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9. Grüne Triebe

 

Am nächsten Morgen war es noch viel kälter - eine betäubende, stumpfe Kälte, die sogar die Flammen eines Feuers zu Eis erstarren lassen konnte.

Ein Stück von Nanny Oggs Haus entfernt ließ Tiffany den Besen zu Boden sinken. Dort gab es kaum Schneewehen, aber die weiße Masse reichte ihr bis zu den Knien, und in der Kälte war sie so harsch geworden, dass sie wie trockenes Brot knirschte, wenn Tiffany auf sie drauftrat.

Rein theoretisch war sie im Wald, um das Füllhorn auszuprobieren, aber in Wirklichkeit wollte sie es aus dem Weg schaffen. Die Hühner hatten Nanny Ogg kaum Kopfzerbrechen gemacht. Immerhin nannte sie jetzt fünfhundert Hennen ihr Eigen, die derzeit in ihrem Schuppen standen und »Gack« machten. Aber die Zimmerböden sahen schrecklich aus, selbst am Geländer klebte Hühnerdreck, und Oma hatte (flüsternd) gefragt: »Was wäre geschehen, wenn jemand >Mist!< gesagt hätte?«

Tiffany setzte sich zwischen schneebedeckten Bäumen auf einen Baumstumpf, das Füllhorn auf dem Schoß. Einst war der Wald hübsch gewesen. Jetzt war er abscheulich. Dunkle Stämme inmitten von Schneewehen, eine gestreifte Welt aus Schwarz und Weiß, wie ein Gitter im Gegenlicht.

Komisch... Das Füllhorn war stets ein wenig warm, selbst hier draußen, und schien im Voraus zu wissen, wie groß es sein musste. Ich wachse, ich schrumpfe, dachte Tiffany. Und ich fühle mich gerade ziemlich klein.

Und jetzt? Was nun? Sie hatte gehofft, dass ihre... Macht vom Himmel fallen würde, wie es schon das Füllhorn getan hatte. Aber nichts dergleichen geschah.

Es gab Leben unter dem Schnee. Sie spürte es in den Fingerspitzen. Irgendwo dort unten, außer Reichweite, befand sich der wahre Sommer. Mit dem Füllhorn schaufelte Tiffany den Schnee beiseite, bis welkes Laub zum Vorschein kam. In den weißen Geflechten der Pilze und den bleichen neuen Wurzeln dort unten war Leben. Ein halb gefrorener Wurm kroch langsam unter das Skelett eines Blatts, so fein wie Spitze. Daneben lag eine Eichel. Es war still im Wald. Er hielt den Atem an und wartete auf Tiffany, und sie wusste nicht, was sie tun sollte.

Ich bin nicht die Sommerfrau, dachte sie. Ich kann sie auch nie sein. Ich trete in ihre Fußstapfen, aber ich kann nicht zu ihr werden. Ich bin vielleicht imstande, einige Blumen wachsen zu lassen, aber ich kann nicht zur Sommerfrau werden. Wenn sie über die Welt wandert, steigen die Lebenssäfte wie ein Meer in den toten Bäumen auf, und Millionen von Tonnen Gras wachsen in einer Sekunde. Kann ich das auch? Nein. Ich bin ein dummes, kleines Mädchen, das ein paar Tricks beherrscht, mehr nicht. Ich bin bloß Tiffany Weh, und ich habe Heimweh.

Aus schlechtem Gewissen dem Wurm gegenüber hauchte sie warme Luft auf den Boden und bedeckte ihn dann wieder mit Blättern. Dabei erklang ein feuchtes kleines Geräusch, als würde man einem Frosch die Finger brechen, und die Eichel öffnete sich. Ein weißer Trieb kam daraus hervor und wuchs mehr als einen Zentimeter, noch während Tiffany ihn anschaute.

Rasch bohrte sie mit den Fingern ein kleines Loch in den Boden, steckte die Eichel hinein und klopfte die Erde wieder fest.

Jemand beobachtete sie. Tiffany stand auf und drehte sich um. Niemand war zu sehen, aber das hatte nichts zu sagen.

»Ich weiß, dass du da bist!«, sagte sie und drehte sich im Kreis. »Wer auch immer du bist!«

Ihre Stimme hallte zwischen den schwarzen Bäumen wider. Selbst in ihren eigenen Ohren klang sie dünn und angstvoll.

Unwillkürlich hob sie das Füllhorn.

»Zeig dich«, brachte sie mit zittriger Stimme hervor. »Oder...«

Oder was?, dachte sie. Oder ich stopfe dich mit Obst voll?

Schnee fiel mit einem dumpfen Geräusch aus einem Baum. Tiffany zuckte zusammen und kam sich dadurch noch alberner vor. Jetzt zuckte sie sogar schon zusammen, weil eine Hand voll Schneeflocken zu Boden fiel! Oma Wetterwachs hatte ihr einmal gesagt, dass eine Hexe sich selbst im dunkelsten Wald nicht fürchten muss, denn im Grunde ihres Herzens sollte sie wissen, dass sie selbst das schrecklichste Geschöpf des Waldes ist. Erneut hob sie das Füllhorn und sagte halbherzig: »Erdbeere ...«

Etwas sauste mit einem Pffft aus dem Füllhorn und hinterließ einen roten Fleck an einem gut fünf Meter entfernten Baum. Tiffany machte sich nicht die Mühe nachzuschauen, was es war; das Füllhorn gab einem immer das, was man haben wollte.

Was man von ihr nicht unbedingt sagen konnte.

Und zu allem Überfluss war sie heute auch noch damit an der Reihe, Annagramma einen Besuch abzustatten. Tiffany seufzte schwer. Wahrscheinlich würde sie da auch irgendwas falsch machen.

Sie setzte sich auf den Besen, hob ab und verschwand langsam zwischen den Bäumen.

Nach ein oder zwei Minuten schob sich ein grüner Trieb aus dem Fleckchen Erde, das Tiffany angehaucht hatte. Er wuchs bis zu einer Höhe von fünfzehn Zentimetern und entwickelte zwei grüne Blätter.

Schritte näherten sich. Sie knirschten nicht so, wie es Schritte sonst auf vereistem Schnee tun.

Dann knirschte es aber doch, als jemand sich in den Schnee kniete.

Zwei knochige, aber sehr kräftige Hände formten aus Schnee und welken Blättern eine hohe, schmale Barriere, die den Trieb umgab und ihn vor dem Wind schützte wie einen Soldaten in einem Schloss.

Eine kleine weiße Katze wollte daran schnüffeln und wurde vorsichtig hochgehoben.

Dann kehrte Oma Wetterwachs in den Wald zurück, ohne Fußspuren zu hinterlassen. Man brachte den anderen nicht alles bei, was man wusste.

Tage vergingen. Annagramma lernte, aber es ging nur mühsam voran. Es ist nicht einfach, eine Person zu unterrichten, die nicht zugeben will, dass sie irgendetwas nicht weiß. Deshalb kam es zu Gesprächen wie:

»Du weißt doch, wie man Placebo-Wurzeln zubereitet, nicht wahr?«

»Natürlich. Das weiß doch jeder.« Doch dann sagte man nicht: »Na schön, dann zeig's mir«, denn dann hätte Annagramma eine Zeit lang herumgewerkelt und schließlich behauptet, Kopfschmerzen zu haben. Stattdessen sagte man: »Gut, dann sieh mir zu und sag mir, ob ich alles richtig mache.« Und dann führte man es ihr fehlerfrei vor und warf Bemerkungen ein wie: »Du weißt ja, dass man nach Meinung von Oma Wetterwachs für diesen Zweck praktisch jedes Mittel nehmen kann, aber es ist besser, die echte Placebo-Wurzel zu benutzen, wenn man sie kriegen kann. In Sirup zubereitet lassen sich mit der Placebo-Wurzel leichte Erkrankungen erstaunlich gut behandeln, aber das weißt du natürlich alles.«

Und Annagramma erwiderte dann: »Natürlich.«

Eine Woche später war es im Wald so kalt, dass ein paar alte Bäume in der Nacht explodierten. Das hatte es schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gegeben, sagten die Alten. Es geschah, wenn der Saft gefror und sich dann auszudehnen versuchte.

Annagramma war so eitel wie ein Kanarienvogel in einem Zimmer voller Spiegel und geriet sofort in Panik, wenn sie mit etwas konfrontiert wurde, das sie nicht kannte. Aber sie lernte schnell und konnte sich sehr gut den Anschein geben, mehr zu wissen, als tatsächlich der Fall war, was für jede Hexe eine wertvolle Fähigkeit war. Einmal bemerkte Tiffany den aufgeschlagenen Boffo-Katalog auf dem Tisch, und darum herum standen ein paar Gegenstände. Sie stellte keine Fragen. Dafür war sie zu beschäftigt.

Eine Woche später froren die Brunnen zu.

Einige Male machte Tiffany zusammen mit Annagramma Touren durch die Dörfer, und danach wusste sie, dass sie es irgendwann schaffen würde. Annagramma war Boffo praktisch angeboren. Sie war groß und arrogant und tat so, als hätte sie die Weisheit mit Löffeln gefressen, auch dann, wenn sie überhaupt keine Ahnung hatte. Damit würde sie es weit bringen. Die Leute hörten auf sie.

Es blieb ihnen auch nichts anderes übrig. Alle Straßen waren zugeschneit; zwischen den Häusern hatten die Leute Tunnel voll von kaltem blauen Licht gegraben. Was irgendwohin transportiert werden musste, reiste per Besen. Dazu gehörten auch die Alten. Sie wurden abgeholt und zu anderen Häusern geflogen. Die Menschen drängten sich zusammen, um es ein wenig wärmer zu haben. Und sie erinnerten sich gegenseitig daran, dass es, so kalt es jetzt auch sein mochte, in ihrer Jugend noch viel kälter gewesen war.

Nach einer Weile hörten sie damit auf.

Manchmal taute es ein kleines bisschen, und dann gefror wieder alles. Daher war jedes Dach mit Eiszapfen gesäumt, und beim nächsten Tauwetter bohrten sie sich wie Dolche in den Boden.

Tiffany schlief nicht; zumindest ging sie nicht zu Bett. Alle Hexen blieben auf den Beinen. Der Schnee wurde zu steinhartem Eis festgetrampelt, damit Karren darauf rollen konnten, aber es gab nicht genug Hexen für die vielen nötigen Besuche, und der Tag hatte nicht genug Stunden. Es gab nicht einmal genug Stunden, wenn man den Tag und die Nacht zusammennahm. Petulia schlief einmal auf ihrem Besen ein und landete zwei Meilen entfernt

in einem Baum. Ein anderes Mal rutschte Tiffany von ihrem herunter und fiel in eine Schneewehe.

Wölfe schlichen sich in die Tunnel. Sie waren schwach vor Hunger und verzweifelt. Oma Wetterwachs vertrieb sie und verriet niemandem, wie sie es gemacht hatte.

Die Kälte fühlte sich an, als würde man rund um die Uhr mit Fäusten verprügelt. Überall auf dem Schnee lagen wie dunkle Punkte tote Vögel, die im Flug erfroren waren. Andere Vögel fanden die Tunnel und erfüllten sie mit ihrem Gezwitscher, und die Leute fütterten sie mit Speiseresten, denn sie brachten der Welt die falsche Hoffnung auf Frühling...

... denn es gab zu essen. Oh, ja, es gab zu essen. Das Füllhorn arbeitete Tag und Nacht.

Und Tiffany dachte: Ich hätte die Schneeflocken lieber ablehnen sollen...

Irgendwo stand eine alte, verlassene Hütte. In ihren verwitterten Brettern steckte ein Nagel. Wenn der Winterschmied Finger gehabt hätte, so hätten sie jetzt gezittert.

Dies war das letzte Ding! Er hatte so viel lernen müssen! Es war so schwer gewesen, so schwer! Wer hätte gedacht, dass ein Mensch aus Zeug wie Kalk, Ruß, Gasen, Giften und Metallen bestand? Doch jetzt bildete sich Eis unter dem rostigen Nagel, und das Holz knarrte und knirschte, als die Eisschicht wuchs und den Nagel hinaustrieb.

Er drehte sich sanft in der Luft, und die Stimme des Winterschmieds erklang im Wind, der die Baumwipfel gefrieren ließ: »GENUG EISEN, UM EINEN MENSCHEN ZU MACHEN!«

Hoch oben in den Bergen explodierte der Schnee. Er türmte sich auf, als spielten Delfine darunter. Formen bildeten sich und verschwanden wieder...

So plötzlich, wie der Schnee in Bewegung geraten war, kam er auch wieder zur Ruhe. Doch jetzt stand da ein Pferd, weiß wie Schnee, und auf seinem Rücken saß ein Reiter, der wie Raureif glitzerte. Wenn der größte Bildhauer der Welt den Auftrag erhalten hätte, einen Schneemann zu bauen, so wäre dies das Ergebnis gewesen.

Irgendetwas ging immer noch vor sich. Die Umrisse von Pferd und Reiter blieben in Bewegung, und beide sahen immer lebensechter aus. Weitere Details bildeten sich heraus. Farben kamen hinzu, immer blass, nie leuchtend. Und dann standen ein Pferd und ein Reiter da und glänzten im trostlosen Licht der Mittwintersonne.

Der Winterschmied streckte die Hand aus und bewegte die Finger. Farbe ist schließlich nur eine Frage der Reflexion; und die Finger nahmen die Farbe von Haut an.

Der Winterschmied sprach. Das heißt, es erklangen unterschiedliche Geräusche, vom Heulen eines Sturms bis zum Schnalzen der abfließenden Brandung an einem Kiesstrand nach einem furchtbaren Unwetter auf See. Irgendwo dazwischen gab es einen Ton, der ihm richtig erschien. Der Winterschmied wiederholte ihn, drehte und streckte ihn, machte ihn zu gesprochenen Worten und spielte damit, bis sie sich richtig anhörten.

Er sagte: »Tasbnlerizwip ? Ggokyziofwa? Wiswip? Nananana... Nyip... nap... Ah... Ah! So wird gesprochen!« Der Winterschmied warf den Kopf in den Nacken und sang die Ouvertüre zu »Überwaldwinter« von Wotua Doinow. Er hatte sie einmal gehört, als er fauchende Sturmböen über das Dach eines Opernhauses getrieben hatte, und war erstaunt gewesen festzustellen, dass ein menschliches Wesen - eigentlich nicht mehr als ein Beutel mit schmutzigem Wasser auf zwei Beinen - ein so wundervolles Verständnis für Schnee entwickeln konnte.

»CHOBA riOXOJlO/lAJlO!«, sang er zum kalten Himmel empor.

Während das Pferd ihn durch den Kiefernwald trug, machte der Winterschmied dennoch einen kleinen Fehler: Er sang nicht nur die Stimmen, sondern auch die Instrumente. Er sang einfach alles und ritt wie ein reisendes Orchester einher, indem er die Geräusche der Sänger, der Trommeln und des restlichen Orchesters gleichzeitig erzeugte.

Die Bäume zu riechen! Die Anziehungskraft des Bodens zu spüren! Fest zu sein! Die Dunkelheit hinter den Augen zu fühlen und zu wissen, dass man es selbst war! Als Mensch zu existieren, als Mann, und sich dessen bewusst zu sein!

So etwas hatte er nie zuvor empfunden. Es war überwältigend. Es gab so viel von... allem, und es strömte aus allen Richtungen auf ihn ein. Zum Beispiel der Erdboden. Er zog ihn die ganze Zeit zu sich. Aufrecht zu stehen erforderte große Konzentration. Und die Vögel! Der Winterschmied hatte sie immer nur für Unreinheiten in der Luft gehalten, die den Ablauf des Wetters störten, aber jetzt waren es Lebewesen, genau wie er. Und sie spielten mit dem Sog des Erdbodens und dem Wind, und sie beherrschten den Himmel.

Der Winterschmied hatte nie zuvor gesehen, nie zuvor gefühlt und nie zuvor gehört. So etwas konnte man nur, wenn man... für sich war, in der Dunkelheit hinter den Augen. Vorher war er nicht für sich gewesen, sondern ein Teil von etwas, Teil des ganzen Universums aus Sog und Druck, Geräuschen und Licht, Fließen und Tanzen. Er hatte eine Ewigkeit lang Stürme gegen Berge geschickt, aber bis heute nicht gewusst, was Berge waren.

Die Dunkelheit hinter den Augen... was für eine Kostbarkeit. Sie gab einem das Gefühl... ein Ich zu haben. Die Hand mit diesen lächerlichen schlackrigen Dingern dran ließ einen Dinge berühren. Durch die Löcher auf beiden Seiten des Kopfes kamen Geräusche herein, und die Löcher vorn ließen die wunderbaren Gerüche in den Kopf. Diese Löcher schienen genau zu wissen, worauf es ankam - wie schlau von ihnen! Erstaunlich! Wenn man eine

elementare Kraft war, geschah alles zusammen, drinnen und draußen, in einem einzigen großen... Ding.

Ding. Das war ein nützliches Wort... Ding. Alles, was der Winterschmied nicht beschreiben konnte, war ein Ding. Alles waren... Dinge, und sie waren aufregend.

Es fühlte sich gut an, ein Mann zu sein! Schon, er bestand zum größten Teil aus schmutzigem Eis, aber das war schließlich nur cleverer konstruiertes schmutziges Wasser.

Ja, er war ein Mensch. Und es war so leicht. Es ging nur darum, Dinge zu organisieren. Er besaß Sinne, er konnte sich unter den Menschen bewegen und... suchen. So suchte man nach Menschen. Indem man selbst zu einem wurde! Einer elementaren Kraft fiel eine solche Suche sehr schwer; es war schon nicht einfach, in der wogenden Dingheit der materiellen Welt einen Menschen auch nur zu erkennen. Aber als Mensch konnte man zu anderen Menschen sprechen, mit dem Loch, aus dem die Laute kamen. Er konnte mit ihnen reden, und sie würden keinen Verdacht schöpfen!

Und jetzt, da er ein Mensch war, gab es kein Zurück mehr. König Winter!

Er brauchte nur noch eine Königin.

Tiffany erwachte, weil jemand sie schüttelte. »Tiffany!« Sie war in Nanny Oggs Haus eingeschlafen, den Kopf ans Füllhorn gelehnt. Irgendwo in der Nähe erklang ein sonderbares Piff, wie ein trockenes Tropfen. Blassblaues Schneelicht erfüllte den Raum.

Als sie die Augen aufschlug, drückte Oma Wetterwachs sie sanft in den Sessel zurück.

»Du hast seit neun Uhr geschlafen, Mädchen«, sagte sie. »Zeit für dich heimzukehren, denke ich.«

Tiffany sah sich um. »Aber da bin ich doch, oder?«, fragte sie benommen.

»Nein, dies ist Nanny Oggs Haus. Und das hier ist ein Teller Suppe...«

Tiffany erwachte und erblickte direkt vor sich einen verschwommenen Teller Suppe. Er wirkte... vertraut.

»Wann hast du zum letzten Mal in einem Bett geschlafen?«, fragte eine wabernde, schattenhafte Gestalt.

Tiffany gähnte. »Welchen Tag haben wir?«

»Dienstag«, sagte Oma Wetterwachs.

»Mmm... was ist ein Dienstag?«

Tiffany erwachte zum dritten Mal. Hände packten sie und setzten sie aufrecht hin.

»So«, erklang die Stimme von Oma Wetterwachs. »Diesmal bleibst du wach. Iss die Suppe. Wärm dich auf. Du musst nach Hause.«

Dieses Mal übernahm Tiffanys Magen die Kontrolle über ihre Hand und einen Löffel. Nach und nach wurde ihr warm.

Oma Wetterwachs saß ihr gegenüber, das Kätzchen Du auf dem Schoß. Sie beobachtete Tiffany, bis der Teller Suppe leer war.

»Ich habe zu viel von dir erwartet«, sagte sie. »Ich hatte gehofft, dass du mehr Kraft finden würdest, wenn die Tage länger werden. Es ist nicht deine Schuld.«

Die Piffs wurden häufiger. Tiffany senkte den Blick und sah, dass Getreide aus dem Füllhorn rieselte. Die Anzahl der Körner nahm zu, noch während sie hinsah.

»Du hast es auf Korn eingestellt, bevor du eingeschlafen bist«, sagte Oma. »Wenn du müde bist, wird es langsamer. Eigentlich ganz gut so, denn sonst hätten uns die Hühner bei lebendigem Leib gefressen.«

»Es ist so ziemlich die einzige Sache, die ich richtig hinbekommen habe«, sagte Tiffany.

»Ach, ich weiß nicht. Annagramma Falkin scheint sich viel versprechend zu entwickeln. Sie kann von Glück sagen, dass sie solche Freundinnen hat, wie ich hörte.« Wenn Fräulein Verrat versucht, hätte, gegen das Gesicht von Oma Wetterwachs Poker zu spielen, so hätte sie verloren.

In der Stille wurde das Rieseln des Korns plötzlich viel lauter.

»Weißt du, ich...«, begann Tiffany.

Oma schniefte. »Niemand braucht sich mir gegenüber zu rechtfertigen«, sagte sie zuvorkommend. »Versprichst du mir, dass du heimkehrst? Heute Morgen sind einige Kutschen durchgekommen, und wie ich hörte, ist es unten in der Ebene noch nicht allzu schlimm. Kehr in dein Kreideland zurück. Du bist die einzige Hexe, die die Leute dort haben.«

Tiffany seufzte. Sie wollte so gern nach Hause, mehr als alles andere. Aber das wäre wie wegzulaufen. »Vielleicht ist es auch wie ein Hinlaufen«, sagte Oma ihrer alten Angewohnheit gemäß, auf etwas zu antworten, das gar nicht gesagt worden war.

»Morgen breche ich auf«, sagte Tiffany.

»Gut.« Oma Wetterwachs erhob sich. »Komm mit. Ich möchte dir etwas zeigen.«

Tiffany folgte ihr durch einen Schneetunnel, der bis zum Waldrand reichte. Dort war der Schnee von Leuten festgetreten worden, die Feuerholz nach Hause geschleppt hatten. Wenn man sich ein wenig vom Waldrand entfernte, waren die Schneewehen nicht mehr so hoch. Es hing viel Schnee in den Bäumen, und die Luft war voller kalter blauer Schatten.

»Wonach suchen wir?«, fragte Tiffany.

Oma Wetterwachs deutete nach vorn.

Etwas Grünes leuchtete im Weiß und Grau: die jungen Blätter eines knapp einen Meter hohen Eichenschößlings. Als Tiffany durch die Schneekruste stapfte und die Hand ausstreckte, um ihn zu berühren, fühlte sich die Luft warm an.

»Weißt du, wie du das hingekriegt hast?«, fragte Oma.

»Nein!«

»Ich auch nicht. Ich könnte das nicht. Du schon. Dies ist dein Werk, Tiffany Weh.«

»Es ist nur ein einziger Baum«, sagte Tiffany.

»Nun, bei Eichen muss man klein anfangen.«

Einige Sekunden lang betrachteten sie den Baum stumm. Das Grün schien vom Schnee darum herum zurückgeworfen zu werden. Der Winter stahl Farben, aber die kleine Eiche leuchtete.

»Und jetzt haben wir alle zu tun«, brach Oma den Bann. »Um diese Zeit würdest du dich normalerweise zu Fräulein Verrats Hütte auf den Weg machen. Nichts weniger erwarte ich von dir...«

Es gab ein Gasthaus, an dem die Kutschen immer Halt machten. Selbst um diese Zeit am Morgen herrschte dort reger Betrieb. Die schnelle Postkutsche hatte dort vor der langen Fahrt in die Berge die Pferde gewechselt, und eine andere, unterwegs in die Ebene, wartete auf ihre Passagiere. Der Atem der Pferde erfüllte die Luft mit Dampf. Kutscher stampften mit den Füßen. Säcke und Bündel wurden verstaut. Männer hantierten mit Futterbeuteln. Einige krummbeinige Burschen hingen nur herum, rauchten und quatschten. In fünfzehn Minuten würde der Hof des Gasthauses wieder leer sein, aber momentan hatten alle so viel zu tun, dass sie nicht auf einen weiteren Fremden achteten.

Nachher erzählten sie alle unterschiedliche Geschichten, wobei sie sich lautstark widersprachen. Der genaueste Bericht stammte vermutlich von Fräulein Dymphnia Stoot, der Tochter des Wirts, die ihrem Vater beim Servieren des Frühstücks half.

»Nun, er kam herein, tja, und ich fand ihn sofort irgendwie seltsam. Er ging so komisch, hob die Beine wie ein trabendes Pferd. Tja, und er glänzte irgendwie. Aber es kommen alle möglichen Leute zu uns, na ja, und man hat nichts davon, wenn man indiskrete Bemerkungen macht. Letzte Woche hatten wir eine Gruppe Werwölfe hier, und das waren Leute wie du und ich, außer dass wir ihnen die Teller auf den Boden stellen mussten... Nun gut, also, dieser Mann... Tja, er setzte sich an einen Tisch und sagte: >Ich bin ein Mensch wie ihr!< Das hat er gesagt, einfach so!

Natürlich achtete sonst niemand auf ihn, aber ich erwiderte, freut mich, das zu hören, und fragte ihn, was er essen wollte. Ich sagte, die Würstchen sind besonders gut an diesem Morgen, und er sagte, er kann nur Kaltes essen, was mich wunderte, denn alle anderen klagten darüber, wie kalt es plötzlich im Raum geworden war, trotz des großen Feuers im Kamin. Nun, wir hatten noch kalte Würstchen in der Speisekammer, aber sie waren nicht mehr ganz frisch, wenn ihr versteht, was ich meine, tja, also gab ich sie ihm, und er knabberte ein bisschen an einem und fragte dann mit vollem Mund: >Dies habe ich nicht erwartet. Was soll ich jetzt machen ?< Und ich antwortete: >Wie war's mit Schlucken ?< Und er fragte: >Schlucken?< Und ich sagte: >Ja, man schluckt es in den Magen hinunter.< Und er sagte: >Ach, in das hohle Ding!<, und dabei spritzte ihm das halbe Würstchen aus dem Mund. Und dann zögerte er kurz und sagte dann: >Ah, ich bin ein Mensch, es ist mir mit Erfolg gelungen, Menschenwürstchen zu essen!< Und ich sagte, das geht zu weit, die Würstchen bestehen zum größten Teil aus Schweinefleisch, wie immer.

Dann fragt er, was er mit den heruntergeschluckten Würstchen machen soll, und ich antworte, dass es mir nicht ansteht, ihm das zu sagen, und das macht zwei Cent, bitteschön, und er legt eine Goldmünze auf den Tisch, und ich mache einen Knicks, weil, tja, man weiß ja nie. Dann sagt er: >Ich bin ein Mensch wie du. Wo sind die spitzen Menschen, die durch die Luft fliegen?< Ich fand das komisch ausgedrückt und sagte ihm, wenn er Hexen sucht, so soll er über die Lancre-Brücke gehen, dort gibt es jede Menge von ihnen, und er sagte: >Name Verrat ?< Und ich sagte, ich hätte gehört, dass sie tot ist, aber bei Hexen kann man ja nie ganz sicher sein. Und dann ging er. Die ganze Zeit über hatte er dieses, tja, Lächeln, glänzend und irgendwie beunruhigend. Auch mit seiner Kleidung stimmte was nicht, schien an ihm festzukleben oder so. Aber in diesem Geschäft darf man nicht heikel sein. Gestern kamen einige Trolle zu uns. Unsere Speisen können sie nicht essen, weißt du, immerhin sind sie eine Art wandernde Felsen, doch wir haben ihnen eine improvisierte Mahlzeit aus zerbrochenen Tassen und Schmiere serviert. Aber der Mann war wirklich ein komischer Kauz, tja. Als er ging, wurde es wieder viel wärmer im Gastraum.«

Nicht weniger erwarte ich von dir...

Die Worte hielten Tiffany warm, als sie über die Bäume flog. Das Feuer in ihrem Kopf brannte vor Stolz, enthielt aber auch einige große, knisternde Scheite des Zorns.

Oma hatte Bescheid gewusst! Hatte sie etwa alles geplant? Denn es sah gut aus, nicht wahr? Alle Hexen würden davon erfahren. Frau Ohrwurms Schülerin kam nicht zurecht, aber Tiffany Weh und die anderen Mädchen halfen ihr, ohne jemandem davon zu erzählen. Nichts zu erzählen war unter Hexen natürlich die sicherste Methode, etwas bekannt werden zu lassen. Hexen verstanden es sehr gut, das zu hören, was man nicht sagte. Annagramma konnte also die Hütte behalten, Frau Ohrwurm geriet in Verlegenheit, und Oma Wetterwachs lachte sich ins

Fäustchen. All die Arbeit, all die Mühen... nur damit Oma sich ins Fäustchen lachte. Und natürlich für Frau Stampers Schwein und alle anderen. Das machte es kompliziert. Wenn man konnte, tat man das, was getan werden musste. Die Nase überall hineinzustecken gehörte zu den Grundlagen der Hexerei. Das wusste Tiffany. Und Oma wusste, dass sie es wusste. Und so war Tiffany wie eine kleine Spielzeugmaus umhergeeilt ...

Das schrie nach Rache!

Die Lichtung war voller eisverkrusteter Schneewehen, doch Tiffany stellte zu ihrer Freude fest, dass ein von vielen Füßen ausgetretener Pfad zur Hütte führte.

Es gab etwas Neues. Leute standen an Fräulein Verrats Grab, und ein Teil des Schnees war dort beiseitegeräumt worden.

O nein, dachte Tiffany, während sie zur Landung ansetzte. Sie hat doch nicht etwa nach den Schädeln gesucht, oder?

Wie sich herausstellte, war es in gewisser Weise noch schlimmer.

Tiffany erkannte die Leute am Grab. Es waren Dorfbewohner, und sie starrten sie so trotzig und ängstlich an, als würden sie sich angesichts des kleinen, aber womöglichen zornigen spitzen Huts, der da vor ihnen stand, halb zu Tode fürchten. Es fiel auf, wie sehr sie sich bemühten, nicht auf den Grabhügel zu schauen, der sofort Tiffanys Interesse weckte. Kleine, mit Stöcken festgesteckte Zettel bedeckten ihn. Sie flatterten im Wind.

Tiffany riss ein paar davon ab.

Fräulein Verrat, bitte schütze meinen Sohn Joe auf Seh.

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Fräulein Verrat, bitte finde unsere Tochter Becky, die weggelaufen ist, fürchte ich.

Es gab noch mehr. Und als Tiffany scharfe Worte an die Dorfbewohner richten wollte, die Fräulein Verrat noch immer belästigten, fielen ihr die Beutel mit dem Fröhlicher-

Seemann-Tabak ein, die die Schafhirten selbst jetzt noch dort ins Gras legten, wo die alte Schäferhütte gestanden hatte. Sie schrieben ihre Bitten zwar nicht auf, aber sie waren trotzdem da, schwebten unsichtbar in der Luft: »Oma Weh, die du die Wolken am blauen Himmel hütest, bitte wache über meine Schafe. Oma Weh, bitte heile meinen Sohn. Oma Weh, bitte such meine Lämmer.«

Es waren die Gebete kleiner Leute, die zu demütig waren, um sich an die Götter oben im Himmel zu wenden.

Sie vertrauten dem, was sie kannten. Sie hatten weder Recht noch Unrecht. Sie hatten nur... Hoffnung.

Du bist wirklich zu einem Mythos geworden, Fräulein Verrat, so viel steht fest, dachte Tiffany. Vielleicht wirst du sogar zu einer Gottheit. Aber das ist kein Spaß, das kann ich dir sagen.

»Und, hat man Becky gefunden?«, wandte sie sich an die Leute.

Ein Mann wich ihrem Blick aus, als er antwortete: »Fräulein Verrat weiß bestimmt, warum sie nicht so bald nach Hause zurück möchte.«

Ach, dachte Tiffany. So sieht das aus.

»Irgendwelche Neuigkeiten von dem Jungen?«, fragte sie.

»Ah, das hat funktioniert«, antwortete eine Frau. »Seine Mutter bekam gestern einen Brief, in dem es hieß, dass er nach einem schrecklichen Schiffsunglück lebend geborgen werden konnte. Da sieht man's mal wieder.« Tiffany fragte nicht, was man da mal wieder sah. Es genügte, dass man es mal wieder sah.

»Das ist schön«, sagte sie.

»Aber viele arme Seeleute sind dabei ertrunken«, fuhr die Frau fort. »Das Schiff stieß im Nebel gegen einen Eisberg.

Gegen einen großen schwimmenden Berg aus Eis, der wie eine Frau aussah, heißt es. Was soll man davon halten?«

»Ich schätze, wenn die Männer lange genug auf See waren, sieht für sie alles wie eine Frau aus, nicht wahr?«, sagte der Mann und lachte leise. Die Frauen warfen ihm finstere Blicke zu.

»Stand in den Brief auch, wem die... ob die Frau aus Eis jemandem... ähnelte?«, fragte Tiffany bemüht beiläufig. »Kommt darauf an, wo sie hinschauten...«, begann der Mann gut gelaunt.

»Du solltest dir das Gehirn mit Wasser und Seife auswaschen«, sagte die Frau und stieß ihm den Zeigefinger auf die Brust.

»Äh, nein, Fräulein Hexe«, sagte der Mann und sah auf seine Füße. »Er hat bloß geschrieben, dass der Kopf der Eisfrau voller Möwendreck war.«

Tiffany versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Sie blickte auf die im Wind flatternden Zettel am Grab hinab und sah dann wieder die Frau an, die etwas hinter ihrem Rücken zu verstecken suchte, das vermutlich ein neuer Bittbrief war.

»Glaubst du an so etwas, Frau Fuhrmann?«

Die Frau wirkte plötzlich nervös. »O nein, Fräulein Hexe, natürlich nicht. Es ist nur... nun, weißt du...«

Du fühlst dich dadurch besser, dachte Tiffany. So was kann man tun, wenn sonst nichts mehr getan werden kann. Und wer weiß, vielleicht funktioniert es. Ja, ich weiß. Es...

Ihre Hand juckte. Tiffany merkte erst jetzt, dass sie schon seit einer ganzen Weile juckte.

»Ach, ja?«, sagte sie halblaut. »Du wagst es?«

»Stimmt was nicht, Fräulein Hexe?«, fragte der Mann.

Tiffany achtete nicht auf ihn. Ein Reiter näherte sich, und Schnee folgte ihm, breitete sich wie ein Mantel hinter ihm aus, lautlos wie ein Wunsch, dicht wie Nebel.

Ohne den Blick von ihm abzuwenden, griff Tiffany in die Tasche und schloss die Finger um das kleine Füllhorn. Ha!

Dann marschierte sie los.

Als das schneeweiße Ross die alte Hütte erreichte, stieg der Winterschmied ab.

Mit klopfendem Herzen blieb Tiffany etwa sechs Meter entfernt stehen.

»Verehrteste«, sagte der Winterschmied und verneigte sich.

Er sah... besser aus, und älter.

»Ich warne dich!«, sagte Tiffany. »Ich habe ein Füllhorn und bin bereit, es zu benutzen!« Aber sie zögerte. Der Winterschmied wirkte fast menschlich, bis auf das starre, sonderbare Lächeln. »Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie.

»Für dich habe ich gelernt«, sagte die Gestalt. »Ich habe gelernt zu suchen. Ich bin ein Mensch!«

Wirklich? Aber mit seinem Mund stimmt was nicht, meldeten sich ihre Dritten Gedanken zu Wort. Er ist blass innen drin, wie Schnee. Das da ist kein junger Mann. Er hält sich nur dafür.

Du brauchst nur einen dicken Kürbis, drängten die Zweiten Gedanken. Die sind um diese Jahreszeit ganz schön hart. Jetzt wirf schon!

Tiffany selbst - die äußere Tiffany, die die Luft in ihrem Gesicht spüren konnte - dachte: Das kann ich nicht! Er steht doch nur da und spricht. Das ist alles meine Schuld!

Er will einen Winter, der nie aufhört, sagten die Dritten Gedanken. Alle, die du kennst, werden sterben!

Tiffany war sicher, dass die Augen des Winterschmieds in sie hineinsehen konnten.

Der Sommer tötet den Winter, beharrten die Dritten Gedanken. So ist das nun einmal!

Aber nicht auf diese Weise, dachte Tiffany. Ich weiß, dass es so nicht gedacht war! Irgendwas stimmt hier nicht. Es ist nicht die richtige... Geschichte. Der König des Winters kann keinem fliegenden Kürbis zum Opfer fallen! Der Winterschmied beobachtete sie aufmerksam. Tausende von tiffany förmigen Schneeflocken fielen um ihn herum.

»Beenden wir jetzt den Tanz?«, fragte er. »Ich bin ein Mensch, genau wie du!« Er streckte die Hand aus.

»Weißt du denn, was ein Mensch ist?«, fragte Tiffany.

»Ja! Das ist leicht! Genug Eisen für einen Nagel!«, antwortete der Winterschmied sofort. Er strahlte, als hätte er ein Kunststück vollbracht. »Und jetzt lass uns tanzen, bitte...«

Er trat einen Schritt vor. Tiffany wich zurück.

Wenn du jetzt tanzt, ist es das Ende, warnten ihre Dritten Gedanken. Dann bist du von dir selbst überzeugt und vertraust deinem Stern, und große funkelnde Dinge tausende von Meilen hoch am Himmel kümmert es nicht, wenn ihr Licht auf immer währenden Schnee fällt.

»Ich bin... nicht bereit«, brachte Tiffany hervor. Es war kaum mehr als ein Flüstern.

»Aber die Zeit vergeht«, sagte der Winterschmied. »Ich bin ein Mensch, ich weiß diese Dinge. Bist du nicht eine Göttin in menschlicher Gestalt?«

Sein Blick bohrte sich in sie hinein.

Nein, das bin ich nicht, dachte sie. Ich werde immer nur... Tiffany Weh sein.

Der Winterschmied kam näher, die Hand noch immer ausgestreckt.

»Zeit für den Tanz, Sommerfrau. Zeit dafür, den Tanz zu beenden.«

Die Gedanken entglitten Tiffany. Die Augen des Winterschmieds füllten ihr Ich mit nichts anderem als Weiß, wie ein tief verschneites Feld...

»Aaaiiiiieeeee!«

Die Tür von Fräulein Verrats Hütte flog auf, und... etwas trat nach draußen und wankte durch den Schnee.

Es war eine Hexe. Daran bestand kein Zweifel. Sie - es war vermutlich eine Sie, aber manche Dinge sind so schrecklich, dass es albern ist, sich zu überlegen, wie man sie in einem Brief anreden muss - trug einen Hut mit

einer Spitze, die sich durch die Luft schlängelte wie eine Natter. Er saß auf tropfnassen Strähnen wirren, schmierigen Haars, unter dem sich ein Albtraum von einem Gesicht offenbarte. Es war grün, genau wie die Hände mit den geschwungenen schwarzen Fingernägeln, die mehr wie grässliche Klauen aussahen.

Tiffany starrte sie an. Der Winterschmied starrte sie an. Die Leute starrten sie an.

Als das schreckliche, kreischende Etwas näher torkelte, wurden weitere Einzelheiten sichtbar, wie zum Beispiel die halb verfaulten braunen Zähne und die Warzen. Es waren viele Warzen. Und selbst die Warzen auf den Warzen hatten Warzen.

Annagramma hatte sich alles bestellt. Tiffany hätte beinahe losgelacht, selbst jetzt, aber der Winterschmied packte ihre Hand...

... und die Hexe krallte sich in ihre Schulter.

»Lass sofort ihre Hand los! Wie kannst du es wagen! Ich bin schließlich eine Hexe!«

Annagrammas Stimme tat einem schon dann in den Ohren weh, wenn sie normal sprach. Wenn sie sich fürchtete oder zornig war, wurde sie zu einem Heulen, das sich einem in den Kopf bohrte.

»Du sollst sie loslassen!«, schrie Annagramma, und der Winterschmied wirkte verblüfft. Wenn man sehr lange Zeit keine Ohren gehabt hatte, war es schwer, einer zornigen Annagramma zuhören zu müssen.

»Lass sie los!«, heulte Annagramma. Dann warf sie eine Feuerkugel.

Sie verfehlte ihr Ziel. Was vielleicht mit Absicht geschah. Wenn eine Kugel aus brennendem Gas an ihnen vorbeischwirrt, unterbrechen die meisten Leute das, was sie gerade tun. Aber die meisten Leute schmelzen nicht. Ein Bein des Winterschmieds fiel ab.

Später, beim Flug durch den Schneesturm, fragte sich Tiffany, wie der Winterschmied funktionierte. Er bestand aus Schnee, konnte aber gehen und sprechen. Das bedeutete, dass er die ganze Zeit über daran denken musste. Ihm blieb keine andere Wahl. Menschen mussten nicht dauernd an ihren Körper denken, denn der wusste, was er zu tun hatte. Doch Schnee wusste nicht einmal, wie man gerade stand.

Annagramma funkelte ihn so zornig an, als hätte er etwas sehr Ärgerliches getan.

Der Winterschmied sah sich verwirrt um. Risse bildeten sich in seiner Brust, und dann war er nur noch auseinander brechender Schnee, der zu glitzernden Eiskristallen zerfiel.

Plötzlich schneite es so heftig, als würde jemand oben am Himmel die Wolken auspressen.

Annagramma zog die Maske zur Seite, blickte auf den Schneehaufen und sah dann Tiffany an.

»Na schön«, sagte sie. »Was ist passiert? Ist es normal, dass so etwas geschieht?«

»Ich wollte dich besuchen, und... das war der Winterschmied!« Mehr brachte Tiffany in diesem Moment nicht hervor.

»Du meinst, das war... der Winterschmied}«, fragte Annagramma. »Ist er nicht nur eine Geschichte? Warum hat er es auf dich abgesehen?«, fügte sie vorwurfsvoll hinzu.

»Es... er... ich...«, begann Tiffany, aber sie fand einfach keinen Anfang. »Er existiert tatsächlich!«, sagte sie. »Ich muss fort von ihm! Ich muss sofort los! Es dauert zu lange, alles zu erklären!«

Einen entsetzlichen Augenblick lang befürchtete Tiffany, dass Annagramma immer noch die ganze Geschichte von ihr hören wollen würde, aber sie ergriff mit einer schwarzen Gummiklaue ihre Hand.

»Dann sieh zu, dass du Land gewinnst! O nein, du hast noch immer Fräulein Verrats alten Besen? Der ist doch völlig nutzlos! Nimm meinen!« Annagramma zog Tiffany zur Hütte, während das Schneetreiben dichter wurde. »>Genug Eisen für einen Nagel<!«, sagte Tiffany und versuchte, Schritt zu halten. Sie konnte an nichts anderes denken, und es war plötzlich sehr wichtig. »Er hielt sich für einen Menschen...«

»Ich habe nur seinen Schneemann kaputtgemacht, du Dummchen. Er wird zurückkehren!«

»Ja, aber genug Eisen, verstehst du, für...«

Eine grüne Hand traf sie im Gesicht, doch durch den Gummi tat es nicht sehr weh.

»Hör auf, Schwachsinn zu faseln! Ich habe dich für clever gehalten! Ich habe echt keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat, aber wenn das Ding hinter mir her wäre, würde ich nicht herumstehen und Schwachsinn faseln!« Annagramma zog sich die Böse-Hexe-De-Luxe-Maske mit gespenstisch baumelndem Popel wieder ganz vors Gesicht, rückte den Popel zurecht und drehte sich zu den Dorfbewohnern um, die die ganze Zeit über wie angewurzelt dagestanden hatten. »Was starrt ihr so?«, rief sie. »Habt ihr noch nie eine Hexe gesehen? Kehrt heim! Oh, und morgen komme ich mit einem Abführmittel für deinen kleinen Sohn, Frau Fuhrmann!«

Die Leute starrten in das grüne Gesicht, auf die faulen Zähne, das stinkende Haar und den großen Popel, der in Wirklichkeit aus Glas bestand - und ergriffen die Flucht.

Immer noch trunken von Entsetzen und Erleichterung, wiegte Tiffany sich sachte vor und zurück und murmelte: »Genug Eisen für einen Nagel«, bis Annagramma sie schüttelte. Die dicken Schneeflocken fielen jetzt so schnell, dass sie kaum mehr ihr Gesicht sehen konnte.

»Tiffany, Besen. Besen, flieg!«, sagte Annagramma. »Flieg weit weg! Hast du verstanden? Bring dich in Sicherheit!«

»Aber er... das arme Ding glaubt...«

»Ja, ja, das ist bestimmt alles sehr wichtig«, sagte Annagramma und zerrte sie zur Hüttenwand, wo ihr Besen lehnte. Halb schob, halb hob sie Tiffany hinauf und schaute dann nach oben. Schnee strömte wie ein Wasserfall vom Himmel.

»Er kehrt zurück!«, fauchte sie und murmelte einige leise Worte. Der Besen sauste sofort in die Luft und verschwand im verblassenden, von Schnee erfüllten Licht.