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10. Nach Hause

 

Oma Wetterwachs sah von ihrer Untertasse mit Tinte auf, in der Tiffany im Weiß eines Schneesturms verschwand. Sie lächelte, aber bei Oma Wetterwachs bedeutete das nicht unbedingt, dass etwas Angenehmes geschah.

»Wir hätten ihn leicht erledigen können«, sagte Rob Irgendwer vorwurfsvoll. »Hättest du uns bloß gelassen.« »Vielleicht«, erwiderte Oma. »Aber vielleicht hätte er euch auch zu Eis erstarren lassen. Außerdem erwartet die Kleinen Freien Männer eine größere Aufgabe. Ihr müsst zwei Dinge für eure große kleine Hexe tun. Das eine ist schwer und das andere sehr schwer.«

Die Laune der Größten besserte sich, als sie das hörten. Sie waren überall in Nanny Oggs Küche. Einige von ihnen hockten auf Nanny Ogg selbst, und es schien Fräulein Tick erhebliches Unbehagen zu bereiten, von ihnen umgeben zu sein. Im Gegensatz zu Fräulein Tick hatten die Wir-sind-die-Größten nur selten Gelegenheit zu einem Bad.

»Zunächst müsst ihr für sie in die... Unterwelt gehen und die echte Sommerfrau holen«, sagte Oma.

Die bedeutungsvolle Pause schien die Größten nicht weiter zu stören.

»Oh, klar, machen wir«, erwiderte Rob Irgendwer. »Wir können überall rein. Un' das is' die sehr schwere Sache?«

»Und auch wieder heraus?«, fragte Oma.

»Aber ja«, sagte Rob voller Zuversicht. »Meistens schmeißt man uns raus!«

»Der sehr schwere Teil«, sagte Oma, »besteht darin, einen Helden zu finden.«

»Das is' nich' schwer«, sagte Rob. »Wir sin' alle Helden!« Jubel brauste auf.

»Wirklich?«, erwiderte Oma. »Hast du Angst davor, in die Unterwelt zu gehen, Rob Irgendwer?«

»Ich? Nein!« Rob Irgendwer sah sich inmitten seiner Brüder um und grinste breit.

»Dann buchstabier mal das Wort >Marmelade<.« Oma Wetterwachs schob einen Stift über Nanny Oggs Tisch und lehnte sich zurück. »Na los. Jetzt sofort. Und niemand darf dir helfen!«

Rob wich zurück. Oma Wetterwachs war die Hexe aller Hexen, das wusste er. Mit einem kleinen blauen Mann, der Fehler machte, konnte sie alle möglichen Dinge anstellen.

Nervös griff er nach dem Stift und setzte das spitze Ende auf das Holz des Tisches. Andere Größte drängten näher, aber Oma Wetterwachs runzelte die Stirn, und deshalb wagte es niemand, Rob anzufeuern.

Rob blickte zur Decke, und seine Lippen bewegten sich lautlos. Schweiß perlte auf seiner Stirn.

»Mmmmaa...«, begann er.

»Eins«, sagte Oma.

Rob blinzelte. »He! Wer zählt da?«, protestierte er.

»Ich«, antwortete Oma. Das Kätzchen Du sprang auf ihren Schoß und rollte sich zusammen.

»Potzblitz, du hast nich' gesagt, dass du zählen würdest!«

»Ach, nein? Die Regeln können sich jederzeit ändern! Zwei!«

Rob kritzelte ein leidliches M, zögerte und malte ein R, als Oma »Drei!« sagte.

»Da muss ein >A< drin sein, Rob«, sagte Billy Breitkinn. Er sah trotzig zu Oma auf und fügte hinzu: »Wie ich hörte, können sich die Regeln jederzeit ändern, nicht wahr?«

»Natürlich. Fünf!«

In einem Anfall von Kreativität kritzelte Rob ein A und fügte ein weiteres M hinzu.

»Sechseinhalb«, sagte Oma Wetterwachs ruhig und streichelte das Kätzchen.

»Was? Potzblitz«, brummte Rob und wischte sich die schweißnasse Hand am Kilt ab. Dann ergriff er wieder den Stift und malte ein L. Es hatte einen ziemlich welligen Fuß, denn der Stift rutschte ihm aus den Händen, und die Spitze brach ab.

Rob knurrte und zog sein Schwert.

»Acht«, sagte Oma. Holzsplitter stoben davon, als Rob eine neue und recht grobe Spitze aus dem Stift hackte. »Neun.«

Rob kritzelte ein A und ein D. Inzwischen traten ihm die Augen aus den Höhlen, und seine Wangen waren rot. »Zehn.«

Rob nahm neben dem Wort MRAMLAD Haltung an. Jetzt wirkte er nicht mehr nur nervös, sondern auch ein bisschen stolz. Die Wir-sind-die-Größten jubelten, und die neben ihm fächelten ihm mit ihren Kilts Luft zu. »Elf!«

»Was? Potzblitz!« Rob eilte zum Ende des Worts und klierte ein kleines e aufs Holz.

»Zwölf!«

»Du kannst zählen, solange du willst, Frau Hexe«, sagte Rob und warf den Stift hin, »aber mehr Marmelade bekommst du nich'!« Das brachte ihm weiteren Jubel ein.

»Eine heldenhafte Anstrengung, Herr Irgendwer«, sagte Oma. »Das Erste, was ein Held besiegen muss, ist seine Furcht, und wenn es ums Kämpfen geht, wissen die Wir-sind-die-Größten nicht, was das Wort Furcht bedeutet.« »Ja, allerdings«, brummte Rob. »Wir wissen bei vielen Wörtern nich', was sie bedeuten!«

»Kannst du gegen einen Drachen kämpfen?«

»Na klar, her damit!« Rob ärgerte sich noch immer über die Marmelade.

»Kannst du einen hohen Berg ersteigen?«

»Null Problemo!«

»Kannst du ein Buch bis zum Ende lesen, um eure große kleine Hexe zu retten?«

»Ja, klar.« Rob hielt inne. Besorgt befeuchtete er sich die Lippen. »Wie viele Seiten wären denn in dem Buch?«, fragte er heiser.

»Hunderte«, antwortete Oma.

»Und auf beiden Seiten steht was drauf?«

»Ja, und in ganz kleiner Schrift!«

Rob duckte sich. Das machte er immer, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlte, denn so konnte er besser losschlagen, wenn der Kampf begann. Die Größten hielten den Atem an.

»Ich mach's!«, verkündete er grimmig und ballte die Fäuste.

»Gut«, sagte Oma. »Natürlich würdest du es tun, und es wäre heldenhaft - für dich. Aber jemand muss in die Unterwelt und dort die richtige Sommerfrau finden. Das ist eine Geschichte. Sie ist schon einmal passiert. Sie funktioniert. Und der Held muss seine Aufgabe in Angst und Schrecken bewältigen, wie ein richtiger Held, denn viele der Ungeheuer, die es zu besiegen gilt, sind die in seinem Kopf, die er selbst mitbringt. Es wird Zeit für den Frühling, und Winter und Schnee sind noch immer hier, und deshalb müsst ihr den Helden sofort finden. Findet ihn und bringt ihn auf den richtigen Weg. Auf den Weg, der nach unten führt, Rob Irgendwer.«

»Ja, den Weg kennen wir«, sagte Rob.

»Sein Name lautet Roland«, sagte Oma. »Ich schätze, ihr solltet aufbrechen, sobald es hell wird.«

Der Besen raste durch den schwarzen Schneesturm. Für gewöhnlich flog ein Hexenbesen dorthin, wohin die Hexe wollte, und Tiffany lag lang ausgestreckt auf dem Stiel und versuchte, nicht zu erfrieren, während sie hoffte, dass der Besen sie nach Hause brachte. Sie sah nichts außer Dunkelheit und wirbelndem Schnee, der ihr in die Augen stach, und deshalb klammerte sie sich mit heruntergezogenem Hut an den Besen, um dem Wind keinen Widerstand zu bieten. Trotzdem trafen sie die Flocken wie Steine, und Schnee sammelte sich auf dem Stiel an. Alle paar Minuten musste sie um sich schlagen, damit der Besen nicht vereiste.

Unter sich hörte sie das Donnern des Wasserfalls und fühlte die plötzliche Leere, als der Besen über die Ebene hinausflog und zu sinken begann. Sie fror bis in die Knochen.

Sie konnte nicht gegen den Winterschmied kämpfen, nicht auf Annagrammas Art. Schon, sie konnte es sich vornehmen und wild entschlossen zu Bett gehen, aber wenn sie ihn sah...

... Genug Eisen für einen Nagel... Die Worte hingen in ihrem Kopf, während der Besen weiterflog, und sie erinnerte sich an den alten Kindervers, den sie vor vielen Jahren gelernt hatte, als die reisenden Lehrer ins Dorf gekommen waren. Alle schienen ihn zu kennen:

 

Genug Eisen für einen Nagel, 
Genug Kalk, um eine Wand zu weißen, 
Genug Wasser, um einen Hund zu ertränken,
 Genug Schwefel, um die Flöhe zu töten,
Genug Pottasche, um ein Hemd zu waschen, 
Genug Gold, um eine Bohne zu kaufen, 
Genug Silber, um eine Nadel zu plattieren, 
Genug Blei, um einen Vogel zu beschweren, 
Genug Phosphor, um den Ort zu beleuchten...

 

Und so weiter, und so fort...

Es war die Art Unsinn, die man anscheinend nie gelernt, aber immer gewusst hat. Kinder spielten danach Hüpfspiele und benutzten ihn als Abzählreim.

Und eines Tages stellte einer der reisenden Lehrer, der wie alle anderen für Eier, frisches Gemüse und saubere gebrauchte Kleidung unterrichtete, durch Zufall fest, dass er mehr zu essen bekam, wenn er von interessanten anstatt von nützlichen Dingen berichtete. Er erzählte, dass bestimmte Zauberer einst mit Hilfe höchst ausgefeilter Magie herausgefunden hatten, woraus genau ein Mensch bestand. Menschliche Wesen waren größtenteils aus Wasser gemacht, aber auch aus Eisen, Schwefel, Ruß und einer Prise von praktisch allem, was es sonst noch gab, sogar einem winzigen bisschen Gold. Alles zusammen machte einen Menschen aus.

Für Tiffany ergab es ebenso viel Sinn wie alles andere. Doch in einem Punkt war sie sicher: Wenn man all das nahm und in eine große Schüssel füllte, so würde bestimmt kein Mensch daraus, so sehr man auch darauf einbrüllte.

Man konnte kein Bild erschaffen, indem man viel Farbe in einen Eimer schüttete. Als Mensch wusste man das.

Der Winterschmied war kein Mensch. Der Winterschmied wusste es nicht...

Er wusste auch nicht, wie das Lied endete.

Die Zeilen gingen Tiffany immer wieder durch den Kopf, während der geliehene Besen seinen Flug fortsetzte. Einmal meldete sich Professor Hetzig mit seiner quäkenden, selbstzufriedenen Stimme zu Wort und hielt ihr einen Vortrag über die Niederen Elemente. Er betonte, dass Menschen praktisch aus ihnen allen bestünden, außerdem aber auch viel Narrativium enthielten, das Grundelement von Geschichten, das man nur entdecken konnte, wenn man das Verhalten der anderen beobachtete...

»Du läufst weg, du fliehst. Wie gefällt dir das, Schafmädchen? Du hast ihn mir gestohlen. Ist er all das, was du dir erhofft hast?« Die Stimme kam direkt neben ihr aus der Luft.

»Es ist mir gleich, wer du bist«, brummte Tiffany. Ihr war so kalt, dass sie nicht mehr klar denken konnte. »Verschwinde ...«

Stunden vergingen. Die Luft hier unten war ein wenig wärmer, und es schneite nicht ganz so heftig, aber die Kälte durchdrang die Kleidung immer noch, ganz gleich, wie viel man trug. Tiffany bemühte sich, wach zu bleiben. Manche Hexen konnten auf einem Besen schlafen, aber sie versuchte es nicht, aus Furcht davor, von einem Sturz in die Tiefe zu träumen und beim Erwachen festzustellen, dass sie tatsächlich fiel, aber nicht mehr lange.

Schließlich sah sie unter sich flackernde, gelbe Lichter. Vermutlich handelte es sich um das Gasthaus bei Zweihemden, eine wichtige Navigationsmarke.

Hexen übernachteten nicht in Gasthäusern, wenn es sich vermeiden ließ, denn in manchen Gegenden konnte das gefährlich sein, und außerdem hatte die Sache den sehr unangenehmen Aspekt, dass man dafür meistens bezahlen musste. Aber Frau Umbritsch, die den kleinen Souvenirladen auf der anderen Straßenseite führte, hatte eine alte Scheune und war etwas, das Fräulein Tick FzH nannte: Freundlich zu Hexen. Es gab sogar ein an die Scheunenwand geritztes Hexenzeichen, an einer Stelle, wo es niemand finden würde, der nicht danach suchte: ein Löffel, ein spitzer Hut und ein großes, schulmeisterliches Häkchen.

Nie war Tiffany ein Haufen Stroh verlockender erschienen, und zwei Minuten später lag sie darin. Am anderen Ende der Scheune hielten die beiden Kühe von Frau Umbritsch die Luft warm und rochen nach vergorenem Gras.

Es war ein dunkler Schlaf. Tiffany träumte von Annagramma, die ihre De-Luxe-Maske abnahm und ihr Gesicht zeigte, und dann nahm sie auch das Gesicht ab, und darunter kam Oma Wetterwachs zum Vorschein...

Und dann: War das einen Tanz wert, Schafmädchen? Du hast mir die Macht genommen, und ich hin schwach. Die Welt wird zu Eis. War das einen Tanz wert?

Tiffany setzte sich in der stockfinsteren Scheune auf und glaubte, ein Licht in der Luft zu sehen, das sich krümmte wie eine Schlange. Dann sank sie in die Dunkelheit zurück und träumte von den Augen des Winterschmieds.