwachs, die Hand noch immer auf Tiffanys Schulter. »Schädel, wie?«

»Es gibt einige sehr beunruhigende Geschichten«, sagte Frau Ohrwurm, wobei sie Tiffany nicht aus den Augen ließ. »Von der übelsten Art, Frau Wetterwachs. Ich habe den Eindruck, dass den Leuten hier ein sehr schlechter Dienst erwiesen wurde. Kräfte der Finsternis wurden freigesetzt.«

Tiffany hätte am liebsten gerufen: Nein! Das sind nur Geschichten! Es war alles Boffo! Fräulein Verrat hat über die Leute gewacht! Sie hat ihre albernen Streitereien geschlichtet, sie kannte sich mit ihren Gesetzen aus, hat sie für ihre Dummheit gescholten! Das hätte sie nicht tun können, wenn sie sie nur als gebrechliche alte Frau

gesehen hätten! Sie musste einen Mythos aus sich machen! Doch Omas Griff sorgte dafür, dass sie stumm blieb. »Zweifellos sind seltsame Kräfte am Werk«, sagte Oma Wetterwachs. »Ich wünsche dir alles Gute bei deinen Bemühungen, Frau Ohrwurm. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest...«

»Natürlich, Frau... Frau Wetterwachs. Mögen die Sterne dich begleiten.«

»Möge die Straße sich dem Tempo deiner Füße anpassen«, erwiderte Oma. Sie lockerte ihren Griff ein wenig, zerrte Tiffany aber dennoch fast brutal um die Ecke der Hütte. Dort lehnte der Besen der verstorbenen Fräulein Verrat an der Wand.

»Schnell, binde deine Sachen fest!«, befahl Oma. »Wir müssen los!«

»Kommt er zurück?«, fragte Tiffany und versuchte, den Beutel und ihren alten Koffer an den Borsten zu befestigen.

»Noch nicht. Nicht so bald, denke ich. Aber er wird nach dir suchen. Und er wird stärker sein. Gefährlich für dich und die Leute in deiner Nähe, wenn ich mich nicht irre! Du musst noch sehr viel lernen! Und es gibt jede Menge für dich zu tun!«

»Ich habe ihm gedankt! Ich habe versucht, freundlich zu sein! Warum ist er noch immer an mir interessiert?« »Wegen des Tanzes«, sagte Oma.

»Es tut mir leid!«

»Das genügt nicht. Was weiß ein Sturm von Kummer? Du musst dafür büßen. Glaubst du wirklich, der freie Platz im Tanz war für dich? Ach, ist das kompliziert! Wie geht's deinen Füßen?«

Vor Zorn und Verwirrung verharrte Tiffany mit einem Bein halb über dem Besenstiel.

»Meine Füße? Was soll mit ihnen sein?«

»Jucken sie? Was passiert, wenn du die Stiefel ausziehst?«

»Nichts! Dann sehe ich nur meine Socken! Was haben meine Füße damit zu tun?«

»Das werden wir herausfinden«, sagte Oma. Sie konnte einen zur Weißglut bringen. »Komm jetzt.«

Tiffany versuchte, den Besen zu starten, aber er schaffte es kaum aus dem welken Gras. Sie sah nach hinten. Kleine blaue Männer saßen überall auf den Borsten.

»Mach dir keine Sorgen um uns«, sagte Rob Irgendwer. »Wir halten uns gut fest!«

»Un' fliech nich' so unruhig, ich hab nämlich das Gefühl, mir platzt gleich der Kopf«, sagte der Doofe Wullie. »Bekommen wir 'ne Mahlzeit auf diesem Flug?«, fragte der Große Yan. »Ich könnte ein Gläschen vertragen.« »Ich kann euch nicht alle mitnehmen!«, sagte Tiffany. »Ich weiß nicht einmal, wohin die Reise geht!«

Oma Wetterwachs funkelte die Größten böse an. »Ihr müsst zu Fuß gehen. Wir fliegen nach Lancre. Die Adresse lautet: Tir Nani Ogg, Der Platz.«

»Tir Nani Ogg«, wiederholte Tiffany. »Ist das nicht... ?«

»Es bedeutet Nanny Oggs Zuhause«, sagte Oma, während die Größten vom Besen sprangen. »Dort bist du in Sicherheit. Mehr oder weniger. Aber wir müssen unterwegs Halt machen und die Halskette so weit wie möglich von dir entfernt verstecken. Und ich weiß, wie sich das bewerkstelligen lässt! O ja!«

Die Wir-sind-die-Größten liefen durch den nachmittäglichen Wald. Die Wildtiere dort wussten, was es mit den kleinen blauen Männern auf sich hatte, und deshalb waren die flauschigen Waldbewohner in ihre Baue gekrochen oder hoch in die Bäume geklettert. Doch nach einer Weile hob der Große Yan die Hand und sagte: »Wir werden verfolgt.«

»Sei doch nicht albern«, erwiderte Rob Irgendwer. »In diesem Wald lebt nichts mehr, das verrückt genug is', Größte zu jagen!«

»Auf mein Gefühl is' Verlass«, beharrte der Große Yan. »Das hab ich im Urin. Etwas schleicht sich an uns heran, in diesem Augenblick!«

»Nun, dem Urin eines Mannes will ich nicht widersprechen«, sagte Rob müde. »Also gut, Jungs, wir schwärmen aus und bilden einen großen Kreis!«

Mit gezückten Schwertern schwärmten die Größten aus, aber nach einigen Minuten setzte ein allgemeines Murren ein. Es gab nichts zu sehen oder zu hören. Ein paar Vögel zwitscherten in sicherer Entfernung. Alles blieb ruhig und friedlich, eher untypisch dafür, dass Größte anwesend waren.

»Tut mir leid, Großer Yan, aber ich glaube, auf deinen Urin is' doch kein Verlass«, sagte Rob Irgendwer.

Genau in diesem Augenblick fiel ihm Horace der Käse von einem Ast auf den Kopf.

Viel Wasser floss unter der großen Brücke von Lancre hindurch, aber von hier oben konnte man es wegen der Gischt der nahen Wasserfälle kaum sehen - wie Nebel hing sie in der kalten Luft. Wildwasser toste durch die tiefe Schlucht, und dann sprang der Fluss wie ein Lachs, wurde zu einem Wasserfall und donnerte unten auf die Ebene. Vom unteren Ende des Wasserfalls aus konnte man dem Verlauf des Flusses am Kreideland entlang folgen, doch da er in weiten, trägen Kurven floss, kam man schneller voran, wenn man in einer geraden Linie flog.

Tiffany war bislang nur einmal stromaufwärts geflogen, als Frau Grad sie in die Berge gebracht hatte. Seit damals hatte sie immer den langen Weg nach unten genommen, indem sie dem Verlauf der kurvenreichen Kutschenstraße gefolgt war. Über den tosenden Wasserfall zu fliegen und dann mit steil nach unten gerichtetem Besen in einen Abgrund voller kalter feuchter Luft abzutauchen - das stand weit oben auf der Liste jener Dinge, die sie nie in ihrem Leben machen wollte.

Oma Wetterwachs stand jetzt auf der Brücke. Sie hatte das silberne Pferd in der Hand.

»Das ist die einzige Möglichkeit«, sagte sie. »Es wird auf dem tiefen Grund des Meeres landen. Soll der Winterschmied dort nach dir suchen!«

Tiffany nickte. Sie weinte nicht, was nicht dasselbe ist wie, nun, nicht zu weinen. Ständig liefen Leute umher, ohne zu weinen, aber sie verschwendeten keinen Gedanken daran. Doch genau das tat Tiffany jetzt. Sie dachte: Ich weine nicht...

Es ergab einen Sinn. Natürlich ergab es einen Sinn. Es war alles Boffo! Jeder Stock ist ein Zauberstab und jede Pfütze eine Kristallkugel. Die Dinge hatten nur dann Macht, wenn man daran glaubte. Wirrwarrs, Schädel und Zauberstäbe waren wie... Schaufeln, Messer und Brillen. Sie waren wie... Hebel. Mit einem Hebel konnte man einen großen Stein bewegen, aber der Hebel selbst brauchte sich dabei überhaupt nicht anzustrengen.

»Es muss deine Entscheidung sein«, sagte Oma. »Ich kann sie nicht für dich treffen. Es ist zwar nur ein kleines Ding, aber es bringt dich in Gefahr, solange du es bei dir trägst.«

»Weißt du, ich glaube nicht, dass er mir wehtun wollte«, sagte Tiffany. »Er war nur irritiert.«

»Glaubst du? Möchtest du ihn noch einmal irritiert erleben?«

Tiffany dachte an das sonderbare Gesicht... Sie hatte dort die Konturen eines Menschen gesehen - mehr oder weniger -, aber es war so gewesen, als hätte der Winterschmied versucht, ein Mensch zu sein, ohne zu wissen, worauf es dabei ankam.

»Glaubst du, er wird auch anderen Leuten etwas tun?«, fragte sie.

»Er ist der Winter, Kind. Und der Winter besteht nicht nur aus hübschen Schneeflocken, oder?«

Tiffany streckte die Hand aus. »Bitte gib es mir zurück.«

Oma Wetterwachs zuckte mit den Schultern und gab ihr das silberne Pferd.

Es lag auf Tiffanys Hand, auf der seltsamen weißen Narbe. Es war ihr erstes Geschenk gewesen, das nicht nützlich war, das keinem bestimmten Zweck diente.

Ich brauche es nicht, dachte sie. Meine Kraft kommt aus dem Kreideland. Aber wird das Leben immer so sein? Werde ich nie etwas besitzen, das ich nicht brauche?

»Wir sollten es an etwas Leichtem festbinden«, sagte Tiffany in sachlichem Ton. »Sonst bleibt es schon hier auf dem Grund liegen.«

Sie suchte im Gras neben der Brücke, fand einen Stock und wickelte die silberne Kette darum.

Es war Mittag. Tiffany hatte das Wort Mittagslicht erfunden, weil ihr der Klang gefiel. Um Mitternacht kann jede eine Hexe sein, dachte sie. Aber um im Mittagslicht eine Hexe zu sein, muss man richtig gut sein.

Zumindest muss man gut darin sein, eine Hexe zu sein, dachte Tiffany, als sie auf die Brücke zurückkehrte.

Nicht unbedingt gut darin, ein glücklicher Mensch zu sein.

Sie warf die um den Stock gewickelte Kette von der Brücke.

Tiffany machte keine große Sache daraus. Es wäre schön, wenn sie sagen könnte, dass das silberne Pferd im Licht funkelte und einen Moment in der Luft schwebte, bevor es in die Tiefe fiel. Vielleicht war das tatsächlich der Fall, aber Tiffany sah nicht hin.

»Gut«, sagte Oma Wetterwachs.

»Ist jetzt alles vorbei?«, fragte Tiffany.

»Nein! Du hast dich in eine Geschichte getanzt, Mädchen, in eine Geschichte, die sich der Welt alle Jahre wieder erzählt. Es ist die Geschichte von Eis und Feuer, Sommer und Winter. Du hast sie durcheinander gebracht. Jetzt musst du bis zum Schluss bleiben und dafür sorgen, dass sie richtig endet. Durch das Pferd gewinnst du nur Zeit, das ist alles.«

»Wie viel Zeit?«

»Das weiß ich nicht. So etwas ist noch nie zuvor geschehen. Wenigstens etwas Zeit zum Nachdenken. Wie geht's deinen Füßen?«

Auch der Winterschmied bewegte sich durch die Welt, aber ohne sich im menschlichen Sinne zu bewegen. Er war überall dort, wo es Winter war.

Er versuchte zu denken. Das hatte er nie zuvor getan, und es schmerzte. Bisher waren Menschen nur Teile der Welt gewesen, die sich auf sonderbare Weise bewegten und Feuer anzündeten. Jetzt bastelte er sich einen Verstand, und alles war neu.

Ein Mensch... der aus menschlichen Dingen besteht... Das hatte sie gesagt.

Menschliche Dinge. Für seine Geliebte musste er dafür sorgen, dass er aus menschlichen Dingen bestand. In kalten Leichenschauhäusern und Schiffswracks schwebte der Winterschmied durch die Luft und suchte nach menschlichen Dingen. Und was war das? Größtenteils Erde und Wasser. Wenn man einen Menschen lange genug sich selbst überließ, verschwand sogar das Wasser, und dann blieben nur einige Hände voll Staub übrig, den der Wind davonwehte.

Wasser konnte nicht denken, woraus folgte, dass der Staub dafür zuständig war.

Der Winterschmied verhielt sich logisch, denn auch Eis tat das. Wasser verhielt sich logisch. Wind auch. Es gab Regeln. Ein Mensch war also nur... die richtige Art von Staub!

Und während er danach suchte, konnte er zeigen, wie stark er war.

An jenem Abend saß Tiffany auf der Kante ihres neuen Bettes, und die Wolken des Schlafes stiegen wie die Vorboten eines Gewitters in ihrem Gehirn auf. Sie gähnte und blickte auf ihre Füße.

Sie waren rosarot, und jeder Fuß hatte fünf Zehen. Eigentlich waren sie ganz in Ordnung

Wenn sich Menschen begegneten, so sagten sie meistens so etwas wie: »Wie geht es dir?« Nanny Ogg hatte nur

gesagt: »Komm herein. Wie geht's deinen Füßen?«

Plötzlich interessierten sich alle für ihre Füße. Natürlich waren Füße wichtig, aber was sollte nach Meinung der Leute schon damit geschehen?

Tiffany drehte sie am Ende der Beine hin und her. Sie verhielten sich nicht ungewöhnlich, und deshalb kroch sie unter die Bettdecke.

Die vergangenen beiden Nächte hatte sie nicht richtig geschlafen. Das war ihr erst klar geworden, als sie bei Tir Nani Ogg eintraf, woraufhin ihr Gehirn ein sonderbares Eigenleben entwickelte. Sie hatte mit Frau Ogg gesprochen, konnte sich aber kaum daran erinnern worüber. Stimmen hatten in ihren Ohren gedröhnt. Jetzt endlich gab es nichts anderes mehr zu tun, als zu schlafen.

Es war ein gutes Bett, das beste, in dem sie jemals gelegen hatte. Und es war das beste Zimmer, in dem sie jemals gewohnt hatte, auch wenn sie zu müde gewesen war, es sich genauer anzusehen. Hexen legten keinen großen Wert auf Komfort, erst recht nicht in Gästezimmern, aber Tiffany war mit einem uralten Bett aufgewachsen, dessen Federn bei jeder Bewegung quietschten - mit ein wenig Geschick konnte man sie eine Melodie spielen lassen.

Diese Matratze war dick und gab nach. Sie sank darin ein wie in sehr weichen, sehr warmen und sehr trägen Treibsand.

Das Problem ist, dass man zwar die Augen schließen, aber nicht das Gehirn abschalten kann. Als Tiffany so im Dunkeln lag, kritzelten ihre Gedanken Bilder in ihren Kopf, von Uhren, die Klankklonk machten, von Schneeflocken, die wie sie aussahen, von Fräulein Verrat, die durch den nächtlichen Wald wandelte und nach bösen Leuten suchte, den gelben Daumennagel bereit.

Sie fiel durch diese wirren Erinnerungen in ein mattes Weiß. Aber das Weiß wurde schnell heller und bekam Konturen, kleine Felder aus Schwarz und Grau. Sie bewegten sich langsam von einer Seite zur anderen...

Tiffany öffnete die Augen, und alles wurde klar. Sie stand in... einem Boot, nein, auf einem Schiff, auf einem großen Segelschiff. Schnee lag auf den Decks, und Eiszapfen hingen in der Takelage. Es segelte im Waschwasserlicht der Morgendämmerung auf einem stillen grauen Meer voller Eisschollen und Nebelschwaden. Die Takelage knarrte, und der Wind seufzte in den Segeln. Niemand war zu sehen.

»Ah. Dies scheint ein Traum zu sein. Bitte lass mich raus«, sagte eine vertraute Stimme.

»Wer bist du?«, fragte Tiffany.

»Du. Bitte huste mal.«

Tiffany dachte: Also, wenn das ein Traum ist... Sie hustete.

Eine Gestalt wuchs aus dem Schnee auf dem Deck, eine zweite Tiffany, die sich nachdenklich umsah.

»Bist du ich?«, fragte Tiffany. Seltsamerweise kam ihr das hier auf dem kalten Deck gar nicht seltsam vor. »Hmm. Oh, ja«, erwiderte die andere Tiffany, die sich immer noch alles genau anschaute. »Ich bin deine Dritten Gedanken, erinnerst du dich? Der Teil von dir, der nie zu denken aufhört? Der all die kleinen Einzelheiten bemerkt? Es tut gut, draußen an der frischen Luft zu sein. Hmm.«

»Stimmt was nicht?«

»Nun, dies scheint ganz klar ein Traum zu sein. Wenn du genau hinsiehst, wirst du feststellen, dass der Steuermann mit dem gelben Ölzeug der Fröhliche Seemann auf der Verpackung des Tabaks ist, den Oma Weh geraucht hat. Er fällt dir immer ein, wenn wir ans Meer denken, nicht wahr?«

Tiffany sah zu dem bärtigen Mann auf, der ihr freundlich zuwinkte.

»Ja, er ist es wirklich!«, sagte sie.

»Aber ich glaube nicht, dass dies allein unser Traum ist«, meinten die Dritten Gedanken. »Er ist zu... real.« Tiffany bückte sich und nahm eine Handvoll Schnee.

»Fühlt sich echt an«, sagte sie. »Kalt.« Sie formte einen Schneeball und warf ihn nach sich selbst.

»Es wäre mir lieber, wenn ich das nicht tun würde«, sagte die andere Tiffany und strich sich den Schnee von der Schulter. »Verstehst du, was ich meine? Träume sind nie so... nichttraumartig wie dieser.«

»Ich weiß, was ich meine«, erwiderte Tiffany. »Manchmal halte ich einen Traum für die Wirklichkeit, und dann taucht irgendwas Unheimliches darin auf.«

»Genau. Das hier gefällt mir nicht. Wenn es ein Traum ist, dann geschieht gleich etwas Schreckliches...«

Sie sahen nach vorn. Eine düstere, Unheil verkündende Nebelbank erstreckte sich vor dem Schiff.

»Im Nebel verbirgt sich etwas!«, sagten die beiden Tiffanys wie aus einem Munde.

Sie drehten sich um und liefen die Treppe zu dem Mann am Ruder hoch.

»Wir müssen uns vom Nebel fernhalten!«, rief Tiffany. »Bitte steuere nicht darauf zu!«

Der Fröhliche Seemann nahm die Pfeife aus dem Mund und machte ein verwirrtes Gesicht.

»Höchster Rauchgenuss bei jedem Wetter?«, fragte er.

»Was?«

»Mehr kann er nicht sagen«, erklärten die Dritten Gedanken und griffen nach dem Steuerrad. »Erinnerst du dich? Das sagt er auf der Verpackung!«

Der Fröhliche Seemann schob sie sanft zur Seite. »Höchster Rauchgenuss bei jedem Wetter«, sagte er beruhigend. »Bei jedem Wetter.«

»Wir wollen doch nur...«, begann Tiffany, aber die Dritten Gedanken legten ihr wortlos die Hand auf den Kopf und drehten sie um.

Etwas kam aus dem Nebel.

Es war ein Eisberg, ein großer, mindestens dreimal so hoch wie das Schiff und so majestätisch wie ein Schwan. Er war so groß, dass er sich sein eigenes Wetter schuf. Langsam glitt er dahin, von weißer Gischt umstrudelt. Schnee fiel um ihn herum, und er zog Nebelstreifen hinter sich her. Dem Fröhlichen Seemann fiel die Pfeife aus dem Mund, und er riss die Augen auf.

»Höchster Rauchgenuss!«, fluchte er.

Der Eisberg war Tiffany. Er war eine Dutzende von Metern hohe Tiffany aus glitzerndem grünen Eis, aber es handelte sich eindeutig um eine Tiffany. Möwen saßen auf ihrem Kopf.

»Dies kann nicht das Werk des Winterschmieds sein!«, rief Tiffany. »Ich habe das Pferd doch weggeworfen!«

Sie legte die Hände an den Mund und rief: »ICH HABE DAS PFERD WEGGEWORFEN!«

Ihre Stimme hallte von der großen Gestalt aus Eis wider. Einige Vögel stiegen krächzend von dem riesigen kalten Kopf auf. Hinter Tiffany drehte sich das Steuerrad. Der Fröhliche Seemann stampfte mit dem Fuß auf und zeigte auf die weißen Segel über ihnen.

»Höchster Rauchgenuss bei jedem Wetter!«, befahl er.

»Tut mir leid, aber ich weiß nicht, was du meinst!«, erwiderte Tiffany verzweifelt.

Der Mann deutete erneut auf die Segel und machte hektisch ziehende Bewegungen mit den Händen.

»Höchster Rauchgenuss!«

»Entschuldigung, aber ich verstehe dich leider nicht!«

Der Seemann schnaufte, lief zu einem Seil und zerrte energisch daran.

»Es wird langsam unheimlich«, sagten die Dritten Gedanken leise.

»Nun, ja, ein großer Eisberg, der wie ich aussieht, ist sicher ...«

»Nein, das ist nur seltsam. Aber das hier ist unheimlich«,

meinten die Dritten Gedanken. »Wir haben Passagiere. Sieh nur.« Sie zeigte auf etwas.

Unten auf dem Hauptdeck befand sich eine Reihe von Luken mit großen Eisengittern. Tiffany hatte sie bislang nicht bemerkt.

Hunderte von Händen, so blass wie Wurzeln unter einem Holzklotz, streckten sich durch die Gitter und winkten. »Passagiere?«, flüsterte Tiffany entsetzt. »O nein...«

Und dann ertönten die Schreie. Es wäre besser gewesen - wenn auch nicht viel besser -, wenn die Stimmen »Hilfe!« oder »Rettet uns!« gerufen hätten, aber stattdessen waren es einfach nur Laute des Schmerzes und der Angst...

Nein!

»Kehr in meinen Kopf zurück!«, sagte Tiffany streng. »Es lenkt mich zu sehr ab, dich herumlaufen zu sehen. Jetzt mach schon!«

»Ich schlüpfe von hinten in dich hinein«, sagten die Dritten Gedanken. »Dann wirkt es nicht so ...«

Tiffany verspürte einen kurzen Schmerz und eine Veränderung in ihrem Bewusstsein, und sie dachte: Ich schätze, es hätte weitaus unangenehmer sein können.

Na schön. Lass mich nachdenken. Lasst uns alle nachdenken.

Sie betrachtete die verzweifelten Hände, die sich wie Tang unter Wasser hin- und herbewegten, und dachte: Ich bin in einer Art Traum, aber ich glaube nicht, dass es meiner ist. Ich befinde mich auf einem Schiff, und wir laufen Gefahr, von einem riesigen Eisberg getötet zu werden, der so aussieht wie ich.

Ich glaube, als Schneeflocken habe ich mir besser gefallen.

Wem gehört dieser Traum?

»Was soll das, Winterschmied?«, fragte Tiffany, und ihre Dritten Gedanken, die inzwischen wieder dort waren, wo sie hingehörten, kommentierten: Erstaunlich, man sieht sogar, wie der eigene Atem in der kalten Luft kondensiert ...

»Ist das eine Warnung?«, rief Tiffany. »Was willst du?«

Dich als meine Braut, antwortete der Winterschmied. Die Worte erschienen einfach in ihren Gedanken.

Tiffany ließ die Schultern hängen.

Du weißt, dass das nicht real ist, sagten ihre Dritten Gedanken. Aber es könnte der Schatten von etwas Realem sein...

Ich hätte nicht zulassen sollen, dass Oma Wetterwachs Rob Irgendwer einfach so fortschickt...

»Potzblitz! Beim Klabauterer!«, ertönte eine Stimme hinter ihr. Und dann folgte das übliche Geschrei:

»Es heißt >Klabautermann<, du Dussel!«

»Auf jeden Fall isses was Klabautriges!«

»Dunnerlittchen! Der Doofe Wullie is' gerade ins Wasser gefallen!«

»Der Döskopp! Nur eine Augenklappe, habe ich ihm gesagt!«

»Mit 'nem Jo-hoho und einem Ho-jojo...«

Kleine blaue Männer kamen aus der Kabine hinter Tiffany gestürzt, und Rob Irgendwer blieb vor ihr stehen, während die anderen vorbeiliefen. Er salutierte.

»Entschuldige, dass wir 'n wenig spät dran sin', aber wir mussten uns erst die schwarzen Augenklappen besorgen«, sagte er. »Schließlich haben wir ein gewisses Stilbewusstsein.«

Tiffany war sprachlos, aber nur für einen Moment. Dann zeigte sie zum Bug des Schiffes.

»Wir müssen verhindern, dass das Schiff mit dem Eisberg zusammenstößt!«

»Das is' alles? Null Problemo!« Rob blickte an ihr vorbei zu der aufragenden Eisriesin und grinste. »Er hat deine Nase gut hinbekommen, nich' wahr?«

»Ihr müsst einen Zusammenstoß verhindern! Bitte!«

»Aye, aye! Kommt, Jungs!«

Den Größten bei der Arbeit zuzusehen war, als würde man ein Ameisenvolk beobachten, nur dass Ameisen keine Kilts trugen und nicht dauernd »Potzblitz!« riefen. Vielleicht war der Umstand, dass sie selbst mit einem einzigen Wort alles Mögliche ausdrücken konnten, der Grund dafür, dass ihnen die Befehle des Fröhlichen Seemanns keine Probleme bereiteten. Sie schwärmten übers Deck wie ein... nun, wie ein Schwärm. An geheimnisvollen Seilen wurde gezogen. Segel gerieten in Bewegung und blähten sich auf, begleitet von einem Chor aus »Höchster Rauchgenuss!« und »Potzblitz!«

Jetzt will mich der Winterschmied heiraten, dachte Tiffany. Du liebe Güte.

Sie hatte sich manchmal gefragt, ob sie eines Tages heiraten würde, aber sie zweifelte nicht daran, dass es für »eines Tages« noch zu früh war. Ja, ihre Mutter hatte als Vierzehnjährige geheiratet, aber so etwas war früher nicht ungewöhnlich gewesen. Es gab noch viele Dinge, die getan werden mussten, bevor Tiffany heiraten wollte, da war sie ganz sicher.

Außerdem, wenn man genauer darüber nachdachte... irx. Er war nicht einmal ein Mensch. Bestimmt war er zu... Der Wind knallte in den Segeln. Das Schiff knarrte und neigte sich zur Seite, und alle riefen Tiffany etwas zu. Die meisten riefen: »Das Rad! Halt das Rad fest!« Gelegentlich erklang auch ein verzweifeltes »Höchster Rauchgenuss bei jedem Wetter!«

Tiffany drehte sich um und sah, wie sich das Steuerrad rasend schnell drehte. Sie griff danach und bekam von den Speichen einen Schlag auf die Finger. In der Nähe lag ein zusammengerolltes Seil, und es gelang ihr, das Steuerrad mit einer lassoartigen Schlaufe einzufangen und anzuhalten, ohne allzu weit übers Deck zu schlittern. Dann ergriff sie das Rad und versuchte, es in die andere Richtung zu drehen. Es war so, als versuche sie, ein Haus anzuschieben, aber schließlich bewegte sich das Rad, ganz langsam zunächst und dann, als sie sich richtig ins Zeug legte, etwas schneller.

Das Schiff drehte bei. Tiffany merkte, dass sich der Bug des Seglers ein wenig vom Eisberg fortneigte und nicht mehr direkt darauf zeigte. Gut! Endlich entwickelten sich die Dinge in die richtige Richtung! Sie drehte das Rad noch ein wenig weiter, und die gewaltige kalte Wand glitt vorbei und füllte die Luft mit Dunst. Es würde doch noch alles gut...

Das Schiff rammte den Eisberg.

Es begann mit einem einfachen Knacks! Eine Spiere war gegen einen Eisvorsprung gestoßen, doch dann schrammte das Schiff am Eis entlang, und weitere Teile der Takelage zerbrachen. Es folgten scharfe Splittergeräusche, als das Schiff sich in den Eisberg bohrte, und Plankenteile wurden von Fontänen aus schäumendem Wasser in die Luft gehoben. Der obere Teil eines Mastes brach und riss Segel und Takelage mit sich. Ein Eisbrocken prallte dicht vor Tiffany aufs Deck, und ein Nadelregen ging auf sie nieder.

»So war das nicht geplant!«, keuchte sie und hielt sich am Ruder fest.

Heirate mich, sagte der Winterschmied.

Die Gischt toste über das sinkende Schiff. Tiffany hielt sich noch einen Moment länger fest, und dann rauschte die kalte Flut über sie hinweg... nur dass sie plötzlich nicht mehr kalt, sondern warm war. Aber sie hinderte sie trotzdem am Atmen. In der Dunkelheit kämpfte sie sich nach oben, bis es plötzlich hell wurde, Licht in ihre

Augen schien und jemand sagte: »Diese Matratze ist bestimmt viel zu weich, aber Frau Ogg hört ja nicht auf mich.«

Tiffany blinzelte. Sie lag im Bett, und eine dürre Frau mit wirrem Haar und einer ziemlich roten Nase stand daneben.

»Du hast dich wie verrückt hin und her gewälzt«, sagte die Frau und stellte einen dampfenden Becher aufs Nachtschränkchen. »Einiges Tages erstickt noch jemand in diesem Bett, wart's nur ab.«

Tiffany blinzelte erneut. Ich sollte jetzt denken: Ach, es war nur ein Traum. Aber es war nicht einfach ein Traum. Nicht mein Traum.

»Wie spät ist es?«, brachte sie hervor.

»Ungefähr sieben«, antwortete die Frau.

»Sieben!« Tiffany schlug die Decke beiseite. »Ich muss aufstehen! Frau Ogg wartet sicher auf ihr Frühstück!« »Das glaube ich nicht. Ich habe es ihr vor zehn Minuten ans Bett gebracht«, sagte die Frau und bedachte Tiffany mit einem seltsamen Blick. »Und jetzt gehe ich heim.« Sie schniefte. »Trink deinen Tee, bevor er kalt wird.« Damit ging sie zur Tür.

»Ist Frau Ogg krank?«, fragte Tiffany, während sie ihre Socken suchte. Sie hatte noch nie gehört, dass jemand, der nicht sehr alt oder sehr krank war, im Bett aß.

»Krank? Ich glaube, sie ist in ihrem ganzen Leben keinen einzigen Tag krank gewesen«, sagte die Frau in einem Ton, als hielte sie das irgendwie für ungerecht. Dann schloss sie die Tür.

Der Boden des Schlafzimmers war glatt, und zwar nicht, weil Füße jahrhundertelang die Dielenbretter abgewetzt und alle Splitter entfernt hatten, sondern weil er mit Sand abgeschmirgelt und anschließend lackiert worden war. Tiffanys nackte Füße klebten leicht daran fest. Staub fehlte ebenso wie Spinnweben. Das Zimmer war hell, frisch und ganz und gar nicht so, wie ein Raum in einem Hexenhaus sein sollte.

»Ich ziehe mich jetzt an«, teilte Tiffany der Luft mit. »Sind irgendwelche kleinen blauen Männer da?«

»Nee, keine«, erklang eine Stimme unter dem Bett.

Es folgte hektisches Geflüster, und dann fügte die Stimme hinzu: »Das heißt, es is' kaum jemand von uns da.« »Dann macht die Augen zu«, sagte Tiffany.

Sie zog sich an und nippte dabei gelegentlich in ihrem Tee. Ein Becher Tee, der einem ans Bett gebracht wurde, obwohl man gar nicht krank war? So was gab es doch nur bei Königen und Königinnen!

Und dann bemerkte sie die blauen Flecken an ihren Fingern. Es tat nicht weh, aber die Haut war blau angelaufen, wo das Ruderrad die Finger getroffen hatte. Na schön...

»Größte?«, fragte sie.

»Potzblitz, du legst uns nich' noch mal rein«, sagte die Stimme unterm Bett.

»Komm raus, damit ich dich sehen kann, Doofer Wullie!«, befahl Tiffany.

»Das is' wahre Hexerei, wie du immer weißt, dass ich es bin.«

Nach neuerlichem Geflüster kam der Doofe Wullie - er war es tatsächlich - mit zwei anderen Größten und dem Käse Horace unter dem Bett hervor.

Tiffany riss die Augen auf. Nun gut, er war blau und hatte damit die gleiche Farbe wie die Größten. Und er verhielt sich wie sie, kein Zweifel. Aber warum trug er einen schmutzigen Streifen Schottentuch um den Leib ? »Er is' uns zugelaufen«, sagte der Doofe Wullie und schlang den Arm so weit wie möglich um Horace. »Darf ich ihn behalten? Er versteht jedes Wort, das ich sage!«

»Das ist erstaunlich, weil selbst mir das manchmal schwer fällt«, erwiderte Tiffany. »Sag mal, sind wir in der vergangenen Nacht auf einem sinkenden Schiff gewesen?«

»Oh, ja. In gewisser Weise.«

»In gewisser Weise? War das Wirklichkeit oder nicht?«

»Aber ja«, erwiderte der Größte nervös.

»Was von beiden?«, fragte Tiffany.

»Es war wirklich un' auch wieder nicht, auf eine wirklich unwirkliche Art un' Weise«, wand sich der Doofe Wullie. »Ich weiß das richtige Wort dafür nich'...«

»Seid ihr alle unverletzt?«

»Ja, Fräulein Hexe«, sagte der Doofe Wullie, und seine Miene hellte sich ein wenig auf. »Null Problemo. Es war ja nur 'n Traumschiff auf einem Traummeer.«

»Und ein Traumeisberg?«, fragte Tiffany.

»Nee, nee. Der Eisberg war echt.«

»Dachte ich mir! Bist du sicher?«

»Ja«, sagte der Doofe Wullie. »Mit solchen Dingen kennen wir uns gut aus. Nich' wahr, Jungs?« Die anderen beiden Größten waren voller Ehrfurcht, weil sie der großen kleinen Hexe allein gegenüberstanden und nicht im Schutze Hunderter von Brüdern. Sie nickten und versuchten dann, sich jeweils hinter dem anderen zu verstecken.

»Ein echter Eisberg, der wie ich aussieht, schwimmt im Meer herum?«, fragte Tiffany entsetzt. »Und bedroht

Schiffe?«

»Ja, könnte sein«, sagte der Doofe Wullie.

»Das bringt mich bestimmt in große Schwierigkeiten!«, sagte Tiffany und stand auf.

Es knackte, und dann sprang das Ende eines Dielenbretts aus dem Boden und wippte mit einem Geräusch wie ein Schaukelstuhl auf und nieder. Zwei lange Nägel waren mit herausgerissen worden.

»Auch das noch«, sagte Tiffany matt. Doch die Größten und Horace waren verschwunden.

Hinter Tiffany lachte jemand, allerdings war es eher ein Kichern, kehlig und ungekünstelt. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, dass jemand einen unanständigen Witz erzählt hatte.

»Ganz schön flink, die kleinen Teufel, nicht wahr?«, fragte Nanny Ogg und schlenderte ins Zimmer. »Nun, Tiff, ich möchte, dass du dich langsam umdrehst, zum Bett gehst und dich so draufsetzt, dass deine Füße in der Luft hängen. Kriegst du das hin?«

»Natürlich, Frau Ogg«, sagte Tiffany. »Ah, es tut mir leid, was mit dem...«

»Ach, was ist schon ein Dielenbrett mehr oder weniger?«, sagte Nanny Ogg. »Esme Wetterwachs macht mir viel größere Sorgen. Sie hat vorausgesagt, dass so etwas passieren könnte! Ha, sie hatte Recht, und Fräulein Tick hat sich geirrt! Wer soll es jetzt noch mit ihr aushalten? Bestimmt trägt sie die Nase so hoch, dass ihre Füße den Boden nicht mehr berühren!«

Mit einem Spoiioioiiing schnellte ein weiteres Dielenbrett in die Luft.

»Und es wäre eine gute Idee, wenn auch du deine Füße vom Boden fernhältst«, fügte Nanny Ogg hinzu. »Ich bin sofort wieder da.«

Wie sich herausstellte, entsprach »sofort« siebenundzwanzig Sekunden. Als Nanny Ogg nach Ablauf dieser Zeit wieder ins Zimmer kam, hatte sie zwei grell-rosarote Pantoffeln mit Häschen drauf in der Hand.

»Mein zweitbestes Paar«, sagte sie, während hinter ihr ein Dielenbrett Plonk! machte und vier große Nägel in die gegenüberliegende Wand katapultierte. Aus den bereits herausgesprungenen Brettern wuchs etwas, das aussah wie Blätter. Sie waren schmal und unkrautartig, aber es handelte sich um Blätter.

»Bin ich daran schuld?«, fragte Tiffany nervös.

»Ich schätze, das wird dir Esme lieber selbst erklären wollen«, sagte Nanny und half Tiffany in die Pantoffeln. »Aber was du hast, junge Dame, ist ein schlimmer Fall von Ped Fecundis.« In einem Winkel von Tiffanys Gedächtnis regte sich Professor Sensibel Hetzig, Dr. m. Phil., B. unh. S., im Schlaf und kümmerte sich um die Übersetzung.

»Fruchtbare Füße?«, fragte Tiffany.

»Ausgezeichnet! Ich habe nicht erwartet, dass etwas mit den Dielenbrettern passiert, aber es ergibt einen gewissen Sinn, wenn man's recht bedenkt. Immerhin bestehen sie aus Holz, und deshalb versuchen sie zu wachsen.«

»Frau Ogg?«, fragte Tiffany.

»Ja?«

»Bitte... Ich habe keine Ahnung, wovon du redest! Ich halte meine Füße sehr sauber! Und ich glaube, ich bin ein riesiger Eisberg!«

Nanny Ogg musterte sie auf eine ruhige, freundliche Art. Tiffany blickte in zwei dunkle, funkelnde Augen. Versuch nicht, sie zu täuschen oder irgendetwas vor ihr zu verbergen, sagten ihre Dritten Gedanken. Es heißt, sie sei schon seit ihrer Kindheit Oma Wetterwachs' beste Freundin. Und das bedeutet: Unter all den Falten müssen sich Nerven aus Stahl befinden.

»Unten steht der Kessel auf dem Feuer«, sagte Nanny munter. »Warum kommst du nicht runter und erzählst mir alles?«

Tiffany hatte »Hawehgeh« im Ungekürzten Wörterbuch nachgeschlagen und festgestellt, dass es eigentlich »HwG« hieß. Mit einem HwG-Mädchen war eine Frau gemeint, die »nicht besser ist, als sie sein sollte«, was erstaunlich war, da es dann eigentlich »nbiasss« heißen müsste. Eine andere Umschreibung lautete »barmherzige Schwester«. Nach einigem Nachdenken gelangte Tiffany zu dem Schluss, dass das Folgendes bedeutete: Frau Gytha Ogg, Nanny genannt, war eine sehr respektable Person. Barmherzig war sie allemal. Und wenn sie nicht besser war, als sie sein sollte, dann war sie so gut, wie sie sein konnte.

Tiffany hatte zwar das Gefühl, dass Fräulein Verrat etwas anderes gemeint hatte, aber Logik duldete nun mal keinen Widerspruch.

Nanny Ogg war eine ausgezeichnete Zuhörerin. Sie lauschte wie ein einziges großes Ohr, und bevor Tiffany sich dessen bewusst wurde, erzählte sie ihr alles. Alles. Nanny saß auf der anderen Seite des großen Küchentischs und paffte gemütlich an einer Pfeife, in die ein Igel geschnitzt war. Manchmal stellte sie eine kurze Frage wie »Wie kam das?« und »Und was ist dann passiert?«, und dann legte Tiffany wieder los. Nannys freundliches Lächeln holte Dinge aus einem heraus, von deren Existenz man gar nichts gewusst hatte.

Während sie miteinander sprachen, sahen sich Tiffanys Dritte Gedanken aus den Augenwinkeln im Zimmer um. Es war wundervoll sauber und hell, und überall stand irgendwelcher Trödel herum, billige, lustige

Ziergegenstände, die Aufschriften wie »Für die beste Mama der Welt« trugen. Und dort, wo solche Dinge fehlten, hingen oder standen Bilder von Babys, Kindern und Familien.

Tiffany hatte geglaubt, dass nur feine Leute in solchen Häusern wohnten. Es gab sogar Öllampen! Und eine Badewanne aus Blech, die praktischerweise neben dem Abort an einem Haken hing! Und eine Wasserpumpe im Haus! Aber Nanny schlenderte in einem recht abgetragenen schwarzen Kleid umher und wirkte ganz und gar nicht wie eine feine Dame.

Im besten Sessel des Zimmers mit dem vielen Trödel lag ein großer grauer Kater und beobachtete Tiffany aus einem halb geöffneten Auge, in dem es ausgesprochen bösartig glitzerte. Nanny hatte ihn als »Greebo, achte nicht auf ihn, er ist nur ein großer, alter Softie« vorgestellt, was Tiffany aus einschlägiger Erfahrung heraus mit: »Er schlägt dir die Krallen in die Beine, wenn du ihm zu nahe kommst« übersetzte.

Tiffany sprach mit ihr, wie sie noch nie mit jemandem gesprochen hatte. Das muss eine Art Magie sein, schlössen die Dritten Gedanken. Hexen lernten schnell, Leute mit ihrer Stimme zu beeinflussen, aber Nanny Ogg beeinflusste sie, indem sie zuhörte.

»Dieser Roland, der nicht dein junger Mann ist«, sagte Nanny, als Tiffany eine Pause einlegte, um Luft zu holen. »Denkst du daran, ihn zu heiraten?«

Lüg nicht, warnten die Dritten Gedanken.

»Ich... nun, wenn man an nichts Bestimmtes denkt, fällt einem alles Mögliche ein, nicht wahr?«, erwiderte Tiffany.

»Denken ist das eigentlich nicht. Die anderen Jungen, denen ich begegnet bin, starren jedenfalls nur auf ihre blöden Füße! Petulia meint, es liegt am Hut.«

»Es hilft, ihn abzunehmen«, sagte Nanny Ogg. »Und als ich jung war, galt das auch für ein knappes Mieder. Daraufhin haben die Jungen nicht mehr auf ihre Füße gestarrt, das versichere ich dir!«

Tiffany merkte, wie die dunklen Augen sie fixierten. Sie musste lachen. In Frau Oggs Gesicht erschien ein breites Grinsen, das eigentlich hinter Schloss und Riegel gehörte, um den öffentlichen Anstand zu wahren. Aus irgendeinem Grund fühlte sich Tiffany viel besser. Sie hatte eine Art Prüfung bestanden.

»Ich fürchte jedoch, beim Winterschmied klappt das nicht«, sagte Nanny, und damit kehrte die düstere Stimmung zurück.

»Die Schneeflocken gingen ja noch«, sagte Tiffany. »Aber der Eisberg... Ich finde, das war ein bisschen viel.« »Alles Angeberei...« Nanny paffte an ihrer Pfeife. »Ja, so was machen sie bei Mädchen.«

»Aber er kann Menschen töten!«

»Er ist der Winter. Und der Winter tötet manchmal. Aber ich schätze, derzeit ist er ziemlich durcheinander, weil er sich noch nie in einen Menschen verliebt hat.«

»Verliebt?«

»Nun, das glaubt er vermutlich.«

Wieder fühlte Tiffany einen sehr aufmerksamen Blick auf sich ruhen.

»Er ist eine elementare Kraft, und solche Kräfte sind eigentlich recht einfach gestrickt«, fuhr Nanny Ogg fort. »Aber er versucht, ein Mensch zu sein. Und das ist kompliziert. Wir stecken voller Dinge, die er nicht versteht, die er gar nicht verstehen kann. Zorn, zum Beispiel. Ein Schneesturm ist nicht zornig. Er hasst die Menschen nicht, die in ihm umkommen. Der Wind ist nie grausam. Aber je mehr der Winterschmied an dich denkt, desto mehr bekommt er es mit solchen Gefühlen zu tun, und es gibt niemanden, der sie ihm erklärt. Er ist nicht sehr klug. Das brauchte er nie zu sein. Und das Interessante ist, dass du dich ebenfalls veränderst...«

Es klopfte an die Tür. Nanny Ogg stand auf und öffnete. Oma Wetterwachs stand davor, und Fräulein Tick schaute ihr über die Schulter.

»Gesegnet sei dieses Haus«, sagte Oma, doch etwas in ihrer Stimme deutete darauf hin, dass sie den Segen notfalls auch wieder zurücknehmen konnte.

»So wird's wohl sein«, sagte Nanny Ogg.

»Es ist also Ped Fecundis?« Oma deutete mit einem Kopfnicken auf Tiffany.

»Sieht nach einem schlimmen Fall aus. Die Dielenbretter begannen zu wachsen, als sie mit bloßen Füßen über sie hinwegging.«

»Ha! Hast du ihr irgendetwas dagegen gegeben?«, fragte Oma.

»Ich habe ihr ein Paar Pantoffeln verordnet.«

»Ich verstehe nicht, wie es im Zusammenhang mit elementaren Kräften zu Avatarisierung kommen kann, das ergibt keinen...«, begann Fräulein Tick.

»Hör auf zu faseln, Fräulein Tick«, sagte Oma Wetterwachs. »Ich stelle fest, dass du anfängst zu faseln, wenn etwas schief läuft, und das hilft uns nicht weiter.«

»Ich möchte nur das Kind nicht beunruhigen«, sagte Fräulein Tick. Sie nahm Tiffanys Hand und tätschelte sie. »Mach dir keine Sorgen, Tiffany, wir...

»Sie ist eine Hexe«, sagte Oma streng. »Wir müssen ihr die Wahrheit sagen.« »Glaubt ihr, dass ich mich in eine... eine Göttin verwandle?«, fragte Tiffany.

Der Anblick ihrer Gesichter entschädigte sie für vieles. Der einzige Mund, der kein O bildete, gehörte Oma Wetterwachs - sie schmunzelte wie jemand, dessen Hund gerade ein ziemlich gutes Kunststück vollbracht hatte. »Wie hast du das herausgefunden?«, fragte sie.

Es war eine Vermutung von Professor Hetzig: Avatar, ein fleischgewordener Gott. Aber das verrate ich euch nicht, dachte Tiffany. »Stimmt es denn?«, fragte sie.

»Ja«, sagte Oma Wetterwachs. »Der Winterschmied hält dich für... oh, sie hat viele Namen. Die Dame mit den Blumen ist zum Beispiel ein hübscher. Oder die Sommerfrau. Sie macht den Sommer, so wie er den Winter macht. Er glaubt, du bist sie.«

»Na schön«, sagte Tiffany. »Aber wir wissen, dass er sich irrt, nicht wahr?«

»Äh... er irrt sich nicht so sehr, wie wir es gern hätten«, sagte Fräulein Tick.

Die meisten Größten hatten ihr Lager in Nanny Oggs Scheune aufgeschlagen, und dort hielten sie Kriegsrat. Allerdings ging es dabei nicht unbedingt um Krieg.

»Was wir hier ham«, verkündete Rob Irgendwer, »is' ein Fall von Romanze.«

»Was is' das, Rob?«, fragte ein Größter.

»Hat das was damit zu tun, wie Babys gemacht werden?«, erkundigte sich der Doofe Wullie. »Du hast uns letztes Jahr davon erzählt. Es war sehr interessant, wenn auch ziemlich weit hergeholt, meiner Meinung nach.«

»Nicht unbedingt«, antwortete Rob Irgendwer. »Un' es is' ein bisschen schwer zu beschreiben. Ich schätze, der Winterschmied will 'ne Romanze mit der großen kleinen Hexe, un' sie weiß nich', was sie machen soll.«

»Es hat also doch was damit zu tun, wie Babys gemacht werden?«, fragte der Doofe Wullie.

»Nee, denn das schaffen selbst Tiere, aber nur Menschen können Romanzen haben«, erklärte Rob. »Wenn ein Täuberich eine Taube trifft, mussa nich' sagen: >Mein Herz macht bumm-bumm-bumm, wenn ich dein kleines Gesicht sehe<, denn das is' in ihren Köpfen schon eingebaut. Bei Menschen isses schwieriger. Romanzen sind sehr wichtig. Im Grunde genommen geht es darum, dass sich der Junge dem Mädchen nähern kann, ohne dass es ihm die Augen auskratzt.«

»Ich weiß nich', wie wir der großen kleinen Hexe dabei helfen können«, sagte der Ein Wenig Verrückte Angus. »Sie liest Bücher«, erwiderte Rob Irgendwer. »Wenn sie ein Buch sieht, liest sie es, sie kann einfach nicht anders.« Stolz fügte er hinzu: »Un' ich habe einen Plan.«

Die Größten entspannten sich. Sie freuten sich immer, wenn Rob einen Plan hatte, denn die meisten seiner Pläne liefen darauf hinaus, mit großem Gebrüll über etwas herzufallen.

»Erzähl uns von deinem Plan, Rob«, sagte der Große Yan.

»Oh, das mache ich gern«, entgegnete Rob. »Der Plan is': Wir besorgen der großen kleinen Hexe ein Buch über Romanzen.«

»Und wie beschaffen wir ihr ein solches Buch, Rob?«, fragte Billy Breitkinn zweifelnd. Er war ein treuer, loyaler Dudler, aber er war auch intelligent genug, um nervös zu werden, wenn Rob Irgendwer einen Plan hatte.

Rob Irgendwer winkte lässig ab. »Wir wissen, wie man das anstellt! Wir brauchen nur 'n großen Hut un' 'n Mantel mit Kleiderbügel un' 'n Besenstiel!«

»Ach ja?«, brummte der Große Yan. »Ich will aber nich' noch mal das Knie sein!«

Bei Hexen ist alles ein Test. Und deshalb testeten sie Tiffanys Füße.

Ich wette, ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der so etwas macht, dachte Tiffany und senkte die Füße in eine Schale, die Nanny eilig mit Erde gefüllt hatte. Oma Wetterwachs und Fräulein Tick saßen auf einfachen Holzstühlen, obwohl der graue Kater Greebo in einem großen, weichen Polstersessel lag. Man weckte Greebo besser nicht, wenn er schlafen wollte.

»Spürst du etwas?«, fragte Fräulein Tick.

»Es ist ein bisschen kalt, das ist alles ... Oh, jetzt passiert was...«

Grüne Sprossen erschienen um Tiffanys Füße herum und wurden schnell größer. Dann wurden sie unten weiß und drängten die Füße sanft beiseite, während sie anzuschwellen begannen.

»Zwiebeln?«, fragte Oma Wetterwachs verächtlich.

»Das waren die einzigen Samen, die ich auf die Schnelle finden konnte«, sagte Nanny Ogg und betastete die glänzenden weißen Knollen. »Gute Größe. Ausgezeichnet, Tiff.«

Oma wirkte schockiert. »Du willst sie doch wohl nicht essen, Gytha?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Oder etwa doch? Du willst sie essen!«

Nanny Ogg stand auf, ein Bündel Zwiebeln in den Wurstfingern jeder Hand. Sie machte ein schuldbewusstes Gesicht, aber nur für einen Moment.

»Warum nicht?«, fragte sie mit fester Stimme. »Frisches Gemüse ist im Winter nicht zu verachten. Und außerdem sind ihre Füße hübsch sauber.«

»Das gehört sich nicht«, sagte Fräulein Tick.

»Es hat nicht wehgetan«, sagte Tiffany. »Ich musste doch nur die Füße für einen Moment in die Schale stellen.« »Na bitte, es hat ihr überhaupt nicht wehgetan«, beharrte Nanny Ogg. »Ich glaube, ich habe noch ein paar alte

Möhrensamen in einer Schublade...« Sie bemerkte den Gesichtsausdruck der anderen Hexen. »Schon gut, schon gut, ihr braucht nicht gleich eine solche Miene zu ziehen. Ich wollte nur auf die positiven Seiten hinweisen, das ist alles.«

»Könnte mir jemand bitte erklären, was mit mir geschieht?«, jammerte Tiffany.

»Fräulein Tick würde dir diese Frage äußerst ausführlich beantworten«, sagte Oma. »Aber kurz gesagt ist es so: Die Geschichte nimmt ihren Lauf. Und sie sorgt dafür, dass du hineinpasst.«

Tiffany versuchte, nicht so dreinzuschauen, als hätte sie kein Wort verstanden.

»Ich glaube, ich wüsste gern ein paar Einzelheiten«, erwiderte sie.

»Ich sollte wohl besser Tee kochen«, sagte Nanny Ogg.