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4. Schneeflocken

 

Es heißt, dass keine zwei Schneeflocken einander genau gleichen, aber hat das jemand in letzter Zeit mal überprüft?

Schnee fiel sachte aus der Dunkelheit. Er sammelte sich auf Dächern, küsste sich einen Weg durch das Geäst der Bäume und blieb mit leisem Zischen und einem scharfen, metallischen Geruch auf dem Boden liegen.

Oma Wetterwachs sah sich den Schnee immer genau an. Sie stand vom Kerzenschein umströmt in der Tür ihrer Hütte und fing mit der Rückseite einer Schaufel Flocken auf.

Die kleine weiße Katze beobachtete die Schneeflocken. Mehr nicht. Sie schlug nicht mit der Pfote danach, sondern beobachtete nur mit großer Aufmerksamkeit, wie jede einzelne Flocke herabschwebte und auf dem Boden liegen blieb. Dann betrachtete sie sie noch etwas länger, bis sie sicher sein konnte, dass es nicht Unterhaltsames mehr zu gucken gab, hob den Kopf und suchte sich eine neue Flocke aus.

Die Katze hieß Du!, wie in »Du! Hör auf damit!« und »Du! Komm da herunter!«. Was Namen anging, war Oma Wetterwachs nicht besonders fantasievoll.

Oma betrachtete die Schneeflocken und lächelte auf ihre nicht unbedingt freundliche Art.

»Komm herein, Du«, sagte sie und schloss die Tür.

Fräulein Tick saß fröstelnd am Feuer. Es war nicht sehr groß, sondern gerade groß genug. Der Geruch von Speck und Erbsen stieg von einem kleinen Topf auf der glühenden Asche auf, und daneben stand ein viel größerer Topf, aus dem es nach Hühnchen duftete. Fräulein Tick bekam nicht oft Hühnchen, und deshalb hoffte sie inständig, etwas davon abzukriegen.

Es muss gesagt werden, dass sich Oma Wetterwachs und Fräulein Tick nicht sonderlich mochten. Ältere Hexen waren sich oft unsympathisch. Man merkte es daran, dass sie die ganze Zeit über betont höflich waren.

»Der Schnee kommt früh in diesem Jahr, Frau Wetterwachs«, sagte Fräulein Tick.

»In der Tat, Fräulein Tick«, erwiderte Oma Wetterwachs. »Und er ist... interessant. Hast du ihn dir angesehen?« »Ich kenne Schnee, Frau Wetterwachs«, sagte Fräulein Tick. »Es hat den ganzen Weg bis hierher geschneit. Ich musste helfen, die Postkutsche anzuschieben! Mir hängt der Schnee zum Hals heraus! Aber was wollen wir in Hinsicht auf Tiffany Weh unternehmen?«

»Nichts, Fräulein Tick. Noch etwas Tee?« »Wir sind für sie verantwortlich.«

»Nein. Sie ist in erster Linie für sich selbst verantwortlich. Sie ist eine Hexe. Sie hat den Wintertanz getanzt. Ich habe sie dabei gesehen.«

»Das hat sie bestimmt nicht mit Absicht gemacht«, sagte Fräulein Tick.

»Wie kann man unabsichtlich tanzen?«

»Sie ist jung. Ihre Gefühle sind vermutlich mit ihr durchgegangen. Sie hatte keine Ahnung, was da vor sich ging.«

»Dann hätte sie es herausfinden sollen«, sagte Oma Wetterwachs. »Sie hätte auf mich hören müssen.«

»Du bist bestimmt immer gehorsam gewesen, als du dreizehn warst, Frau Wetterwachs«, sagte Fräulein Tick mit einem Hauch Sarkasmus.

Oma Wetterwachs starrte einige Sekunden an die Wand. »Nein«, erwiderte sie. »Ich habe Fehler gemacht. Aber ich habe nicht versucht, sie zu rechtfertigen.«

»Ich dachte, du wolltest dem Kind helfen?«

»Ich habe ihr geholfen, sich selbst zu helfen. Das ist meine Art. Sie hat sich in die älteste Geschichte der Welt getanzt, und der einzige Ausweg befindet sich am anderen Ende. Der einzige Ausweg, Fräulein Tick.«

Fräulein Tick seufzte. Geschichten, dachte sie. Oma Wetterwachs glaubt, die Welt dreht sich nur um Geschichten. Na schön, jeder von uns hat seinen Tick. Nur ich nicht.

»Natürlich. Aber sie ist... so normal«, sagte sie laut. »Wenn man berücksichtigt, was sie schon geleistet hat, meine ich. Und sie denkt so viel nach. Und jetzt ist der Winterschmied auf sie aufmerksam geworden...«

»Sie fasziniert ihn«, sagte Oma Wetterwachs.

»Das wird noch zu einem großen Problem.«

»Das sie lösen muss.«

»Und wenn sie es nicht lösen kann?«

»Dann ist sie nicht Tiffany Weh«, sagte Oma Wetterwachs mit fester Stimme. »Ja, sie ist jetzt mitten in der Geschichte, sie weiß es nur noch nicht! Sieh dir den Schnee an, Fräulein Tick. Es heißt, keine zwei Schneeflocken würden einander gleichen. Wieso behaupten die Leute so etwas?

Die halten sich wohl für sehr schlau! Mir war immer klar, dass sie sich irren, und jetzt habe ich den Beweis dafür! Geh nach draußen und schau dir den Schnee an, Fräulein Tick! Alle Flocken sehen gleich aus!«

Tiffany hörte ein Klopfen und öffnete mit einiger Mühe das kleine Schlafzimmerfenster. Weicher, flauschiger Schnee hatte sich auf dem Fensterbrett angesammelt.

»Wir wollten dich nich' wecken«, sagte Rob Irgendwer, »aber der Kleine Billy meinte, du solltest dir das ansehen.«

Tiffany gähnte. »Was soll ich mir ansehen?«, murmelte sie.

»Fang ein paar Flocken auf«, sagte Rob. »Nein, nich' mit der Hand, dann schmelzen sie zu schnell.«

Tiffany tastete im Dunkeln nach ihrem Tagebuch. Es war nicht da. Sie sah auf dem Boden nach, ob sie es herunter gestoßen hatte. Rob Irgendwer entzündete ein Streichholz und steckte damit eine Kerze an, und dort lag das Tagebuch, als hätte es immer dort gelegen. Allerdings bemerkte Tiffany, dass es verdächtig kalt war. Rob gab sich unschuldig, ein sicherer Hinweis auf seine Schuld.

Tiffany sparte sich die Fragen für später auf und hielt das Tagebuch aus dem Fenster. Einige Flocken blieben darauf lie gen, und sie betrachtete sie aus der Nähe.

»Das sind ganz normale...«, begann Tiffany. Dann stockte sie und sagte: »O nein... das muss ein Trick sein!« »Ach ja? Nun, so kann man es auch nennen«, sagte Rob. »Aber es is' sein Trick!«

Im Schein der Kerze starrte Tiffany auf die Flocken.

Jede einzelne war Tiffany Weh. Eine kleine, gefrorene, funkelnde Tiffany Weh.

Unten lachte Fräulein Verrat.

Jemand rüttelte wütend am Türknauf des Turmschlafzimmers. Roland de Chumsfanleigh (»Schufflei« ausgesprochen; er konnte nichts dafür) schenkte dem Geräusch ganz bewusst keine Beachtung.

»Was machst du da drin, Kind?«, fragte entnervt eine gedämpfte Stimme.

»Nichts, Tante Danuta«, sagte Roland, ohne sich vom Schreibtisch abzuwenden. Einer der Vorteile, in einem Schloss zu leben, bestand darin, dass man sich leicht in einem Zimmer verbarrikadieren konnte. Die Tür hatte drei eiserne Schlösser und zwei Riegel so dick wie Rolands Arm.

»Dein Vater ruft nach dir!«, erklang eine andere, noch entnervtere Stimme.

»Er flüstert, Tante Araminta«, erwiderte Roland ruhig und schrieb sorgfältig eine Adresse auf einen Umschlag. »Er ruft nur - und zwar um Hilfe -, wenn du die Ärzte auf ihn loslässt.«

»Es ist doch nur zu seinem Besten!« »Aber er ruft um Hilfe«, sagte Roland und klebte den Umschlag zu.

Tante Araminta rüttelte erneut am Türknauf. »Du bist ein sehr undankbares Kind! Du wirst noch verhungern, wart's nur ab! Wir rufen die Wachen und lassen die Tür von ihnen aufbrechen!«

Roland seufzte. Das Schloss war von Leuten erbaut worden, die etwas dagegen hatten, sich ihre Türen aufbrechen zu lassen. Wer das versuchen wollte, musste den Rammbock eine schmale Wendeltreppe hochtragen,

ohne ihn oben drehen zu können, und dann stand er vor dem Problem, eine vier Bretter dicke Tür einschlagen zu müssen, die aus so altem Eichenholz bestand, dass es hart wie Eisen geworden war. Ein Mann konnte dieses Zimmer monatelang verteidigen, wenn er genug Proviant hatte.

Roland hörte draußen noch ein leises Grummeln und dann das Klacken von Schuhen, als seine Tanten die Turmtreppe hinuntergingen. Unten schrien sie mal wieder die Wachen an.

Es nützte ihnen nichts. Feldwebel Roberts und seine Wachen* nahmen nicht gern Befehle von den Tanten entgegen. Alle wussten: Wenn der Baron starb, bevor der Junge einundzwanzig war, wurden die Tanten so lange zu den rechtmäßigen Herrscherinnen über das Anwesen. Und so krank der Baron auch sein mochte, noch lebte er. Es war kein Vergnügen, ein ungehorsamer Wachmann zu sein, aber der Feldwebel und seine Männer überlebten den Zorn der Tanten, indem sie, sofern es die Befehle rechtfertigten, taub, dumm, vergesslich, verwirrt, krank, orientierungslos oder, in Kevins Fall, Ausländer waren.

Derzeit beschränkte Roland seine Ausflüge auf die Zeit nach Mitternacht, wenn alle schliefen und er die Küche plündern konnte. Dann besuchte er auch seinen Vater. Die Ärzte stellten den Alten mit irgendetwas ruhig, aber Roland hielt ihm eine Zeit lang die Hand, in der Hoffnung, dass es ihm ein wenig Trost spendete. Wenn er Gläser mit Wespen und Blutegeln fand, warf er sie in den Schlossgraben.

Er blickte auf den Briefumschlag hinab. Vielleicht sollte er Tiffany davon erzählen, aber er dachte nicht gern daran. Es würde sie beunruhigen, und vielleicht versuchte sie dann wieder, ihn zu retten, und das wäre nicht richtig. Mit dieser Sache musste er allein fertig werden. Schließlich war er ja nicht eingesperrt. Die Tanten waren ausgesperrt. Solange er den Turm verteidigen konnte, gab es zumindest einen Ort, den sie nicht durchsuchen und plündern konnten. Die restlichen silbernen Kerzenleuchter lagen unter seinem Bett, zusammen mit dem, was von dem alten Silberbesteck (»Wir haben es fortgebracht, um den Wert schätzen zu lassen«, behaupteten die Tanten) und dem Schmuckkästchen seiner Mutter übrig war. Das Kästchen hatte er zu spät gefunden: Es fehlten bereits der Hochzeitsring und die Halskette aus Silber und Granat, ein Erbstück von ihrer Großmutter.

Am kommenden Tag wollte Roland früh aufstehen und mit dem Brief nach Zweihemden reiten. Er schrieb gern Briefe. Sie verwandelten die Welt in einen besseren Ort, denn man konnte das Schlechte darin weglassen.

Roland seufzte einmal mehr. Es wäre schön gewesen, Tif-fany zu erzählen, dass er in der Bibliothek ein Buch namens Belagerungen und wie man sie überlebt von dem berühmten General Callus Taktikus (dem Erfinder der »Taktik«, wie interessant) entdeckt hatte. Wer hätte gedacht, dass ein so altes Buch so nützlich sein konnte? Proviant war dem General sehr wichtig gewesen, und deshalb hatte sich Roland jede Menge Dünnbier, Wurst und Zwergenbrot besorgt, das man Leuten auf den Kopf fallen lassen konnte.

Er sah sich im Zimmer um. An der Wand hing ein Porträt seiner Mutter. Er hatte es aus dem Keller geholt, wo sie es zurückgelassen hatten (angeblich wartete es darauf, gereinigt zu werden). Wenn man wusste, wonach es Ausschau zu halten galt, bemerkte man rechts davon eine Stelle an der Wand, die so groß wie eine kleine Tür war und aus etwas helleren Steinen bestand. Der Kerzenleuchter daneben saß ein wenig schief.

Es hatte viele Vorteile, in einem Schloss zu wohnen.

Draußen begann es zu schneien.

Aus dem Dachstroh von Fräulein Verrats Hütte lugten die Wir-sind-die-Größten in die fallenden Schneeflocken hinaus. In dem bisschen Licht, das unten durch die schmutzigen Fenster nach draußen sickerte, beobachteten sie, wie winzige Tiffanys vorbeischwebten.

»Sag es mit Schneeflocken«, sagte der Große Yan. »Ha!«

Der Doofe Wullie fing eine fallende Flocke auf. »Ihr müsst zugeben, dassa den kleinen spitzen Hut richtig gut hingekriegt hat. Offenbar hat er die große kleine Hexe sehr gern...«

»Das ergibt keinen Sinnl«, stieß Rob Irgendwer hervor. »Er is' der Winter! Er is' Schnee un' Eis un'

Schneestürme un' Frost. Und sie is' bloß ein kleines großes Mädchen! Man kann wohl kaum sagen, dass sie ein ideales Paar sin'! Was meinst du, Billy? Billy?«

Der Dudler kaute nachdenklich am Mundstück seiner Mäusedudel und betrachtete geistesabwesend die Flocken. In Gedanken schien er weit weg zu sein, aber Robs Stimme hatte ihn trotzdem erreicht, denn er sagte: »Was weiß der Winterschmied über die Menschen? Er ist nicht einmal so lebendig wie ein kleines Insekt und doch so mächtig wie das Meer. Und er mag die große kleine Hexe. Warum? Was kann sie ihm bedeuten? Was tut er als Nächstes? Ich sag' euch was: Die Schneeflocken sind nur der Anfang. Wir müssen aufpassen, Rob. Dies könnte sehr schlimm werden...«

Oben in den Bergen fielen 990393072007 Tiffany Wehs auf den alten Firnschnee eines Gebirgskamms und lösten eine Lawine aus, die mehr als hundert Bäume und eine Jagdhütte fortriss. Es war nicht Tiffanys Schuld.

Es war nicht ihre Schuld, dass Leute auf festgetrampelten Schichten aus ihr ausrutschten, die Tür nicht öffnen konnten, weil sie sich davor aufstapelte, oder von Bällen aus ihr getroffen wurden, von Kinderhand geworfen. Bis zur Frühstückszeit des nächsten Tages war der größte Teil von ihr geschmolzen, und niemand bemerkte etwas Außergewöhnliches, abgesehen von Hexen, die nicht unbedingt glaubten, was die Leute sagten, und von vielen Kindern, auf die niemand hörte.

Trotzdem war Tiffany das alles äußerst peinlich, als sie erwachte.

Fräulein Verrat war da keine große Hilfe.

»Wenigstens mag er dich«, sagte sie und zog voller Hingabe ihre Uhr auf.

»Davon weiß ich nichts, Fräulein Verrat«, erwiderte Tiffany, denn sie hatte überhaupt keine Lust, darüber zu reden. Sie wusch das Geschirr in der Spüle ab, kehrte der alten Hexe dabei den Rücken zu und war froh, dass diese ihr Gesicht nicht sehen konnte - und umgekehrt.

»Ich frage mich, was dein junger Mann dazu sagen wird.«

»Welchen jungen Mann meinst du, Fräulein Verrat?«, erwiderte Tiffany so gleichgültig wie möglich.

»Er schreibt dir Briefe, Mädchen!«

Und ich schätze, du liest sie mit meinen Augen, dachte Tiffany. »Roland? Er ist nur... eine Art Freund«, sagte sie.

»Eine Art Freund?«

Darauf lasse ich mich nicht ein, dachte Tiffany. Bestimmt grinst sie. Und außerdem geht es sie gar nichts an. »Ja«, sagte sie. »Das stimmt, Fräulein Verrat. Eine Art Freund.«

Eine lange Stille folgte, und Tiffany nutzte sie, um den Boden einer eisernen Bratpfanne sauber zu kratzen.

»Es ist wichtig, Freunde zu haben«, sagte Fräulein Verrat mit einer Stimme, die irgendwie nicht mehr so bestimmt klang wie vorher. Es hörte sich an, als hätte Tiffany gewonnen. »Bitte sei so nett und bring mir meine Wirrwarrtasche, wenn du fertig bist.«

Tiffany holte die Tasche und eilte dann zur Milchkammer. Dort hielt sie sich gern auf - der Raum erinnerte sie an zu Hause, und sie konnte dort besser nachdenken. Sie...

Unten in der Tür klaffte ein käseförmiges Loch, doch Horace befand sich wieder in seinem zerbrochenen Käfig. Er ließ ein leises Mnmnmnmnmn hören, vielleicht ein Käseschnarchen. Tiffany ließ ihn in Ruhe und kümmerte sich um die Morgenmilch.

Wenigstens schneite es nicht. Sie merkte, wie sie errötete, und versuchte, nicht mehr daran zu denken.

Und am Abend fand ein Hexensabbat statt. Ob die anderen Mädchen Bescheid wussten? Ha! Natürlich wussten sie Bescheid. Hexen achteten auf Schnee, insbesondere dann, wenn er jemand anderen in Verlegenheit brachte. »Tiffany?«, rief Fräulein Verrat. »Ich möchte mit dir reden.«

Fräulein Verrat hatte sie kaum jemals Tiffany genannt. Es war seltsam, den Namen aus ihrem Mund zu hören. Fräulein Verrat hielt ein Wirrwarr hoch. Ihre Sehmaus baumelte hilflos inmitten von Knochenstücken und Gummibändern.

»Das kommt mir äußerst ungelegen«, sagte sie und hob die Stimme. »He, ihr Schlingel! Zeigt euch! Ich weiß, dass ihr da seid! Ich kann sehen, wie ihr mich anschaut!«

Hinter fast allen Gegenständen kamen Köpfe kleiner blauer Männer zum Vorschein.

»Gut! Tiffany Weh, setz dich!«

Tiffany setzte sich schnell.

»Und dann noch zu einem solchen Zeitpunkt«, sagte Fräulein Verrat und legte das Wirrwarr hin. »Sehr unpassend. Aber es besteht kein Zweifel.« Sie zögerte kurz und sagte dann: »Übermorgen sterbe ich. Am Freitag, kurz vor halb sieben Uhr morgens.«

Es war eine eindrucksvolle Bemerkung, die die folgende Antwort nicht verdiente: »Oh, wie schade, dass du das Wochenende verpasst«, sagte Rob Irgendwer. »Ist es schön dort, wo du hingehst?«

»Aber... aber... du kannst doch gar nicht sterben!«, entfuhr es Tiffany. »Du bist hundertdreizehn Jahre alt, Fräulein Verrat!«

»Nun, das ist vermutlich der Grund, Kind«, sagte Fräulein Verrat ruhig. »Hat dir niemand gesagt, dass Hexen wissen, wann es für sie so weit ist? Wie dem auch sei, ich mag schöne Beerdigungen.«

»Oh, ja, es geht doch nichts über einen ordentlichen Leichenschmaus«, sagte Rob Irgendwer. »Mit viel Trinken un' Tanzen un' letzten Grüßen un' Schmausen un' Trinken.«

»Vielleicht gibt es etwas süßen Sherry«, sagte Fräulein Verrat. »Was das Schmausen betrifft: Ich bin immer der Meinung gewesen, dass gegen ein Schinkenröllchen nichts einzuwenden ist.«

»Aber du kannst doch nicht einfach so...«, begann Tiffany und verstummte, als Fräulein Verrat ihren Kopf so ruckartig drehte wie ein Huhn.

»Du meinst, ich kann doch nicht einfach so sterben und dich allein lassen?«, fragte sie. »Wolltest du das sagen?« »Ah, nein«, log Tiffany.

»Du musst natürlich bei jemand anderem unterkommen«, sagte Fräulein Verrat. »Du bist noch nicht alt genug für eine eigene Hütte, zumal es größere Mädchen gibt, die auf eine warten...«

»Du weißt doch, dass ich mein Leben nicht in den Bergen verbringen möchte, Fräulein Verrat«, warf Tiffany rasch ein.

»O ja, Fräulein Tick hat mir davon erzählt«, sagte die alte Hexe. »Du möchtest zu deinen kleinen Kreidehügeln zurück.«

»Sie sind nicht klein!«, fauchte Tiffany lauter als beabsichtigt.

»Ja, dies ist für uns alle eine anstrengende Zeit gewesen«, sagte Fräulein Verrat ganz ruhig. »Ich werde einige Briefe schreiben, die du ins Dorf hinunterbringst, und dann kannst du dir den Nachmittag freinehmen. Die Beerdigung findet morgen Nachmittag statt.«

»Wie bitte? Du meinst, bevor du stirbst?«, fragte Tiffany.

»Natürlich! Warum sollte ich mir nicht ein wenig Spaß gönnen?«

»Sehr vernünftig!«, lobte Rob Irgendwer. »Das is' ein wichtiger Aspekt, den die Leute normalerweise übersehen.«

»Wir nennen es eine Abschiedsparty«, verkündete Fräulein Verrat. »Natürlich nur für Hexen. Andere Leute werden dabei ein wenig nervös, verstehe gar nicht warum. Und außerdem haben wir diesen prächtigen Schinken, den uns Herr Armbinder letzte Woche gegeben hat, weil wir das mit dem Eigentum des Kastanienbaums für ihn geregelt haben, und ich würde gern davon probieren.«

Eine Stunde später brach Tiffany auf, die Taschen voller Zettel für Metzger, Bäcker und Bauern in den nahen Dörfern.

Der Empfang, den man ihr bereitete, erstaunte sie ein wenig. Die Leute schienen alles für einen Scherz zu halten. »In ihrem Alter stirbt Fräulein Verrat nicht mehr«, sagte ein Metzger, während er Würstchen abwog. »Ich habe gehört, dass der Tod schon mal zu ihr gekommen ist, und sie hat ihm einfach die Tür vor der Nase zugeknallt!« »Dreizehn Dutzend Würstchen, bitte«, sagte Tiffany. »Servierfertig geliefert.«

»Bist du sicher, dass sie stirbt?«, fragte der Metzger, und Zweifel umwölkten sein Gesicht.

»Nein, aber sie ist sicher«, antwortete Tiffany.

Und der Bäcker sagte: »Weißt du denn nichts von ihrer Uhr? Sie ließ sie anfertigen, als ihr Herz starb. Sie ist eine Art aufziehbares Herz, verstehst du?«

»Wirklich?«, erwiderte Tiffany. »Aber als ihr Herz starb und sie das Uhrenherz anfertigen ließ... wie ist sie denn am Leben geblieben, während der Uhrmacher die Uhr machte?«

»Oh, natürlich durch Magie«, sagte der Bäcker.

»Aber ein Herz pumpt Blut, und Fräulein Verrats Uhr befindet sich außerhalb des Körpers«, meinte Tiffany. »Es gibt keine... Schläuche...«

»Das Blut wird mit Magie gepumpt«, sagte der Bäcker ganz langsam. Er bedachte sie mit einem sonderbaren Blick. »Wie kannst du als Hexe nichts von diesen Dingen wissen?«

So war es überall. Die Vorstellung, dass es kein Fräulein Verrat mehr geben würde, schien niemandem in den Kopf zu wollen. Sie war 113 Jahre alt, und alle meinten, man habe noch nie davon gehört, dass jemand in diesem Alter starb. Das müsse ein Witz sein, oder sie habe irgendwo ein mit ihrem eigenen Blut unterschriebenes Dokument, in dem stand, dass sie ewig leben würde. Oder sie könne nur sterben, wenn man ihr die Uhr stahl. Oder sie nenne dem Sensenmann, immer wenn er zu ihr kam, einen falschen Namen oder schicke ihn zu jemand anderem. Oder vielleicht ginge es ihr einfach gerade nicht so gut...

Als Tiffany alles erledigt hatte, fragte sie sich, ob es wirklich passieren würde. Aber Fräulein Verrat war so sicher gewesen. Und mit 113 ist das Erstaunliche ja nicht, dass man morgen stirbt, sondern dass man heute noch lebt.

Den Kopf voller düsterer Gedanken machte sich Tiffany auf den Weg zum Hexensabbat.

Ein- oder zweimal glaubte sie sich von Größten beobachtet. Sie wusste nie, auf welche Weise sie das spürte; es war eine Fähigkeit, die man sich mit der Zeit zulegte. Und man lernte auch, sich damit abzufinden, die meiste Zeit jedenfalls.

Als sie eintraf, waren die anderen jungen Hexen schon da und hatten sogar ein Feuer angezündet.

Manche Leute glauben, dass »Hexensabbat« eine Zusammenkunft von Hexen bedeutet, und so steht es tatsächlich im Wörterbuch. Aber eine bessere Bezeichnung für eine Zusammenkunft von Hexen wäre »Streit«. Wie dem auch sei, die meisten Tiffany bekannten Hexen hatten dieses Wort nie benutzt. Frau Ohrwurm hingegen benutzte es andauernd. Sie war groß und dünn und ziemlich kühl, trug eine silberne Brille an einer langen Kette und verwendete Wörter wie »Avatar« und »Sigille«. Und Annagramma, die den Hexensabbat leitete, weil sie ihn erfunden hatte und außerdem den höchsten Hut und die schärfste Stimme besaß, war ihre beste Schülerin (und auch die einzige).

Oma Wetterwachs bezeichnete das, was Frau Ohrwurm machte, als Zauberermagie im Kleid, und Annagramma schleppte immer viele Bücher und Zauberstäbe zu den Zusammenkünften. Meistens machten die Mädchen, nur damit sie Ruhe gab, bei ein paar Zeremonien mit. Der eigentliche Sinn eines Hexensabbats bestand darin, Freundinnen zu treffen - auch wenn sie nur deshalb als Freundinnen galten, weil sie die Einzigen waren, mit denen man offen reden konnte, denn immerhin hatten sie die gleichen Probleme und verstanden, worüber man klagte.

Sie trafen sich immer im Wald, auch bei Schnee. Hier lag stets genug Holz für ein Feuer herum, und natürlich

zogen sie sich ohnehin alle warm an. Selbst im Sommer mussten sie mehr Schichten Unterwäsche tragen, als man sich vorstellen kann, damit es ihnen auf dem Besen in keiner Höhe zu ungemütlich wurde, und manchmal kamen zwei an den Körper gebundene Wärmflaschen hinzu.

Es kreisten gerade drei kleine, von Annagramma heraufbeschworene Feuerbälle ums Feuer. Man konnte damit Feinde töten, hatte sie gesagt. Sie machten die anderen nervös. Es war Zauberermagie, angeberisch und gefährlich. Hexen zogen es vor, Feinde mit ihren Blicken zu durchbohren. Außerdem, welchen Sinn hatte es, Feinde zu töten? Wie sollten sie dann wissen, dass sie verloren hatten?

Dimity Tumult hatte einen großen Schokoladenkuchen mit üppiger Marzipanfüllung mitgebracht. Genau das Richtige, um ordentlich was auf die Rippen zu bekommen und vor der Kälte geschützt zu sein.

»Fräulein Verrat hat mir mitgeteilt, dass sie Freitagmorgen stirbt«, sagte Tiffany. »Sie meinte, sie weiß es einfach.« »Wie schade«, erwiderte Annagramma in einem nicht sehr bedauernden Tonfall. »Aber sie war sehr alt.« »Das ist sie immer noch«, sagte Tiffany.

»Ahm, das nennt man den Ruf«, sagte Petulia Knorpel. »Alte Hexen wissen, wann sie sterben müssen. Niemand hat eine Ahnung, wie das funktioniert. Sie wissen es einfach.«

»Hat sie noch immer diese Schädel?«, fragte Lucy Warbeck. Sie trug das Haar hoch aufgetürmt, mit einem Messer und einer Gabel drin. »Die konnte ich nicht ausstehen. Ich hab immer das Gefühl gehabt, sie starren mich an!«

»Ich habe sie verlassen, weil sie mich als Spiegel benutzte«, sagte Lulu Liebling. »Macht sie das noch immer?« Tiffany seufzte. »Ja.«

»Ich habe einfach gesagt, dass ich nicht zu ihr wollte«, meinte Gertrude Müdig, während sie das Feuer schürte. »Normalerweise nimmt einen keine andere Hexe auf, wenn man eine von ihnen ohne Erlaubnis verlässt, aber wenn man bei Fräulein Verrat nach nur einer Nacht das Weite sucht, verlieren die übrigen Hexen kein Wort darüber und bringen einen woanders unter. Wusstet ihr das?«

»Frau Ohrwurm meint, Dinge wie Schädel und Raben gehen zu weit«, sagte Annagramma. »Alle in der Gegend sind praktisch außer sich vor Angst!«

»Ahm, was wird aus dir?«, wandte sich Petulia an Tiffany.

»Keine Ahnung. Ich schätze, ich mache woanders weiter.«

»Du Arme«, sagte Annagramma. »Fräulein Verrat hat wohl nicht zufällig erwähnt, wer die Hütte bekommt?«, fügte sie hinzu, als wäre ihr die Frage gerade eingefallen.

Es folgte eine ganz besondere Stille, verursacht von sechs Ohrenpaaren, die so angestrengt lauschten, dass sie geradezu ächzten. Zugegeben, es gab nicht viele aufstrebende junge Hexen, aber Hexen lebten lange, und eine eigene Hütte zu besitzen war ihr großes Ziel. Erst dann wurde man respektiert.

»Nein«, sagte Tiffany.

»Nicht einmal eine Andeutung?«

»Nein.«

»Sie hat doch nicht gesagt, dass du sie bekommst, oder?«, fragte Annagramma scharf. Ihre Stimme konnte einem wirklich auf die Nerven gehen. »Hallo« klang bei ihr wie ein Vorwurf.

»Nein!«

»Du bist ohnehin zu jung.«

»Eigentlich gibt es keine Altersgrenze«, sagte Lucy Warbeck. »Zumindest gibt es nichts Schriftliches darüber.« »Woher willst du das wissen?«, fauchte Annagramma.

»Ich habe die Alte Frau Pumich gefragt«, antwortete Lucy.

Annagrammas Augen verengten sich. »Du hast sie gefragt} Warum?«

Lucy verdrehte die Augen. »Weil ich Bescheid wissen wollte, darum. Meine Güte, alle wissen, dass du die Älteste und... du weißt schon, die am besten Ausgebildete bist. Natürlich bekommst du die Hütte.«

»Ja«, sagte Annagramma und beobachtete Tiffany argwöhnisch. »Natürlich.«

»Dann wäre ja, ahm, alles geklärt«, sagte Petulia lauter als nötig. »Gab es bei euch letzte Nacht auch so viel Schnee? Die Alte Mutter Schwarzkappe meinte, das sei sehr ungewöhnlich.«

Tiffany dachte: Ach du liebe Zeit, jetzt geht's los...

»Bei uns hier oben schneit es oft so früh im Jahr«, sagte Lucy.

»Ich glaube, der Schnee war etwas flauschiger als sonst«, sagte Petulia. »Recht hübsch, wenn man so etwas mag.«

»Es war einfach nur Schnee«, sagte Annagramma. »He, habt ihr gehört, was aus dem neuen Mädchen beim Alten Fräulein Tumult geworden ist? Die ist schon nach einer Stunde schreiend weggelaufen.« Sie lächelte, und es wirkte nicht sehr mitfühlend.

»Ahm, lag es am Frosch?«, fragte Petulia.

»Nein, nicht am Frosch. Der Frosch machte ihr nichts aus. Es lag am Armen Charlie.«

»Der kann einem echt Angst machen«, sagte Lucy.

Und das war's, begriff Tiffany, während immer weiter getratscht wurde. Jemand, der praktisch eine Art Gott war, hatte Milliarden von Schneeflocken nach ihrem Bilde geschaffen - und sie hatten es nicht bemerkt!

... was natürlich ziemlich gut war...

Natürlich. Das Letzte, was sich Tiffany wünschte, waren Spott und dumme Fragen. Ganz klar...

Aber... nun... Es wäre nett gewesen, wenn sie es gewusst und »Donnerwetter!« gesagt hätten, wenn sie neidisch, erschrocken oder beeindruckt gewesen wären. Und sie konnte es ihnen nicht erzählen, oder wenigstens konnte sie es Annagramma nicht sagen, denn sie hätte sich darüber lustig gemacht und ihr unterschwellig unterstellt, sie hätte sich die Geschichte ausgedacht.

Der Winterschmied hatte sie besucht und war... beeindruckt gewesen. Tiffany fand es schade, dass die einzigen Leute, die davon wussten, Fräulein Verrat und hunderte von Größten waren. Und am Freitagmorgen - sie schauderte - würden es nur noch hunderte von kleinen blauen Männern sein.

Um es anders auszudrücken: Wenn sie nicht einer anderen Person davon erzählte, die mindestens ebenso groß war wie sie und lebendig, würde sie platzen.

Deshalb weihte sie auf dem Heimweg Petulia ein. Sie hatten den gleichen Weg und flogen beide so langsam, dass es des Nachts leichter war, zu Fuß zu gehen - dann stieß man nicht gegen so viele Bäume.

Petulia war pummelig und zuverlässig und schon jetzt die beste Schweinehexe in den Bergen, was viel bedeutete in einer Gegend, in der jede Familie Schweine besaß. Und Fräulein Verrat hatte gesagt, dass die Jungs bald hinter ihr her sein würden, denn ein Mädchen, das sich mit Schweinen auskennt, muss nicht lange nach einem Ehemann suchen.

Das einzige Problem bei Petulia bestand darin, dass sie einem immer zustimmte und nur die Dinge sagte, von denen sie glaubte, dass man sie von ihr hören wollte. Doch Tiffany war so fies, ihr nur die Fakten zu erzählen.

Zu ihrer Zufriedenheit erntete sie ein paar »Donnerwetter!«.

Nach einer Weile sagte Petulia: »Das muss sehr, ahm, interessant gewesen sein.« Diese Bemerkung war typisch für sie.

»Was soll ich machen?«

»Äh... musst du denn irgendwas machen?«, fragte Petulia.

»Nun, früher oder später fällt den Leuten bestimmt auf, dass alle Schneeflocken wie ich aussehen!«

»Ahm, befürchtest du etwa, dass sie es nicht bemerken?«, fragte Petulia so unschuldig, dass Tiffany lachen musste.

»Aber ich habe das Gefühl, dass es nicht bei Schneeflocken bleiben wird! Ich meine, er steht für alles, was mit dem Winter zu tun hat!«

»Und er ist weggelaufen, als du geschrien hast...«, sagte Petulia nachdenklich.

»Ja.«

»Und dann hat er etwas... Dummes gemacht.«

»Was denn?«

»Die Schneeflocken«, half Petulia ihr auf die Sprünge.

»Ach, so würde ich das eigentlich nicht nennen«, erwiderte Tiffany ein wenig gekränkt. »Ich meine, dumm ist nicht ganz das richtige Wort.«

»Dann ist alles klar«, erwiderte Petulia. »Er ist ein Junge.«

»Was?«

»Ein Junge«, wiederholte Petulia. »Du weißt doch, wie die sind. Werden rot, grunzen, nuscheln und reden dummes Zeug. Jungs sind alle gleich.«

»Aber er ist mehrere Millionen Jahre alt und verhält sich so, als hätte er noch nie ein Mädchen gesehen!«

»Ahm, ich weiß nicht. Hat er denn schon einmal ein Mädchen gesehen?«

»Bestimmt hat er das!«, erwiderte Tiffany. »Was ist mit dem Sommer? Das ist ein Mädchen. Beziehungsweise eine Frau. Das habe ich jedenfalls mal in einem Buch gesehen.«

»Ich schätze, man kann nur abwarten, was er als Nächstes tut. Entschuldige. Für mich hat noch nie jemand Schneeflocken gemacht... Ah, wir sind da...«

Sie hatten die Lichtung mit Fräulein Verrats Hütte erreicht, und Petulia wirkte ein wenig nervös.

»Ahm... all diese Geschichten über sie...«, sagte sie und schaute dabei zu dem Häuschen hinüber. »Fühlst du dich dort wohl? «

»Geht es in einer Geschichte darum, was sie mit dem Daumennagel anstellen kann?«, fragte Tiffany.

»Ja!«, bestätigte Petulia schaudernd.

»Die hat sie erfunden. Aber verrat es niemandem.«

»Warum sollte jemand eine solche Geschichte über sich erfinden?«

Tiffany zögerte. Bei Schweinen wirkte Boffo nicht, und deshalb hatte es Petulia noch nicht damit zu tun bekommen. Außerdem war sie verblüffend ehrlich, was bei einer Hexe, wie Tiffany inzwischen wusste, von Nachteil sein konnte. Hexen waren nicht im eigentlichen Sinne unehrlich, aber sie achteten darauf, welche Art von Wahrheit sie sagten.

»Das weiß ich nicht«, schwindelte sie. »Außerdem muss man einen ziemlich tiefen, langen Schnitt machen, damit aus einem Menschen etwas herausfällt. Und Haut ist recht robust. Ich halte es nicht für möglich.«

»Hast du es mal versucht?«, fragte Petulia beunruhigt.

»Ich habe es heute Morgen mit meinem Daumennagel an einem großen Schinken ausprobiert, wenn du das meinst«, sagte Tiffany. Man muss Behauptungen überprüfen, dachte sie. Ich habe mal das Gerücht gehört, dass Fräulein Verrat Wolfszähne hat. Die Leute erzählen einander so etwas, obwohl sie die alte Hexe mit eigenen Augen gesehen haben.

»Ahm... morgen komme ich natürlich zum Helfen«, sagte Petulia, wobei sie aus Angst vor weiteren Daumennagel-Experimenten nervös Tiffanys Hände im Auge behielt. »Solche Abschiedspartys können recht lustig sein. Aber, ahm, an deiner Stelle würde ich den Winterschmied fortschicken. Das habe ich jedenfalls mit Davey Lummock gemacht, als er zu, ahm, romantisch wurde. Und ich habe ihm gesagt, ich würde, ahm, mit Makky Weber ausgehen - sag's nicht weiter!«

»Ist das nicht der Junge, der dauernd über Schweine redet?«

»Oh, Schweine sind sehr interessant«, sagte Petulia vorwurfsvoll. »Und sein Vater, ahm, hat die größte Schweinezucht in den Bergen.«

»Das ist zweifellos etwas, über das es nachzudenken lohnt«, erwiderte Tiffany. »Autsch.«

»Was ist?«, fragte Petulia.

»Ach, nichts weiter. Ich hatte da plötzlich so ein Stechen in der Hand.« Tiffany rieb sich die Handfläche.

»Gehört zum Heilungsprozess, nehme ich an. Bis morgen.«

Tiffany betrat die Hütte. Petulia setzte ihren Weg durch den Wald fort.

Aus der Nähe des Daches waren Stimmen zu hören.

»Haste gehört, was das dicke Mädchen gesagt hat?«

»Ja, aber Schweine sin' doch gar nich' so interessant.«

»Ach, ich weiß nich'. Ein sehr nützliches Tier, das Schwein. Man kann jeden Teil davon verwenden, bis auf das Quieken.«

»Da irrst du dich. Auch das Quieken lässt sich verwenden.«

»Sei doch nich' blöd!«

»Doch, im Ernst! Man macht einen Pastetenteig un' man gibt jede Menge Schinken hinein, un' dann fängt man das Quieken ein un' macht die Pastete zu, bevor es herausschlüpfen kann, und ab damit in den Backofen.«

»Von so etwas habe ich nie gehört!«

»Tatsächlich nich'? Dieses Gericht heißt >quiekende Schinkenpastete<.«

»So was gibt es nich'!«

»Warum denn nich'? Manche Speisen machen die komischsten Geräusche, und ein Quieken...«

»Wenn ihr Blödmänner nich' sofort still seid, stecke ich euch in eine Pastete!«, rief Rob Irgendwer. Die Größten grummelten noch ein bisschen vor sich hin und verstummten dann.

Auf der anderen Seite der Lichtung sah der Winterschmied mit violett-grauen Augen zu. Er beobachtete, wie oben im Häuschen eine Kerze angezündet wurde, und behielt sie so lange im Auge, bis der orangefarbene Schein schließlich wieder verlosch.

Dann ging er, noch etwas unsicher auf seinen neuen Beinen, zum Blumenbeet, wo im Sommer Rosen geblüht hatten.

Wenn man Zakzak Starkimarms magisches Fachgeschäft besuchte, sah man dort Kristallkugeln in allen Größen, aber zu mehr oder weniger dem gleichen Preis, und das war ein ganzer Haufen Geld. Da die meisten Hexen und insbesondere die guten nicht viel Geld hatten, benutzten sie andere Dinge, wie zum Beispiel die gläsernen Schwimmer alter Fischnetze oder eine Untertasse mit schwarzer Tinte.

Auf Oma Wetterwachs' Tisch schimmerte jetzt eine kleine Tintenpfütze. Die schwarze Tinte hatte sich eben noch in einer Untertasse befunden, war jedoch übergeschwappt, als Oma Wetterwachs und Fräulein Tick bei dem Versuch, gleichzeitig hineinzusehen, mit den Köpfen zusammengestoßen waren.

»Hast du das gehört?«, fragte Oma Wetterwachs. »Petulia Knorpel hat die große Frage gestellt, und sie hat überhaupt nicht darüber nachgedacht!«

»Ich muss gestehen, dass ich das ebenfalls übersehen habe«, sagte Fräulein Tick. Die kleine weiße Katze namens Du sprang auf den Tisch, lief durch die Tintenlache und sprang dann auf Fräulein Ticks Schoß.

»Lass das, Du«, sagte Oma Wetterwachs ohne großen Nachdruck, und Fräulein Tick blickte auf ihr Kleid hinab.

»Man sieht kaum was«, sagte sie, obwohl sich ganz deutlich vier Pfotenabdrücke abzeichneten. Hexenkleider sind anfangs schwarz, bleichen dann aber zu verschiedenen Grauschattierungen aus, was am häufigen Waschen liegt oder wie bei Fräulein Tick an wiederholten Bädern in Flüssen und Teichen. Nach einer Weile sahen sie auch alt und abgetragen aus, was ihren Eigentümerinnen gefiel. Es bewies, dass man eine richtige Hexe war und keine, die bloß eine Schau abzog. Doch vier schwarze Pfotenabdrücke von einem Kätzchen mitten auf dem Kleid deuteten darauf hin, dass man ein bisschen... zart besaitet war. Sie setzte die kleine Katze auf den Boden, und

sofort lief Du zu Oma Wetterwachs, strich ihr um die Beine und versuchte, noch etwas Hühnchen herbeizumaunzen.

»Was war denn die große Frage?«, fragte Fräulein Tick.

»Unter uns Hexen gesprochen, Perspicazia Tick: Ist der Winterschmied jemals einem Mädchen begegnet?« »Nun«, erwiderte Fräulein Tick, »ich denke, die klassischen Darstellungen des Sommers könnte man als ...« »Aber sind sie sich jemals begegnet}«, fragte Oma Wetterwachs.

»Beim Tanz, nehme ich an«, sagte Fräulein Tick. »Für einen Moment.«

»Und in dem Moment, genau in dem Moment, kommt Tiffany Weh herbeigetanzt«, sagte Oma Wetterwachs. »Eine Hexe, die kein Schwarz trägt, nein, sie bevorzugt Blau und Grün. Wie grünes Gras unter einem blauen Himmel. Die Kraft der Hügel ist immer in ihr. Und sie ist in den Hügeln! Ich spreche hier von Hügeln, die einst lebten, Fräulein Tick! Sie spüren den Rhythmus des Tanzes, und deshalb spürt ihn auch Tiffany in ihren Knochen, auch wenn sie nichts davon weiß. Und das formt ihr Leben, selbst hier! Sie konnte gar nicht anders als mit dem Fuß klopfen! Das Land klopft zum Tanz der Jahreszeiten mit dem Fuß!« »Aber sie...«, begann Fräulein Tick, denn kein Lehrer hört gern lange zu.

»Was ist in jenem Moment geschehen?«, fuhr Oma Wetterwachs fort, ohne sich beirren zu lassen. »Sommer, Winter und Tiffany. Einen Moment lang haben sie miteinander getanzt. Und dann haben sie sich wieder getrennt. Wer weiß, was dabei durcheinander geraten ist! Plötzlich verhält sich der Winterschmied so dumm, als wäre er beinahe... menschlich?«

»Was hat sie da nur angestellt?«, fragte Fräulein Tick.

»Der Tanz, Fräulein Tick. Der Tanz geht nie zu Ende. Und sie kann die Schritte nicht ändern, noch nicht. Für eine Weile muss sie nach seiner Pfeife tanzen.«

»Sie wird in große Gefahr geraten«, sagte Fräulein Tick.

»Sie hat die Kraft der Hügel«, erwiderte Oma Wetterwachs.

»Aber es sind weiche Hügel«, gab Fräulein Tick zu bedenken. »Leicht abzutragen.«

»Doch das Herz des Kreidelands besteht aus Feuerstein, denk daran. Schärfer als jedes Messer.«

»Schnee kann die Hügel bedecken«, sagte Fräulein Tick.

»Nicht für immer.«

»Einmal ist das geschehen«, sagte Fräulein Tick, die die Spielchen satt hatte. »Es hat Jahrtausende gedauert. Eine Eiszeit. Große Tiere wälzten sich damals auf der ganzen Welt niesend im Schnee.«

»Mag sein«, erwiderte Oma Wetterwachs mit einem Glitzern in den Augen. »Ich war damals nicht dabei, denn so alt bin ich nicht. Nun, wir müssen das Mädchen im Auge behalten.«

Fräulein Tick nippte an ihrem Tee. Bei Oma Wetterwachs zu wohnen konnte eine echte Herausforderung sein. Der Hühnchentopf am vergangenen Abend war nicht für sie bestimmt gewesen, sondern für Du. Das Essen der Hexen hatte aus Erbsenbrei und Schinkensuppe ohne - und dies war wichtig - Schinken bestanden. Oma Wetterwachs besaß einen großen, fetten Schinken an einer Schnur. Den hatte sie in die Suppe gehängt, wieder herausgeholt, abgetrocknet und für ein andermal beiseite gelegt. Trotz ihres Hungers war Fräulein Tick beeindruckt. Oma Wetterwachs war ein Muster an Sparsamkeit.

»Wie ich hörte, hat Fräulein Verrat ihren Ruf vernommen«, sagte sie.

»Ja«, bestätigte Oma Wetterwachs. »Die Trauerfeier findet morgen statt.«

»Fräulein Verrat hat sich sehr lange Zeit um die Dorfbewohner gekümmert. Die neue Hexe erwartet eine schwierige Aufgabe«, sagte Fräulein Tick.

»Es wird schwer sein, Fräulein Verrats ... Schau fortzusetzen«, sagte Oma Wetterwachs.

»Die Schau?«, fragte Fräulein Tick.

»Ich meine natürlich ihr Werk«, sagte Oma Wetterwachs.

»Wen gedenkst du an ihre Stelle zu setzen?«, fragte Fräulein Tick, denn sie erfuhr Neuigkeiten gern als Erste. Sie sagte »gedenkst du«, weil sie der Ansicht war, dass es gebildeter klang als ein schlichtes »willst du«.

»Die Entscheidung liegt nicht bei mir, Fräulein Tick«, sagte Oma Wetterwachs scharf. »Es gibt kein Hexenoberhaupt, wie du weißt.«

»Oh, natürlich«, erwiderte Fräulein Tick, die auch wusste: Das Oberhaupt, das die Hexen nicht hatten, war Oma Wetterwachs. »Frau Ohrwurm schlägt bestimmt die junge Annagramma vor, und Frau Ohrwurm hat derzeit recht viel Einfluss. Das liegt vermutlich an den Büchern, die sie schreibt. Bei ihr klingt die Hexerei ziemlich aufregend.«

»Wie du weißt, mag ich keine Hexen, die versuchen, anderen ihren Willen aufzuzwingen«, sagte Oma Wetterwachs.

»In der Tat«, entgegnete Fräulein Tick und versuchte, nicht zu lachen.

»Ich werde allerdings bei den Gesprächen über Fräulein Verrats Nachfolgerin einen Namen fallen lassen«, kündigte Oma Wetterwachs an.

Und zwar ziemlich laut, dachte Fräulein Tick. »Petulia Knorpel hat sich gut entwickelt«, sagte sie. »Könnte zu

einer vielseitigen Hexe werden.«

»Ja, aber ihre Vielseitigkeit betrifft vor allem Schweine«, meinte Oma Wetterwachs. »Ich dachte an Tiffany Weh.«

»Was?«, entfuhr es Fräulein Tick. »Glaubst du nicht, sie hat schon genug am Hals?«

Ein flüchtiges Lächeln glitt über Oma Wetterwachs' Gesicht. »Wie heißt es so schön, Fräulein Tick: Wenn du etwas erledigt haben möchtest, so beauftrage jemanden, der beschäftigt ist! Und die kleine Tiffany wird bald sehr beschäftigt sein«, fügte sie hinzu.

»Warum sagst du das?«, fragte Fräulein Tick.

»Hmm. Nun, ich bin mir nicht sicher, aber es dürfte interessant sein, was mit ihren Füßen passiert...«

In der Nacht vor der Trauerfeier schlief Tiffany kaum. Fräulein Verrats Webstuhl klickte und klackte stundenlang, denn die alte Hexe wollte noch ein paar bereits bestellte Bettlaken fertig bekommen.

Es wurde schon hell, als Tiffany schließlich aufgab und aufstand, in dieser Reihenfolge. Wenigstens konnte sie den Stall ausmisten und die Ziegen melken, bevor sie sich den anderen Aufgaben widmete. Die Nacht hatte Schnee gebracht, und ein bitterkalter Wind wehte ihn über den Boden.

Als sie eine Schubkarre voller Mist zum Komposthaufen brachte, der im grauen Licht vor sich hin dampfte, hörte sie das Klingeln. Es klang ein wenig wie die Windspiele, die Frau Pullunder an ihrer Hütte aufgehängt hatte, doch die waren auf einen für Dämonen unangenehmen Ton gestimmt.

Das leise Klingeln kam von der Stelle, wo im Sommer die Rosen blühten. Schöne, alte Rosen wuchsen dort, mit einem intensiven Duft und so rot, dass sie fast schwarz waren.

Die Rosen blühten jetzt wieder. Aber sie...

»Wiegefallen sie dir, Schafmädchen?«, ertönte eine Stimme. Sie erklang nicht in ihrem Kopf, stammte nicht aus ihren Gedanken, weder den Ersten noch den Zweiten oder Dritten, und Professor Hetzig erwachte nicht vor zehn. Es war ihre eigene Stimme, und sie kam von ihren eigenen Lippen. Aber sie hatte die Worte nicht gedacht und nicht vorgehabt, sie auszusprechen.

Tiffany lief zur Hütte zurück. Auch das war keine bewusste Entscheidung - ihre Beine bewegten sich von ganz allein. Es war nicht unbedingt Furcht; sie verspürte nur den großen Wunsch, an einem anderen Ort zu sein als im Garten, wo die Sonne noch nicht aufgegangen war und der Schnee durch die Luft wirbelte und Eiskristalle so fein wie Nebel versprühte. 

Sie lief durch die Tür der Milchkammer und stieß mit einer dunklen Gestalt zusammen, die »Ahm, Entschuldigung« sagte und deshalb Petulia sein musste. Sie war die Art Mensch, die sich entschuldigte, wenn man ihr auf den Fuß trat. Ihr Anblick war Tiffany mehr als willkommen.

»Entschuldige, man hat mich wegen einer schwierigen Kuh gerufen, und, ahm, es lohnte nicht mehr, zu Bett zu gehen«, sagte Petulia und fügte hinzu: »Ist alles in Ordnung mit dir? Du bist ganz blass!«

»Ich habe eine Stimme aus meinem Mund gehört!«, sagte Tiffany.

Petulia sah sie schief an und wich fast unmerklich einige Zentimeter zurück.

»In deinem Kopf, meinst du?«, fragte sie.

»Nein! Solche Stimmen beunruhigen mich nicht! Mein Mund hat ganz von allein gesprochen! Und sieh dir nur das Blumenbeet an! Du wirst es nicht glauben!«

Im Beet blühten Rosen. Sie bestanden aus so dünnem Eis, dass sie schmolzen, wenn man sie bloß anhauchte, und dann blieben nur ihre toten Stängel zurück. Es waren Dutzende, und sie neigten sich im Wind sanft hin und her.

»Wenn ich meine Hand neben sie halte, bringt ihre Wärme sie schon zum Tropfen«, sagte Petulia. »Glaubst du, dein Winterschmied steckt dahinter?«

»Er ist nicht mein Winterschmied! Und ich kann mir nicht vorstellen, wie sie sonst entstanden sein sollen!«

»Und du glaubst, er, ahm, hat zu dir gesprochen?«, fragte Petulia und pflückte noch eine Rose. Eispartikel so fein wie Zucker rieselten bei jeder Bewegung von ihren Schultern.

»Nein! Ich habe selbst gesprochen! Ich meine, es war meine Stimme! Aber es klang nicht nach ihm... ich meine, seine Stimme klang nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte! Sie klang ein wenig abfällig, so wie Annagramma, wenn sie schlechte Laune hat! Aber es war meine Stimme!«

»Wie sollte er denn deiner Meinung nach klingen?«, fragte Petulia.

Der Wind fauchte über die Lichtung und schüttelte dröhnend die Kiefern durch.

»... Tiffany... sei mein...«

Nach einer kleinen Weile hüstelte Petulia und fragte: »Ahm, habe ich es mir nur eingebildet, oder klang das wie...?«

»Nein, du hast es dir nicht eingebildet«, flüsterte Tiffany und stand ganz still.

»Ah«, sagte Petulia mit einer Stimme, die so klar und spröde war wie eine Rose aus Eis. »Nun, ich glaube, wir sollten jetzt in die Hütte zurückkehren, ja? Ahm, und wir sollten dort alle Feuer anzünden und Tee kochen, okay? Und dann beginnen wir damit, alles vorzubereiten, denn bald kommen ziemlich viele Leute hierher.«

Eine Minute später waren sie in der Hütte, hatten die Türen verriegelt und alle Kerzen angezündet.

Sie sprachen nicht über den Wind oder die Rosen. Welchen Sinn hätte das gehabt? Außerdem wartete Arbeit auf sie. Arbeit, das half. Arbeiten, nachdenken und später reden, nicht jetzt wie erschrockene Gänse schnattern. Es gelang ihnen sogar, eine weitere Schmutzschicht von den Fenstern zu entfernen.

Den ganzen Morgen über kamen Leute aus dem Dorf und brachten die von Fräulein Verrat bestellten Dinge. Sie bevölkerten die ganze Lichtung. Die Sonne stand am Himmel, wenn auch so blass wie ein pochiertes Ei. Die Welt gehörte... der Normalität. Tiffany fragte sich, ob es die Rosen wirklich gegeben hatte. Jetzt existierten sie nicht mehr - die Blütenblätter hatten nicht einmal das schwache Licht der Morgendämmerung überstanden. Und die Stimme... Hatte der Wind gesprochen? Dann begegnete sie Petulias Blick. Ja, es war geschehen. Aber momentan mussten sie sich um das leibliche Wohl der Beerdigungsgäste kümmern.

Die Mädchen hatten bereits mit der Arbeit an den Schinkenröllchen mit drei Sorten Senf begonnen, aber so beliebt Schinkenröllchen auch sein mochten - wenn es für siebzig bis achtzig hungrige Hexen sonst nichts zu essen gab, drohte eine absolute Partykatastrophe. Aus diesem Grund trafen Schubkarren mit Brot, Braten und so großen eingelegten Gurken ein, dass sie wie ertrunkene Wale wirkten. Hexen mögen Eingelegtes sehr gern, aber am liebsten mögen sie kostenloses Essen. Ja, das ist die richtige Kost für eine echte Hexe: jede Menge Essen, für das jemand anders bezahlt, und so viel, dass man sich etwas für später in die Taschen stopfen kann.

Wie sich herausstellte, bezahlte auch Fräulein Verrat nicht für das Essen. Niemand wollte Geld von ihr. Und die Leute wollten auch nicht wieder gehen, sondern warteten an der Hintertür und machten ein besorgtes Gesicht, bis Tiffany das Brote schneiden und -schmieren lange genug unterbrach, dass sie mit ihr reden konnten. Die Gespräche verliefen etwa so:

»Sie stirbt doch nicht wirklich, oder?«

»Doch. Morgen früh gegen halb sieben.«

»Aber sie ist so alt!«

»Ja. Ich glaube, das dürfte der Grund sein.«

»Aber was sollen wir ohne sie machen?«

»Ich weiß nicht. Was habt ihr gemacht, bevor sie hierher kam?«

»Sie war immer hier! Sie weiß alles! Wer sagt uns jetzt, was wir tun sollen?«

Und dann fragten die Leute: »Doch nicht etwa du, oder?« Und sie sahen Tiffany auf eine Weise an, die bedeutete: Hoffentlich nicht. Du trägst nicht einmal ein schwarzes Kleid.

Nach einer Weile hatte Tiffany genug davon und wandte sich mit sehr scharfer Stimme an die nächste Person, eine Frau, die sechs Brathähnchen brachte. »Was ist mit all den Geschichten über den Daumennagel, mit dem sie bösen Menschen den Bauch aufschlitzt?«

»Ah, nun ja, aber das ist niemandem passiert, den wir kannten«, erwiderte die Frau höflich.

»Und der Dämon im Keller?«

»Man spricht über ihn. Natürlich habe ich ihn nie mit eigenen Augen gesehen.« Die Frau bedachte Tiffany mit einem besorgten Blick. »Er ist doch dort unten, oder?«

Du möchtest, dass er dort unten ist, dachte Tiffany. Du wünschst dir tatsächlich ein Ungeheuer im Keller!

Aber soweit Tiffany wusste, war der Keller an diesem Morgen nur voller schnarchender kleiner blauer Männer, die ihren Rausch ausschliefen. Wenn man einen Haufen Größte in einer Wüste aussetzte, fanden sie innerhalb von zwanzig Minuten eine Flasche mit etwas Hochprozentigem.

»Glaub mir, gute Frau: Du würdest das, was sich im Keller befindet, nicht wecken wollen«, sagte Tiffany und fügte ihren Worten ein unheilvolles Lächeln hinzu.

Damit schien die Frau zufrieden zu sein, doch plötzlich machte sie wieder ein besorgtes Gesicht.

»Und die Spinnen?«, fragte sie. »Isst Fräulein Verrat wirklich Spinnen?«

»Es gibt viele Spinnweben in der Hütte«, sagte Tiffany. »Aber ich habe nie eine Spinne gesehen!«

»Ah, verstehe«, erwiderte die Frau so, als wäre ihr ein großes Geheimnis anvertraut worden. »Man kann sagen, was man will: Fräulein Verrat war eine echte Hexe. Sie hat sogar Schädel! Ich nehme an, du musst den Staub von ihnen wischen, nicht wahr? Ha! Sie könnte einem das Auge ausspucken, schneller als man schauen kann!« »Aber das hat sie nie gemacht«, sagte ein Mann, der ein großes Tablett mit Würstchen brachte. »Zumindest bei keinem Einheimischen.«

»Stimmt«, räumte die Frau widerstrebend ein. »In dieser Hinsicht war sie sehr rücksichtsvoll.«

»Ach, Fräulein Verrat war eine echte Hexe vom alten Schlag«, sagte der Würstchenmann. »So mancher Mann hat sich in die Stiefel gepinkelt, wenn er ihre scharfe Zunge zu spüren bekam. Ihr wisst ja, dass sie immer webt, aber wisst ihr auch, dass sie Namen in den Stoff einwebt? Ja, das macht sie! Und wenn man sie belügt, reißt der Faden, und dann fällt man auf der Stelle tot um!«

»Ja, das passiert andauernd«, sagte Tiffany und dachte: Es ist erstaunlich! Boffo hat ein richtiges Eigenleben! »Tja, heutzutage gibt es keine Hexen mehr wie sie«, sagte ein Mann, der vier Dutzend Eier brachte. »Heutzutage geht es ihnen bloß um irgendwelchen Firlefanz und ums Tanzen ohne Schlüpfer.«

Alle sahen Tiffany fragend an.

»Es ist Winter«, sagte sie kühl. »Und ich habe zu tun. Bald treffen die Hexen ein. Herzlichen Dank.«

Beim Eierkochen erzählte sie Petulia davon. Die war keineswegs überrascht.

»Ahm, die Leute sind stolz auf Fräulein Verrat«, sagte sie.

»Beim Schweinemarkt in Lancre habe ich gehört, wie sie mit ihr prahlten.«

»Sie prahlen mit ihr?«

»Ja. So in der Art: Ihr haltet Oma Wetterwachs für abgebrüht? Unsere Hexe hat zwei Schädel! Und einen Dämon im Keller! Sie wird ewig leben, weil sie ein Uhrenherz hat, das sie jeden Tag aufzieht! Und sie isst Spinnen, jawohl! Wie gefallen euch die vergifteten Äpfel, hm?«

Wenn es einmal angefangen hat, funktioniert Boffo ganz von allein, dachte Tiffany. Unser Baron ist mächtiger als eurer, unsere Hexe ist hexiger als eure...