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12. Der Hecht

 

Überall in der Ebene erzählte man sich von merkwürdigen Dingen. Zum Beispiel von dem Ruderboot, das dem Alten gehörte, der in einer Hütte beim Wasserfall lebte. Es ruderte aus eigener Kraft so schnell davon, erzählten sich die Leute, dass es wie eine Libelle übers Wasser flog - doch es saß niemand drin. Man fand es bei Zweihemden angebunden, wo der Fluss unter der Kutschenstraße hindurchfloss. Doch dann rollte die Nachtkutsche, die vor dem Gasthaus stand, von ganz allein los, ohne die Postsäcke. Der Kutscher lieh sich ein Pferd, um sie zu verfolgen, und er fand sie im Schatten des Kreidelands. Alle Türen standen offen, und ein Ross fehlte.

Das Pferd kehrte einige Tage später in Begleitung eines gut gekleideten jungen Mannes zurück, der meinte, er hätte es gefunden, als es hilflos umherirrte. Erstaunlicherweise war es gut genährt und gepflegt.

Sehr, sehr dick - das war die beste Beschreibung für die Mauern des Schlosses. Nachts gab es keine Wachen, denn um acht Uhr abends schlössen sie ab und gingen heim. Stattdessen war dann der Alte Robbins da, der einst als Wachmann gearbeitet hatte und jetzt der offizielle Nachtwächter war, aber alle wussten, dass er spätestens um neun vor dem Kaminfeuer einschlief. Er besaß eine alte Trompete, in die er blasen musste, falls es zu einem Angriff kam, obgleich niemand wusste, was das nützen sollte.

Roland schlief im Reiherturm, denn zu ihm führte eine lange Treppe hoch, und die Tanten stiegen nur ungern lange Treppen hoch. Auch waren die Wände dort sehr, sehr dick, und das war auch ganz gut so, denn um elf Uhr hielt jemand eine Trompete an Rolands Ohr und blies kräftig hinein.

Er sprang aus dem Bett, verhedderte sich in der Daunendecke, rutschte auf die Matte, die den kalten Steinboden bedeckte, stieß mit dem Kopf an einen Schrank und schaffte es beim dritten verzweifelten Versuch, mit dem Streichholz eine Kerze anzuzünden.

Auf dem kleinen Tisch neben dem Bett stand ein großer Blasebalg, und an einem Ende steckte die Trompete des Alten Robbins. Das Zimmer war leer, abgesehen von den Schatten.

»Ich habe ein Schwert, damit das klar ist«, sagte Roland. »Und ich weiß, wie man damit umgeht!«

»Ach, du bis' doch schon tot«, erklang eine Stimme von der Decke. »Man hat dich in deinem Bett in klitzekleine Stück gehauen, während du wie'n Schwein geschnarcht hast. He, nur 'n kleiner Scherz. Keiner von uns will dir

was zuleide tun.« Es folgte hektisches Flüstern in der Dunkelheit bei den Dachsparren, und dann fügte die Stimme hinzu: »Kleine Korrektur: Die meisten von uns wollen dir nichts zuleide tun. Aber mach dir keine Sorgen wegen dem Großen Yan, der mag fast niemanden.«

»Wer seid ihr?«

»He, da haste irgendwas falsch mitgekriegt, Freundchen«, sagte die Stimme im Plauderton. »Ich bin hier oben un' schwer bewaffnet, weißte, und du bis' da unten in deinem kleinen Nachthemd un' gibst ein prächtiges Ziel ab, un' trotzdem glaubst du, du könntest hier die Fragen stellen. Du verstehst also zu kämpfen, wie?«

»Ja!«

»Du bis' also bereit, für die große kleine Hexe gegen Ungeheuer zu kämpfen, ja?«

»Die große kleine Hexe?«

»Du kennst sie als Tiffany.«

»Meinst du Tiffany Weh? Was ist mit ihr passiert?«

»Bis' du bereit, wenn sie dich braucht?«

»Ja! Natürlich! Wer bist du?«

»Und du verstehst zu kämpfen?«

»Ich habe Das Handbuch der Fechtkunst ganz durchgelesen!«

Nach einigen Sekunden sagte die Stimme aus dem Schatten: »Oh, ich fürchte, es gibt da einen kleinen Schwachpunkt in diesem Plan...«

Auf der anderen Seite des Schlosshofes befand sich eine Waffenkammer. Sie war nicht sehr groß und enthielt eine Rüstung, deren Einzelteile alle nicht zusammenpassten, einige Schwerter, eine Streitaxt, die so schwer war, dass niemand sie je hatte anheben können, und ein Kettenhemd, über das sich offenbar besonders kräftige Motten hergemacht hatten. Hinzu kamen einige Holzpuppen auf dicken Metallfedern für Schwertübungen, und die kleinen blauen Männer beobachteten, wie Roland eine davon mit großem Enthusiasmus angriff.

»Na ja«, brummte der Große Yan niedergeschlagen, während Roland umhersprang. »Wenn er es nur mit Holzstücken zu tun bekommt, die sich nicht wehren, kommt er vielleicht zurecht.«

»Er is' willens«, sagte Rob Irgendwer, als Roland den Fuß gegen die Holzpuppe stemmte und versuchte, die Schwertspitze herauszuziehen.

»Oh, ja.« Der Große Yan wirkte bedrückt.

»Er legt ganz schön los, das musst du zugeben«, sagte Rob.

Es gelang Roland, das Schwert aus der Holzpuppe zu befreien, doch die sprang auf ihrer uralten Feder zurück und traf ihn am Kopf.

Der Junge blinzelte kurz und sah auf die Größten hinab. Er erinnerte sich an sie aus der Zeit, als er vor der Feenkönigin gerettet worden war. Wer den Wir-sind-die-Größten begegnete, vergaß sie nie wieder, so sehr er es auch versuchte. Aber es war alles sehr verschwommen. Er war die meiste Zeit halb verrückt oder bewusstlos gewesen, und es waren so viele seltsame Dinge passiert, dass er nicht mehr wusste, was zur Realität gehörte und was nicht.

Jetzt wusste er: Die kleinen blauen Männer existierten tatsächlich. Wer würde sich so etwas ausdenken? Na schön, unter ihnen befand sich ein Käse, der von ganz allein umherwanderte, aber niemand ist vollkommen. »Was soll ich machen, Herr Irgendwer?«, fragte Roland.

Davor hatte Rob Irgendwer ein wenig Angst gehabt. Worte wie »Unterwelt« konnten falsche Vorstellungen wecken.

»Du sollst eine... Frau retten«, sagte er. »Nich' die große kleine Hexe. Eine andere... Frau. Wir bringen dich dorthin, wo sie wartet. Es is' ein... unterirdischer Ort, weißt du. Sie... schläft, sozusagen. Un' du sollst sie nur an die Oberfläche bringen, mehr nich'.«

»Oh, du meinst wie Orpheo, der Euniphon aus der Unterwelt rettete?«, fragte Roland.

Rob Irgendwer starrte ihn groß an.

»Das ist ein Mythos aus Ephebe«, fuhr Roland fort. »Angeblich handelt es sich um eine Liebesgeschichte, aber in Wirklichkeit ist es eine Metapher für die Rückkehr des Sommers. Von der Geschichte gibt es viele Versionen.«

Alle Größten glotzten ihn an. Die Blicke der kleinen blauen Männer können sehr beunruhigend sein. In dieser Hinsicht sind sie noch schlimmer als Hühner.

»Eine Metapher ist eine Art Lüge, die den Leuten helfen soll, die Wahrheit zu verstehen«, erklärte Billy Breitkinn, was jedoch nicht sehr viel half.

»Und er befreite sie, indem er wundervolle Musik machte«, fügte Roland hinzu. »Ich glaube, er spielte auf einer Laute. Oder vielleicht war es eine Leier.«

»Oh, das passt uns gut«, sagte der Doofe Wullie. »Wir mögen es, wenn's laut und leierig zugeht.«

»Ich habe Musikinstrumente gemeint«, sagte Billy Breitkinn. Er sah zu Roland auf. »Kannst du eins spielen?« »Meine Tanten haben ein Klavier«, erwiderte Roland zweifelnd. »Aber ich kriege echte Schwierigkeiten, wenn

damit was passiert. Dann reißen sie die Mauern ein.«

»Also Schwerter«, sagte Rob Irgendwer widerstrebend. »Hast du jemals gegen einen richtigen Menschen gekämpft?«

»Nein. Ich wollte mit den Wächtern üben, aber meine Tanten haben es ihnen nicht erlaubt.«

»Aber du hast schon mal ein Schwert benutzt?«

Roland schaute verlegen drein. »Nicht in letzter Zeit. Nicht in dem Sinne. Äh... eigentlich gar nicht. Meine Tanten meinen...«

»Wie übst du dann?«, fragte Rob entsetzt.

»Oh, in meinem Zimmer hängt ein großer Spiegel, weißt du, und ich übe... indem...« Roland unterbrach sich, als er die Gesichter der Größten sah. »Tut mit leid«, sagte er. »Ich glaube, ich bin nicht derjenige, den ihr sucht...« »Oh, das würde ich nich' sagen«, entgegnete Rob Irgendwer matt. »Der Hexe aller Hexen zufolge biste genau der Richtige. Du brauchst nur jemanden, gegen den du kämpfen kannst...«

Der stets misstrauische Große Yan sah Rob an und folgte seinem Blick zu der verbeulten Rüstung.

»Ach nee«, knurrte er. »Diesmal werde ich auf keinen Fall ein Knie sein!«

Der nächste Tag war ein guter Tag, bis er sich zu einem einzigen Klumpen des Schreckens zusammenballte. Tiffany stand früh auf und machte Feuer. Als ihre Mutter nach unten kam, schrubbte sie gerade hingebungsvoll den Küchenboden.

»Äh... solltest du das nicht mit Magie machen, Schatz?«, fragte ihre Mutter, die nie richtig verstanden hatte, worum es bei Hexerei ging.

»Nein, Mama, das sollte ich eben nicht«, erwiderte Tiffany und schrubbte weiter.

»Aber kannst du nicht einfach winken und den Schmutz dadurch verschwinden lassen?«

»Das Problem besteht darin, der Magie klarzumachen, was Schmutz ist«, sagte Tiffany, während sie heftig einen Fleck bearbeitete. »Ich habe von einer Hexe in Eskrau gehört, die etwas falsch gemacht hat und dadurch den ganzen Fußboden, ihre Sandalen und fast einen Zeh verlor.«

Frau Weh schreckte zurück. »Ich dachte, eine Hexe fuchtelt einfach nur mit den Händen herum«, murmelte sie nervös.

»Das funktioniert«, erwiderte Tiffany. »Aber nur, wenn man mit einer Scheuerbürste auf dem Boden herumfuchtelt.«

Als sie mit dem Küchenboden fertig war, machte Tiffany unter der Spüle sauber. Sie öffnete alle Schränke, räumte sie aus, säuberte sie und stellte anschließend wieder alles hinein. Sie reinigte den Tisch, drehte ihn dann um und putzte auch die Unterseite. Sie wusch sogar die Tischbeine, auch an der Stelle, die auf dem Boden ruhte. Frau Weh nahm das zum Anlass, zu gehen und sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, denn hier ging es ganz offensichtlich um mehr als nur um gute Hausarbeit.

Sie irrte sich. Wie Oma Wetterwachs einmal gesagt hatte: Wenn man mit dem Kopf in der Luft herumlaufen will, muss man beide Beine fest auf dem Boden haben. Dielen schrubben, Holz hacken, Kleidung waschen, Käse machen - diese Dinge erdeten einen und zeigten einem, was real war. Man konnte einen kleinen Teil von seinem Bewusstsein darauf konzentrieren, und dadurch fanden die Gedanken Zeit, sich zu ordnen und zur Ruhe zu kommen.

War sie hier vor dem Winterschmied sicher? War das Hier vor dem Winterschmied sicher?

Früher oder später würde sie ihm wieder begegnen, einem Schneemann, der sich für einen Menschen hielt, mit der Macht einer Lawine. Magie konnte ihn nur eine Zeit lang aufhalten, und sie machte ihn zornig. Gewöhnliche Waffen kommen nichts gegen ihn ausrichten, und Tiffany besaß nur wenige außergewöhnliche.

Annagramma war voller Zorn auf ihn losgegangen! Tiffany wünschte sich, ebenso zornig sein zu können. Sie nahm sich vor, sie irgendwann aufzusuchen und ihr zu danken. Wenigstens brauchte sie sich in Hinsicht auf Annagramma keine Sorgen mehr zu machen. Die Leute hatten gesehen, wie sie sich in ein kreischendes, grünhäutiges Ungeheuer verwandelte. Eine solche Hexe konnten sie respektieren. Und wenn man Respekt bekam, hatte man alles.

Bevor es dunkel wurde, musste sie versuchen, Roland zu treffen. Sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte, aber das war in Ordnung, denn ihm würde es genauso gehen. Sie konnten ganze Nachmittage zusammen verbringen, ohne zu wissen, was sie sagen sollten. Vermutlich war er gerade im Schloss. Während Tiffany unter einem Stuhl sauber machte, fragte sie sich, womit er gerade beschäftigt war.

Es hämmerte an die Tür der Waffenkammer. Das konnten nur die Tanten sein. Die Tür bestand aus vier Schichten Eichenholz und Eisen, aber sie hämmerten trotzdem drauflos.

»Wir werden diese Aufsässigkeit nicht länger hinnehmen!«, sagte Tante Danuta. Auf der anderen Seite der Tür krachte es. »Kämpfst du da drin mit jemandem?«

»Nein, ich komponiere eine Flötensonate!«, rief Roland. Etwas Schweres rammte gegen die Tür.

Tante Danuta warf sich ins Kreuz. Vom Erscheinungsbild her ähnelte sie Fräulein Tick, aber sie hatte die Augen eines Menschen, der ewig beleidigt war, und ihr Mund verriet, dass sie an allem etwas zu mäkeln hatte.

»Wenn du nicht gehorchst, sage ich alles deinem Vater...«, begann sie und verstummte, als die Tür aufgerissen wurde.

Roland hatte eine Schnittwunde am Arm, sein Gesicht war rot, Schweiß tropfte ihm vom Kinn, und er keuchte. Mit zitternder Hand hob er sein Schwert. Hinter ihm, auf der anderen Seite des grauen Raums, stand die alte, sehr verbeulte Rüstung. Sie drehte den Helm, um die Tanten anzusehen. Ein quietschendes Geräusch erklang dabei.

»Wenn ihr meinen Vater zu stören wagt«, sagte Roland, während die Tanten die Rüstung anstarrten, »erzähle ich ihm von dem Geld, das in der großen Truhe in der Schatzkammer fehlt. Streitet es nicht ab!«

Für einen Moment - durch ein Blinzeln hätte man ihn verpasst - malte sich Schuldbewusstsein in Tante Danutas Gesicht, aber es verschwand sofort wieder. »Wie kannst du es wagen! Deine liebe Mutter...«

»Ist tot!«, rief Roland und knallte die Tür zu.

Das Visier des Helms wurde nach oben geschoben, und ein halbes Dutzend Größte spähte nach draußen. »Potzblitz, was für grässliche alte Schachteln«, kommentierte der Große Yan.

»Meine Tanten«, sagte Roland finster. »Und das mit den Schachteln stimmt. Sie versuchen dauernd, sie mit Dingen zu füllen, die anderen Leuten gehören.« In Rolands Augen blitzte es. »Sollen wir es noch einmal versuchen? Ich glaube, ich habe allmählich den Dreh raus.«

Protestierendes Gemurmel kam aus allen Teilen der Rüstung, aber Rob Irgendwer übertönte die Stimmen.

»In Ordnung!«, sagte er. »Wir geben dem Jungen noch eine Chance! Alle auf ihre Posten!«

Es klirrte und klapperte, und Flüche erklangen, während die kleinen blauen Männer in der Rüstung umherkletterten, die sich einige Sekunden später aufrichtete. Sie nahm ein Schwert und wankte Roland entgegen, der die gedämpften Befehle in ihrem Innern hörte.

Das Schwert sauste durch die Luft, aber er wehrte den Hieb mit einer raschen Bewegung ab, holte mit seiner Klinge aus und schlug die Rüstung mit einem lauten Scheppern entzwei, das im ganzen Schloss widerhallte.

Der obere Teil fiel gegen die Wand. Der untere wackelte nur, blieb aber stehen.

Nach einigen Sekunden schoben sich langsam lauter kleine Köpfe aus der eisernen Hose.

»War das so richtig?«, fragte Roland. »Seid ihr alle... äh... ganz?«

Ein rasches Durchzählen ergab, dass es tatsächlich keine halben Größten gab, aber es mangelte nicht an blauen Flecken, und der Doofe Wullie hatte seine Gürteltasche verloren. Viele kleine blaue Männer wankten im Kreis umher und schlugen sich mit den Händen auf die Ohren. Das Scheppern war sehr laut gewesen.

»Nich' schlecht, diesmal«, sagte Rob Irgendwer vage. »Du scheinst verstanden zu ham, worauf es beim Kampf ankommt.«

»Es war eindeutig besser, nicht wahr?«, erwiderte Roland stolz. »Soll ich es noch einmal versuchen?«

»Nein! Ich meine... nein«, sagte Rob. »Nein, ich schätze, es reicht für heute, hm?«

Roland sah zum kleinen vergitterten Fenster oben in der Mauer hoch. »Ja, ich gehe jetzt besser zu meinem Vater«, sagte er, und das Leuchten verschwand aus seinem Gesicht. »Es ist schon eine ganze Weile nach Mittag. Er vergisst, wer ich bin, wenn ich ihn nicht jeden Tag besuche.«

Als der Junge fort war, sahen sich die Größten an.

»Der Bursche hat kein leichtes Leben nich'«, sagte Rob Irgendwer.

»Du musst zugeben, dass er besser wird«, sagte Billy Breitkinn.

»Oh, ja, ich gebe zu, dass er kein solcher Trottel is', wie ich dachte, aber das Schwert is' viel zu schwer für ihn, und es dauert bestimmt Wochen, ihm alles beizubringen«, erwiderte der Große Yan. »Haben wir so viel Zeit, Rob?«

Rob Irgendwer zuckte mit den Schultern. »Wer weiß?«, antwortete er. »Er wird der Held sein, komme, was wolle. Die große kleine Hexe wird bald dem Winterschmied begegnen. Dagegen kann sie nich' ankämpfen. Es is', wie die Hexe der Hexen sagt: Gegen eine so alte Geschichte kann man nichts ausrichten. Sie wird einen Weg finden.« Er wölbte die Hände vorm Mund. »Kommt, Jungs, heimwärts! Heute Abend kommen wir wieder her. Vielleicht können wir in einem Rutsch 'nen Helden aus ihm machen.«

Tiffanys kleiner Bruder war groß genug, um sich zu wünschen, noch größer zu sein, und das ist gefährlich auf einer Farm, auf der reger Betrieb herrscht, auf der es Pferde mit großen Hufen, desinfizierende Schafbäder und hundertundeins andere Orte gibt, wo ein kleiner Mensch zu spät bemerkt werden könnte. Aber vor allem mochte er Wasser. Wenn man ihn nicht finden konnte, war er meistens unten am Fluss und angelte. Er liebte den Fluss -eigentlich erstaunlich, wenn man bedachte, dass einmal ein großes grünes Ungeheuer daraus aufgetaucht war, um ihn zu fressen. Doch Tiffany hatte ihm eine eiserne Bratpfanne über den Schädel gezogen. Da er damals Süßigkeiten gegessen hatte, lautete später sein einziger Kommentar: »Tiffy hat Fisch hau bang.« Doch der Junge schien zu einem fähigen Angler heranzuwachsen. Auch an diesem Nachmittag angelte er. Er hatte herausgefunden, woran man erkannte, wo sich die Ungeheuer verbargen. Ein ziemlich großer Hecht lauerte in tiefen, dunklen Löchern und dachte träge, hungrige Gedanken, bis ihm Willwolls silberner

Köder fast ins Maul fiel.

Als Tiffany losging, um ihn nach Hause zu rufen, begegnete sie ihm schon auf dem Weg. Er wirkte ziemlich mitgenommen und trug einen Fisch auf den Armen, der mindestens halb so viel wie er zu wiegen schien.

»Es ist der Große!«, rief Willwoll, als er seine Schwester sah. »Der Alte Abe hat vermutet, dass er unter der umgestürzten Weide steckt. Er meinte, um diese Jahreszeit schnappen sie nach allem! Er hätte mich fast in den Fluss gezogen! Wiegt bestimmt dreißig Pfund!«

Eher zwanzig, dachte Tiffany, aber Fische kommen dem, der sie gefangen hat, immer schwerer vor.

»Bravo«, sagte sie. »Aber komm jetzt, sonst gefriert er in der Kälte.«

»Kann ich ihn zum Abendessen haben? Es hat eine Ewigkeit gedauert, ihn ins Netz zu bekommen! Er wiegt mindestens fünfunddreißig Pfund!«, sagte Willwoll, der unter dem Gewicht ins Taumeln geriet. Tiffany bot sich nicht an, ihm beim Tragen zu helfen. Das wäre eine Beleidigung gewesen.

»Nein, er muss gesäubert und einen Tag eingeweicht werden, und Mama hat für heute Abend Eintopf vorbereitet. Ich brate ihn morgen für dich, mit Ingwersoße.«

»Und es gibt genug für alle«, freute sich Willwoll, »denn er wiegt mindestens vierzig Pfund!«

»Mindestens«, sagte Tiffany.

An jenem Abend, nachdem der Hecht von allen gebührend bewundert und festgestellt worden war, dass er dreiundzwanzig Pfund wog - wobei Tiffanys Hand der Waage ein wenig nachhalf-, ging sie in die Spülküche und säuberte ihn, was eine freundliche Umschreibung dafür war, alles herauszunehmen oder abzuschneiden, was man besser nicht essen sollte - also eigentlich den ganzen Fisch, wenn es nach Tiffany gegangen wäre. Sie mochte Hecht nicht besonders, aber eine Hexe sollte nie die Nase rümpfen, wenn es um Essen ging, erst recht nicht, wenn es kostenlos war. Und eine gute Sauce würde dafür sorgen, dass er weniger nach Hecht schmeckte. Als sie die Innereien in den Schweineeimer gab, sah sie etwas silbern glitzern. Nun, man konnte es Willwoll eigentlich nicht verdenken, dass er zu aufgeregt gewesen war, den Köder herauszuziehen.

Tiffany bückte sich und griff danach. Es war voller Schleim und Schuppen, aber sie erkannte das silberne Pferd sofort wieder.

Eigentlich hätte Donner grollen müssen. Aber sie hörte nur Willwoll im Nebenzimmer, wie er zum zehnten Mal vom heroischen Fang des Monsterfisches erzählte. Wind hätte fauchen müssen, aber die Kerzen flackerten nur ein wenig in der Zugluft.

Doch der Winterschmied wusste, dass sie das silberne Pferd berührt hatte. Tiffany spürte seine Überraschung.

Sie ging zur Tür. Als sie sie öffnete, fielen einige Schneeflocken, doch als wären sie erfreut darüber, ein Publikum zu haben, begann es plötzlich, stärker zu schneien. Mit nichts als einem leisen Zischen wurde die Nacht weiß. Tiffany fing einige Flocken auf und inspizierte sie. Kleine Tiffanys aus Eis schmolzen in ihrer Hand.

O ja. Er hatte sie gefunden.

In ihrem Kopf wurde es kalt, aber ihre Gedanken rotierten kristallklar.

Sie konnte ein Pferd nehmen... Nein, in einer solchen Nacht würde sie nicht weit kommen. Sie hätte den Besen behalten sollen!

Sie hätte nicht tanzen dürfen.

Es gab keinen Ort, zu dem sie fliehen konnte. Sie musste dem Winterschmied erneut gegenübertreten, und zwar hier, und ihn endgültig aufhalten. In den Bergen mit ihren dunklen Wäldern war ein endloser Winter kaum vorstellbar. Hier war es leichter, und weil es leichter war, war es schlimmer, denn der Winterschmied brachte den Winter in ihr Herz. Tiffany spürte schon, wie es kälter wurde.

Der Schnee lag nach so kurzer Zeit bereits einige Zentimeter hoch. Tiffany war zuerst die Tochter eines Schäfers und dann Hexe, und in diesem Augenblick an diesem Ort gab es Dringenderes zu tun.

Sie trat in die goldene Wärme und das Licht der Küche und sagte: »Wir müssen uns um die Herde kümmern, Vater.«