8. DAS FÜLLHORN
An jenem Abend, als Nanny Ogg zu Bett gegangen war, gönnte sich Tiffany das Bad, auf das sie sich gefreut hatte. Es war kein leichtes Unterfangen. Zuerst musste die Badewanne von ihrem Haken hinten am Abort geholt werden, der sich am Ende des Gartens befand. Dann musste Tiffany sie durch die kalte, finstere Nacht schleifen, zu einem Ehrenplatz vor dem Kamin. Kessel mussten über dem Feuer und auf dem schwarzen Küchenherd erhitzt werden, und auch nur fünfzehn Zentimeter warmes Wasser zu bekommen erforderte einen beträchtlichen Aufwand. Anschließend musste das Wasser ausgeschöpft und in den Abfluss geschüttet werden, und die Wanne wurde in eine Ecke geschoben, damit sie am nächsten Morgen nach draußen gebracht werden konnte. Wenn man sich schon solche Mühe machen musste, sollte man die Gelegenheit nutzen, jeden Quadratzentimeter gründlich zu schrubben.
Tiffany tat noch etwas. Sie schrieb »PRIVAT!« auf ein Stück Pappe und klemmte es so in die Hängelampe in der Mitte des Zimmers, dass man die Aufschrift nur von oben lesen konnte. Sie wusste nicht, ob es neugierige Götter fernhielt, aber sie fühlte sich dadurch etwas besser. In der Nacht schlief sie traumlos. Am nächsten Morgen hatte Neuschnee die alten Schneewehen überzogen, und zwei von Nanny Oggs Enkeln bauten ihr im Garten einen Schneemann. Nach einer Weile kamen sie herein und verlangten eine Möhre für die Nase und zwei Kohlebrocken für die Augen.
Nanny nahm Tiffany zu dem abgelegenen Ort Schnitte mit, wo es für die Leute immer eine angenehme Überraschung war, jemanden zu sehen, mit dem sie nicht verwandt waren. Nanny Ogg schlenderte über die in den Schnee gegrabenen Pfade von Haus zu Haus, trank so viel Tee, dass ein Elefant darin hätte schwimmen können, und praktizierte ein wenig höchst unauffällige Hexerei. Sie schien hauptsächlich aus Klatsch und Plauderei zu bestehen, aber wenn man den Dreh raus hatte, konnte man die Magie heraushören. Nanny Ogg veränderte die Denkweise der Leute, wenn auch meist nur für ein paar Minuten. Wenn sie ging, hielten sich die Menschen für ein wenig besser, als sie eigentlich waren. Trotzdem gab ihnen das, wie Nanny es ausdrückte, einen Anlass, sich Mühe zu geben.
Es folgte eine weitere traumlose Nacht, doch um halb sechs schreckte Tiffany plötzlich aus dem Schlaf und fühlte sich... seltsam.
Sie rubbelte den Raureif vom Fenster und sah im Mondschein den Schneemann.
Warum tun wir das?, fragte sie sich. Kaum fällt Schnee, bauen wir einen Schneemann. In gewisser Weise verehren wir den Winterschmied. Wir machen etwas Menschliches aus dem Schnee... Wir geben ihm Kohleaugen und eine Möhrennase, um ihn lebendig werden zu lassen. Oh, und wie ich sehe, haben ihm die Kinder einen Schal um den Hals gewickelt. Genau das braucht ein Schneemann: einen Schal, damit er es warm hat...
Sie ging nach unten in die stille Küche und schrubbte den Tisch, weil sie nichts Besseres zu tun hatte. Sie konnte besser denken, wenn ihre Hände beschäftigt waren.
Etwas hatte sich verändert - sie selbst. Sie hatte sich Sorgen darum gemacht, was der Winterschmied tun und denken würde, als wäre sie nur ein im Wind tanzendes Blatt. Sie hatte sich davor gefürchtet, seine Stimme in ihrem Kopf zu hören, wo er nichts zu suchen hatte.
Das war nun anders.
Er sollte sie fürchten.
Ja, sie hatte einen Fehler gemacht. Ja, es war ihre Schuld. Aber sie würde sich nicht einschüchtern lassen. Man durfte es nicht dulden, dass einem ein Junge die Lava verregnete und sich die Aquarelle anderer Leute anschaute. Such nach der Geschichte, sagte Oma Wetterwachs immer. Sie glaubte, dass die Welt voller Gestalten aus irgendwelchen Geschichten war. Wenn man es zuließ, hatten sie einen in der Hand. Aber wenn man sich genauer mit ihnen beschäftigte, wenn man mehr über sie herausfand, konnte man sie benutzen und verändern...
Fräulein Verrat hatte alles über Geschichten gewusst, nicht wahr? Sie hatte sie wie das Netz einer Spinne gesponnen und sich auf diese Weise Macht verliehen. Und die Geschichten erfüllten ihren Zweck, weil die Leute an sie glauben wollten. Auch Nanny Ogg erzählte eine Geschichte. Die dicke, fröhliche Nanny Ogg, die gern ein Gläschen trank (und noch eins, besten Dank) und die Lieblingsoma von allen war... Aber der Blick ihrer kleinen funkelnden Augen konnte sich einem in den Kopf bohren und dort alle Geheimnisse sehen.
Selbst Oma Weh hatte eine Geschichte. Sie hatte in der alten Schäferhütte gewohnt, hoch oben in den Hügeln, und dem Wind zugehört, wie er über das Land fegte. Sie war geheimnisvoll und allein. Und die Geschichten schwebten empor und sammelten sich über ihr, all die Geschichten darüber, wie sie verlorene Lämmer fand, obgleich sie tot war, all die Geschichten darüber, wie sie noch immer über die Menschen wachte...
Die Leute wollten, dass die Welt eine Geschichte war, denn Geschichten mussten richtig klingen und einen Sinn ergeben. Und die Leute wollten, dass die Welt einen Sinn ergab.
Tiffanys Geschichte sollte nicht die eines Mädchens sein, das sich herumschubsen ließ. So etwas ergab keinen Sinn.
Obwohl... Der Winterschmied war nicht wirklich böse. Die Götter der Mythologie wussten, wie man sich in einen Menschen verwandelt - manchmal wurden sie gar zu menschlich -, aber wie sollte ein Schneesturm so etwas jemals herausfinden können? Er war gefährlich und furchterregend, aber man musste einfach Mitleid mit ihm haben...
Jemand hämmerte an Nanny Oggs Hintertür. Tiffany öffnete und stand vor einer hochgewachsenen Gestalt in Schwarz.
»Falsches Haus«, sagte sie. »Hier ist niemand auch nur ein bisschen krank.«
Eine Hand lüftete die schwarze Kapuze, und aus ihren Tiefen zischte es: »Ich bin's, Annagramma. Ist sie zu Hause?«
»Frau Ogg schläft noch«, sagte Tiffany.
»Gut. Kann ich reinkommen?«
Am Küchentisch, bei einer Tasse warmem Tee, erzählte Annagramma alles. Das Leben im Wald lief nicht gut. »Zwei Männer sind wegen einer dummen Kuh zu mir gekommen, von der sie beide glaubten, dass sie ihnen gehört!«, sagte Annagramma.
»Das waren Joe Besentasch und der Schlaue Adams«, sagte Tiffany. »Auch über sie habe ich dir eine Notiz hinterlassen. Wenn einer von ihnen beiden betrunken ist, streiten sie um die Kuh.«
»Was soll ich mit ihnen machen?«
»Nicken und lächeln«, antwortete Tiffany. »Warte, bis die Kuh stirbt, hat Fräulein Verrat immer gesagt. Oder einer der Männer. Das ist die einzige Lösung.«
»Und eine Frau ist mit einem kranken Schwein zu mir gekommen!«
»Was hast du getan?«
»Ich habe ihr gesagt, dass ich keine Schweine behandle! Aber da ist sie in Tränen ausgebrochen, und deshalb habe ich es mit Bangels Allheilmittel probiert.«
»An einem Schwein?«, fragte Tiffany schockiert.
»Die Schweinehexe verwendet doch auch Magie, und ich sehe nicht ein, warum ich...«, begann Annagramma trotzig.
»Sie weiß, was funktioniert!«, sagte Tiffany.
»Dem Schwein ging es bestens, als ich es wieder vom Baum runtergeholt hatte! Sie hätte deshalb kein solches Theater machen müssen! Die Borsten wachsen bestimmt nach! Mit der Zeit!«
»War es ein geflecktes Schwein?«, fragte Tiffany. »Und schielte die Frau?«
»Ja! Ich denke schon. Spielt das eine Rolle?«
»Frau Stamper hängt sehr an dem Schwein«, sagte Tiffany vorwurfsvoll. »Sie bringt es etwa einmal pro Woche zur Hütte. Für gewöhnlich leidet es nur an einem verdorbenen Magen. Sie gibt ihm zu viel zu fressen.«
»Tatsächlich? Dann mache ich ihr das nächste Mal nicht die Tür auf«, sagte Annagramma mit fester Stimme. »Nein, lass sie rein. Sie ist doch nur einsam und möchte mit jemandem reden.«
»Nun, ich kann mit meiner Zeit etwas Besseres anfangen, als einer Alten zuzuhören, die ein wenig schwatzen möchte«, sagte Annagramma empört.
Tiffany sah sie an. Was sollte sie mit ihr anstellen, abgesehen davon, den Kopf des Mädchens auf den Tisch zu schlagen, bis das Gehirn in Gang kam?
»Hör gut zu«, sagte sie. »Nicht nur mir, sondern vor allem Frau Stamper. Du kannst nichts Besseres mit deiner Zeit anfangen, als alten Frauen zuzuhören, die reden wollen. Jeder erzählt einer Hexe etwas. Hör ihnen allen zu. Sprich nicht viel und denke über das nach, was dir die Leute sagen und wie sie es sagen. Sieh ihnen dabei in die Augen... Es wird eine Art großes Puzzle daraus, aber nur du kannst alle Teile sehen. Du wirst erfahren, was sie dich wissen lassen wollen, was sie dich nicht wissen lassen wollen und sogar das, von dem sie glauben, dass es niemand weiß. Deshalb gehen wir von Haus zu Haus. Deshalb wirst auch du von Haus zu Haus gehen, bist du zum Leben dieser Leute gehörst.«
»Und das alles, nur um Macht über einen Haufen Farmer und Bauern zu bekommen?«
Tiffany wirbelte herum und trat mit solcher Wucht gegen einen Stuhl, dass ein Bein abbrach. Annagramma wich hastig zurück.
»Warum hast du das gemacht?«
»Du bist doch so schlau! Jetzt rate mal!«
»Oh, das hatte ich vergessen... Dein Vater ist Schäfer...«
»Gut! Es ist dir wieder eingefallen!« Tiffany zögerte. Gewissheit strömte in ihr Hirn, dank ihrer Dritten Gedanken. Plötzlich durchschaute sie Annagramma.
»Und dein Vater?«, fragte sie.
»Was?« Annagramma warf sich instinktiv ins Kreuz. »Oh, ihm gehören mehrere Farmen...«
»Du lügst!«
»Nun, vielleicht sollte ich sagen, er ist Farmer...«, begann das Mädchen. Sie wurde langsam nervös.
»Du lügst!«
Annagramma wich noch etwas weiter zurück. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden...«
»Wie kannst du es wagen, mir nicht die Wahrheit zu sagen!«
Es folgte eine Pause, in der Tiffany alles hörte: das leise Knacken des Brennholzes im Ofen, die Geräusche der Mäuse im Keller, ihren eigenen Atem, so laut wie das Donnern der Brandung in einer Höhle...
»Er arbeitet für einen Farmer, okay?«, stieß Annagramma hervor und schien dann über ihre eigenen Worten erschrocken zu sein. »Wir haben kein eigenes Land, und uns gehört nicht einmal das Haus. Das ist die Wahrheit, wenn du sie unbedingt hören willst. Bist du jetzt zufrieden?«
»Nein, aber besten Dank«, sagte Tiffany.
»Wirst du den anderen davon erzählen?«
»Nein. Es spielt keine Rolle. Aber Oma Wetterwachs will, dass du alles verpfuschst, verstehst du? Sie hat nichts gegen dich...« Tiffany zögerte und fuhr dann fort: »Ich meine, nicht mehr als gegen alle anderen. Sie möchte den Leuten nur klarmachen, dass Frau Ohrwurms Hexerei nicht funktioniert. Das sieht ihr ähnlich! Sie hat nicht ein Wort gegen dich gesagt und lässt dich genau das haben, was du haben wolltest. Es ist wie in einer Geschichte. Jeder weiß: Wenn man genau das bekommt, was man will, geht alles schief. Du wolltest unbedingt eine eigene Hütte. Und du wirst alles verpfuschen.«
»Ich brauche nur noch ein paar Tage, um mich einzugewöhnen ...«
»Wieso? Du bist eine Hexe mit einer Hütte. Man erwartet von dir, dass du damit fertig wirst! Warum hast du die Hütte übernommen, wenn du das nicht schaffst?«
Man erwartet von dir, dass du damit fertig wirst, Schafmädchen! Warum hast du dich darauf eingelassen, wenn du das nicht schaffst?
»Du bist also nicht bereit, mir zu helfen?« Annagramma funkelte Tiffany wütend an, und dann wurden ihre Züge weicher, was sehr ungewöhnlich war. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Tiffany blinzelte. Es ist schrecklich, das Echo der eigenen Stimme von der anderen Seite des Bewusstseins zu vernehmen.
»Ich habe keine Zeit«, sagte sie matt. »Vielleicht können die anderen... dir beistehen?«
»Ich will nicht, dass sie davon erfahren!« Panik malte sich in Annagrammas Gesicht.
Sie kann mit Magie umgehen, dachte Tiffany. Aber nicht mit der Hexerei. Dabei verpfuscht sie alles. Sie wird die Leute verpfuschen.
Sie gab nach. »Na schön. Vielleicht kann ich ein wenig Zeit erübrigen; bei Tir Nani Ogg gibt es nicht so viel zu tun.
Und ich werde den anderen die Sache erklären. Sie müssen Bescheid wissen. Wahrscheinlich helfen sie dir. Du lernst schnell, die Grundlagen hast du bestimmt in ungefähr einer Woche drauf.«
Tiffany beobachtete Annagrammas Gesicht. Sie dachte tatsächlich darüber nach! Wenn sie zu ertrinken drohte
und man ihr eine Rettungsleine zuwarf, so hätte sie sich beklagt, wenn ihr die Farbe nicht gefiel...
»Nun, wenn sie nur helfen ...«, sagte Annagramma, und ihre Miene hellte sich auf.
Man konnte sie fast dafür bewundern, wie schnell sie umschalten konnte. Noch eine Geschichte, dachte Tiffany. Sie dreht sich allein um Annagramma.
»Ja, wir helfen dir«, seufzte sie.
»Vielleicht könnten wir den Leuten sogar weismachen, dass ihr Mädchen zu mir kommt, um etwas zu lernen?«, fragte Annagramma hoffnungsvoll.
Es heißt, dass man immer erst bis zehn zählen sollte, bevor man die Beherrschung verliert. Aber wenn man es mit Annagramma zu tun hatte, brauchte man größere Zahlen, so etwa eine Million.
»Nein«, sagte Tiffany. »Ich glaube nicht, dass wir das machen werden. Du bist diejenige, die lernen wird.« Annagramma öffnete den Mund, um zu widersprechen, bemerkte Tiffanys Gesichtsausdruck und überlegte es sich anders.
»Ah, ja«, sagte sie. »Natürlich. Ah... danke.«
Das war eine Überraschung.
»Die anderen werden dir wahrscheinlich auch helfen«, sagte Tiffany. »Es sieht nicht gut aus, wenn eine von uns versagt.«
Verblüfft stellte sie fest, dass echte Tränen über Annagrammas Wangen rollten. »Es ist nur... ich habe eigentlich nicht geglaubt, dass sie meine Freundinnen sind...« »Ich mag sie nicht«, sagte Petulia, die bis zu den Knien in Schweinen stand. »Sie nennt mich >Schweinehexe<.« »Nun, du bist eine Schweinehexe«, sagte Tiffany von außerhalb des Schweinepferchs. In dem großen Schuppen wimmelte es von Schweinen, und der Lärm war fast so schlimm wie der Gestank. Draußen fiel Schnee so fein wie Staub.
»Ja, aber wenn sie das sagt, klingt es zu sehr nach Schwein und entschieden zu wenig nach Hexe«, sagte Petulia. »Jedes Mal, wenn sie den Mund aufmacht, denke ich, ich hätte etwas falsch gemacht.« Sie wedelte mit der Hand vor der Schnauze eines Schweins herum und murmelte einige Worte. Das Schwein verdrehte die Augen, öffnete das Maul und bekam eine große Dosis grüner Flüssigkeit aus einer Flasche eingeflößt.
»Wir dürfen sie nicht einfach sich selbst überlassen«, sagte Tiffany. »Es könnte jemand zu Schaden kommen.« »Das wäre nicht unsere Schuld, oder?«, erwiderte Petulia, während sie einem weiteren Schwein seine Medizin gab. Dann wölbte sie die Hände trichterförmig vor dem Mund und rief dem Mann auf der anderen Seite des Stalls zu: »Mit diesen bin ich fertig, Fred!« Sie kletterte aus dem Pferch, und Tiffany sah, dass sie das Kleid bis zur Taille hochgezogen hatte. Darunter trug sie eine schwere Lederhose.
»Heute Morgen sind sie sehr unruhig«, sagte sie. »Sieht aus, als würden sie ein wenig übermütig.« »Übermütig?«, wiederholte Tiffany. »Ich verstehe.«
»Hör nur die Eber in ihrem Stall«, sagte Petulia. »Sie riechen den Frühling.«
»Aber es ist noch nicht einmal Silvester!«
»Übermorgen ist es so weit. Wie dem auch sei, der Frühling schläft unter dem Schnee, sagt mein Vater immer«, meinte Petulia und wusch sich die Hände in einem Eimer.
Kein Ahm, sagten Tiffanys Dritte Gedanken. Wenn sie arbeitet, sagt Petulia nie »Ahm«. Sie kennt keine Unsicherheit, wenn sie arbeitet. Dann ist sie voller Selbstbewusstsein und weiß genau, wo es lang geht.
»Es ist unsere Schuld, wenn wir Unheil kommen sehen und nichts dagegen unternehmen«, sagte Tiffany.
»Oh, schon wieder Annagramma.« Petulia zuckte mit den Achseln. »Nach Silvester kann ich vielleicht einmal pro Woche zu ihr gehen und ihr die grundlegendsten Dinge zeigen. Bist du damit zufrieden?«
»Sie wird dir bestimmt dankbar sein.«
»Nein, das wird sie nicht, kein Zweifel. Hast du die anderen gefragt?«
»Nein, noch nicht«, sagte Tiffany. »Ich dachte mir, wenn du bereit bist, ihr zu helfen, dann sind sie es vermutlich ebenfalls.«
»Ha! Na schön, wir können wenigstens sagen, dass wir es versucht haben. Weißt du, ich habe Annagramma für sehr clever gehalten, weil sie viele Wörter und Zaubersprüche kennt, bei denen die Funken nur so sprühen. Aber wenn man ihr ein krankes Schwein zeigt, ist sie völlig aufgeschmissen!«
Tiffany erzählte ihr von Frau Stampers Schwein, und Petulia wirkte bestürzt.
»Unerhört«, sagte sie. »Auf einem Baum? Vielleicht schaue ich schon heute Nachmittag bei ihr vorbei.« Sie zögerte. »Oma Wetterwachs wird darüber nicht erfreut sein.
Sollen wir uns wirklich in ihren Zwist mit Frau Ohrwurm einmischen?«
»Wollen wir das Richtige tun oder nicht?«, fragte Tiffany. »Und überhaupt, was könnte sie schon schlimmstenfalls mit uns anstellen?«
Petulia lachte völlig humorlos auf. »Zunächst einmal würde sie uns...«
»Nein, das würde sie nicht.«
»Ich wünschte, ich wäre mir da so sicher wie du«, sagte Petulia. »Also gut. Für Frau Stampers Schwein.«
Tiffany flog so dicht über die Baumwipfel hinweg, dass gelegentlich ein Zweig ihre Stiefel streifte. Die
Wintersonne schien gerade hell genug, um den Schnee so frisch und glitzernd wie einen glasierten Kuchen aussehen zu lassen.
Ein arbeitsreicher Morgen lag hinter ihr. Der Hexenzirkel war nicht sehr daran interessiert gewesen, Annagramma zu helfen. Das letzte Treffen lag lange zurück - sie waren im Winter alle sehr beschäftigt.
»Wir haben immer nur Blödsinn gemacht, wenn Annagramma uns irgendwelche Anweisungen erteilt hat«, hatte Dimity Tumult gesagt, während sie Mineralien mahlte und sie ganz vorsichtig, eine Sorte nach der anderen, in einen kleinen Topf über einer Kerze gab. »Ich habe zu viel zu tun, um mich mit Magie abzugeben. Es ist nie etwas Nützliches dabei herausgekommen. Weißt du, worin Annagrammas Problem besteht? Sie glaubt, man kann allein dadurch Hexe werden, dass man genug Dinge kauft.«
»Sie muss nur lernen, mit Menschen zurechtzukommen«, sagte Tiffany. In diesem Moment explodierte der Topf. »Ich schätze, wir können mit einiger Sicherheit feststellen, dass dies kein geeignetes Mittel gegen Zahnschmerzen ist«, sagte Dimity und pflückte Teile des Topfes aus ihrem Haar. »Na schön, ich nehme mir den einen oder anderen Tag Zeit für sie, wenn Petulia das ebenfalls macht. Aber es wird nicht viel nützen.«
Lucy Warbeck lag der Länge nach und voll angezogen in einer mit Wasser gefüllten Badewanne, als Tiffany bei ihr eintraf. Ihr Kopf befand sich unter der Oberfläche, aber als Tiffanys Gesicht über dem Rand der Wanne erschien, hob sie ein Schild mit der Aufschrift ICH ERTRINKE NICHT! hoch. Fräulein Tick hatte gesagt, dass sie eine gute Hexensucherin abgeben würde, und deshalb trainierte sie hart.
»Ich verstehe nicht, warum wir Annagramma helfen sollten«, sagte sie, während Tiffany ihr beim Abtrocknen half. »Sie liebt es, andere Leute mit ihrer sarkastischen Stimme herunterzumachen. Außerdem, was hast du davon? Du weißt, dass sie dich nicht mag.«
»Ich dachte, bisher sind wir einigermaßen zurechtgekommen ... mehr oder weniger.«
»Glaubst du? Du beherrschst Dinge, von denen Annagramma nicht einmal träumen kann! Wie das mit dem Unsichtbar werden... Du kannst das, und bei dir sieht es ganz einfach aus! Aber du kommst zu den Treffen, gibst dich ganz normal und hilfst anschließend beim Aufräumen, und das macht sie wahnsinnig!«
»Ich glaube, da kann ich dir nicht ganz folgen...«
Lucy nahm ein weiteres Handtuch. »Sie erträgt den Gedanken nicht, dass jemand besser ist als sie, ohne damit zu prahlen.«
»Warum sollte ich prahlen?«, fragte Tiffany verwundert.
»Weil sie das an deiner Stelle tun würde«, sagte Lucy und schob sich vorsichtig wieder Messer und Gabel in die
aufgesteckten Haare."' »Sie glaubt, du machst dich über sie lustig. Und jetzt braucht sie auch noch deine Hilfe. Genauso gut hättest du ihr Nadeln in die Nasenlöcher stechen können.«
Aber Petulia machte mit, und deshalb schlössen sich die anderen ihr an. Petulia galt als klassisches Wunderkind, seit sie vor zwei Jahren den Hexenwettbewerb mit ihrem berühmten Schweinetrick gewonnen hatte. Sie war ausgelacht worden - von Annagramma; alle anderen hatten peinlich berührt gegrinst -, aber sie war bei den Dingen geblieben, mit denen sie sich auskannte, und es hieß, dass sie bei Tieren sogar mehr Geschick zeigte als Oma Wetterwachs. Sie erntete ehrliche Anerkennung. Die Leute verstanden nicht viel von den Dingen, mit denen sich Hexen beschäftigten, aber jemand, der eine kranke Kuh wieder auf die Beine bringen konnte, wurde geachtet. Nach Silvester würde sich für den ganzen Hexenzirkel alles um Annagramma drehen.
Tiffany flog nach Tir Nani Ogg zurück, den Kopf voller Gedanken. Sie hätte nie gedacht, dass jemand neidisch auf sie sein konnte. Na schön, sie hatte das eine oder andere gelernt, aber das konnte doch jeder. Man musste sich nur selbst abschalten können.
Sie hatte im Wüstensand hinter der Dunklen Tür gesessen und Hunden mit rasiermesserscharfen Zähnen gegenübergestanden ... Das war nichts, an das sie sich gern erinnerte. Und zu allem Überfluss war da noch der Winterschmied.
Ohne das Pferd konnte er sie nicht finden, da schienen alle sicher zu sein. Er konnte in Tiffanys Kopf zu ihr sprechen, und sie zu ihm, aber das war eine Art Magie und hatte nichts mit Geographie zu tun.
Er hatte sich schon seit
einer ganzen Weile nicht mehr gerührt. Vermutlich baute er
Eisberge.
Tiffany landete den Besen auf einem kleinen, kahlen Hügel zwischen den Bäumen. Weit und breit war keine Hütte zu sehen.
Sie stieg ab, hielt den Besen aber vorsichtshalber fest.
Die Sterne erschienen am Himmel. Der Winterschmied mochte klare Nächte. Sie waren kälter.
Und dann kamen die Worte. Es waren ihre Worte, mit ihrer Stimme gesprochen, und sie wusste, was sie bedeuteten, aber sie hatten eine Art Echo.
»Winterschmied! Ich gebiete über dich!«
Tiffany wunderte sich noch über den hellen, scharfen Klang ihrer Stimme, als auch schon die Antwort kam.
Die Stimme war überall um sie herum.
Wer gebietet über den Winterschmied?
»Ich bin die Sommerfrau.« Nun, ich bin eine Art zweite Besetzung, dachte sie.
»Warum verbirgst du dich dann vor mir?«
»Ich fürchte dein Eis. Ich fürchte deine Kälte. Ich fliehe vor deinen Lawinen. Ich verstecke mich vor deinen Stürmen.« Ah, gut. So spricht eine Göttin.
»Leb mit mir in meiner Welt aus Eis!«
»Wie kannst du es wagen, mir etwas zu befehlen! Wag das bloß nicht!«
»Aber du weilst doch aus freiem Willen in meinem Winter...« Der Winterschmied klang unsicher.
»Ich gehe, wohin es mir gefällt. Ich wähle meinen Weg, ohne irgendeinen Mann um Erlaubnis zu fragen. Du wirst mich in deinem Land ehren - oder du lernst mich kennen!« Und das war von mir, dachte Tiffany, zufrieden darüber, auch mal zu Wort zu kommen.
Es folgte eine lange Stille voller Ungewissheit und Verwirrung. Dann fragte der Winterschmied: »Wie kann ich dir zu Diensten sein, Geliebte?«
»Keine Eisberge mehr, die wie ich aussehen. Ich möchte kein Gesicht sein, das tausend Schiffe versenkt.«
»Und die Eisblumen? Können wir die miteinander teilen? Und die Schneeflocken?«
»Nein, die Eisblumen nicht. Hör auf damit, meinen Namen an Fensterscheiben zu schreiben. So was bringt nur Ärger.«
»Aber erlaubst du mir, dich mit Schneeflocken zu ehren?«
»Ah...« Tiffany stockte. Göttinnen sollten nicht »äh« sagen, da war sie sicher.
»Schneeflocken sind... akzeptabel«, sagte sie. Immerhin steht nicht mein Name auf ihnen, dachte sie. Ich meine, die meisten Leute werden ohnehin nichts merken, und wenn doch, wissen sie nicht, dass ich es bin.
Dann wird es Schneeflocken geben, Geliebte, bis zu unserem nächsten Tanz. Und wir werden miteinander tanzen, denn ich mache aus mir einen Mann!
Die Stimme des Winterschmieds ... verklang.
Tiffany war wieder allein zwischen den Bäumen.
Das heißt... nicht ganz.
»Ich weiß, dass du noch da bist«, sagte sie, und ihr Atem hinterließ ein Funkeln in der Luft. »Du bist da, nicht wahr? Ich spüre dich. Das sind nicht bloß meine Gedanken. Ich bilde mir dich nicht ein. Der Winterschmied ist fort. Du kannst mit meinem Mund sprechen. Wer bist du?«
Der Wind ließ Schnee aus den nahen Bäumen fallen. Die Sterne funkelten. Sonst bewegte sich nichts.
»Du bist da«, sagte Tiffany. »Du hast mir Gedanken in den Kopf gesetzt. Du hast sogar meine eigene Stimme zu mir sprechen lassen. Das wird nicht noch einmal geschehen. Ich kenne jetzt das Gefühl, und deshalb kann ich dich aus mir heraushalten. Wenn du mir etwas zu sagen hast, so sag es jetzt. Wenn ich diesen Ort verlasse, verschließe ich dir mein Bewusstsein. Ich werde nicht...«
Wie fühlt es sich an, so hilflos zu sein, Schafmädchen?
»Du bist der Sommer, nicht wahr?«, fragte Tiffany.
Und du bist wie ein kleines Mädchen, das die Sachen seiner Mutter anzieht: kleine Füße in zu großen Schuhen, das Kleid schleift im Dreck. Wegen eines dummen Kinds wird die Welt zu Eis erstarren...
Tiffany... machte etwas, das sie nicht beschreiben konnte, und plötzlich klang die Stimme nur noch wie das Zirpen eines fernen Insekts.
Es war einsam auf dem Hügel und kalt. Und man durfte sich einfach nicht unterkriegen lassen. Man konnte schreien, weinen und mit den Füßen stampfen, aber damit hielt man sich nur warm; ansonsten nützte es nichts. Man könnte sagen, dass das unfair war, und das stimmte, aber das Universum scherte sich nicht darum, denn es wusste nicht, was »fair« bedeutet. Das war das große Problem dabei, eine Hexe zu sein. Es kam immer auf einen selbst an.
Silvester brachte noch mehr Schnee und einige Geschenke. Allerdings keine von zu Hause, obwohl es ein paar Kutschen durch den Schnee schafften. Tiffany versuchte, sich einzureden, dass es sicher einen guten Grund dafür gab.
Es war der kürzeste Tag des Jahres, was praktisch war, denn dadurch passte er perfekt zur längsten Nacht. Dies war das Herz des Winters, doch das Geschenk, das am nächsten Tag eintraf, hatte Tiffany nicht erwartet.
Es hatte stark geschneit, aber der Abendhimmel war rosarot und blau und sehr kalt.
Es fiel mit einem lauten Pfeifen vom rosaroten Himmel und landete in Nanny Oggs Garten, wo es die Erde aufspritzen ließ und ein tiefes Loch in den Boden grub.
»Damit wäre der Kohl hin«, sagte Nanny, als sie aus dem Fenster sah.
Dampf stieg aus dem Loch auf, und als sie nach draußen gingen, roch es stark nach jungen Trieben.
Tiffany spähte durch den Dampf. Erde und Kohlstrünke bedeckten das Objekt, aber darunter konnte sie etwas Rundes ausmachen.
Durch Erde und Dampf rutschte sie in das Loch hinunter, hin zu dem rätselhaften Gegenstand. Er war nicht mehr
sehr heiß, und als sie den Dreck abkratzte, hatte sie das scheußliche Gefühl zu wissen, was das war.
Es musste das von Anoia erwähnte Dingsbums sein. Rätselhaft genug wirkte es ja. Und als es unter dem Schlamm zum Vorschein kam, wusste Tiffany, dass sie es schon einmal gesehen hatte...
»Alles klar mit dir da unten?«, rief Nanny Ogg. »Ich kann in dem dichten Dampf überhaupt nichts sehen!« Nach den Geräuschen zu urteilen waren die Nachbarn herbeigeeilt; aufgeregtes Geschnatter war zu hören.
Tiffany kratzte rasch noch mehr Erde und zermatschten Kohl von dem Ding ab und rief nach oben: »Ich glaube, es könnte explodieren! Sag allen, dass sie ins Haus gehen sollen! Und dann bück dich und reich mir die Hand, ja?«
Die Stimmen oben wurden lauter, und dann entfernten sich schnelle Schritte. Nanny Oggs Hand tauchte auf und tastete im Dampf umher. Tiffany griff danach und ließ sich aus dem Loch ziehen.
»Sollen wir unterm Küchentisch in Deckung gehen?«, fragte Nanny, während Tiffany versuchte, Dreck und Kohlreste von ihrem Kleid zu klopfen. Dann zwinkerte Nanny. »Falls es tatsächlich explodieren sollte?«
Ihr Sohn Shawn kam ums Haus gelaufen, einen Eimer Wasser in jeder Hand. Er blieb stehen und machte ein enttäuschtes Gesicht, weil er es umsonst geholt hatte.
»Was ist los, Mama?«, schnaufte er.
Nanny sah Tiffany an, die sagte: »Äh... ein großer Felsbrocken ist vom Himmel gefallen.«
»Große Felsbrocken können sich am Himmel doch gar nicht halten, Fräulein!«, erwiderte Shawn.
»Ich schätze, deshalb ist er heruntergefallen, Junge«, sagte Nanny munter. »Wenn du dich nützlich machen willst, halt hier Wache und sorg dafür, dass niemand dem Ding zu nahe kommt.«
»Was soll ich machen, wenn es explodiert, Mama?«
»Dann kommst du und berichtest mir davon, ja?«, antwortete Nanny.
Sie scheuchte Tiffany ins Haus, schloss die Tür hinter ihnen und sagte: »Ich bin eine grässliche alte Lügnerin, Tiff, und deshalb erkenne ich sofort, wenn jemand lügt. Was befindet sich dort unten?«
»Nun, ich glaube nicht, dass es explodieren wird«, erwiderte Tiffany. »Und wenn doch, so geschieht vermutlich nichts Schlimmeres, als dass wir unter Krautsalat begraben werden. Ich glaube, in dem Loch liegt das Cornucopia.«
Draußen erklangen Stimmen, und dann wurde die Tür aufgerissen.
»Gesegnet sei dieses Haus«, sagte Oma Wetterwachs, während sie sich den Schnee von den Stiefeln trampelte. »Dein Sohn meinte, ich sollte nicht herkommen, aber ich glaube, da liegt er falsch. Ich hab mich so sehr beeilt wie möglich. "Was ist passiert?«
»Wir haben Cornucopias«, sagte Nanny Ogg. »Was auch immer das sein mag.«
Es war später am Abend. Sie hatten gewartet, bis es dunkel war, bevor sie das Cornucopia aus dem Loch holten. Es war viel leichter, als Tiffany erwartet hatte. Es kam ihr sogar so vor, als wäre es eigentlich sehr, sehr schwer und sei aus irgendeinem Grund für eine Weile ganz leicht geworden.
Nun lag es auf dem Küchentisch, von Erde und Kohl gereinigt. Tiffany fand, dass es irgendwie lebendig aussah. Es fühlte sich warm an und schien leicht zu beben, wenn man es berührte.
»Nach Buchfink«, sagte Tiffany mit der bei einem Bild der Sommerfrau aufgeschlagenen Mythologie auf dem Schoß, »schuf der Gott Blinder Io das Cornucopia aus dem Hörn der magischen Ziege Almeg, um damit seine beiden Kinder von der Göttin Bisonomie zu ernähren, die später von Epidity, Gott aller kartoffelförmigen Dinge, in einen Austernschauer verwandelt wurde, weil sie einen Maulwurf nach dem Schatten von Resonata, Göttin der Wiesel, geworfen und sie damit beleidigt hatte. Es ist jetzt das Hoheitszeichen der Sommerfrau.«
»Ich bin immer der Ansicht gewesen, dass so etwas damals viel zu häufig passierte«, kommentierte Oma Wetterwachs.
Die Hexen betrachteten das Objekt. Es sah tatsächlich ein wenig wie ein Ziegenhorn aus, war aber ein ganzes Stück größer.
»Wie funktioniert es?«, fragte Nanny Ogg. Sie steckte den Kopf hinein und rief: »Hallo!« Diverse Hallos kamen zurück und hallten für eine ganze Weile wider, als wären sie weiter gereist, als man annehmen sollte.
»Für mich sieht es wie eine große Muschel aus«, lautete die Meinung von Oma Wetterwachs. Das Kätzchen Du tapste um das Riesending herum und schnüffelte etwas geziert daran. (Greebo verbarg sich hinter den Stieltöpfen im obersten Regal. Tiffany hatte nachgesehen.)
»Ich glaube, nur die Wenigsten wissen, dass ein anderer Name dafür Füllhorn lautet«, sagte Oma Wetterwachs. »Ein Hörn?«, fragte Nanny. »Kann man Musik damit machen?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Tiffany. »Da sind... äh... Dinge drin.«
»Was für Dinge?«, fragte Oma Wetterwachs.
»Äh, eigentlich... alles«, antwortete Tiffany. »Alles, was wächst.«
Sie zeigte ihnen das Bild im Buch. Alle möglichen Früchte, Gemüse und Getreide quollen aus der großen Öffnung des Füllhorns.
»Hauptsächlich Obst«, stellte Nanny fest. »Kaum Möhren, aber ich schätze, die stecken im spitzen Ende. Dort passen sie besser rein.«
»Typisch Künstler«, sagte Oma Wetterwachs. »Zeigt nur den eindrucksvollen Kram. Ist sich zu fein, eine anständige Kartoffel zu malen!« Vorwurfsvoll tippte sie auf das Bild. »Und was ist mit diesen Putten? Die gehören doch nicht ebenfalls dazu, oder? Ich habe keine Lust, hier Babys herumfliegen zu sehen!«
»Sie tauchen auf vielen alten Gemälden auf«, sagte Nanny Ogg. »Die Maler fügten sie hinzu, um zu zeigen, dass es sich um Kunst handelt und nicht nur um Bilder von leicht bekleideten Frauen.«
»Nun, mir machen sie nichts vor«, sagte Oma Wetterwachs.
Nanny Ogg ging um den Tisch herum. »Nur zu, Tiff, versuch's mal.«
»Ich weiß nicht, wie!«, sagte Tiffany. »Es gibt keine Bedienungsanleitung!«
Und dann, zu spät, rief Oma: »Du! Komm da raus!«
Mit einem kurzen Schwanzzucken verschwand das weiße Kätzchen im Füllhorn.
Sie klopften ans Hörn. Sie hielten es mit der Öffnung nach unten und schüttelten es. Sie riefen hinein. Sie stellten eine Untertasse mit Milch davor auf und warteten. Doch die kleine Katze kehrte nicht zurück. Dann nahm Nanny Ogg einen Mopp und stocherte damit vorsichtig im Füllhorn herum. Niemand war besonders überrascht, dass der Mopp weiter hineinreichte, als das Cornucopia lang war.
»Bestimmt kommt sie heraus, wenn sie Hunger kriegt«, versuchte Nanny die Anwesenden zu beruhigen.
»Nicht, wenn sie dort drin was zu fressen findet«, erwiderte Oma Wetterwachs und spähte in die Dunkelheit.
»Ich glaube nicht, dass sie Katzenfutter findet«, sagte Tiffany, während sie aufmerksam das Bild betrachtete. »Aber vielleicht Milch.«
»Du! Komm da raus, und zwar sofort!«, befahl Oma Wetterwachs mit einer Stimme, die Berge erzittern lassen konnte.
Ein »Miep« ertönte in der Ferne.
»Vielleicht sitzt sie fest«, vermutete Nanny. »Ich meine, es ist eine Spirale, die am Ende immer enger wird, nicht wahr? Katzen können nicht besonders gut rückwärts gehen.«
Tiffany bemerkte Omas Gesichtsausdruck und seufzte.
»Kleine blaue Männer?«, sagte sie in die Runde. »Ich weiß, dass einige von euch da sind. Bitte zeigt euch!« Größte kamen hinter jedem Ziergegenstand zum Vorschein. Tiffany klopfte aufs Füllhorn.
»Könnt ihr eine kleine Katze aus dem Ding holen?«, fragte sie.
»Das is' alles? Oh, null Problemo«, sagte Rob Irgendwer. »Ich hatte mir was Schweres erhofft!«
Die Wir-sind-die-Größten liefen ins Hörn hinein. Ihre Stimmen verklangen. Die Hexen warteten.
Sie warteten noch etwas länger.
Und noch etwas länger.
»Größte!«, rief Tiffany in die Öffnung. Sie glaubte, ganz leise ein fernes »Potzblitz!« zu hören.
»Wenn das Hörn Getreide hervorbringen kann, haben sie da drin vielleicht Bier gefunden«, sagte Tiffany. »Und das würde bedeuten, dass sie erst herauskommen, wenn das Bier alle ist!«
»Katzen trinken kein Bier!«, schnappte Oma Wetterwachs.
»Nun, ich hab das Warten satt«, sagte Nanny. »Seht nur, da ist ein kleines Loch am Ende. Ich werd mal hineinblasen!«
Zumindest versuchte sie es. Ihre Wangen blähten sich auf und wurden rot, und die Augen traten aus den Höhlen, und es war klar: Wenn Nanny Ogg nicht irgendwann einen Ton aus dem Ding bekam, würde sie platzen. In diesem Moment gab das Füllhorn klein bei. In dunkler Tiefe erklang ein eindeutig spiralförmiges Brummen, das lauter und lauter wurde.
»Ich sehe noch nichts«, sagte Oma, während sie in den Schlund des Füllhorns blickte.
Tiffany zog sie gerade noch rechtzeitig zur Seite, als Du mit buschigem Schwanz und angelegten Ohren aus dem Hörn galoppiert kam. Sie schlitterte über den Tisch, sprang auf das Kleid von Oma Wetterwachs, kletterte ihr auf die Schulter, drehte sich dort und fauchte trotzig.
Mit einem vielstimmigen »Pooooootzblitz!« strömten kleine blaue Männer aus dem Hörn.
»Alle hinters Sofa!«, rief Nanny. »Schnell!«
Das Brummen wurde zu einem Donnern. Es schwoll immer mehr an und...
... verstummte.
In der folgenden Stille tauchten drei spitze Hüte hinter dem Sofa auf. Kleine blaue Gesichter erschienen hinter fast jedem Gegenstand.
Dann ertönte etwas, das so ähnlich wie Pwätt! klang, und etwas Kleines und Schrumpeliges rollte aus der Öffnung des Horns und fiel zu Boden. Es war eine sehr vertrocknete Ananas.
Oma Wetterwachs klopfte sich den Staub vom Kleid.
»Du solltest besser lernen, damit umzugehen«, wandte sie sich an Tiffany.
»Wie?«
»Hast du denn gar keine Idee?«
»Nein!«
»Nun, das Füllhorn ist deinetwegen hier, junge Dame, und es ist gefährlich!«
Tiffany hob das Füllhorn vorsichtig hoch und hatte dabei erneut das deutliche Gefühl, dass es ein immens schweres Objekt war, das sich mit großem Erfolg leicht machte.
»Vielleicht braucht man ein Zauberwort«, spekulierte Nanny Ogg. »Oder es gibt irgendwo einen Knopf, den man drücken muss...«
Als Tiffany das Hörn im Licht drehte, glänzte etwas für einen Moment auf.
»Augenblick, da steht irgendwas drauf«, sagte sie und las: n'ANTA Ü'O'Y EinG'EIZ, XAn'IZQ E'IO 'ENA 'ONOMA
Alles, was du wünschst, gebe ich dir auf einen Namen hin, murmelte das Gedächtnis von Professor Hetzig.
In der nächsten Zeile hieß es: MEIAAQNQ 2Y2-TEAAOMI Ich wachse, ich schrumpfe, übersetzte Professor Hetzig.
»Ich glaube, ich habe da eine Idee«, sagte Tiffany und fügte in Erinnerung an Fräulein Verrat hinzu: »SchinkenSandwich! Mit Senf!«
Nichts geschah.
Dann übersetzte Professor Hetzig träge, und Tiffany sagte: »Em oaviomtc; xovAaAJtov u.e (lotrtaoöi!«
Mit einem Flapp! kam ein Schinken-Sandwich aus dem Füllhorn gesegelt. Nanny Ogg fing es geschickt auf und biss hinein.
»Gar nicht mal schlecht!«, verkündete sie. »Probier mal, noch ein paar zu machen.«
»öoooe [iO[i noXka oaviavixt, xajiJtanj!«, sagte Tiffany, und es erklang ein Geräusch, als würde man eine Höhle voller Fledermäuse stören.
»Halt!«, rief sie, aber es nützte nichts. Dann flüsterte Professor Hetzig etwas, und sie rief: »Mnv JteoioaoteQO öavxoüLxg TCOVAaAJtov!«
Es kamen viele Schinken-Sandwiches - der Haufen reichte bis zur Decke. Nur die Spitze von Nanny Oggs spitzem Hut war noch zu sehen, und weiter unten ertönten erstickte Geräusche.
Ein Arm wurde nach draußen gestoßen, und Nanny Ogg
bahnte sich nachdenklich kauend einen Weg durch die Wand aus Brot und in Scheiben geschnittenem Schwein. »Kein Senf, wie ich feststelle«, sagte sie. »Hmm. Nun, wenigstens können wir dafür sorgen, dass heute alle ein ordentliches Abendessen bekommen. Und wie ich sehe, werde ich ziemlich viel Suppe kochen müssen. Wir sollten es allerdings nicht noch mal hier drinnen ausprobieren, nicht wahr?«
»Mir gefällt das ganz und gar nicht«, polterte Oma Wetterwachs. »Woher kommt all der Kram, hm? Magisches Essen macht nie richtig satt!«
»Das ist nichts Magisches, sondern etwas Göttliches«, sagte Nanny Ogg. »Vom Himmel geschickt. Vermutlich bestehen die Leckereien aus rohem Firmament.«
Es ist nur eine gegenständliche Metapher für die grenzenlose Fruchtbarkeit der Natur, flüsterte Professor Hetzig in Tiffanys Kopf.
»Der Himmel schickt nichts«, sagte Oma Wetterwachs.
»In diesem Fall schon. Das Hörn ist ganz klar vom Himmel gefallen.« Nanny wandte sich an Tiffany. »An deiner Stelle würde ich es morgen in den Wald tragen und herausfinden, was es alles kann. Andererseits... Ich könnte gerade ein paar frische Weintrauben gebrauchen, wenn du gestattest.«
»Gytha Ogg, du kannst das Füllhorn der Götter doch nicht als... als Speisekammer benutzen!«, sagte Oma. »Das mit den Füßen war schon schlimm genug!«
»Aber es ist eine Art Speisekammer«, erwiderte Nanny Ogg unschuldig. »Es ist die Speisekammer. Das Hörn enthält all die Dinge, die darauf warten, im nächsten Frühling aus der Erde zu sprießen.«
Tiffany legte das Füllhorn behutsam auf den Tisch. Es hatte etwas... Lebendiges. Sie war ganz und gar nicht sicher, ob es nur ein magisches Werkzeug war. Es schien zu lauschen.
Als es den Tisch berührte, begann es zu schrumpfen, bis es nur noch so groß war wie eine kleine Vase. »Tschuldigung?«, ließ sich Rob Irgendwer vernehmen. »Macht es auch Bier?«
»Bier?«, fragte Tiffany, ohne nachzudenken.
Ein Gluckern war zu hören. Alle Blicke richteten sich auf die Vase. Eine braune Flüssigkeit schäumte über den Rand.
Dann richteten sich all die Blicke auf Oma Wetterwachs, die mit den Schultern zuckte.
»Seht mich nicht an«, sagte sie mürrisch. »Ihr trinkt es ohnehin.«
Das Hörn ist tatsächlich lebendig, dachte Tiffany, als Nanny Ogg forteilte, um mehr Becher zu holen. Es hat meine Sprache gelernt...
Gegen Mitternacht erwachte Tiffany, weil ein weißes Huhn auf ihrer Brust stand. Sie schob es beiseite und tastete nach den Pantoffeln, fand aber nur weitere Hühner. Als sie die Kerze angezündet hatte, sah sie ein halbes Dutzend Hühner am Ende des Bettes. Überall auf dem Boden hockten Hühner. Und auf der Treppe. Die Zimmer unten waren ebenfalls voller Hühner. In der Küche quollen sie sogar bis in die Spüle.
Sie waren ziemlich leise und machten nur gelegentlich »gack«, wie Hühner es tun, wenn sie sich unsicher fühlen, was so gut wie immer der Fall ist.
Die Hühner trippelten ohne zu murren beiseite, um Platz zu machen. »Gack.« Das taten sie, weil das Füllhorn -jetzt etwas größer als ein voll ausgewachsenes Huhn - alle acht Sekunden ein Huhn hervorbrachte. »Gack.«
Tiffany beobachtete, wie ein weiteres auf dem Berg aus Schinken-Sandwiches landete. »Gack.«
Du saß oben auf dem Füllhorn fest und machte ein sehr verdutztes Gesicht. »Gack.« Und in der Mitte des Zimmers schnarchte Oma Wetterwachs leise in einem großen Lehnsessel, umgeben von neugierigen Hennen. »Gack.« Abgesehen von dem Schnarchen, dem vielstimmigen »Gack« und dem Trippeln der Hühner wirkte im Kerzenschein alles sehr friedlich. »Gack.«
Tiffany funkelte die kleine weiße Katze böse an. Sie rieb sich an Dingen, wenn sie gefüttert werden wollte, nicht wahr? »Gack.« Und sie maunzte. »Gack.« Und das Füllhorn konnte Sprachen entschlüsseln. »Gack.«
»Schluss mit den Hühnern«, flüsterte Tiffany, und nach einigen Sekunden versiegte der Hühnerstrom. »Gack.« Aber sie konnte nicht einfach alles so lassen, wie es war. Vorsichtig schüttelte sie Oma an der Schulter, und als die alte Hexe erwachte, sagte sie: »Die gute Nachricht lautet: Ein Großteil der Schinken-Sandwiches ist weg... äh...«
»Gack.«