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5. Fräulein Verrats großer Tag

 

Die ersten Hexen trafen gegen vier ein, und Tiffany trat auf die Lichtung, um den Flugverkehr zu regeln. Annagramma kam allein, war sehr blass und trug mehr okkulten Schmuck, als man sich vorstellen kann. Etwas prekär wurde es, als Frau Ohrwurm und Oma Wetterwachs zur gleichen Zeit eintrafen. In einem Ballett beflissener Höflichkeit flogen sie immer im Kreis herum und warteten darauf, dass die jeweils andere Hexe landete. Tiffany dirigierte sie schließlich zu unterschiedlichen Ecken der Lichtung und eilte fort.

Vom Winterschmied fehlte jede Spur, und Tiffany war sicher, dass sie gewusst hätte, wenn er in der Nähe gewesen wäre. Er war bestimmt weit weg, hoffte sie, damit beschäftigt, einen Orkan auszurichten oder einen Schneesturm zu inszenieren. Die Erinnerung an die Stimme aus ihrem Mund war ihr immer noch unangenehm und beängstigend präsent. Wie eine Auster, in die ein kleiner Kiesel eindringt, ummantelte Tiffany sie mit Gesellschaft und harter Arbeit.

Der Tag war jetzt nur ein weiterer grauer, trockene, Frühwintertag. Abgesehen vom Essen wurde bei der Trauerfeier nichts organisiert. Hexen organisieren sich selbst. Fräulein Verrat saß auf ihrem großen Stuhl und begrüßte alte Freundinnen ebenso wie alte Feindinnen.* Da die Hütte für sie alle viel zu klein war, versammelten sich die Hexen draußen im Garten, bildeten dort kleine schwatzende Gruppen, wie ein Schwärm alter Krähen oder vielleicht Hühner. Tiffany hatte kaum Zeit für Gespräche, denn sie war damit beschäftigt, Tabletts zu tragen.

Doch sie spürte, dass etwas im Busch war. Hexen verstummten und musterten sie, wenn sie schwer beladen an ihnen vorbeiwankte. Anschließend wandten sie sich wieder der Gruppe zu, und dann wurde das Stimmengewirr ein wenig lauter. Gruppen kamen zusammen und trennten sich wieder. Das kannte Tiffany. Die Hexen berieten sich, um eine Entscheidung zu treffen.

Lucy Warbeck gesellte sich zu ihr, als sie ein Tablett mit Tee hinaustrug, und flüsterte, als verrate sie ihr unerlaubterweise ein Geheimnis: »Frau Wetterwachs hat dich vorgeschlagen, Tiff.«

»Nein!«

»Doch! Sie reden darüber! Annagramma rastet grade total aus!«

»Bist du sicher?«

»Ja. Im Ernst! Viel Glück!«

»Aber mir liegt doch gar nichts an...« Tiffany drückte Lucy das Tablett in die Arme. »Bitte trag du das für mich herum, ja? Du brauchst nichts weiter zu machen, sie bedienen sich selbst. Ich muss, äh... nun, also... ich muss mich um was anderes kümmern...«

Sie eilte die Stufen zum Keller hinab, in dem sich verdächtigerweise keine Größten zeigten, und lehnte sich dort an die Wand.

Regeln oder nicht, Oma Wetterwachs musste dem Gackeln nahe sein! Doch da meldeten sich ihre Zweiten Gedanken zu Wort: Du könntest es schaffen. Vielleicht hat sie Recht. Annagramma nervt die Leute. Sie redet mit ihnen, als wären sie Kinder. Sie interessiert sich zwar für Magie (beziehungsweise MagieH, die Höhere Magie), aber andere Leute gehen ihr auf die Nerven. Sie wird alles verpfuschen. Sie ist nur zufälligerweise groß, trägt viel okkulten Schmuck und sieht mit einem spitzen Hut eindrucksvoll aus...

Warum sollte Oma Wetterwachs Tiffany vorschlagen? Oh, sie war gut. Sie wusste, dass sie gut war. Aber alle wussten, dass sie ihr Leben nicht hier oben in den Bergen verbringen wollte, oder? Eigentlich kam doch nur Annagramma infrage, oder? Hexen waren vorsichtig und konservativ, und sie war die älteste Hexe des jungen Hexensabbats. Na schön, viele Hexen mochten Frau Ohrwurm nicht, aber auch Oma Wetterwachs hatte keinen großen Freundeskreis.

Tiffany kehrte nach oben zurück, bevor man sie vermisste, und versuchte, sich möglichst unauffällig einen Weg durch die Menge zu bahnen.

Sie sah Frau Ohrwurm zusammen mit Annagramma in der Mitte einer Gruppe stehen. Das Mädchen wirkte besorgt und eilte sofort herbei, als es Tiffany sah. Annagrammas Gesicht war rot.

»Hast du was gehört?«, fragte sie.

»Was? Nein!«, erwiderte Tiffany und begann, schmutzige Teller aufeinanderzustapeln.

»Du versuchst, mir die Hütte wegzunehmen, nicht wahr?« Annagramma war den Tränen nahe.

»Sei doch nicht albern! Ich? Ich will die Hütte doch gar nicht!«

»Das sagst du. Aber einige von denen meinen, dass du sie bekommen solltest! Frau Grad und Frau Pullunder haben sich für dich eingesetzt!«

»Was? Ich kann unmöglich Fräulein Verrats Nachfolge antreten!«

»Das sagt auch Frau Ohrwurm«, erwiderte Annagramma. Sie beruhigte sich ein wenig. »Völlig inakzeptabel, sagt sie.«

Ich habe den Schwärmer durch die Dunkle Tür gebracht, dachte Tiffany, während sie energisch Teller abkratzte und Essensreste für die Vögel in den Garten warf. Das Weiße Pferd ist für mich aus dem Hügel getreten. Ich habe meinen Bruder und Roland von der Feenkönigin zurückgeholt. Und ich habe mit dem Winterschmied getanzt, der mich in Milliarden von Schneeflocken verwandelt hat. Nein, ich möchte nicht in diesem feuchten Wald in einer Hütte wohnen. Ich möchte keine Sklavin für Leute sein, die sich nicht die Mühe machen, selbst zu denken. Ich möchte nicht Schwarz tragen und den Leuten Angst einjagen. Es gibt keinen Namen für das, was ich sein möchte. Aber ich war alt genug, all diese Dinge zu tun, und ich wurde akzeptiert.

Laut sagte sie: »Ich weiß gar nicht, was das alles soll!«

Plötzlich fühlte sie sich beobachtet und wusste: Wenn sie sich umgedreht hätte, wäre ihr Blick auf Oma Wetterwachs gefallen.

Ihre Dritten Gedanken - jene Gedanken, die die ganze Zeit über mit gespitzten Ohren und aus den Augenwinkeln auf alles Mögliche achteten - sagten ihr: Hier ist etwas im Busch. Du kannst dabei nur versuchen, du selbst zu sein. Dreh dich nicht um.

»Bist du wirklich nicht interessiert?«, fragte Annagramma unsicher.

»Ich bin hierher gekommen, um die Hexerei zu lernen«, sagte Tiffany unterkühlt. »Und anschließend kehre ich heim. Aber... bist du sicher, dass du die Hütte möchtest?«

»Natürlich! Jede Hexe möchte eine eigene Hütte!«

»Aber Fräulein Verrat war sehr, sehr lange bei den Menschen hier«, gab Tiffany zu bedenken.

»Sie werden sich an mich gewöhnen müssen«, entgegnete Annagramma. »Bestimmt freuen sie sich, wenn Schädel und Spinnweben verschwinden, wenn sie keine Angst mehr haben müssen! Ich weiß, dass sich die hiesigen Leute sehr vor ihr gefürchtet haben.«

»Ach«, sagte Tiffany.

»Ich werde wie ein neuer Besen sein«, fuhr Annagramma fort. »Ganz ehrlich, Tiffany, nach der Alten käme praktisch jede Hexe bei den Leuten gut an.«

»Äh, ja...«, sagte Tiffany. »Sag mal, hast du jemals mit einer anderen Hexe zusammengearbeitet,

Annagramma?«

»Nein, ich bin immer Frau Ohrwurms Schülerin gewesen. Ihre erste«, fügte Annagramma stolz hinzu. »Sie ist sehr anspruchsvoll.«

»Und sie kommt nicht oft durch die Dörfer, oder?«, fragte Tiffany.

»Nein. Sie konzentriert sich auf die Höhere MagieH.« Annagramma war nicht besonders sensibel und selbst nach hexischen Maßstäben äußerst eingebildet, aber jetzt wirkte sie nicht mehr ganz so selbstsicher. »Jemand muss sich schließlich darum kümmern. Wir können nicht alle herumlaufen und aufgeschnittene Finger verbinden und so. Stellt das ein Problem dar?«

»Hmm? Oh, nein. Bestimmt kommst du gut zurecht«, sagte Tiffany. »Äh... ich kenne mich hier gut aus. Frag einfach, wenn du Hilfe brauchst.«

»Oh, ich werd mir hier schon alles nach meinem Geschmack einrichten«, sagte Annagramma, die sich mit ihrem grenzenlosen Selbstbewusstsein nie für lange den Wind aus den Segeln nehmen ließ. »Ich gehe jetzt besser. Übrigens, das Essen scheint knapp zu werden.«

Sie rauschte davon.

Die großen Bottiche auf dem Tisch bei der Tür wirkten tatsächlich ein wenig leer. Tiffany beobachtete, wie eine Hexe vier hart gekochte Eier in ihrer Tasche verschwinden ließ.

»Guten Tag, Fräulein Tick«, sagte sie laut.

»Oh, Tiffany«, erwiderte Fräulein Tick ungerührt und drehte sich ohne ein Anzeichen von Verlegenheit um. »Fräulein Verrat hat uns gerade erzählt, wie gut du dich hier gemacht hast.«

»Danke, Fräulein Tick.«

»Sie sagt, du hast ein gutes Auge für verborgene Details«, fuhr Fräulein Tick fort.

Wie zum Beispiel die Etiketten unter den Schädeln, dachte Tiffany. »Fräulein Tick«, sagte sie, »weißt du etwas davon, dass ich die Hütte übernehmen soll?«

»Oh, das ist schon alles entschieden«, erwiderte Fräulein Tick. »Einige Hexen meinten, du solltest sie

bekommen, weil du bereits hier wohnst, aber du bist natürlich noch sehr jung, und Annagramma hat mehr Erfahrung. Es tut mir leid, aber...«

»Das ist nicht fair, Fräulein Tick«, sagte Tiffany.

»Ich bitte dich, Tiffany, so was sagt eine Hexe nicht...«, begann Fräulein Tick.

»Ich meine nicht mich, sondern Annagramma. Es ist ihr gegenüber unfair. Sie wird alles verpfuschen, nicht wahr?«

Für den Hauch eines Augenblicks wirkte Fräulein Tick schuldbewusst. Es war wirklich nur ein ganz kurzer Moment, aber es entging Tiffany nicht.

»Frau Ohrwurm ist sicher, dass Annagramma gute Arbeit leisten wird«, sagte Fräulein Tick.

»Und du?«

»Bitte denk daran, mit wem du sprichst!«

»Ich spreche mit dir, Fräulein Tick! Das ist... nicht richtig!« Es blitzte in Tiffanys Augen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte sie eine Bewegung. Ein ganzer Würstchenteller rutschte mit rasantem Tempo über das weiße Tuch.

»Und das ist Diebstahl«, knurrte Tiffany und sprang hinterher.

Sie jagte dem Teller nach, der etwa einen halben Meter über dem Boden dahinglitt, um die Ecke der Hütte sauste und hinter dem Ziegenstall verschwand. Tiffany folgte ihm.

Auf dem Laub hinter dem Stall lagen diverse Teller mit Ofenkartoffeln, zerlaufener Butter, einem Dutzend Schinkenröllchen, einem Haufen hart gekochter Eier und zwei Brathähnchen. Alles sah angeknabbert aus, mit Ausnahme der Würstchen auf dem inzwischen zur Ruhe gekommenen Teller.

Von den Größten war absolut nichts zu sehen, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich in der Nähe befanden. Sie versteckten sich immer, wenn sie wussten, dass Tiffany böse auf sie war.

Und diesmal war sie richtig böse. Nicht auf die kleinen blauen Männer (zumindest nicht sehr), obgleich ihr dieses alberne Versteckspiel auf die Nerven ging, sondern auf Fräulein Tick, Oma Wetterwachs, Annagramma, Fräulein Verrat (weil sie starb) und den Winterschmied (aus vielerlei Gründen, über die sie sich erst noch klar werden musste).

Sie trat einen Schritt zurück und blieb ganz still stehen.

Normalerweise hatte sie dabei das Gefühl, langsam und friedlich zu versinken, aber diesmal kam es ihr wie ein Sturz in die Dunkelheit vor.

Als sie die Augen wieder öffnete, kam es ihr vor, als blicke sie durch ein Fenster in einen großen Saal. Die Geräusche schienen aus weiter Ferne zu kommen, und es juckte zwischen ihren Augen.

Und dann kamen die Größten zum Vorschein. Unter Blättern und Zweigen kamen sie hervor, sogar unter Tellern. Ihre Stimmen klangen so, als befänden sie sich unter Wasser.

»Ach, Potzblitz! Sie hat uns verhext!«

»Das hat sie noch nie gemacht!«

Ha, ich verstecke mich vor euch, dachte Tiffany. Kleine Abwechslung, wie? Hm, ob ich mich bewegen kann?

Sie trat einen Schritt zur Seite, und die Größten schienen nichts zu bemerken.

»Bestimmt stürzt sie sich gleich auf uns! Ooohhh, schlimm...«

Ha! Wenn ich mich auf diese Weise an Oma Wetterwachs heranschleichen könnte, wäre sie sicher sehr beeindruckt...

Das Jucken zwischen den Augen wurde schlimmer, und ein anderes Gefühl stellte sich ein, so ähnlich (aber zum Glück nicht genauso) wie das Bedürfnis, aufs Klo zu gehen. Es bedeutete: Gleich geschieht irgendwas, und es wäre eine gute Idee, darauf vorbereitet zu sein.

Die Stimmen wurden deutlicher. Kleine blaue und violette Punkte tanzten vor Tiffanys Augen.

Und dann passierte etwas, das, wenn es ein Geräusch gemacht hätte, wie Zong! geklungen hätte. Es war wie das Knacken in den Ohren nach einem Besenflug in großer Höhe. Tiffany materialisierte sich mitten unter den Größten, die prompt in Panik gerieten.

»Hört auf, das Beerdigungsessen zu klauen, ihr kleinen Lumpen!«, rief sie.

Die Größten erstarrten und sahen zu ihr auf. Schließlich fragte Rob Irgendwer: »Lumpen? Du meinst, wir sind olle Klamotten?«

Dies war einer jener Momente - bei den Größten kam das häufiger vor -, in denen sich die Welt zu verheddern schien und man unbedingt den Knoten entwirren musste, bevor es weitergehen konnte.

»Wie bitte?«, fragte Tiffany.

»Na, du weißt schon - olle, kaputte, dreckige Klamotten«, sagte Rob Irgendwer. »Aber vielleicht meintest du ja >ihr kleinen Gauner<, denn das sin'...«

»...wir«, sagte der Doofe Wullie.

»Oh. Ja. Danke«, sagte Tiffany leise. Dann verschränkte sie die Arme und rief: »Na schön, ihr kleinen Gauner! Wie könnt ihr es wagen, Fräulein Verrats Beerdigungsleckereien zu stehlen!«

»Oh, schlimm, schlimm, da sin' die verschränkten Arme, die schrecklichen verschränkten Arme!«, rief der Doofe

Wullie, sank zu Boden und versuchte, sich mit Blättern zuzudecken. Um ihn herum brachen die Größten in Geheul aus, versuchten, sich zu verstecken, und der Große Yan begann, seinen Kopf gegen die Rückwand der Milchkammer zu rammen.

»Ich bitte euch, bleibt ruhig!«, rief Rob Irgendwer. Er drehte sich um und versuchte wild gestikulierend, seine Brüder zu beruhigen.

»Und sie zieht die beleidigte Schnute!«, rief ein Größter und richtete einen zitternden Finger auf Tiffanys Gesicht. »Das macht sie mit Absicht! Oh, Unheil kommt über uns!«

Die Größten wollten weglaufen, aber da sie erneut in Panik gerieten, rempelten sie einander in ihrer Hektik bloß an.

»Ich warte auf eine Erklärung!«, sagte Tiffany.

Die Größten erstarrten, und alle Gesichter wandten sich Rob Irgendwer zu.

»Eine Erklärung?«, wiederholte er und trat unsicher vom einen Bein aufs andere. »Oh, ja. Eine Erklärung. Null Problemo. Eine Erklärung. Ah... welche Art von Erklärung hättest du gern?«

»Welche Art? Ich will die Wahrheit hören!«

»Ach, die Wahrheit?«, erwiderte Rob nervös. »Bist du sicher? Ich weiß viel interessantere Erklärungen, die...« »Heraus damit!«, blaffte Tiffany ihn an und klopfte mit dem Fuß auf den Boden.

»Oh, Potzblitz, sie hat begonnen, mit dem Fuß auf den Boden zu klopfen!«, stöhnte der Doofe Wullie. »Gleich fängt sie furchtbar an zu schimpfen!«

Und das war's. Tiffany musste lachen. Wenn man einen Haufen ängstlicher Größter vor sich hat, bleibt einem gar nichts anderes übrig. Sie waren unverbesserlich. Ein scharfes Wort, und sie verwandelten sich in einen Korb verschüchterter Welpen, nur dass sie strenger rochen.

Rob Irgendwer lächelte schief.

»Aaaber die großen Hexen klauen ebenfalls«, sagte er.

»Die kleine dicke hat fünfzehn Schinkenröllchen eingesteckt!«, fügte er bewundernd hinzu.

»Du meinst Nanny Ogg«, sagte Tiffany. »Sie trägt immer ein Einkaufsnetz im Bein ihres Schlüpfers bei sich.« »Ach, dies is' kein richtiger Leichenschmaus«, sagte Rob Irgendwer. »Die sollten alle singen un' saufen un' die Knie beugen, aber sie stehen einfach nur rum und schwatzen.«

»Das Schwatzen gehört zur Kunst der Hexerei«, sagte Tiffany. »Sie testen damit, ob jemand plemplem geworden ist. Was meinst du mit >die Knie beugen<?«

»Tanzen«, sagte Rob Irgendwer. »Herumhüpfen un' sich im Kreis drehen. Es is' erst dann ein richtiger Leichenschmaus, wenn alle die Hände in die Luft schmeißen und das Tanzbein schwingen, wenn der Bär steppt und die Kilts fliegen.«

Tiffany hatte die Größten nie beim Tanz gesehen, aber sie hatte davon gehört. Es hörte sich nach Krieg an, womit es vermutlich auch endete. Dass die Kilts dabei flogen, klang ein wenig besorgniserregend und erinnerte Tiffany an eine Frage, die sie bis jetzt nie zu stellen gewagt hatte.

»Sag mal... tragt ihr eigentlich etwas unter den Kilts?«

Das plötzliche Schweigen der Größten vermittelte den Eindruck, dass ihnen diese Frage ziemlich unangenehm war.

Rob Irgendwer kniff die Augen zusammen. Die Größten hielten den Atem an.

»Nicht unbedingt«, sagte er.

Schließlich ging der Leichenschmaus zu Ende, vermutlich deshalb, weil es nichts mehr zu essen und zu trinken gab. Viele der abreisenden Hexen hatten kleine Pakete dabei. Das war eine weitere Tradition. Viele Dinge in der Hütte gehörten zu ihr und gingen in den Besitz der nächsten Hexe über, aber alles andere bekamen die Freundinnen der scheidenden Hexe. Da die alte Hexe noch lebte, wenn dies geschah, kam es nicht zu irgendwelchen Streitereien. Das war das Besondere an Hexen. Oma Wetterwachs sagte immer, Hexen hätten »den gewissen Blick«, ohne zu erklären, was sie damit meinte. Sie erklärte nur selten etwas. Bestimmt meinte sie nicht, dass sie besonders verführerisch dreinschauten. Das war ja nichts Besonderes. Vielleicht meinte sie, dass Hexen über die alltäglichen Dinge hinausblickten und sich fragten: Was bedeutet dies alles? Wie funktioniert es? Was soll ich machen? Wozu bin ich da? Und vielleicht sogar: Trägt man etwas unter dem Kilt? Das mochte der Grund dafür sein, dass das Seltsame bei Hexen normal war...

... aber sie zankten wie Iltisse um einen silbernen Löffel, der nicht einmal aus Silber war. Mehrere Hexen standen bei der Spüle und warteten ungeduldig darauf, dass Tiffany ein paar große Teller abwusch, die Fräulein Verrat ihnen versprochen hatte. Eben noch hatten Bratkartoffeln und Würstchen darauf gelegen.

Zumindest musste sie sich keine Gedanken um Essensreste machen. Nanny Ogg, die die Hasenbrotsuppe erfunden hatte, wartete mit ihrem großen Einkaufsnetz und einem sehr breiten Grinsen in der Spülküche.

»Wir wollten den Rest des Schinkens und der Bratkartoffeln zu Abend essen«, sagte Tiffany streng, aber auch mit gewissem Interesse. Sie war Nanny Ogg schon einmal begegnet und mochte sie, doch Fräulein Verrat hatte sie finster eine »abscheuliche alte Schachtel« genannt. Solche Bemerkungen machten einen neugierig.

»Na schön«, sagte Nanny Ogg, als Tiffany die Hand aufs Fleisch legte. »Du hast heute gute Arbeit geleistet, Tiff. Das ist den Leuten aufgefallen.«

Sie war fort, bevor sich Tiffany von ihrer Überraschung erholen konnte. Eine der Hexen hatte sich praktisch bei ihr bedankt! Erstaunlich!

Petulia half ihr dabei, den großen Tisch hereinzutragen und fertig aufzuräumen. Sie zögerte, bevor sie ging. »Ahm... du kommst doch zurecht hier, oder?«, fragte sie. »Ich finde das alles ein bisschen... seltsam.«

»Wir sollten mit dem Seltsamen vertraut sein«, erwiderte Tiffany gestelzt. »Wie dem auch sei, du hast schon bei Toten und Sterbenden gewacht, nicht wahr?«

»Ja. Meistens bei Schweinen, seltener bei Menschen. Ahm... ich bleibe gern hier, wenn du möchtest«, fügte Petulia in einem Tonfall hinzu, der besagte: Ich möchte so schnell wie möglich von hier weg.

»Danke, nicht nötig. Was kann denn schlimmstenfalls schon passieren?«

Petulia schaute sie groß an. »Mal überlegen...«, sagte sie dann. »Äh... tausend Vampirdämonen, jeder mit riesigen...«

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Tiffany schnell. »Mach dir keine Sorgen um mich. Gute Nacht.«

Sie schloss die Tür, lehnte sich dagegen und hielt sich die Hand vor den Mund, bis sie das Klicken des Tores hörte. Anschließend zählte sie bis zehn, um sicher zu sein, dass Petulia weit genug fort war. Erst dann wagte sie es, die Hand vom Mund zu nehmen, und der Schrei, der geduldig in ihrem Hals ausgeharrt hatte, war bis zu diesem Zeitpunkt zu einem »Unk!« geschrumpft.

Eine sehr seltsame Nacht stand ihr bevor.

Menschen starben. Traurig, aber wahr. Was kam als Nächstes? Die Leute erwarteten von ihrer Hexe, dass sie Bescheid wusste. Man wusch die Leiche und machte einige geheime, glucksende und schnalzende Dinge mit ihr, zog ihr die beste Kleidung an und stellte Schalen mit Erde und Salz neben ihr auf (niemand wusste warum, nicht mal Fräulein Verrat, aber so war es nun mal üblich) und legte ihr zwei Münzen auf die Augen, »für den Fährmann«. Dann saß man in der Nacht vor der Bestattung bei ihr, weil man sie nicht allein lassen sollte.

Es gab keine richtige Erklärung für diesen Brauch, aber alle kannten die Geschichte von dem alten Mann, der etwas weniger tot gewesen war, als alle gedacht hatten: Mitten in der Nacht war er vom Gästebett aufgestanden und zu seiner Frau ins Ehebett zurückgekehrt.

Der wahre Grund war vermutlich ein ganzes Stück finsterer. Anfang und Ende brachten immer Gefahr mit sich, vor allem, wenn es dabei um das Leben ging.

Aber Fräulein Verrat war eine verschlagene alte Hexe. Wer wusste schon, was geschehen würde? Moment mal, sagte sich Tiffany. Fall nicht selbst auf Boffo herein. Fräulein Verrat war nur eine clevere alte Dame mit einem Katalog!

Im anderen Zimmer verstummte der Webstuhl.

Das passierte oft. Doch an diesem Abend war die plötzliche Stille lauter als sonst.

Fräulein Verrat rief: »Was haben wir in der Speisekammer, das aufgegessen werden muss?«

Ja, mir steht eine äußerst seltsame Nacht bevor, dachte Tiffany.

Fräulein Verrat ging früh zu Bett. Seit Tiffany bei ihr war, geschah es zum ersten Mal, dass sie nicht in einem Sessel schlief. Außerdem hatte sie ein langes weißes Nachthemd angezogen - Tiffany sah sie zum ersten Mal nicht in Schwarz.

Es gab noch immer viel zu tun. Die Tradition verlangte, dass die Hütte der nächsten Hexe blitzsauber übergeben wurde, und Tiffany gab sich alle Mühe, obgleich es schwer war, Schwarz zum Blitzen zu bringen. Eigentlich war es in der Hütte immer ziemlich sauber, doch sie kratzte und schrubbte und putzte, denn es zögerte den Moment hinaus, in dem sie zu Fräulein Verrat gehen und mit ihr reden musste. Sie holte sogar die falschen Spinnweben herunter und warf sie ins Feuer, wo sie mit einer scheußlichen blauen Flamme verbrannten. Die Schädel ließ sie liegen, denn sie wusste nicht recht, was sie mit ihnen anfangen sollte. Schließlich schrieb sie alle Dinge über die Nachbardörfer auf, an die sie sich erinnern konnte: wann Babys erwartet wurden, wer schwer erkrankt war und woran, wer sich mit wem stritt, wer »schwierig« war und all die anderen kleinen Details, die für Annagramma hilfreich sein konnten. Und das alles nur, um den Moment hinauszuzögern...

Und dann blieb ihr nichts anderes übrig, als die schmale Treppe hochzugehen und zu fragen: »Ist alles in Ordnung, Fräulein Verrat?«

Die alte Hexe saß in ihrem Bett und schrieb. Die Raben hockten auf den Bettpfosten.

»Ich schreibe nur ein paar Dankesbriefe«, sagte Fräulein Verrat. »Einige der Damen sind einen weiten Weg hierhergekommen und haben vermutlich einen kalten Rückflug.«

»>Danke dafür, dass ihr zu meiner Beerdigung gekommen seid< Briefe?«, fragte Tiffany schwach.

»Ja. Und solche Briefe werden nicht oft geschrieben, da kannst du sicher sein. Du weißt ja, dass das Mädchen namens Annagramma Falkin hier die neue Hexe sein wird, nicht wahr? Bestimmt möchte sie, dass du bleibst. Zumindest für eine Weile.« »Ich halte das nicht für eine gute Idee«, sagte Tiffany.

»In der Tat«, bestätigte Fräulein Verrat und lächelte. »Ich schätze, die junge Wetterwachs wird da schon etwas arrangieren. Es dürfte interessant sein zu sehen, wie Frau Ohrwurms Art von Hexerei bei den dummen Dorfbewohnern ankommt, obwohl es besser wäre, das aus der Deckung eines Felsens heraus zu beobachten. Oder, in meinem Fall, von darunter.«

Sie legte die Briefe beiseite, und beide Raben sahen Tiffany an.

»Du bist erst seit drei Monaten bei mir.«

»Das stimmt, Fräulein Verrat.«

»Wir haben nie von Frau zu Frau miteinander gesprochen. Ich hätte dich mehr lehren sollen.«

»Ich habe viel gelernt, Fräulein Verrat.« Und das war die Wahrheit.

»Du hast einen jungen Mann, Tiffany. Er schickt dir Briefe und Päckchen. Jede Woche fliegst du nach Lancre, um ihm Briefe zu schicken. Ich fürchte, du lebst nicht dort, wo du liebst.«

Tiffany schwieg. Sie hatten schon einmal darüber gesprochen. Roland schien Fräulein Verrat zu faszinieren.

»Ich hatte immer zu viel zu tun, um mich um junge Männer zu kümmern«, sagte Fräulein Verrat. »Sie waren immer für später da, und dann war später zu spät. Kümmer dich um deinen jungen Mann.«

»Ah... ich habe dir doch gesagt, dass er nicht in dem Sinne...«, begann Tiffany und merkte, wie sie errötete. »Aber werd kein Hawehgeh-Mädchen wie Frau Ogg«, mahnte Fräulein Verrat.

»Ich bin eine Weh«, sagte Tiffany vorsichtig. »Ohne Ha und Geh.«

Fräulein Verrat lachte. »Du hast ein Wörterbuch, nicht wahr?«, fragte sie. »Ein seltsames, aber sehr nützliches Ding für ein Mädchen.«

»Ja, Fräulein Verrat.«

»In meinem Bücherregal findest du ein viel größeres Wörterbuch. Nicht bereinigt und ungekürzt. Sehr nützlich für eine junge Frau. Du kannst es nehmen, und außerdem noch ein anderes Buch. Die anderen bleiben in der Hütte. Außerdem bekommst du meinen Besen. Alles Übrige gehört natürlich zur Hütte.«

»Vielen Dank, Fräulein Verrat. Ich hätte gern das Buch über Mythologie.«

»Ah, ja. Buchfink. Eine sehr gute Wahl. Das Buch war mir eine große Hilfe, und ich schätze, dir wird es von besonderem Nutzen sein. Der Webstuhl bleibt natürlich hier. Annagramma Falkin wird ihn gut gebrauchen können.«

Das bezweifelte Tiffany. Für praktische Dinge interessierte sich Annagramm kaum. Aber dies war vermutlich nicht der geeignete Zeitpunkt, darauf hinzuweisen.

Fräulein Verrat lehnte sich in die Kissen zurück.

»Die Leute glauben, dass du Namen in deinen Stoff gewebt hast«, sagte Tiffany.

»Tatsächlich? Nun, das stimmt. Es ist nichts Magisches daran. Eine alter Trick; jeder Weber beherrscht ihn. Man kann die Namen allerdings nicht lesen, es sei denn, man weiß, wie sie gewebt wurden.« Fräulein Verrat seufzte. »Ach, die dummen Dorfbewohner. Alles, was sie nicht verstehen, ist Magie. Sie glauben, dass ich in ihre Herzen sehen kann, aber dazu ist keine Hexe imstande. Zumindest nicht ohne eine Operation. Doch um ihre Gedanken zu lesen, braucht man gar keine Magie. Ich kenne sie von Geburt an. Ich weiß noch, als ihre Großeltern Babys waren! Sie halten sich für sehr erwachsen. Dabei sind sie nicht viel besser als kleine Kinder, die im Sand spielen und sich um Kuchen aus Lehm streiten. Ich sehe ihre Lügen, ihre Rechtfertigungen und Ängste. Eigentlich werden sie nie richtig erwachsen. Sie machen nie richtig die Augen auf. Ihr ganzes Leben lang bleiben sie Kinder.«

»Ich bin sicher, dass sie dich vermissen werden«, sagte Tiffany.

»Ha! Ich bin die böse alte Hexe, Mädchen. Sie haben mich gefürchtet und mir gehorcht! Sie fürchteten sich vor falschen Totenschädeln und albernen Geschichten. Ich habe die Furcht gewählt. Ich wusste, sie würden mich nie dafür lieben, dass ich ihnen die Wahrheit sagte, und deshalb habe ich dafür gesorgt, dass sie mich fürchteten. Sie werden erleichtert sein, wenn sie hören, dass die Hexe tot ist. Und jetzt verrate ich dir etwas ungemein Wichtiges, nämlich das Geheimnis meines langen Lebens.«

Ah, dachte Tiffany und beugte sich vor.

»Das Wichtigste ist, keinen Wind entweichen zu lassen«, sagte Fräulein Verrat. »Du solltest in dieser Hinsicht problematisches Obst und Gemüse meiden. Bohnen sind besonders schlimm, glaub mir.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz...«, begann Tiffany.

»Kurz gesagt: Versuch, nicht zu furzen.«

Tiffany konnte kaum glauben, dass sie einen solchen Rat bekam.

»Das ist kein Witz«, betonte Fräulein Verrat. »Der menschliche Körper enthält nur eine begrenzte Menge Luft. Geh sparsam damit um. Ein Teller Bohnen kann dich ein Jahr deines Lebens kosten. Ich habe Dinge, die Blähungen verursachen, immer gemieden. Ich bin alt, und das bedeutet: Was ich sage, ist weise!« Sie bedachte die verwirrte Tiffany mit einem strengen Blick. »Verstehst du, Kind?«

In Tiffanys Kopf arbeitete es. Sie stellt mich auf die Probe! »Nein«, sagte sie. »Ich bin kein Kind, und das ist nicht weise, sondern Unsinn!«

Der strenge Blick verwandelte sich in ein Lächeln. »Ja«, sagte Fräulein Verrat. »Völliger Schwachsinn. Aber du musst zugeben, dass es ein echter Knüller ist, nicht wahr? Für einen Moment hast du es wirklich geglaubt, oder? Die Dorfbewohner haben es mir im vergangenen Jahr abgenommen. Du hättest sehen sollen, wie sie einige Wochen lang herumliefen! Ihr verkrampfter Gesichtsausdruck hat mich ziemlich erheitert! Wie steht's mit dem Winterschmied? Ist alles ruhig geworden, nicht wahr?«

Die Frage war wie ein scharfes Messer in einem Stück Kuchen und kam so plötzlich, dass Tiffany nach Luft schnappte.

»Ich bin früh aufgewacht und habe mich gefragt, wo du steckst«, sagte Fräulein Verrat. Man konnte so leicht vergessen, dass sie auf eine geistesabwesende Art und Weise dauernd die Augen und Ohren anderer Personen benutzte.

»Hast du die Rosen gesehen?«, fragte Tiffany. Sie hatte das verräterische Prickeln nicht bemerkt, aber in jenem Moment war ihr Fühlen allein von Sorge bestimmt gewesen.

»Ja, sehr hübsch«, antwortete Fräulein Verrat. »Ich wünschte, ich könnte dir helfen, Tiffany, aber ich werde anderweitig beschäftigt sein. Und Romanzen sind ein Gebiet, auf dem ich dir nicht viel raten kann.«

»Romanzen?«, fragte Tiffany schockiert.

»Die junge Wetterwachs und Fräulein Tick müssen dir dabei helfen«, fuhr Fräulein Verrat fort. »Aber ich befürchte, dass sie kaum jemals bei den Turnieren der Liebe gekämpft haben.«

»Turniere der Liebe?«, wiederholte Tiffany. Es wurde immer schlimmer!

»Kannst du Poker spielen?«, fragte Fräulein Verrat.

»Wie bitte?«

»Poker. Das Kartenspiel. Oder >Leg Herrn Zwiebel rein<? Oder >Jag den Nachbarn durch die Gasse<? Du hast doch bestimmt schon bei Toten und Sterbenden gewacht, oder?«

»Ja, aber ich habe nie mit ihnen Karten gespielt! Und nein, ich kenne weder Poker noch die anderen Spiele!« »Dann bringe ich sie dir bei. In der untersten Schublade der Frisierkommode liegt ein Kartenspiel. Geh und hol es.«

»Ist Poker ein Glücksspiel?«, fragte Tiffany. »Mein Vater meint, man sollte sich nicht auf Glücksspiele einlassen.«

Fräulein Verrat nickte. »Ein guter Rat, meine Liebe. Keine Sorge. So wie ich Poker spiele, hat Glück überhaupt nichts damit zu tun...«

Als Tiffany aus dem Schlaf schreckte, rutschten Spielkarten von ihrem Kleid und fielen zu Boden. Das kalte graue Licht des Morgens füllte das Zimmer.

Sie sah zu Fräulein Verrat hinüber, die wie ein Schwein schnarchte.

Wie spät war es? Bestimmt schon sechs durch! Was sollte sie jetzt tun?

Nichts. Es gab nichts zu tun.

Tiffany nahm das Zauberstab-Ass in die Hand und betrachtete es. Das war also Poker, wie? Nun, sie hatte gar nicht so schlecht gespielt, als ihr klar geworden war, dass es größtenteils darum ging, das Gesicht lügen zu lassen. Die Karten waren eigentlich nur dazu da, die Hände zu beschäftigen.

Fräulein Verrat schlief immer noch. Tiffany fragte sich, ob sie Frühstück machen sollte, aber das erschien ihr irgendwie ...

»Die alten Könige von Djelibeby, die in Pyramiden bestattet wurden, glaubten, dass sie Dinge in die nächste Welt mitnehmen konnten«, sagte Fräulein Verrat vom Bett aus. »Dinge wie Gold, Edelsteine und sogar Sklaven. Und deshalb mach mir bitte ein Schinken-Sandwich.«

»Äh... du meinst...?«, begann Tiffany.

»Die Reise nach dem Tod ist ziemlich lang«, sagte Fräulein Verrat und setzte sich auf. »Vielleicht bekomme ich Hunger.«

»Aber du wirst doch nur eine Seele sein!«

»Vielleicht hat ein Schinken-Sandwich ebenfalls eine Seele«, sagte Fräulein Verrat und schwang die dünnen Beine vom Bett. »Was den Senf betrifft, bin ich nicht ganz sicher, aber es ist einen Versuch wert. Halt mal eben still!« Das sagte sie, weil sie eine Haarbürste genommen hatte und Tiffany als Spiegel benutzte. An diesem Morgen fiel es dieser sehr schwer, den nur wenige Zentimeter entfernten starren Blick zu ertragen.

»Danke, du kannst gehen und das Sandwich machen«, sagte Fräulein Verrat und legte die Bürste beiseite. »Ich ziehe mich jetzt an.«

Tiffany eilte hinaus und wusch sich das Gesicht im Becken ihres Zimmers. Das machte sie immer, wenn Fräulein Verrat ihre Augen benutzt hatte, aber sie brachte nie den Mut auf, Einwände zu erheben, und dies war gewiss nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

Als sie sich das Gesicht abtrocknete, glaubte sie, draußen einen gedämpften Laut zu hören, und sie ging zum Fenster. Eisblumen bedeckten die...

O nein... o... nein... nein! Er fängt schon wieder an!

Die Eisblumen formten unzählige Male das Wort Tiffany.

Sie nahm das Handtuch und wischte die Scheiben ab, aber die Eisblumen bildeten sich erneut, noch dicker. Tiffany eilte nach unten. Auch dort waren die Fenster voller Eisblumen, und als sie versuchte, sie fortzuwischen, klebte das Handtuch am Glas fest. Es knisterte, als sie daran zog.

Ihr Name stand überall auf dem Fenster. Auf allen Fenstern. Vielleicht auf allen Fenstern in den Bergen. Überall. Er war zurückgekehrt. Wie schrecklich!

Aber irgendwie war es auch... cool...

Das war nicht das Wort, das Tiffany dachte, denn für sie bedeutete es nichts anderes als »kühl«. Aber sie dachte den Gedanken. Es war ein heißer kleiner Gedanke.

»Zu meiner Zeit ritzten junge Männer die Initialen eines Mädchens in einen Baum«, sagte Fräulein Verrat, die vorsichtigen Schrittes die Treppe herunterkam. Zu spät spürte Tiffany das Prickeln hinter den Augen.

»Das ist nicht komisch, Fräulein Verrat! Was soll ich machen?«

»Ich weiß nicht. Sei du selbst, wenn möglich.«

Fräulein Verrat bückte sich mit knirschenden Knochen und öffnete die Hand. Die Sehmaus sprang auf den Boden, drehte sich und blickte mit ihren kleinen schwarzen Knopfaugen zu ihr auf. Die alte Hexe stieß sie mit dem Finger an. »Geh nur, geh. Danke«, sagte sie, und die Maus flitzte fort und verschwand in einem Loch.

Tiffany half Fräulein Verrat dabei, sich aufzurichten, und die Alte sagte: »Du fängst an zu flennen, nicht wahr?« »Nun, es ist alles ein bisschen...«, setzte Tiffany an. Die kleine Maus hatte so einsam und verlassen ausgesehen. »Weine nicht«, sagte Fräulein Verrat. »So lange zu leben ist nicht so wundervoll, wie die Leute glauben. Ich meine, man ist zwar genauso lange jung wie alle anderen, aber viel, viel länger sehr alt, taub und gebrechlich. Jetzt putz dir die Nase und hilf mir bei der Sitzstange für die Raben.«

»Vielleicht ist er noch immer da draußen...«, murmelte Tiffany, während sie ihr die Stange auf die schmalen Schultern setzte.

Dann rubbelte sie wieder einen Fleck auf der Fensterscheibe frei und entdeckte ein paar Gestalten, die sich aufs Haus zubewegten.

»Oh... sie kommen...«, sagte Tiffany.

»Was?«, fragte Fräulein Verrat. Sie hielt inne. »Es sind viele Leute dort draußen!«

»Ah... ja«, bestätigte Tiffany.

»Was weißt du darüber, Mädchen?«

»Ach, sie haben immer wieder gefragt, wann du...«

»Hol die Schädel! Sie dürfen mich nicht ohne meine Schädel sehen! Wie sehen meine Haare aus?«, fragte Fräulein Verrat und zog hastig ihre Uhr auf.

»Hübsch...«

»Hübsch? Hübsch? Bist du verrückt? Bring sie sofort durcheinander!«, wies Fräulein Verrat sie an. »Und hol meinen abgetragensten Mantel! Dieser ist viel zu sauber! Nun mach schon, Kind!«

Es dauerte einige Minuten, Fräulein Verrat vorzubereiten, und einen großen Teil dieser Zeit nutzte Tiffany dazu, die alte Hexe davon zu überzeugen, dass sie die Schädel nicht nach draußen mitnehmen sollte - womöglich fielen sie zu Boden, so dass die Leuten die Etiketten in ihrem Innern sehen konnten. Dann öffnete Tiffany die Tür. Gemurmelte Gespräche verstummten abrupt.

Eine Menschenmenge stand vor der Hütte. Als Fräulein Verrat vortrat, teilte sie sich, um ihr Platz zu machen. Tiffany stellte entsetzt fest, dass auf der anderen Seite der Lichtung ein Grab ausgehoben worden war. Das hatte sie nicht erwartet. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber ein frisches Grab bestimmt nicht.

»Wer hat...«

»Unsere blauen Freunde«, sagte Fräulein Verrat. »Ich habe sie darum gebeten.«

Und dann begann die Menge, ihr zuzujubeln. Frauen traten mit großen Sträußen aus Eiben-, Stechpalmen- und Mistelzweigen vor, das einzige Grün, das im Winter wuchs. Manche Leute lachten, andere weinten. Sie scharten sich um die Hexe und drängten Tiffany an den Rand. Sie wurde still und lauschte.

»Wir wissen gar nicht, was wir ohne dich machen sollen, Fräulein Verrat.« Und: »Wir bekommen bestimmt keine Hexe, die so gut ist wie du, Fräulein Verrat!« Und: »Wir hätten nie gedacht, dass du einmal von uns gehst, Fräulein Verrat, du hast meinen alten Großvater auf die Welt gebracht!« ...

Ins eigene Grab gehen, dachte Tiffany. Wie stilvoll. Das ist das Nonplusultra des Boffo. Die Leute werden sich für den Rest ihres Lebens daran erinnern...

»In dem Fall solltest du alle Welpen behalten, bis auf einen...« Fräulein Verrat war stehen geblieben, um die Menge zu ordnen. »Es ist Brauch, dem Eigentümer des Rüden einen abzugeben. Du hättest die Hündin einsperren und deine Zäune besser in Schuss halten sollen. Und deine Frage, Herr Blinkhorn?«

Tiffany warf sich ins Kreuz. Die Leute belästigten sie! Selbst an diesem Morgen! Aber Fräulein Verrat... wollte belästigt werden. Solche Belästigungen machten ihr Leben aus.

»Fräulein Verrat!«, fauchte sie, während sie sich einen Weg durch die Menge bahnte. »Denk daran, dass du einen Termin hast!«

Das war nicht gerade taktvoll, aber immer noch besser als: »Du hast gesagt, dass du in etwa fünf Minuten sterben wirst!«

Fräulein Verrat drehte sich um und wirkte für ein oder zwei Sekunden konsterniert.

»Ach ja«, sagte sie. »Natürlich. Dann gehen wir besser weiter.« Sie ließ sich von Tiffany zum Grab führen, wobei sie noch immer mit Herrn Blinkhorn über ein komplexes Problem sprach, das einen umgestürzten Baum und den Schuppen von jemand anderem betraf. Die Leute folgten ihnen.

»Wenigstens nimmt es für dich ein glückliches Ende, Fräulein Verrat«, flüsterte Tiffany. Das war eine dumme Bemerkung, und Tiffany verdiente die Antwort, die sie bekam.

»Wir sorgen dauernd für ein glückliche Ende, Kind, Tag für Tag. Aber weißt du, für Hexen gibt es kein glückliches Ende. Nur ein Ende. Und da wären wir...«

Besser nicht daran denken, dachte Tiffany. Besser nicht daran denken, dass du tatsächlich eine Leiter in ein richtiges Grab hinabkletterst. Denk nicht daran, dass du Fräulein Verrat die Leiter hinab zu dem Laubhaufen am einen Ende geleitest. Du musst verdrängen, dass du in einem Grab stehst.

Hier unten schien die schreckliche Uhr noch lauter zu ticken: Klonk, klank, klonk, klank...

Fräulein Verrat trampelte den Laubhaufen ein wenig herunter und sagte fröhlich: »Ja, ich kann mir vorstellen, dass ich es hier recht bequem habe. Hör mal, Kind, ich habe dir das mit den Büchern gesagt, nicht wahr? Und unter meinem Stuhl liegt ein kleines Geschenk für dich. Ja, hier scheint alles in Ordnung zu sein. Oh, das hätte ich fast vergessen...«

Klonk, klank, klonk, klank... machte die Uhr, die hier viel lauter klang.

Fräulein Verrat stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte über den Rand des Grabs hinweg. »Herr Leicht! Du schuldest der Witwe Langich zwei Monatsmieten! Verstanden? Herr Viel, das Schwein gehört Frau Frumment, und wenn du es ihr nicht zurückgibst, verlasse ich mein Grab und stöhne unter deinem Fenster! Frau Fullsome, die Familie Doggelich hat das Durchgangsrecht auf der drehwärtigen Weide, und zwar länger, als selbst ich mich zurückerinnern kann, und du musst... du musst...«

Klon... k.

Es folgte ein Moment, ein langer Moment, in dem das plötzliche Schweigen der Uhr, die nicht mehr tickte, wie ein Donnern über der Lichtung hing.

Langsam sank Fräulein Verrat auf das Laub nieder.

Es dauerte einige entsetzliche Sekunden, bis Tiffanys Gehirn wieder arbeitete, und dann schrie sie die am Grab zusammengedrängten Leute an: »Zurück mit euch! Lasst ihr doch Luft!«

Sie kniete sich neben die alte Hexe, während die Leute hastig zurückwichen.

Der scharfe Geruch feuchter Erde erfüllte die Luft. Wenigstens schien Fräulein Verrat mit geschlossenen Augen gestorben zu sein. Das war nicht immer der Fall. Manchmal hatte Tiffany die Augen der Toten schließen müssen, und es kam ihr so vor, als müssten sie dadurch noch einmal sterben...

»Fräulein Verrat?«, flüsterte sie. Das war der erste Test. Es gab viele solche Tests, und sie alle waren unerlässlich. Man musste den Toten ansprechen, seinen Arm heben, den Puls fühlen, auch hinter dem Ohr, den Atem mit einem Spiegel überprüfen... Tiffany hatte immer befürchtet, dabei etwas falsch zu machen. Bei ihrer ersten Begegnung mit jemandem, der tot zu sein schien - ein junger Mann, der einem schrecklichen Unfall in einer Sägemühle zum Opfer gefallen war -, hatte sie jeden einzelnen Test durchgeführt, obgleich sie dafür erst mal den Kopf suchen musste.

In Fräulein Verrats Hütte gab es keine Spiegel.

In dem Fall sollte sie...

...nachdenken! Dies ist Fräulein Verrat! Und ich habe gehört, wie sie vor wenigen Minuten ihre Uhr aufgezogen hat!

Tiffany lächelte.

»Fräulein Verrat«, sagte sie ganz dicht am Ohr der alten Hexe. »Ich weiß, dass du da drin bist!«

Und in diesem Moment wurde der Morgen, der traurig, seltsam, sonderbar und schrecklich gewesen war... auf einmal Boffo.

Fräulein Verrat lächelte.

»Sind sie weg?«, fragte sie.

»Fräulein Verrat!«, sagte Tiffany streng. »Du hast etwas Schreckliches getan!«

»Ich habe die Uhr mit dem Daumennagel angehalten«, erwiderte Fräulein Verrat stolz. »Durfte sie doch nicht enttäuschen, oder? Ich musste ihnen eine ordentliche Schau bieten!«

»Fräulein Verrat«, sagte Tiffany immer noch sehr ernst, »hast du die Geschichte von der Uhr erfunden?« »Natürlich habe ich das! Und sie ist ein wundervolles Stück Folklore, ein richtiger Knaller. Fräulein Verrat und

ihr Uhrenherz! Könnte sogar zu einem Mythos werden, wenn ich Glück habe. Man wird sich über Jahrtausende hinweg an Fräulein Verrat erinnern!«

Fräulein Verrat schloss die Augen.

»Ich werde dich bestimmt nicht vergessen, Fräulein Verrat«, sagte Tiffany. »Ganz bestimmt nicht, denn...«

Die Welt war grau geworden und wurde noch grauer. Und Fräulein Verrat bewegte sich nicht mehr.

FRÄULEIN EUMENIDES VERRAT, ALTER HUNDERTELF?

Tiffany hörte die Stimme im Innern ihres Kopfes. Sie schien nicht durch die Ohren gekommen zu sein. Und sie hatte sie schon einmal gehört, was sehr ungewöhnlich war. Die meisten Leute hören Tods Stimme nur einmal. Fräulein Verrat stand auf, ohne dass auch nur ein Knochen knackte. Und sie sah genau wie Fräulein Verrat aus, nicht wie ein Geist. Sie lächelte. Was nun im seltsamen Licht auf dem trockenen Laub lag, war nur ein Schatten. Aber neben ihr stand eine sehr große, dunkle Gestalt: der Tod höchstpersönlich. Tiffany hatte ihn schon einmal gesehen, in seinem eigenen Land jenseits der Dunklen Tür, aber man musste ihm nicht schon einmal begegnet sein, um ihn zu erkennen. Die Sense, der lange schwarze Kapuzenmantel und natürlich das Bündel aus Stundengläsern waren eindeutige Indizien.

»Wo bleiben deine Manieren, Kind?«, fragte Fräulein Verrat.

Tiffany sah auf und sagte: »Guten Morgen.«

GUTEN MORGEN TIFFANY WEH, ALTER DREIZEHN, erwiderte Tod mit seiner NichtStimme. WIE ICH SEHE BIST DU BEI GUTER GESUNDHEIT.

»Auch ein kleiner Knicks wäre angebracht«, sagte Fräulein Verrat.

Vor dem Tod knicksen?, dachte Tiffany. Das hätte Oma Weh nicht gefallen. Geh nie vor einem Tyrannen in die Knie, hätte sie gesagt.

NUN MÜSSEN WIR GEMEINSAM GEHEN. Tod nahm Fräulein Verrat sanft am Arm.

»He, einen Augenblick!«, stieß Tiffany hervor. »Fräulein Verrat ist hundertdreizehn!«

»Ah... ich habe mein Alter aus beruflichen Gründen ein wenig geändert«, sagte Fräulein Verrat. »Hundertelf klingt so... jugendlich.« Um ihre geisterhafte Verlegenheit zu überspielen, steckte sie die Hand in die Tasche und holte den Geist eines Schinken-Sandwichs hervor.

»Ah, es hat funktioniert«, sagte sie. »Ich wusste, dass... He, wohin ist der Senf verschwunden?«

AUF DEN SENF IST NIE VERLASS, sagte der Tod, während beide zu verblassen begannen.

»Kein Senf? Was ist mit eingelegten Zwiebeln?«

EINGELEGTES ALLER ART SCHEINT ES NICHT INS JENSEITES ZU SCHAFFEN TUT MIR LEID. Hinter ihnen erschienen die Umrisse einer Tür.

»Kein Relish in der nächsten Welt? Wie schrecklich! Was ist mit Chutney?«, fragte das verschwindende Fräulein Verrat.

ES GIBT MARMELADE. MARMELADE FUNKTIONIERT.

»Marmelade? Marmelade? Schinken mit Marmelade?«

Und dann waren sie fort. Das Licht wurde wieder normal. Die Geräusche kehrten zurück, und mit ihnen die Zeit. Wieder kam es darauf an, nicht zu sehr nachzudenken, ruhig zu bleiben und sich auf das zu konzentrieren, was getan werden musste.

Unter den Blicken der Leute, die sich immer noch auf der Lichtung herumtrieben, ging Tiffany los und holte Decken. Sie legte sie zu einem Bündel zusammen, damit niemand die beiden Boffo-Schädel und den Spinnwebapparat darin bemerkte, als sie sie zum Grab trug. Als Fräulein Verrat und ihr Boffo-Geheimnis gut verpackt waren, begann Tiffany, das Grab zuzuschaufeln. Einige Männer eilten herbei und halfen ihr, bis ein Geräusch aus dem Boden drang:

Klonk, klank. Klonk.

Die Männer erstarrten. Auch Tiffany hielt inne, aber ihre Dritten Gedanken meldeten sich zu Wort: Keine Sorge! Denk daran, sie hat die Uhr angehalten! Ein herunterfallender Stein oder so etwas muss sie wieder in Gang gesetzt haben!

Sie entspannte sich und sagte liebenswürdig: »Das war vermutlich ihre Art, uns Lebewohl zu sagen.«

Rasch schaufelten sie die restliche Erde ins Grab.

Und jetzt bin ich Teil von Boffo, dachte Tiffany, als die Leute zu ihren Dörfern zurückeilten. Aber Fräulein Verrat hat sehr hart für sie gearbeitet. Sie verdient es, ein Mythos zu sein, wenn sie das möchte. Und ich wette, ich wette, dass die Dorfbewohner sie in dunklen Nächten hören werden ...

Doch jetzt gab es nur noch den Wind und die Bäume.

Tiffany blickte auf das Grab hinab.

Jemand sollte etwas sagen. Nun, sie war die Hexe, oder?

Im Kreideland und in den Bergen spielte Religion keine große Rolle. Etwa einmal im Jahr kamen Omnianer und veranstalteten ein gemeinsames Gebet, und manchmal ritt ein Priester der Neun-Tage-Rätsler, vom Bistum des Kleinen Glaubens oder von der Kirche der Geringen Götter auf einem Esel durch die Dörfer. Die Leute gingen hin und hörten den Priestern zu, wenn sie Interessantes erzählten oder mit puterrotem Gesicht herumbrüllten, und

sie sangen die Lieder mit, wenn sie eine schöne Melodie hatten. Und dann gingen sie wieder nach Hause.

»Wir sind nur kleine Leute«, hatte Tiffanys Vater einmal gesagt. »Es ist nicht klug, die Aufmerksamkeit der Götter zu wecken.«

Tiffany erinnerte sich an die Worte, die er am Grab von Oma Weh gesprochen hatte, vor einer kleinen Ewigkeit, wie es ihr jetzt schien. Damals, auf dem sommerlichen Gras des Tieflands und unter den kreischenden Bussarden am Himmel, hatte es keine anderen Worte gegeben, und Tiffany sprach sie jetzt erneut:

»Wenn irgendein Boden geweiht ist, so dieser Boden. Wenn irgendein Tag heilig ist, so dieser Tag.«

Sie sah, wie sich etwas regte, und dann kletterte Billy Breitkinn, der Dudler, auf die frisch aufgeworfene Erde des Grabs. Er bedachte Tiffany mit einem ernsten Blick, hob die Mäusedudel und begann zu spielen.

Menschen konnten die Mäusedudel nicht sehr gut hören, weil ihre Töne zu hoch waren, aber Tiffany spürte sie im Kopf. Ein guter Dudler war imstande, mit seiner Musik viele Dinge zum Ausdruck zu bringen. Tiffany spürte den Sonnenuntergang, den Herbst, den Nebel auf den Hügeln und den Duft von Rosen so rot, dass sie fast schwarz wirkten ...

Als Billy Breitkinn fertig war, ließ er die Dudel sinken, stand einen Moment still da und sah zu Tiffany auf.

Dann verschwand er wieder.

Tiffany setzte sich auf einen Baumstumpf und weinte ein bisschen, weil das getan werden musste. Anschließend ging sie zum Stall und melkte die Ziegen, weil auch das jemand tun musste.