1.
Der große Schnee
Als das Unwetter kam, traf es die Hügel wie ein Hammer. Kein Himmel konnte so viel Schnee halten, und deshalb fiel er wie eine weiße Wand.
Dort, wo sich vor einigen Stunden eine Ansammlung von Dornbüschen auf einem alten Erdwall befunden hatte, lag nun Schnee. Im vergangenen Jahr hatten hier um diese Zeit einige frühe Primeln geblüht, doch jetzt war dort alles weiß.
Der Schnee bewegte sich. Ein etwa apfelgroßer Pfropf schob sich nach oben, und darum herum stieg Rauch auf. Eine Hand, nicht größer als eine Kaninchenpfote, fächelte ihn beiseite.
Ein sehr kleines, aber auch sehr zorniges blaues Gesicht blickte unter dem Schopf aus Schnee hervor in die unvermutet weiße Wüste.
»Potzblitz!«, brummte es. »Seht euch das an! Das is' das Werk des Winterschmieds! Er meint es verdammt ernst!«
Weitere Schneehäufchen
gerieten in Bewegung. Mehr Köpfe zeigten sich.
»Oh, schlimm, schlimm, schlimm!«, sagte einer von ihnen. »Er hat die große kleine Hexe wieder gefunden!« Der erste Kopf wandte sich ihm zu. »Doofer Wullie?«
»Ja, Rob?«
»Habe ich dir nich' gesagt, du sollst nich' immer >schlimm< sagen?«
»Ja, Rob, das hast du«, bestätigte der Kopf, der mit Doofer Wullie angesprochen worden war.
»Und warum hast du's gerade wieder getan?«
»Tschuldige, Rob. Is' mir so rausgerutscht.«
»Das zieht einen so runter.«
»Verzeihung, Rob.«
Rob Irgendwer seufzte. »Aber ich fürchte, du hast Recht, Doofer Wullie. Er is' wegen der großen kleinen Hexe gekommen, kein Zweifel. Wer passt bei ihrer Farm auf?«
»Kleiner Gefährlicher Stachel, Rob.«
Rob sah zu den Wolken hoch, die so voller Schnee waren, dass sie in der Mitte durchhingen.
»Na schön«, sagte er und seufzte erneut. »Jetzt muss der Held ran.«
Er tauchte in die Höhle der Wir-sind-die-Größten ab, und der Schneepropf auf seinem Kopf kehrte an seinen ursprünglichen Platz zurück.
Das Innere des Erdwalls war recht groß. In der Mitte konnte ein Mensch aufrecht stehen, aber er hätte sich sogleich vor Husten zusammengekrümmt, denn dort zog der Rauch durch ein Loch ab.
Die Wände waren von Galerien gesäumt, auf denen es von blauen Kobolden wimmelte. Normalerweise ging es in der Höhle recht laut zu, aber jetzt herrschte eine seltsame Stille.
Rob Irgendwer ging zum
Feuer, wo seine Frau Jeannie wartete. Sie erhob sich stolz, wie es
sich für eine Kelda gehört, aber aus der Nähe schien es ihm, dass
sie geweint hatte. Er schlang den Arm um sie.
»Also gut, ihr wisst vermutlich, was los ist«, wandte er sich an das rotblaue Publikum, das von den Galerien auf ihn herabsah. »Dies ist kein gewöhnlicher Schneesturm. Der Winterschmied hat die große kleine Hexe gefunden... Jetzt seid doch mal ruhig!«
Er wartete, bis das Geschrei und Schwerterklirren nachließ, und fuhr dann fort:
»Wir können nich' an ihrer Stelle gegen den Winterschmied kämpfen! Das ist ihre Aufgabe! Wir können sie ihr nich' abnehmen! Doch die Hexe der Hexen hat uns einen anderen Weg gezeigt! Einen dunklen und gefährlichen!«
Jubel ertönte. So etwas gefiel den Größten.
»Jawoll!«, sagte Rob zufrieden. »Und ich breche auf, um den Helden zu holen!«
Daraufhin erklang Gelächter, und der Große Yan, Größter der Größten, rief: »Es is' zu früh! Wir haben ihn doch erst ein paar wenige Stunden im Heldsein unterrichtet! Er ist noch eine totale Null.«
»Für die große kleine Hexe wird er ein Held sein, und damit basta«, sagte Rob scharf. »Los mit euch, der ganze Haufen! Zur Kreidegrube! Grabt mir einen Weg zur Unterwelt!«
Das muss der Winterschmied sein, dachte Tiffany Weh, als sie im eiskalten Farmhaus vor ihrem Vater stand. Sie konnte ihn dort draußen spüren. Dieses Wetter wäre selbst mitten im Winter nicht normal gewesen, und inzwischen war der Frühling angebrochen. Es war eine Herausforderung. Oder
vielleicht ein Spiel.
Beim Winterschmied wusste man das nie so genau.
Aber ein Spiel kam eigentlich nicht infrage, denn die Lämmer starben. Ich bin erst dreizehn, und mein Vater und viele andere Leute, die älter sind, erwarten von mir, dass ich etwas tue. Doch ich kann nicht. Der Winterschmied hat mich wieder gefunden. Er ist jetzt hier, und ich bin zu schwach.
Es wäre einfacher, wenn sie mir die Hölle heiß machen würden, aber nein, sie betteln. Das Gesicht meines Vaters ist grau vor Sorge, und er bettelt. Mein Vater bettelt mich an.
O nein, jetzt nimmt er den Hut ab. Er nimmt den Hut ab, um mit mir zu sprechen!
Sie glauben, dass Magie nichts kostet, dass ich einfach nur mit den Fingern schnippen muss. Aber was tauge ich, wenn ich ihnen jetzt nicht helfen kann? Ich darf ihnen nicht zeigen, dass ich mich fürchte. Hexen dürfen sich nicht fürchten.
Und das ist alles meine Schuld. Ich habe damit angefangen, und ich muss es auch zu Ende bringen.
Herr Weh räusperte sich.
»... Und, äh, wenn du den Schnee... äh, wegzaubern könntest oder so? Für uns ...?«
Alles im Zimmer war grau, denn Schnee lag vor den Fenstern, durch die das Licht hereindrang. Niemand hatte Zeit damit vergeudet, das grässliche Zeug von den Häusern wegzuschaufeln. Jeder, der eine Schaufel halten konnte, wurde woanders gebraucht, und trotzdem waren sie zu wenige. Die meisten Leute waren die ganze Nacht auf den Beinen und bei den Jährlingen gewesen, hatten versucht, alle Gefahren von den neuen Lämmern fernzuhalten... im Dunkeln, im Schnee...
In ihrem Schnee. Er
war eine Botschaft für sie. Eine Herausforderung. Ein
Ruf.
»Na schön«, sagte Tiffany. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Braves Mädchen«, erwiderte ihr Vater und lächelte erleichtert.
Nein, ich bin kein braves Mädchen, dachte Tiffany. Ich habe das alles über uns gebracht.
»Ihr müsst ein großes Feuer entzünden, drüben bei den Schuppen«, sagte sie laut. »Ein richtig großes Feuer, versteht ihr? Werft alles hinein, was brennt. Gebt ihm Nahrung. Es wird wieder ausgehen wollen, aber ihr müsst dafür sorgen, dass es weiterbrennt. Haltet genug Brennmaterial bereit, was auch immer geschieht. Das Feuer darf nicht ausgehen!«
Tiffany gab dem »nicht!« einen lauten, furchterregenden Klang, um zu verhindern, dass die Gedanken der Leute abschweiften. Sie streifte den dicken braunen Wollmantel über, den Fräulein Verrat für sie gemacht hatte, und nahm den spitzen schwarzen Hut vom Haken an der Tür. Eine Art gemeinschaftliches Grunzen entrang sich den Menschen, die sich in der Küche zusammendrängten, und einige von ihnen wichen zurück. Wir wollen jetzt eine
Hexe, wir brauchen jetzt eine Hexe, aber... wir weichen jetzt auch ein wenig zurück.
Das war die Magie des spitzen Huts. Fräulein Verrat nannte es »Boffo«.
Tiffany Weh trat hinaus in den schmalen Korridor, der in den Schnee auf dem Hof gegraben worden war - die Schneewehen waren dort mehr als vier Meter hoch. Wenigstens schützten sie vor dem Wind, der aus Messern zu bestehen schien.
Man hatte einen Weg zur
Koppel geschaffen, aber es war alles andere als leicht gewesen.
Wenn der Schnee überall vier Meter weit aufragt, wie und wohin soll
man ihn dann beiseite räumen?
Tiffany wartete bei den Karrenschuppen, während die Männer an den Mauern aus Schnee herumhackten und -kratzten. Inzwischen waren sie todmüde; sie hatten stundenlang Schnee geschaufelt.
Das Wichtigste war...
Aber es gab vieles, was wichtig war. Es war wichtig, ruhig und zuversichtlich zu wirken. Es war wichtig, einen klaren Kopf zu behalten. Es war wichtig, nicht zu zeigen, dass man sich vor Angst fast in die Hosen machte...
Sie streckte die Hand aus, fing eine Schneeflocke auf und untersuchte sie eingehend. Es war keine normale, nein, ganz und gar nicht. Es war eine seiner speziellen Schneeflocken. Kein gutes Zeichen. Er verhöhnte sie. Tiffany hatte ihn nie zuvor gehasst, aber jetzt war sie dazu imstande, denn er tötete die Lämmer.
Sie fröstelte und zog den dicken Mantel enger um ihre Schultern.
»Dies ist meine Entscheidung«, krächzte sie, und ihr Atem bildete in der Luft kleine Wölkchen. Sie räusperte sich und begann erneut. »Dies ist meine Entscheidung. Wenn es einen Preis zu zahlen gibt, so entscheide ich, ihn zu zahlen. Wenn es mein Tod ist, so entscheide ich zu sterben. Wo auch immer mich dies hinführt, ich entscheide, dorthin zu gehen. Ich entscheide. Es ist meine Entscheidung.«
Wenn dies ein Zauberspruch war, so in erster Linie für sie selbst. Und wenn Zaubersprüche nicht einmal bei einem selbst wirken, dann wirken sie überhaupt nicht.
Tiffany kroch noch tiefer in den Mantel, um den schneidenden Wind auszusperren, und beobachtete, wie die Männer Stroh und Holz herbeischafften. Das Feuer kam so langsam in Gang, als fürchtete es, Enthusiasmus zu zeigen.
Sie hatte das schon mal getan, oder? Dutzende Male. Der Trick war nicht so schwer, wenn man ein Gefühl dafür hatte. Aber bisher hatte sie sich dabei immer Zeit genug gelassen, um zur richtigen inneren Einstellung zu finden, und ihn immer bloß auf ein Küchenfeuer angewandt, das ihre kalten Füße wärmte. Rein theoretisch sollte es mit einem großen Feuer und viel Schnee ebenso leicht sein, oder?
Oder?
Die Flammen loderten auf. Ihr Vater legte ihr die Hand auf die Schulter, und Tiffany zuckte zusammen. Sie hatte vergessen, wie leise er sein konnte.
»Was war das mit dem Entscheiden?«, fragte er. Sie hatte auch vergessen, wie gut er hörte.
»Das ist... eine Hexensache«, antwortete sie und mied seinen Blick. »Wenn dies... nicht klappt, so ist es allein meine Schuld.« Und ich bin schuld daran, dachte sie. Es ist nicht fair, aber niemand hat gesagt, dass es fair sein würde.
Die Hand ihres Vaters fasste sie am Kinn und drehte ihren Kopf. Wie weich seine Hände sind, dachte Tiffany. Groß und kräftig, aber weich wie die eines Babys, wegen des Fetts in der Schafwolle.
»Wir hätten dich nicht darum bitten sollen...«, sagte er.
Doch, hättet ihr, dachte Tiffany. Die Lämmer sterben unter dem schrecklichen Schnee. Und ich hätte sagen sollen: Nein, so gut bin ich noch nicht. Aber die Lämmer sterben unter dem schrecklichen Schnee!
Es wird andere Lämmer geben, sagten ihre Zweiten Gedanken.
Aber es werden nicht diese Lämmer sein, nicht wahr?
Dies sind die Lämmer, die hier und jetzt sterben. Und sie sterben, weil ich meinen Füßen gehorcht und gewagt habe, mit dem Winterschmied zu tanzen.
»Ich kann es schaffen«, sagte sie.
Vater Weh hielt das Kinn seiner Tochter fest und blickte ihr in die Augen.
»Bist du sicher, Jiggit?«, fragte er. So hatte ihre Großmutter sie genannt - Oma Weh, die nie ein Lamm an den schrecklichen Schnee verloren hatte. Er hatte ihn nie zuvor benutzt. Wieso war er jetzt darauf gekommen?
»Ja!« Tiffany schob die Hand ihres Vaters beiseite und wandte den Blick ab, um nicht in Tränen auszubrechen. »Ich... habe deiner Mutter noch nichts davon gesagt«, begann er ganz langsam, als müssten die Worte sehr sorgfältig gewählt werden, »aber ich kann deinen Bruder nicht finden. Ich glaube, er wollte uns helfen.
Immerfort Schwindeil hat ihn mit seiner kleinen Schaufel gesehen. Ah... bestimmt geht es ihm gut, aber... bitte halt nach ihm Ausschau, ja? Er hat seine rote Jacke an.«
Sein völlig ausdrucksloses Gesicht bot einen herzzerreißenden Anblick. Der kleine Willwoll, fast sieben Jahre alt, lief immer den Männern nach, wollte immer einer von ihnen sein, wollte immer helfen. Wie schnell konnte man einen kleinen Jungen übersehen... Es schneite noch immer stark. Die schrecklich falschen Schneeflocken lagen weiß auf den Schultern ihres Vaters. An diese kleinen Dinge erinnert man sich, wenn man plötzlich den Boden unter den Füßen verliert und fällt...
Es war nicht bloß unfair, es war... grausam.
Denk an den Hut, den du trägst! Denk an deine Aufgabe! Gleichgewicht! Darauf kommt es an! Bewahre das Gleichgewicht in der Mitte, bewahre das Gleichgewicht...
Tiffany streckte die tauben Hände dem Feuer entgegen, um sie zu wärmen.
»Das Feuer darf auf keinen Fall ausgehen«, betonte sie noch einmal.
»Viele Männer sind unterwegs und holen von überallher Holz«, erwiderte ihr Vater. »Ich habe ihnen gesagt, sie sollen auch die Kohle aus der Schmiede holen. An Brennmaterial wird es uns nicht mangeln, das verspreche ich dir!«
Die Flammen tanzten und neigten sich Tiffanys Händen entgegen. Der Trick bestand darin... der Trick, der Trick... bestand darin, die Wärme irgendwo bei sich zu verstauen, sie mitzunehmen und... das Gleichgewicht zu halten. Vergiss alles andere!
»Ich begleite dich...«, begann ihr Vater.
»Nein!«, rief Tiffany viel zu laut. Sie war außer sich vor Angst. »Achte auf das Feuer! Tu, was ich dir sage!«
Ich bin jetzt nicht deine Tochter!, schrie es in ihr. Ich bin deine Hexe! Ich beschütze dich\
Sie drehte sich um, bevor er ihr ins Gesicht sehen konnte, und lief durch die fallenden Schneeflocken den Weg zu den unteren Koppeln hinunter. Der Schnee war zu einem holprigen Pfad festgetreten, und Neuschnee machte ihn glatt. Erschöpfte Männer mit Schaufeln pressten sich rechts und links an die weißen Wände, um ihr nicht im Weg zu sein.
Sie erreichte die offene Fläche, wo sich andere Schäfer in die Schneewand gruben. Um sie herum fielen weiße Brocken zu Boden.
»Aufhören! Kehrt um!«, rief Tiffanys Stimme, doch innerlich weinte sie.
Die Männer gehorchten sofort. Oberhalb des Munds, der diesen Befehl erteilt hatte, saß ein spitzer Hut. Einem spitzen Hut widersprach man nicht.
Denk an die Wärme, die Wärme, denk an die Wärme... Gleichgewicht, Gleichgewicht...
Hier ging es um pure Hexerei. Keine Spielzeuge, keine Zauberstäbe, kein Boffo, keine Pschikologie, keine Tricks. Es kam nur darauf an, wie gut man war.
Aber manchmal musste man sich selbst überlisten. Sie war weder die Sommerfrau noch Oma Wetterwachs. Sie musste sich selbst so gut wie möglich auf die Sprünge helfen.
Tiffany holte das kleine silberne Pferd aus ihrer Tasche. Es war schmierig und fleckig. Sie hatte sich oft vorgenommen, es zu säubern, aber nie Zeit dafür gefunden...
Wie ein Ritter, der seinen Helm aufsetzt, befestigte sie die silberne Kette an ihrem Hals.
Sie hätte mehr üben sollen. Sie hätte auf die Leute hören sollen. Sie hätte auf sich selbst hören sollen.
Tiffany holte tief Luft und streckte die Hände nach rechts und links, die Innenflächen nach oben. Auf der rechten Hand schimmerte eine weiße Narbe.
»Donner in meiner rechten Hand«, sagte sie. »Blitz in meiner linken. Feuer hinter mir. Eis vor mir.«
Sie trat vor, bis sie nur noch wenige Zentimeter von der weißen Wand trennten. Deutlich spürte sie, wie der Schnee bereits die Wärme aus ihr saugte. Nun gut. Sie atmete mehrmals tief durch. Dies ist meine Entscheidung...
»Eis zu Feuer«, flüsterte sie.
Das Feuer im Hof wurde weiß und donnerte wie in einem Schmelzofen.
In der Schneewand zischte es. Dampf fauchte empor und riss Schneebrocken mit sich. Tiffany setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Der Schnee wich vor ihren Händen zurück wie Dunst vor der aufgehenden Sonne. Er schmolzin ihrer Hitze, und es entstand ein Tunnel durch die hohen Schneewehen. Der Schnee floh vor ihr, umwogte sie mit Wolken aus kaltem Nebel.
Ja! Tiffany lächelte grimmig. Es stimmte. Wenn man in seiner Mitte ruhte und die richtige Einstellung hatte, so konnte man die Dinge ausbalancieren. In der Mitte der Wippe gibt es einen Punkt, der sich nie bewegt...
Ihre Stiefel glucksten in warmem Wasser. Da das furchtbare Unwetter so spät im Jahr gekommen war, wuchs bereits frisches grünes Gras unter dem Schnee. Tiffany ging weiter, dorthin, wo die zugeschneiten Abiammpferche lagen.
Ihr Vater starrte ins Feuer. Es brannte weiß wie in einem Schmelzofen und fraß sich wie von starkem Wind getrieben durchs Holz. Innerhalb weniger Sekunden zerfiel es vor seinen Augen zu Asche...
Wasser umströmte Tiffanys Stiefel.
Ja! Aber denk nicht daran! Bewahre das Gleichgewicht! Mehr Wärme! Eis zu Feuer!
Sie hörte ein Blöken.
Schafe können unter Schnee überleben, zumindest für eine Weile. Aber wie Oma Weh immer gesagt hatte: Als die Götter das Schaf erschufen, haben sie das Gehirn vergessen. In Panik - und Schafe waren der Panik immer sehr nahe -zertrampelten sie ihre eigenen Lämmer.
Dampfende, verwirrte Mutterschafe und Lämmer kamen zum Vorschein. Als der Schnee um sie herum schmolz, wirkten sie wie zurückbleibende Skulpturen.
Den Blick starr geradeaus gerichtet, setzte Tiffany ihren Weg fort. Sie war sich nur vage der aufgeregten Rufe der Männer hinter ihr bewusst. Sie folgten ihr, befreiten die Mutterschafe, nahmen die Lämmer auf den Arm...
Ihr Vater schrie die
anderen Männer an. Einige von ihnen zerschlugen einen Karren und
warfen das Holz in die glühend heißen Flammen. Andere schleppten
Möbel aus dem Haus. Räder, Tische, Strohballen, Stühle -
das Feuer nahm alles, verschlang es und
verlangte donnernd mehr. Doch es gab nichts mehr.
Keine rote Jacke. Keine rote Jacke! Gleichgewicht halten. Tiffany watete weiter; Wasser und Schafe strömten an ihr vorbei. Ein Stück der Tunneldecke stürzte ein und platschte ins Schmelzwasser. Sie achtete nicht darauf. Frische Schneeflocken fielen durch das Loch und kochten in der Luft über ihrem Kopf. Auch darauf achtete sie nicht. Und dann, vor ihr... etwas Rotes.
Eis zu Feuer! Der Schnee wich zurück, und dort war er. Tiffany hob ihn hoch und schlang die Arme um ihn, gab ihm etwas von ihrer Wärme ab und spürte, wie er sich bewegte. »Der Schnee muss mindestens zwanzig Kilo gewogen haben!«, flüsterte sie. »Mindestens zwanzig Kilo!«
Willwoll hustete und öffnete die Augen. Tränen fielen wie schmelzender Schnee, als Tiffany zu einem Schäfer lief und ihm den Jungen in die Arme drückte.
»Bring ihn zu seiner Mutter! Jetzt sofort!« Der Mann packte den Jungen und stürmte los, von ihrer Grimmigkeit erschrocken. Heute war sie ihre Hexe!
Tiffany kehrte zu dem Schneetunnel zurück. Es gab keine Lämmer mehr, die gerettet werden mussten.
Der Mantel ihres Vaters landete in den hungrigen Flammen, glühte für einen Moment auf und zerfiel dann zu grauer Asche. Die anderen Männer standen bereit und packten Tiffanys Vater, als er dem Mantel hinterher springen wollte. Sie zogen ihn zurück, und er trat um sich und schrie.
Die Pflastersteine waren wie Butter geschmolzen. Sie zischten ein letztes Mal und erstarrten dann.
Das Feuer ging aus.
Tiffany Weh hob den Blick und sah in die Augen des Winterschmieds.
Und oben auf dem Dach des Karrenschuppens sagte eine leise Stimme, die Kleiner Gefährlicher Stachel gehörte: »Oh, Potzblitz!«
All dies ist noch nicht geschehen. Vielleicht geschieht es überhaupt nicht. Die Zukunft ist immer ein bisschen ungewiss. Selbst kleine Dinge, zum Beispiel eine Schneeflocke oder der Umstand, dass jemand den falschen Löffel fallen lässt, können ihr eine andere Richtung geben. Oder vielleicht auch nicht.
Es begann alles im letzten Herbst, an dem Tag mit der Katze...