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2. Fräulein Verrat

 

Tiffany Weh fliegt auf einem Besen durch die hundert Meilen entfernten Bergwälder. Es ist ein sehr alter Besen, und sie fliegt dicht über dem Boden. Hinten sind zwei kleinere Besen an ihm befestigt, wie Stützräder, damit er nicht umkippt. Passenderweise gehört er einer sehr alten Hexe namens Fräulein Verrat, die noch schlechter fliegt als Tiffany und 113 Jahre alt ist.

Tiffany ist gut hundert Jahre jünger, etwas größer als noch vor einem Monat und in Hinsicht auf viele Dinge nicht mehr so sicher wie vor einem Jahr.

Sie lernt, eine Hexe zu sein. Hexen tragen für gewöhnlich Schwarz, aber soweit Tiffany das feststellen konnte, taten sie dies nur deshalb, weil sie immer Schwarz getragen hatten. Das reichte ihr als Grund nicht aus, und deshalb trug sie gern Blau oder Grün. Gegen irgendwelches Chichi hatte sie nichts, weil sie so etwas gar nicht kannte.

Der spitze Hut jedoch war ihr Markenzeichen. Ein spitzer Hut hat an sich nichts Magisches, außer dass er seine Trägerin als Hexe ausweist. Einem spitzen Hut schenken die Leute Beachtung.

Trotzdem ist es schwer, Hexe in einem Dorf zu sein, in dem man aufgewachsen ist. Es ist schwer, für Menschen eine Hexe zu sein, die einen als »die Kleine von Joe Weh« kennen und gesehen haben, wie man im Alter von zwei Jahren nur mit einem Hemdchen bekleidet herumgelaufen ist.

Es hatte geholfen, die Heimat zu verlassen. Die meisten Leute, die Tiffany kannte, waren nie weiter als zehn Meilen vom Ort ihrer Geburt entfernt gewesen. Wenn man also in der geheimnisvollen Fremde gewesen war, so wurde man dadurch selbst ein wenig geheimnisvoll. Bei der Rückkehr war man dann irgendwie anders. Eine Hexe musste anders sein.

Wie sich herausstellte, war die Hexerei hauptsächlich harte Arbeit und hatte nur sehr wenig mit heiterem Hokuspokus zu tun. Es gab keine Schule und keinen richtigen Unterricht. Aber es war nicht klug, die Hexerei ganz allein zu lernen, erst recht nicht, wenn man über eine natürliche Begabung verfügte. Wenn man es falsch anpackte, brachte man es in nur einer Woche von Unwissenheit zum Gackeln ...

Eigentlich ging es letztendlich darum, ums Gackeln. Allerdings wurde nie darüber gesprochen. Die Hexen sagten Dinge wie »Man kann nie zu alt, zu dünn oder zu warzig sein«, aber das Gackeln erwähnten sie nie. Jedenfalls nicht direkt. Doch sie hielten ständig danach Ausschau.

Man wurde nur allzu leicht zu einer Gacklerin. Die meisten Hexen lebten allein (eventuell mit Katze) und bekamen manchmal wochenlang keine andere Hexe zu Gesicht. Zu Zeiten, als die Menschen Hexen hassten, war ihnen oft vorgeworfen worden, sie würden mit ihren Katzen reden. Natürlich redeten sie mit ihren Katzen. Nach drei Wochen ohne ein intelligentes Gespräch, bei dem es nicht um Kühe ging, war man sogar bereit, mit einer Wand zu reden. Und das war ein erstes Anzeichen drohenden Gackelns.

Für eine Hexe bedeutete »gackeln« nicht nur schwatzen oder böse kichern. Es bedeutete, dass sich das Bewusstsein von seinem Anker entfernte. Es bedeutete, dass man den Verstand verlor. Es bedeutete, dass Einsamkeit, harte Arbeit, Verantwortung und die Probleme anderer Leute einen Stück für Stück verrückt werden ließen, wobei jedes Stück so klein war, dass man es gar nicht bemerkte, bis man es für normal hielt, sich nicht mehr zu waschen und einen Kessel auf dem Kopf zu tragen. Es bedeutete, dass man sich für etwas Besseres als alle anderen im Dorf hielt, weil man mehr wusste als sie. Es bedeutete, Richtig und Falsch für verhandelbar zu halten. Und es bedeutete schließlich, dass man »ins Dunkel ging«, wie es bei den Hexen hieß. Das war ein übler Weg. Am Ende dieses Weges befanden sich vergiftete Spinnräder und Lebkuchenhäuser.

Der Brauch regelmäßiger Besuche beugte dieser Entwicklung vor. Andauernd besuchten Hexen andere Hexen, und manchmal reisten sie ziemlich weit für eine Tasse Tee und ein Rosinenbrötchen. Zum Teil ging es dabei um Tratsch, denn Hexen liebten es zu tratschen, insbesondere dann, wenn es dabei um aufregendere Dinge als nur um die Wahrheit ging. Aber der eigentliche Sinn bestand darin, sich gegenseitig im Auge zu behalten.

An diesem Tag besuchte Tiffany Oma Wetterwachs, die nach Meinung der meisten Hexen (und auch Omas eigener) die mächtigste Hexe in den Bergen war. Bei diesen Besuchen benahm man sich sehr höflich. Niemand fragte: »Nochkeinen Sprung in der Schüssel?« Niemand antwortete: »Natürlich nicht! Bin total klar!« So etwas war gar nicht nötig. Man wusste, worum es ging, und deshalb sprach man über andere Dinge. Doch wenn Oma Wetterwachs verstimmt war, machte sie es einem ziemlich schwer.

Stumm saß sie in ihrem Schaukelstuhl. Manche Leute können gut reden; Oma Wetterwachs konnte gut schweigen. Sie konnte so still dasitzen, dass sie zu verschwinden schien. Man vergaß, dass sie da war. Der Raum war plötzlich leer.

Das verunsicherte die Leute. Und das sollte es vermutlich. Aber auch Tiffany hatte das Schweigen gelernt, von Oma Weh, ihrer echten Großmutter. Jetzt lernte sie, dass man fast unsichtbar werden konnte, wenn man sich ganz still verhielt.

Oma Wetterwachs war eine Spezialistin auf diesem Gebiet.

Tiffany nannte das insgeheim den Ich-bin-nicht-da-Zauber, falls es wirklich ein Zauber war. Vielleicht, so überlegte sie, hat jeder etwas in sich, das der Welt mitteilt, dass er da ist. Deshalb spürt man manchmal, dass jemand hinter einem steht, obwohl er überhaupt kein Geräusch verursacht hat. Man empfängt sein Ich-bin-da-Signal.

Bei manchen Leuten war es sehr stark, zum Beispiel bei denen, die in Läden zuerst bedient wurden. Oma Wetterwachs' Ich-bin-da-Signal schallte sogar von den Bergen zurück, wenn sie es darauf anlegte. Sobald sie in einen Wald trat, rannten die Wölfe und Bären auf der anderen Seite hinaus.

Sie konnte ihr Signal aber auch abschalten.

Das tat sie jetzt. Tiffany musste sich konzentrieren, um sie zu sehen. Der größte Teil ihres Bewusstseins behauptete, dass Oma Wetterwachs nicht da war.

Es reicht jetzt, dachte sie und hüstelte. Plötzlich war Oma Wetterwachs schon die ganze Zeit dagewesen. »Fräulein Verrat geht es gut«, sagte Tiffany.

»Ein gute Frau«, erwiderte Oma. »O ja.«

»Sie hat komische Angewohnheiten«, sagte Tiffany.

»Niemand ist vollkommen«, entgegnete Oma Wetterwachs »Sie probiert neue Augen aus«, sagte Tiffany.

»Gut.«

»Es sind zwei Raben...«

»Keine schlechte Idee«, kommentierte Oma Wetterwachs.

»Besser als die Maus, die sie normalerweise benutzt«, sagte Tiffany.

»Kann ich mir denken.«

Es ging noch ein bisschen so weiter, bis sich Tiffany darüber ärgerte, dass sie die Einzige war, die das Gespräch am Laufen hielt. Immerhin gab es so etwas wie gute Manieren. Na schön, sie wusste, was es da zu unternehmen galt.

»Frau Ohrwurm hat ein neues Buch geschrieben«, sagte sie.

»Ich habe davon gehört«, erwiderte Oma Wetterwachs. Die Schatten im Zimmer schienen ein wenig dunkler zu werden.

Nun, das erklärte ihre Verdrießlichkeit. Allein der Gedanke an Frau Ohrwurm machte Oma Wetterwachs wütend. Für Oma Wetterwachs war an Frau Ohrwurm alles falsch. Sie war nicht in den Bergen geboren, und allein das kam fast einem Verbrechen gleich. Sie schrieb Bücher, und Oma Wetterwachs traute Büchern nicht. Und Frau Ohrwurm (Oor-wm ausgesprochen, zumindest von Frau Ohrwurm) glaubte an glänzende Zauberstäbe, magische Amulette, mystische Runen und die Macht der Sterne, wohingegen Oma Wetterwachs an Tee, trockene Kekse und morgendliches Waschen mit kaltem Wasser glaubte. Vor allem aber glaubte sie an Oma Wetterwachs.

Frau Ohrwurm war bei den jüngeren Hexen sehr beliebt, denn ihre Art der Hexerei erlaubte ihnen, so viel Schmuck zu tragen, dass sie kaum mehr gehen konnten. Oma Wetterwachs war bei niemandem sehr beliebt...

... es sei denn, man brauchte sie. Wenn der Tod an der Wiege stand oder jemandem im Wald die Axt ausgerutscht war und Blut ins Moos tropfte, dann lief man zu der schiefen alten Hütte auf der Lichtung. Wenn es keine Hoffnung mehr gab, bat man Oma Wetterwachs um Hilfe, denn sie war die Beste.

Und sie kam immer. Immer. Aber war sie deshalb beliebt? Nein. Brauchen ist nicht das Gleiche wie Mögen. Oma Wetterwachs war dafür da, wenn die Dinge ernst wurden.

Aber Tiffany mochte sie auf eine seltsame Art und Weise. Und sie glaubte, dass Oma Wetterwachs sie ebenfalls mochte. Sie erlaubte Tiffany, sie Oma zu nennen, obwohl alle anderen jungen Hexen sie mit Frau Wetterwachs ansprechen mussten. Manchmal glaubte Tiffany, dass Oma Wetterwachs Leute, die freundlich zu ihr waren, auf die Probe stellte, um herauszufinden, wie lange sie freundlich blieben. Bei Oma Wetterwachs war alles ein Test. »Das neue Buch heißt Erste Versuche in Hexerei«, fuhr Tiffany fort und beobachtete die alte Hexe aufmerksam. Oma Wetterwachs lächelte. Anders ausgedrückt: Ihre Mundwinkel rutschten ein wenig nach oben.

»Ha!«, sagte sie. »Ich habe es schon einmal gesagt, und ich sage es wieder: Man kann die Hexerei nicht aus Büchern lernen. Letizia Ohrwurm glaubt, dass man Hexe werden kann, indem man einkaufen geht.« Sie bedachte Tiffany mit einem durchdringenden Blick und schien dabei zu überlegen. Dann fügte sie hinzu: »Ich wette, sie weiß nicht, wie man das hier macht.«

Sie nahm ihre Tasse mit dem heißen Tee und wölbte die Hände darum. Dann löste sie eine Hand davon und ergriff Tiffanys Hand.

»Bist du bereit?«, fragte Oma.

»Wofür...?«, begann Tiffany und fühlte, wie ihre Hand heiß zu werden begann. Die Hitze breitete sich im Arm aus und wärmte ihn bis zum Knochen.

»Spürst du es?«

»Ja!«

Die Wärme ließ wieder nach. Und Oma Wetterwachs drehte die Tasse um, ohne Tiffany aus den Augen zu lassen.

Der Tee fiel als gefrorener Klumpen heraus.

Tiffany war alt genug, nicht zu fragen: »Wie hast du das gemacht?« Oma Wetterwachs beantwortete keine dummen Fragen. Sie beantwortete fast nie Fragen, gleich welcher Art.

»Du hast die Hitze verschoben«, sagte Tiffany. »Du hast die Hitze aus dem Tee genommen und durch dich auf mich übertragen, nicht wahr?«

»Ja, aber ohne selbst etwas davon abzubekommen«, sagte Oma Wetterwachs triumphierend. »Es geht dabei um Gleichgewicht, verstehst du? Gleichgewicht ist der Trick. Bewahre das Gleichgewicht und...« Sie unterbrach sich. »Hast du jemals auf einer Wippe gesessen? Das eine Ende geht nach oben, das andere nach unten. Aber der Punkt in der Mitte, genau in der Mitte, bleibt, wo er ist. Die Aufwärts- und die Abwärtsbewegung gehen durch ihn hindurch, ohne ihn zu beeinflussen. Es spielt keine Rolle, wie weit nach oben oder nach unten die Wippe ausschlägt, er bewahrt immer das Gleichgewicht.« Sie schniefte. »Bei Magie geht es größtenteils darum, Dinge zu verschieben.«

»Kann ich das lernen?«

»Ich denke schon. Es ist nicht schwer, wenn man die richtige Einstellung findet.«

»Kannst du es mich lehren?«

»Das habe ich gerade. Ich habe es dir gezeigt.«

»Nein, Oma, du hast mir gezeigt, wie es geht, aber nicht... wie man es macht.«

»Das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß, wie ich es mache. Bei dir wird es anders sein. Du musst die richtige Einstellung haben.«

»Und wie finde ich die richtige Einstellung?«

»Woher soll ich das wissen? Da musst du schon deinen eigenen Verstand benutzen«, erwiderte Oma Wetterwachs spitz. »Setz noch einmal den Kessel auf, ja? Mein Tee ist kalt geworden.«

Das Ganze hatte fast etwas Boshaftes, aber das war nun mal Omas Art. Sie vertrat den Standpunkt: Wenn man zu lernen imstande war, fand man irgendwann selber heraus, wie etwas funktionierte. Sie hielt es für falsch, anderen Dinge zu erleichtern. Das Leben war nun mal nicht einfach, meinte sie.

»Wie ich sehe, trägst du noch immer diesen Flitterkram«, sagte Oma. Sie mochte keinen Flitterkram, ein Wort, mit dem sie alle metallenen Dinge benannte, die eine Hexe trug, ohne dass sie dazu dienten, etwas zu befestigen oder zu schließen.

Tiffany berührte das silberne Pferd an ihrer Halskette. Es war klein und schlicht und bedeutete ihr viel.

»Ja«, sagte sie ruhig. »Ich trage es noch immer.«

»Was hast du da im Korb?«, fragte Oma, und das war ungewöhnlich unhöflich. Tiffanys Korb stand auf dem Tisch, und natürlich enthielt er ein Geschenk. Jeder wusste, dass man ein kleines Geschenk mitnahm, wenn man zu einem Besuch aufbrach. Aber die besuchte Hexe sollte sich überrascht zeigen, wenn sie es erhielt, und so etwas sagen wie: »Oooh, das wäre doch nicht nötig gewesen.«

»Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte Tiffany, während sie den großen schwarzen Kessel aufs Feuer setzte. »Niemand hat dich gebeten, mir Geschenke zu bringen«, erwiderte Oma streng.

»Ja, mag sein«, sagte Tiffany und beließ es dabei.

Sie hörte, wie Oma hinter ihr den Deckel des Korbs hob. Er enthielt ein Kätzchen.

»Ihre Mutter ist Pinky, die Katze von Witwe Kabel«, sagte Tiffany, um die Stille zu füllen.

»Das wäre nicht nötig gewesen«, knurrte Oma Wetterwachs.

»Das war kein Problem.« Tiffany sah ins Feuer und lächelte.

»Ich kann mich nicht mit Katzen abgeben.«

»Sie wird dafür sorgen, dass sich hier weniger Mäuse herumtreiben«, sagte Tiffany und drehte sich noch immer nicht um.

»Hier gibt es überhaupt keine Mäuse.«

Die finden hier wohl nichts zu fressen, dachte Tiffany. Laut sagte sie: »Frau Ohrwurm hat sechs große schwarze Katzen.« Sie stellte sich das Kätzchen im Korb vor, wie es mit dem traurigen, erschrockenen Blick aller Kätzchen zu Oma aufsah. Du stellst mich auf die Probe und ich dich, dachte Tiffany.

»Ich weiß gar nicht, was ich damit anfangen soll«, sagte Oma Wetterwachs. »Sie muss im Ziegenstall schlafen.« Die meisten Hexen hielten Ziegen.

Das Kätzchen rieb sich an Omas Beinen und machte »Miep«.

Als Tiffany später ging, verabschiedete Oma Wetterwachs sie an der Tür und sperrte das Kätzchen geflissentlich aus.

Tiffany ging über die Lichtung zu der Stelle, wo sie Fräulein Verrats Besen festgebunden hatte.

Aber sie stieg nicht auf, noch nicht. Sie stellte sich vor einen Stechpalmenbusch und wurde ganz still, bis sie nicht mehr vorhanden war, bis alles an ihr sagte: Ich bin nicht da.

Jeder kann im Feuer und in den Wolken Bilder erkennen. Das dreht man einfach um. Man schaltet den Teil von sich selbst ab, der signalisiert, dass man da ist. Man löst sich auf. Dann fällt es Beobachtern schwer, einen zu sehen. Das Gesicht wird zu Blättern und Schatten, der Körper zum Teil eines Baums oder Busches. Das Hirn des Beobachters füllt die Lücken.

Tiffany, die nun wie ein Teil von einem Stechpalmenbusch aussah, behielt die Tür im Auge. Wind kam auf, warm, aber lästig, schüttelte gelbe und rote Blätter vom Bergahorn und wirbelte sie über die Lichtung. Das Kätzchen versuchte, welche davon zu fangen, saß dann da und miaute leise und traurig. Gleich würde Oma Wetterwachs annehmen, dass Tiffany fort war, die Tür öffnen und...

»Wasvergessen?«, ertönte Omas Stimme dicht an ihrem Ohr.

Sie war der Busch.

»Ah... sie ist sehr süß. Ich dachte, dass du sie vielleicht liebgewinnst«, sagte Tiffany, aber sie dachte: Sie könnte hierher gelaufen sein, aber warum habe ich sie dann nicht gesehen? Kann man laufen und sich gleichzeitig verstecken?

»Mach dir keine Gedanken um mich, Mädchen«, sagte die Hexe. »Kehr jetzt zu Fräulein Verrat zurück und richte ihr meine besten Grüße aus. Aber...« Die Stimme wurde ein wenig sanfter. »... du hast dich gut versteckt. Viele Leute hätten dich nicht gesehen. Ich habe kaum deine Haare wachsen gehört!«

Als Tiffanys Besen die Lichtung verlassen und sich Oma Wetterwachs auch noch auf andere Weise vergewissert hatte, dass sie wirklich fort war, trat sie in ihre Hütte, ohne das Kätzchen eines Blickes zu würdigen.

Nach einigen Minuten öffnete sich die Tür einen Spalt breit, aufgestoßen vielleicht vom Wind. Das Kätzchen lief hinein...

Alle Hexen sind ein bisschen seltsam. Tiffany hatte sich so an das Seltsame gewöhnt, dass es ihr normal erschien. Man nehme nur Frau Grad, die zwei Körper hatte, einer davon imaginär. Oder Frau Pullunder, die Rasseregenwürmer züchtete und ihnen allen Namen gab. Nun, sie war eigentlich nicht seltsam, nur ein wenig anders, außerdem waren Regenwürmer recht interessant, auf eine grundsätzlich uninteressante Art und Weise. Und dann das alte Mütterchen Dismass, das an Anfällen zeitlicher Verwirrung litt, was bei einer Hexe sehr sonderbar sein kann. Ihr Mund bewegte sich nie synchron zu den Worten, und manchmal kamen ihre Schritte zehn Minuten vor ihr die Treppe herunter.

Doch in Sachen Seltsamkeit schoss Fräulein Verrat eindeutig den Vogel ab. Und es war ein besonders großer

Vogel, mit vielen bunten Federn.

Wo soll man anfangen, wenn praktisch alles seltsam ist...

Fräulein Eumenides Verrat war mit sechzig Jahren erblindet. Für die meisten Menschen wäre das ein Unglück gewesen, aber Fräulein Verrat beherrschte das Borgen, eine spezielle Hexenfähigkeit. Sie konnte die Augen von Tieren benutzen und entnahm das, was sie sahen, direkt ihrem Gehirn.

Mit fünfundsiebzig war sie taub geworden, aber auch daran hatte sie sich gewöhnt und griff auf all die Ohren zurück, die sie zu fassen kriegte.

Zu Anfang, als Tiffany zu ihr gekommen war, hatte sie eine Maus fürs Sehen und Hören verwendet, denn ihre Dohle war gestorben. Es hatte Tiffany ein wenig irritiert zu sehen, wie die alte Frau mit einer Maus auf der ausgestreckten Hand durch ihr Häuschen ging. Richtig beunruhigend wurde es, wenn man etwas sagte und sich die Maus dann zu einem umdrehte. Es ist erstaunlich, wie unheimlich eine zuckende kleine rosarote Schnauze sein kann.

Die neuen Raben waren viel besser. Jemand aus einem der Dörfer hatte eine Sitzstange angefertigt, die sich die Alte auf die Schultern setzen konnte. Darauf hockten die Raben rechts und links von ihrem Kopf, und in der Mitte leuchtete Fräulein Verrats langes weißes Haar. Es sah sehr, sehr hexisch aus, obgleich am Ende des Tages die Rückseite ihres Mantels recht schmutzig war.

Und dann die Uhr. Sie war schwer und aus rostigem Eisen hergestellt, von jemandem, der mehr Schmied als Uhrmacher war. Deshalb machte sie nicht Ticktack, sondern Klonkklank. Fräulein Verrat trug sie am Gürtel und las die Zeit ab, indem sie die kurzen, dicken Zeiger befühlte.

In den Dörfern erzählte man sich, dass die Uhr Fräulein

Verrats Herz war - angeblich benutzte sie es seit dem Tod ihres ersten Herzens. Aber man erzählte sich viel über Fräulein Verrat.

Man durfte auf Seltsamkeit nicht allzu empfindlich reagieren, wenn man mit Fräulein Verrat zurechtkommen wollte. Die Tradition verlangte, dass junge Hexen umherreisten und bei älteren Hexen wohnten, um von ihnen zu lernen. Als Gegenleistung verpflichteten sie sich zu etwas, das die Hexensucherin Fräulein Tick »ein wenig Hilfe bei der Hausarbeit« nannte. In Wirklichkeit war damit »die ganze Hausarbeit erledigen« gemeint. Die meisten jungen Hexen verließen Fräulein Verrat nach einer Nacht. Tiffany hatte es bislang drei Monate bei ihr ausgehalten.

Oh... und manchmal, wenn sie nach einem Paar Augen zum Sehen suchte, stahl sich Fräulein Verrat einem in den Kopf. Ein sonderbares Prickeln ging damit einher, als sähe einem ein Unsichtbarer über die Schulter.

Ja... in Sachen Seltsamkeit schoss Fräulein Verrat nicht bloß den Vogel ab. Sie holte einen ganzen Schwärm herunter.

Fräulein Verrat saß an ihrem Webstuhl, als Tiffany hereinkam. Zwei Schnäbel wandten sich ihr zu.

»Ach, Kind«, sagte die alte Hexe mit einer dünnen, krächzenden Stimme. »Du hattest einen schönen Tag.«

»Ja, Fräulein Verrat«, erwiderte Tiffany gehorsam.

»Du bist bei der jungen Wetterwachs gewesen, und es geht ihr gut.« Klickklack machte der Webstuhl. Klonkklank machte die Uhr.

»Sehr gut«, sagte Tiffany. Fräulein Verrat stellte keine Fragen. Sie nannte einem die Antworten. Die junge Wetterwachs, dachte Tiffany, als sie mit der Zubereitung des Abendessens begann. Aber Fräulein Verrat war sehr alt.

Und sehr gruselig. Das war eine Tatsache. Es ließ sich nicht leugnen. Ihre Nase war nicht krumm, und sie hatte noch all ihre Zähne, auch wenn sie inzwischen gelb geworden waren, doch abgesehen davon konnte man sie als Bilderbuchhexe bezeichnen. Ihre Knie knackten, wenn sie ging. Und sie ging sehr schnell, mit Hilfe von zwei Stöcken - damit flitzte sie umher wie eine dicke Spinne. Auch das war seltsam. Das kleine Haus war voller Spinnweben, die Tiffany nicht anrühren durfte, aber man sah nie eine Spinne.

Und dann ihr Faible für Schwarz. Die meisten Hexen mochten Schwarz, aber Fräulein Verrat hatte sogar schwarze Ziegen und schwarze Hühner. Die Wände waren schwarz. Der Boden war schwarz. Wenn man ein Stück Lakritz fallen ließ, fand man es nie wieder. Tiffany musste zu ihrem Entsetzen ihren Käse schwarz machen, was bedeutete, ihn mit glänzendem schwarzen Wachs zu bestreichen. Sie machte guten Käse, und das Wachs hielt ihn feucht, aber sie misstraute schwarzem Käse, denn er sah aus, als führte er irgendwas im Schilde. Außerdem schien Fräulein Verrat keinen Schlaf zu brauchen. Nacht und Tag spielten für sie inzwischen kaum mehr eine Rolle. Wenn die Raben schlafen gingen, rief sie eine Eule und webte mit deren Augen weiter. Eine Eule taugte besonders gut dazu, meinte Fräulein Verrat, denn sie folgte mit dem Kopf immer dem Weberschiffchen des Webstuhls. Klickklack machte der Webstuhl. Klonkklank antwortete ihm die Uhr.

Fräulein Verrat mit ihrem wehenden schwarzen Mantel, der Augenbinde und den zerzausten weißen Haaren... Fräulein Verrat mit ihren beiden Stöcken, wie sie in dunkler, kalter Nacht durch Hütte und Garten wanderte und die Erinnerung an Blumen einsog...

Jede Hexe hatte ein besonderes Talent, und Fräulein Verrat kümmerte sich um Gerechtigkeit.

Menschen reisten meilenweit, um ihr ihre Probleme vorzutragen:

Ich weiß, dass es meine Kuh ist, aber er behauptet, sie gehört ihm!

Sie sagt, es sei ihr Land, aber mein Vater hat es mir hinterlassen!

... und Fräulein Verrat saß an dem klickklackenden Webstuhl und wandte all den Ratsuchenden im Zimmer den Rücken zu. Der Webstuhl beunruhigte die Leute. Sie beobachteten ihn, als hätten sie Angst davor, und wurden dabei ihrerseits von den Raben beobachtet.

Stotternd, mit vielen »Ähs« und »Öhs«, trugen sie ihr Anliegen vor, während der Webstuhl im flackernden Kerzenlicht klapperte. O ja... das Kerzenlicht...

Als Kerzenhalter dienten zwei Schädel. In den einen war das Wort ENOCHI, in den anderen ATHOOTITA eingeschnitzt.

Die Worte bedeuteten SCHULD und UNSCHULD. Tiffany wäre es lieber gewesen, sie hätte das nicht gewusst. Ein Mädchen, das im Kreideland aufgewachsen war, konnte so etwas gar nicht wissen, denn die Worte stammten aus einer fremden Sprache, noch dazu einer sehr alten. Der Grund dafür, weshalb sie ihre Bedeutung kannte, hieß Sensibel Hetzig, Dr. m. Phil., B. unh. S., Professor der Magie an der Unsichtbaren Universität. Er befand sich in ihrem Kopf.

Zumindest ein kleiner Teil von ihm.

Im vorletzten Sommer hatte sich ein Schwärmer in ihr eingenistet, ein... Geschöpf, das seit Millionen von Jahren Bewusstseine sammelte. Tiffany hatte es geschafft, ihn aus ihrem Kopf zu vertreiben, aber einige wenige Fragmentewaren in ihrem Gehirn stecken geblieben. Bei einem davon handelte es sich um einen kleinen Egobrocken und ein Knäuel aus Erinnerungen, die Reste des verstorbenen Professor Hetzig. Er bereitete ihr kaum Probleme, aber wenn Tiffany etwas in einer fremden Sprache sah, konnte sie es lesen. Besser gesagt, Professor Hetzigs quäkende Stimme übersetzte es für sie. (Mehr schien nicht von ihm übrig zu sein, aber Tiffany vermied es, sich vor einem Spiegel zu entkleiden.)

Von den Kerzen war Wachs auf die Schädel getropft, und die Leute im Zimmer warfen ihnen immer wieder verstohlene Blicke zu.

Und dann, wenn alles gesagt war, stand der Webstuhl plötzlich still, und Fräulein Verrat drehte sich auf ihrem großen, schweren, mit Rädern ausgestatteten Stuhl um. Sie löste die schwarze Binde von den perlig-grauen Augen und sagte: »Ich habe gehört. Jetzt werde ich sehen. Ich werde sehen, was wahr ist.«

An dieser Stelle, wenn Fräulein Verrat die Leute im Licht der Schädel anstarrte, geschah es häufig, dass jemand die Nerven verlor und die Flucht ergriff. Diese Augen, die das Gesicht eines Menschen nicht sehen konnten, blickten einem irgendwie bis in die Seele. Wenn Fräulein Verrat durch einen hindurchsah, musste man schon sehr, sehr dumm sein, um nicht die Wahrheit zu sagen.

Und daher widersprach nie jemand ihrem Urteil.

Es war Hexen nicht gestattet, sich für ihre Dienste bezahlen zu lassen, aber wer kam, um durch Fräulein Verrat einen Disput klären zu lassen, brachte ihr ein Geschenk mit, meist Lebensmittel, saubere gebrauchte Kleidung, sofern sie schwarz war, oder ein Paar alte Stiefel in ihrer Größe. Wenn das Urteil von Fräulein Verrat gegen einen ausfiel, so war es (das erzählte man sich zumindest) keine gute Idee, das Geschenk zurückzuverlangen, es sei denn, man wollte in etwas Kleines, Klebriges verwandelt werden.

Wenn man Fräulein Verrat belog, so hieß es, würde man innerhalb einer Woche eines schrecklichen Todes sterben. Es hieß weiter, dass Könige und Prinzen einen weiten Weg zurücklegten, um Fräulein Verrat des Nachts zu besuchen und sie in Hinsicht auf wichtige Staatsangelegenheiten um Rat zu fragen. In ihrem Keller lag angeblich ein Haufen Gold, bewacht von einem Dämon mit einer Haut wie Feuer und drei Köpfen, die jeden angriffen, den er sah, und ihm die Nase abbissen.

Tiffany ging davon aus, dass zumindest zwei dieser Vermutungen nicht stimmten. Sie wusste, dass die dritte nicht der Wahrheit entsprach, denn eines Tages war sie (für alle Fälle mit einem Eimer Wasser und einem Schürhaken bewaffnet) in den Keller hinuntergegangen und hatte nur Kartoffel- und Karottenhaufen vorgefunden. Und eine Maus, die sie aufmerksam beobachtete.

Tiffany fürchtete sich nicht besonders. Zum einen existierte der Dämon bestimmt gar nicht, es sei denn, er verstand es gut, sich als Kartoffel zu tarnen. Und zum anderen sah Fräulein Verrat zwar schlimm aus, hörte sich unangenehm an und roch wie ein alter, verschlossener Kleiderschrank, aber sie schien kein schlechter Mensch zu sein.

Eine Hexe musste sich auf den Ersten Blick und die Zweiten Gedanken verlassen: auf den Ersten Blick, um zu erkennen, was wirklich da war, und die Zweiten Gedanken, um die Ersten Gedanken zu beobachten und zu kontrollieren, ob sie richtig dachten. Dann gab es da noch die Dritten Gedanken, die nie erwähnt wurden und über die Tiffany deshalb nicht sprach. Sie waren seltsam, schienen für sich allein zu denken und machten sich nicht oft bemerkbar. Jetzt sagten sie ihr jedoch, dass Fräulein Verrat irgendein Geheimnis hatte.

Und dann stieß Tiffany eines Tages beim Staubwischen den Schädel namens Enochi um...

... und plötzlich wusste sie Dinge über Fräulein Verrat, die diese bestimmt lieber geheim gehalten hätte.

Als sie an diesem Abend Eintopf aßen (mit schwarzen Bohnen), sagte Fräulein Verrat: »Wind kommt auf. Wir müssen bald los. In einer solchen Nacht möchte ich nicht mit dem Besen über die Bäume aufsteigen. Es könnten sich seltsame Wesen herumtreiben.«

»Wir gehen aus?«, fragte Tiffany. Sie gingen abends nie aus; das war der Grund, weshalb ihr die Abende wie hundert Jahre vorkamen.

»Allerdings. In dieser Nacht tanzen sie.«

»Wer?«

»Die Raben werden nicht sehen können, und die Eule wird durcheinander geraten«, fuhr Fräulein Verrat fort. »Deshalb muss ich deine Augen benutzen.«

»Wer tanzt denn, Fräulein Verrat?«, fragte Tiffany. Sie tanzte gern, aber in dieser Gegend schien niemand diese Vorliebe zu teilen.

»Es ist nicht weit, aber ein Unwetter zieht auf.«

Das war es also: Fräulein Verrat wollte ihr keine Auskunft geben. Aber es klang interessant. Außerdem war sie neugierig auf Wesen, die Fräulein Verrat für seltsam hielt.

All das bedeutete natürlich, dass Fräulein Verrat ihren spitzen Hut aufsetzte, und das verabscheute Tiffany. Sie würde sich vor die alte Hexe stellen und sie ansehen müssen, dabei würde sie ein sonderbares Prickeln in den Augen spüren, wenn Fräulein Verrat sie als Spiegel benutzte.

Als sie mit dem Abendessen fertig waren, heulte der Wind bereits wie ein großes, dunkles Tier im Wald. Er riss Tiffany die Tür aus der Hand, als sie sie öffnete, fauchte durchs Zimmer und ließ die Fäden im Webstuhl summen. »Willst du wirklich da raus, Fräulein Verrat?«, fragte Tiffany und versuchte, die Tür wieder zuzudrücken.

»Untersteh dich! Ich muss dem Tanz unbedingt beiwohnen ! Ich habe ihn noch nie verpasst!« Fräulein Verrat wirkte nervös und gereizt. »Wir müssen los! Und du ziehst dir etwas Schwarzes an.«

»Fräulein Verrat, du weißt doch, dass ich kein Schwarz trage«, sagte Tiffany.

»Diese Nacht ist eine Nacht für Schwarz. Du wirst meinen zweitbesten Mantel anziehen.«

Das sagte sie mit solch hexischer Bestimmtheit, als käme ihr gar nicht in den Sinn, dass ihr jemand widersprechen könnte. Sie war 113 Jahre alt und hatte jede Menge Erfahrung. Tiffany verzichtete auf weitere Einwände.

Es ist nicht so, dass ich etwas gegen Schwarz hätte, dachte sie, als sie den zweitbesten Mantel holte. Aber es passt nicht zu mir. Wenn die Leute sagen, dass Hexen Schwarz tragen, so meinen sie, dass alte Frauen Schwarz tragen. Nun ja, wenigstens muss ich nichts Rosarotes anziehen oder so...

Anschließend wickelte sie Fräulein Verrats Uhr in eine Decke, woraufhin aus dem Klonkklank ein Klonkklank wurde. Es kam nicht infrage, sie zurückzulassen. Fräulein Verrat nahm ihre Uhr überallhin mit.

Während Tiffany sich fertig machte, zog Fräulein Verrat die Uhr auf, wobei ein schreckliches, knirschendes Geräusch erklang. Sie zog sie dauernd auf, manchmal mitten in einer Verhandlung, vor all den entsetzten Leuten im Zimmer.

Es regnete noch nicht, aber als sie aufbrachen, war die Luft voller dünner Zweige und fliegender Blätter. Fräulein Verrat nahm im Damensitz auf dem Besen Platz und klammerte sich regelrecht an ihm fest, während Tiffany vorausging und ihn an einem Stück Wäscheleine hinter sich herzog.

Die Abenddämmerung glühte noch immer rot, und ein konvexer Mond stand hoch am Himmel, aber Wolken zogen schnell über ihn hinweg und füllten den Wald mit unsteten Schatten. Äste stießen aneinander, und Tiffany hörte ein lautes Knacken, als irgendwo im Dunkeln einer zu Boden fiel.

»Gehen wir in die Dörfer?«, schrie Tiffany, um das Heulen des Winds zu übertönen.

»Nein!«, brüllte Fräulein Verrat. »Nimm den Weg durch den Wald!«

Ach, dachte Tiffany, geht es hier vielleicht um das berühmte »Ohne-Schlüpfer-Tanzen«, von dem ich so oft gehört habe? Nun, eigentlich habe ich gar nicht so viel darüber gehört, denn sobald jemand darauf zu sprechen kommt, verbietet jemand anders ihm den Mund. Also habe ich eigentlich kaum etwas darüber gehört, das aber auf eine sehr bedeutungsvolle Weise.

Das »Ohne-Schlüpfer-Tanzen« war in der Vorstellung der Menschen unter Hexen Brauch. Die Hexen selbst waren jedoch ganz anderer Ansicht. Tiffany musste zugeben, dass sie den Grund dafür verstand. Selbst im Sommer waren die Nächte nicht besonders warm, und außerdem musste man immer mit Igeln und Disteln rechnen. Hinzu kam: Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass jemand wie Oma Wetterwachs ohne... Nun, man konnte es sich nicht vorstellen, und wenn man es trotzdem tat, so platzte einem der Kopf.

Der Wind ließ nach, als Tiffany den Weg durch den Wald einschlug, immer noch die schwebende alte Hexe im Schlepptau. Aber er hatte kalte Luft mitgebracht und sie im

Wald zurückgelassen. Tiffany war froh, dass sie einen Mantel trug, wenn auch einen schwarzen.

Sie stapfte weiter voran. Immer wenn Fräulein Verrat sie dazu aufforderte, bog sie auf einen anderen Weg ab, bis sie schließlich in einer kleinen Senke Feuerschein zwischen den Bäumen sah.

»Bleib stehen und hilf mir herunter, Mädchen«, sagte die alte Hexe. »Und hör mir gut zu. Es gibt Regeln.

Erstens: Du hältst den Mund. Zweitens: Du darfst nur die Tänzer ansehen. Drittens: Du rührst dich nicht von der Stelle, bis der Tanz vorbei ist. Ich werde dir das nicht zweimal sagen.« »Ja, Fräulein Verrat. Es ist sehr kalt hier.« »Und es wird noch kälter werden.« Sie näherten sich dem Licht. Was nützt ein Tanz, wenn man nur zusehen darf?, dachte Tiffany. Das hört sich nicht besonders amüsant an.

»Es soll auch gar nicht amüsant sein«, sagte Fräulein Verrat.

Schatten huschten am Feuer vorbei, und Tiffany hörte die Stimmen von Männern. Und dann, als sie den Rand der Senke erreichten, schüttete jemand Wasser ins Feuer.

Es zischte, und eine Wolke aus Dampf und Rauch stieg zwischen den Bäumen auf. Es geschah so plötzlich, dass es wie ein Schock war. Das Einzige, was lebendig gewirkt hatte, war plötzlich tot.

Trockenes Laub knirschte unter Tiffanys Stiefeln. Der Mond, der an einem inzwischen von Wolken leergefegten Himmel stand, projizierte kleine silbergraue Formen auf den Waldboden.

Es dauerte eine Weile, bis Tiffany merkte, dass sechs Männer in der Mitte der Lichtung standen. Offenbar trugen sie schwarze Kleidung; im Gegenlicht des Mondes wirkten sie wie menschenförmige Löcher im Nichts. Sie hatten sich in zwei Dreierreihen einander gegenüber aufgestellt, aber sie standen so still, dass sich Tiffany schließlich fragte, ob sie sich die Männer nur einbildete. Dumpfe Trommelschläge waren zu hören: Bumm... bumm... bumm.

Etwa eine halbe Minute ging es so weiter, und dann hörte das Trommeln wieder auf. Doch in der Stille des kalten Waldes wummerte es in Tiffanys Kopf weiter, und vielleicht war sie nicht die Einzige, der es so ging, denn die Männer nickten sachte mit dem Kopf, um den Takt zu halten.

Sie begannen zu tanzen.

Nur die Tritte der Stiefel waren zu hören, während die Schattenmänner aufeinander zutanzten und sich wieder voneinander entfernten. Aber dann vernahm Tiffany, in deren Kopf noch immer die Trommelschläge dröhnten, noch ein anderes Geräusch. Ihr Fuß klopfte auf den Boden, von ganz allein.

Sie hatte diesen Rhythmus schon einmal gehört und Männer auf diese Weise tanzen sehen. Aber an warmen Tagen im Sonnenschein. Und sie hatten dabei Glöckchen an ihrer Kleidung getragen!

»Das ist ein Moriskentanz!«, sagte sie, nicht leise genug.

»Pst!«, zischte Fräulein Verrat.

»Aber dies ist nicht die richtige Z...«

»Sei still!«

Tiffany errötete in der Dunkelheit, und gleichzeitig regte sich Ärger in ihr. Trotzig wandte sie den Blick von den Tänzern ab und sah sich auf der Lichtung um. Weitere Schatten drängten sich heran, menschliche Schatten oder zumindest menschlich aussehende. Tiffany konnte sie nur undeutlich erkennen, und das war vielleicht auch besser so.

Sie glaubte zu spüren, wie es kälter wurde. Raureif bildete sich auf den Blättern.

Das Getrommel ging weiter. Tiffany hatte den Eindruck, dass jetzt noch etwas hinzukam - andere Taktschläge und Echos in ihrem Kopf.

Fräulein Verrat konnte noch so oft Pst! sagen - es war ein Moriskentanz. Aber er fand nicht zur richtigen Zeit statt!

Die Moriskenmänner kamen irgendwann im Mai ins Dorf. Man konnte nie ganz sicher sein, wann sie kamen, denn sie besuchten viele Dörfer im Kreideland, und in jedem Dorf gab es ein Wirtshaus, was sie langsamer vorankommen ließ.

Sie hatten Stöcke und trugen weiße Kleidung mit kleinen Glocken, die verhinderten, dass sie sich an jemanden heranschleichen konnten. Niemand mag es, wenn plötzlich ein Moriskentänzer vor ihm steht. Wenn sie auftauchten, wartete Tiffany außerhalb des Dorfes und folgte ihnen zusammen mit den anderen Kindern tanzend hinein.

Und dann tanzten die Moriskenmänner auf dem Dorfplatz zum Rhythmus einer Trommel und schlugen ihre Stöcke in der Luft gegeneinander, und dann gingen alle ins Wirtshaus, und der Sommer kam.

Tiffany hatte bislang nicht herausbekommen, wie Letzteres funktionierte. Die Tänzer tanzten, und dann kam der Sommer - mehr schien niemand zu wissen. Ihr Vater hatte von einem Jahr erzählt, in dem die Moriskentänzer nicht erschienen waren, von einem Jahr, in dem ein kalter, feuchter Frühling in einen kalten Herbst überging, und die Monate dazwischen hatten Nebel, Regen und schon im August Frost gebracht.

Das Wummern der Trommeln erfüllte Tiffanys Kopf und machte sie schwindelig. Etwas daran stimmte nicht; irgendwas ging nicht mit rechten Dingen zu...

Und dann erinnerte sie sich an den siebten Tänzer, »Narr« genannt. Meistens war es ein recht kleiner Mann, der einen verbeulten Zylinder trug und an die Kleidung genähte bunte Fetzen. Normalerweise ging er mit dem Hut

herum und grinste die Leute an, bis sie ihm Geld für Bier gaben. Aber manchmal legte er den Hut beiseite und gesellte sich zu den Tänzern. Man erwartete eine heftige Kollision von Armen und Beinen, aber dazu kam es nie. Der kleine Mann hüpfte und drehte sich inmitten der schwitzenden Tänzer und schaffte es immer, dort zu sein, wo sie nicht waren.

Die Welt um Tiffany geriet aus den Fugen. Sie blinzelte. Das Trommeln in ihrem Kopf war inzwischen so laut wie Donnerhall und so tief wie der Ozean. Fräulein Verrat war vergessen. Ebenso das seltsame, geheimnisvolle Schattenpublikum. Es gab nur noch den Tanz.

Er wirbelte durch die Luft wie etwas Lebendiges. Doch in seinem Innern bewegte sich ein freier Platz immer im Kreis herum. Tiffany wusste, dass das ihr Platz war. Fräulein Verrat hatte es ihr verboten, aber das war vor einer ganzen Weile gewesen, und wie sollte sie sie auch verstehen? Was wusste sie schon? Wann hatte sie zum letzten Mal getanzt? Der Tanz hatte Tiffanys Körper erobert, und er rief nach ihr. Sechs Tänzer reichten nicht aus!

Sie lief los und stürzte sich mitten hinein.

Die Augen der Männer starrten sie an, als sie ausgelassen zwischen ihnen herumtanzte, immer genau dort, wo sie nicht waren. Die Trommeln regierten ihre Füße und lenkten ihre Schritte.

Und dann...

... war noch jemand anders da...

Es war so ähnlich, als stünde jemand hinter ihr. Doch gleichzeitig schien auch noch jemand vor ihr, neben ihr, über und unter ihr zu sein.

Die Tänzer erstarrten, doch die Welt drehte sich weiter. Die Männer waren nur schwarze Schatten, dunklere Konturen in der Dunkelheit. Die Trommelschläge verstummten, und es folgte ein langer Moment, in dem sich Tiffany langsam und schweigend drehte, die Arme ausgestreckt, die Füße knapp über dem Boden in der Luft schwebend, das Gesicht den Sternen zugewandt, die kalt wie Eis und spitz wie Nadeln waren. Es war ein... wundervolles Gefühl.

»Wer bist du?«, fragte jemand. Die Stimme hatte ein Echo, oder vielleicht hatten auch zwei Personen die Worte fast zur gleichen Zeit gesprochen.

Der Trommelschlag kehrte plötzlich zurück, und sechs Männer prallten mit ihr zusammen.

Einige Stunden später, in dem kleinen Ort Hundekrumm unten in der Ebene, warfen die Bürger eine an Armen und Beinen gefesselte Hexe in den Fluss.

In den Bergen geschah so etwas nie, denn dort respektierte man Hexen. Aber unten in der weiten Ebene gab es immer noch dumme Leute, die die scheußlicheren Geschichten glaubten. Außerdem war abends nicht viel zu tun. Allerdings geschah es sicher nicht oft, dass die Hexe vor dem Ertränken eine Tasse Tee und Kekse bekam. Der Grund dafür war, dass sich die Bewohner von Hundekrumm an die Anweisungen eines Buches hielten.

Das Buch hieß: Magavenatio Obtusis. Die Bürger wussten nicht, woher das Buch kam. Es war einfach eines Tages im Regal eines Ladens aufgetaucht. Natürlich konnten sie lesen. Man musste einigermaßen schreiben und lesen können, um in der Welt zurechtzukommen, selbst in Hundekrumm. Aber die Bürger standen Büchern und den Leuten, die sie lasen, eher misstrauisch gegenüber.

Doch dieses Buch beschrieb, wie man Hexen behandeln sollte. Es wirkte Respekt einflößend und enthielt keine zu langen (und daher unglaubwürdigen) Worte wie zum Beispiel »Marmelade«. Die Bewohner von Hundekrumm sagten sich: Das ist genau das, was wir brauchen. Endlich ein vernünftiges Buch. Na schön, der Text ist nicht unbedingt das, was man erwartet, aber erinnert ihr euch an die Hexe letztes Jahr? Die wir erst in den Fluss warfen und dann lebendig zu verbrennen versuchten? Die leider dafür zu nass war und deshalb entkam? So etwas wollen wir nicht noch mal erleben!

Sie achteten insbesondere auf diesen Abschnitt:

Es ist sehr wichtig, der Hexe, wenn ihr sie denn gefangen habt, absolut nichts anzutun (noch nicht!). Versucht auf keinen Fall, sie zu verbrennen! Dies ist ein Fehler, den Anfänger oft machen. Dadurch wird die Hexe zornig und noch stärker. Wie allgemein bekannt, gibt es noch eine andere Möglichkeit, eine Hexe loszuwerden: Man werfe sie in einen Fluss oder in einen Teich.
Am besten geht man folgendermaßen vor:
Bringt sie zunächst einmal in einem ausreichend warmen Zimmer unter und gebt ihr so viel Suppe, wie sie haben möchte. Möhren und Linsen sind durchaus geeignet, aber für beste Ergebnisse empfehlen wir Lauch und Kartoffeln auf Basis einer ordentlichen Fleischbrühe. Es hat sich herausgestellt, dass eine derartige Mahlzeit die magischen Fähigkeiten der Hexe stark beeinträchtigt. Gebt ihr keine Tomatensuppe; dadurch wird sie sehr mächtig.
Legt ihr vorsichtshalber eine Silbermünze in jeden Stiefel. Die Hexe kann sie nicht herausholen; dabei würde sie sich die Finger verbrennen.
Gebt ihr warme Decken und ein Kopfkissen. Das wird sie dazu verleiten einzuschlafen. Schließt die Tür ab und achtet darauf, dass niemand den Raum betritt.
Geht eine Stunde vor Morgengrauen in ihr Zimmer. Nun, ihr glaubt vielleicht, es wäre am besten, laut schreiend hineinzulaufen. ABER DAS IST VÖLLIG VERKEHRT. Schleicht auf Zehenspitzen hinein, stellt eine Tasse Tee bei der schlafenden Hexe ab, kehrt auf Zehenspitzen zur Tür zurück und hüstelt dort leise. Das ist wichtig. Eine plötzlich aus dem Schlaf gerissene Hexe könnte sehr unangenehm werden.
Manche Experten empfehlen einen Schokoladenkeks zusammen mit dem Tee. Andere meinen, ein Stück Lebkuchen genügt. Wenn euch etwas an eurem Leben liegt, gebt ihr auf keinen Fall einen einfachen Keks, denn dann würden ihr Funken aus den Ohren sprühen. Sprecht folgenden mächtigen Zauber, wenn sie erwacht, damit sie sich nicht in einen Bienenschwarm verwandelt und fortfliegt:
ITISAPIT EYIMA NASS
Wenn sie mit Tee und Keks fertig ist, könnt ihr die Hexe unter Verwendung des Bootsmannknotens Nummer 1 an Händen und Füßen fesseln und sie anschließend ins Wasser werfen. WICHTIGER SICHERHEITSHINWEIS: Macht dies, bevor es hell wird. Bleibt nicht da, um zuzusehen!

Natürlich blieben diesmal doch ein paar Schaulustige da. Sie sahen, wie die Hexe im Fluss versank und nicht wieder nach oben kam, während ihr spitzer Hut vom Fluss fortgetragen wurde. Dann gingen sie nach Hause, um zu frühstücken.

Eine Zeit lang geschah im Fluss nichts Besonderes.

Dann näherte sich der spitze Hut einem Schilfdickicht.

Dort verharrte er und stieg ganz langsam in die Höhe.

Zwei Augen spähten unter der Krempe hervor...

Als sie sicher war, dass sich niemand in der Nähe befand, kroch Fräulein Perspicazia Tick, Lehrerin und Hexensucherin, auf dem Bauch ans Ufer und sprintete in den nahen Wald, als gerade die Sonne aufging. Sie hatte einen Beutel mit einem sauberen Kleid und frischer Unterwäsche in einem Dachsbau zurückgelassen, zusammen mit einer Schachtel Streichhölzer (sie hatte nie Streichhölzer dabei, wenn sie Gefahr lief, als Hexe erkannt und gefangen genommen zu werden, denn sie wollte die Leute nicht auf dumme Gedanken bringen). Nun, dachte sie, während sie sich an einem Feuer trocknete, es hätte schlimmer kommen können. Zum Glück hatte es in dem Dorf noch einige Leute gegeben, die lesen konnten, denn sonst wäre sie in eine peinliche Situation geraten. Vielleicht war es eine gute Idee gewesen, das Buch mit großen Buchstaben drucken zu lassen. Fräulein Tick hatte Hexenjagd für Dumme nämlich selbst geschrieben, und sie sorgte dafür, dass überall dort, wo immer noch Leute glaubten, dass man Hexen verbrennen oder ertränken sollte, ein paar Exemplare hingelangten. Da Fräulein Tick selbst die einzige Hexe war, die diese Leute aller Wahrscheinlichkeit nach zu Gesicht bekommen würden, bedeutete das: Wenn etwas schief ging, bekam sie eine Nacht ruhigen Schlaf und eine anständige Mahlzeit, bevor man sie ins Wasser warf. Das Wasser war für FräuleinTick überhaupt kein Problem, denn sie hatte das Internat für junge Damen in Quirm besucht, und dort sorgte ein eiskaltes Bad am Morgen für »moralische Festigkeit«. Und einen Bootsmannknoten Nummer 1 konnte man leicht mit den Zähnen lösen, selbst unter Wasser.

Ach ja, dachte Fräulein Tick, als sie die Stiefel leerte, und ich habe zwei Silbermünzen bekommen. Die Leute im Dorf namens Hundekrumm waren wirklich sehr dumm. So erging es einem nun mal, wenn man sich seiner Hexen entledigte. Eine Hexe ist einfach bloß eine Person, die etwas mehr weiß als man selbst. Das ist es, was das Wort »Hexe« bedeutete. Manche Leute dort mochten jedoch keine Personen, die mehr wussten als sie selbst, und deshalb machten die reisenden Lehrer und Bibliothekare einen großen Bogen um den Ort. Wenn es so weiterging, wenn die Bewohner von Hundekrumm Steine nach all jenen werfen wollten, die mehr wussten als sie, mussten sie bald nach Schweinen werfen.

Sie konnte das Dorf nicht ausstehen. Leider gab es dort ein acht Jahre altes Mädchen, das Talent zeigte, und Fräulein Tick kam manchmal vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Natürlich nicht als Hexe, denn sie nahm zwar morgens gern mal ein kaltes Bad, aber man konnte es auch übertreiben. Sie verkleidete sich als einfache Apfelverkäuferin oder als Wahrsagerin. (Normalerweise befassten sich Hexen nicht mit dem Wahrsagen, denn sie wären darin zu gut gewesen. Die Leute wollen nicht wissen, was wirklich geschehen wird. Sie wollen nur nette Dinge hören, und Hexen raspeln nun mal kein Süßholz.)

Unglücklicherweise hatte sich auf der Hauptstraße die Feder in Fräulein Ticks Tarnhut gelöst, und daraufhin war die Spitze nach oben geschnellt. Selbst Fräulein Tick hattesich da nicht herausreden können. Nun gut, jetzt musste sie die Sache anders angehen. Das Hexensuchen war immer gefährlich, aber auch notwendig. Eine kleine Hexe, die ganz allein aufwuchs, war ein trauriges und gefährliches Kind...

Fräulein Tick hielt inne und blickte ins Feuer. Warum hatte sie gerade an Tiffany Weh gedacht? Warum jetzt? Mit flinken Bewegungen leerte sie ihre Taschen und bastelte ein Wirrwarr.

Wirrwarrs funktionierten. Das war so ziemlich das Einzige, was sich mit Sicherheit über sie sagen ließ. Man konstruierte sie aus Bindfäden, einigen Stöcken und den Dingen, die man gerade in der Tasche hatte. Es handelte sich dabei um das Hexenäquivalent dieser Messer mit fünfzehn Klingen, drei Schraubenziehern, einem kleinen

Vergrößerungsglas und einem Objekt zum Entfernen von Ohrenschmalz bei Hühnern.

Es war nicht bekannt, auf welche Weise sie funktionierten, aber Fräulein Tick vermutete, dass man mit ihnen herausfand, was sich irgendwie im eigenen Unterbewusstsein verbarg. Man musste jedes Mal ein neues Wirrwarr basteln und durfte dabei nur die Dinge verwenden, die man in der Tasche trug. Es konnte also nicht schaden, für alle Fälle stets etwas Interessantes bei sich zu haben.

In weniger als einer Minute bastelte Fräulein Tick ein Wirrwarr aus folgenden Objekten:

Ein dreißig Zentimeter langes Lineal
Ein Schnürsenkel
Ein Stück gebrauchter Bindfaden
Etwas schwarze Baumwolle
Ein Bleistift
Ein Bleistiftanspitzer
Ein kleiner Stein mit einem Loch darin
Eine Streichholzschachtel mit einem Mehlwurm namens Roger, zusammen mit einem kleinen Stück Brot als Nahrung für ihn, denn jedes Wirrwarr musste etwas Lebendiges enthalten Eine halb gefüllte Tüte mit Frau Reingolds Schlüpfrigen Halspastillen Ein Knopf

Es sah wie ein Fadenspiel aus oder wie die verknoteten Schnüre einer sehr merkwürdigen Marionette.

Fräulein Tick betrachtete das Etwas und wartete darauf, dass es ihr Auskunft gab. Plötzlich drehte sich das Lineal, die Halsbonbons explodierten in einer kleinen roten Staubwolke, der Bleistift sauste fort und bohrte sich in Fräulein Ticks Hut, und Raureif bedeckte das Lineal.

Das war kein gutes Zeichen.

Fräulein Verrat saß unten in ihrem Häuschen und beobachtete, wie Tiffany in dem niedrigen Schlafzimmer über ihr schlief. Dazu benutzte sie die Augen einer Maus, die auf dem angelaufenen Messing des Bettgestells saß. Hinter den grauen Fenstern (seit dreiundfünfzig Jahren putzte Fräulein Verrat sie nicht mehr, und Tiffany hatte vergeblich versucht, all den Schmutz zu entfernen) heulte der Wind zwischen den Bäumen, obwohl es erst Nachmittag war.

Er sucht nach ihr, dachte sie, während sie eine Maus auf ihrem Schoß mit uraltem Käse fütterte. Aber er wird sie nicht finden. Hier ist sie sicher.

Dann sah die Maus vom Käse auf. Sie hatte etwas gehört.

»Ich hab's ja gesagt! Sie is' hier irgendwo, Jungs!«

»Ich verstehe nich', wieso wir nich' mit der alten Hexe reden können. Wir kommen doch mit Hexen gut klar.« »Vielleicht, aber diese is' schrrrrecklich. Angeblich hat sie einen furchtbaren Dämon in ihrem Kartoffelkeller.« Fräulein Verrat runzelte verwundert die Stirn. »Was machen die denn hier?«, flüsterte sie. Die Stimmen drangen von unten durch den Fußboden. Auf ihr Geheiß lief die Maus über die Dielen und verschwand durch ein Loch. »Ich möchte dich ja nich' enttäuschen, aber wir sin' hier im Keller, und es liegen nur Kartoffeln herum.«

Nach einer Weile fragte jemand: »Wo isser denn nun?«

»Vielleicht is' heute sein freier Tag.«

»Wozu braucht ein Dämon einen freien Tag?«

»Vielleicht um seine alten Eltern zu besuchen?«

»Ach? Dämone ham Eltern, wie?«

»Potzblitz! Hört endlich auf! Sie könnte uns hören!«

»Nee, sie's blind wie eine Fledermaus und taub wie eine Nuss, heißt es.«

Mäuse haben ein sehr gutes Gehör. Fräulein Verrat lächelte, als das flinke Tierchen dicht über dem Kellerboden aus der alten Steinwand huschte.

Sie sah mit seinen Augen. Mäuse sehen auch im Dunkeln sehr gut.

Ein paar kleine Männer schlichen über den Boden. Ihre Haut war blau und voller Tätowierungen und Schmutz. Sie alle trugen schmuddelige Kilts, und jeder von ihnen hatte sich ein Schwert auf den Rücken geschnallt, so lang wie er selbst. Und sie alle hatten rotes Haar, ein richtiges Orangerot, und verfilzte Zöpfe. Einer von ihnen trug einen Kaninchenschädel als Helm. Vermutlich hätte er furchterregender gewirkt, wenn er ihm nicht dauernd über die Augen gerutscht wäre.

Im Zimmer darüber musste Fräulein Verrat wieder lächeln. Sie hatten von ihr gehört, wie? Aber bestimmt nicht genug.

Als sich die vier kleinen Männer durch ein altes Rattenloch zwängten, um den Keller zu verlassen, wurden sie von zwei weiteren Mäusen, drei unterschiedlichen Käfern und einer Motte beobachtet. Auf Zehenspitzen gingen sie über den Boden an einer alten Hexe vorbei, die ganz offensichtlich schlief - bis sie plötzlich auf die Armlehnen ihres Stuhls schlug und rief:

»Potzblitz! Ich sehe euch, ihr kleinen Halunken!«

Die Größten gerieten in Panik und prallten vor Schreck und Verblüffung gegeneinander.

»Ich kann mich nich' daran erinnern, euch gesacht zu haben, dass ihr euch bewegen sollt!«, donnerte Fräulein Verrat mit dem Akzent der Größten und einem grausigen Grinsen im Gesicht.

»Oh, schlimm, schlimm, schlimm!«, schluchzte jemand. »Sie spricht wie wir!«

»Ihr seid Kleine Freie Männer, nich' wahr? Aber die Zeichen eurer Clans kenne ich nich'. Beruhigt euch, ich hab nich' vor, euch das Fell über die Ohren zu ziehen. Du! Wie heißt du?«

»Ich bin Rob Irgendwer, der Große Mann des Kreidehügel-Clans«, sagte der kleine Mann mit dem Kaninchenschädelhelm. »Und...«

»Ach? Bist der Große Mann, wie? Dann wirst du so nett sein und den Knochenhelm abnehmen, wenn du mit mir redest!«, sagte Fräulein Verrat, die sich prächtig amüsierte. »Un' steht gerade! In diesem Haus dulde ich kein Herumgeschlunze!«

Sofort nahmen die vier Größten Haltung an.

»Schon besser!«, sagte Fräulein Verrat. »Und wer sin' die anderen?«

»Dies is' mein Bruder Doofer Wullie, Frau Hexe«, sagte Rob Irgendwer und schüttelte die Schulter des Größten, für den so viel schlimm war und der entsetzt Enochi und Athootita anstarrte.

»Und die anderen beiden?«, sagte Fräulein Verrat. »Ich meine euch beide. Du mit der Mäusedudel. Bist ein Dudler, wie?«

»Ja, Frau Hexe«, sagte ein Größter, der ordentlicher und sauberer aussah als die anderen, obwohl man feststellen musste: Unter alten Holzstapeln lebten zuweilen Dinge, die ordentlicher und sauberer aussahen als der Doofe Wullie.

»Und du heißt... ?«

»Billy Breitkinn, Frau Hexe.«

»Du starrst mich an, Billy Breitkinn«, sagte Fräulein Verrat. »Hast du Angst?«

»Nein, Frau Hexe, ich habe dich bewundert. Es geht mir richtig ans Herz, eine so... hexige Hexe zu sehen.«

»Es geht dir ans Herz, wie?«, fragte Fräulein Verrat argwöhnisch. »Bist du sicher, dass du keine Angst vor mir hast, Billy Breitkinn?«

»Ja, Frau Hexe. Aber ich bin bereit, ein wenig Angst vor dir zu haben, wenn du möchtest«, sagte Billy vorsichtig.

»Ha!«, sagte Fräulein Verrat. »Hier haben... hier ham wir einen Schlaukopf, wie ich sehe. Wer is' dein großer Freund, Herr Billy?«

Billy versetzte dem Großen Yan einen Stoß in die Rippen. Trotz seiner Größe - und für einen Kobold war er sehr groß - wirkte dieser ziemlich nervös. Wie viele extrem muskulöse Leute wurde er unsicher, wenn er sich mit jemandem konfrontiert sah, dessen Stärke auf anderem Gebiet lag.

»Das ist der Große Yan, Frau Hexe«, sagte Billy Breitkinn, während der Große Yan auf seine Füße blickte.

»Wie ich sehe, hat er 'ne Halskette mit großen Zähnen«, sagte Fräulein Verrat. »Sin' das menschliche Zähne?« »Ja, Frau Hexe. Vier, Frau Hexe. Einer für jeden Mann, denn er umgehauen hat.«

»Meinst du menschliche Männer?«, fragte Fräulein Verrat erstaunt.

»Ja, Frau Hexe«, bestätigte Billy Breitkinn. »Meistens stürzt er sich mit dem Kopf voran von einem Baum herunter auf sie. Er hat einen sehr harten Kopf«, fügte er für den Fall hinzu, dass dies nicht ganz klar war. Fräulein Verrat lehnte sich zurück. »Und jetzt werdet ihr mir freundlicherweise erklären, warum ihr hier in meinem Haus herumschleicht«, sagte sie. »Na los!«

Eine klitzekleine Pause trat ein, bevor Rob Irgendwer gut gelaunt sagte: »Oh, nun, das is' einfach. Wir haben einen Haggis gejagt.«

»Nein, das habt ihr nicht«, erwiderte Fräulein Verrat spitz, »denn Haggis ist ein Gericht aus Schafsinnereien, gut gewürzt und in einem Schafsmagen gekocht.«

»Ach, das nimmt man doch nur, wenn man nicht den richtigen Haggis findet«, erklärte Rob Irgendwer geduldig. »Lässt sich mit dem richtigen gar nich' vergleichen. Is' ein schlaues Biest, der Haggis, versteckt sich am liebsten in... Kartoffelkellern...«

»Und das ist die Wahrheit? Ihr habt einen Haggis gejagt? Stimmt das, Doofer Wullie?«, fragte Fräulein Verrat, und ihre Stimme klang plötzlich scharf. Alle Blicke, auch die eines Ohrwurms, richteten sich auf den armen Wullie.

»Ah... ja... oooh... aaah... schlimm, schlimm, schlimm!«, stöhnte der Doofe Wullie und sank auf die Knie.

»Bitte, tu mir nichts, Frau Hexe!«, flehte er. »Dein Ohrwurm sieht mich furchtbar böse an!«

»Na schön, beginnen wir noch einmal von vorn«, sagte Fräulein Verrat. Sie hob die Hände und nahm die Augenbinde ab. Die Größten wichen zurück, als sie die Schädel rechts und links von sich berührte.

»Ich brauche keine Augen, um eine Lüge zu erkennen«, sagte sie. »Erzählt mir, warum ihr hier seid. Erzählt es mir... noch einmal.«

Rob Irgendwer zögerte kurz. Das war, wenn man die Umstände berücksichtigte, sehr mutig von ihm. Dann sagte er: »Wir sin' wegen der großen kleinen Hexe gekommen, Frau Hexe.«

»Wegen der großen kleinen... Oh, du meinst Tiffany?«

»Ja!«

»Wir sind in einer Missisache unterwegs«, sagte der Doofe Wullie und versuchte, nicht in die blinden Augen der Hexe zu sehen.

»Er meint eine Mission, Frau Hexe«, erklärte Rob Irgendwer und warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu. »Das is'...«

»Eine sehr wichtige Angelegenheit«, sagte Fräulein Verrat. »Ich weiß, was eine Mission ist. Aber warum?« Fräulein Verrat hatte in 113 Jahren viele Dinge gehört, aber jetzt lauschte sie staunend der Geschichte von einem Menschenmädchen, das zumindest für einige Tage die Kelda eines Clans der Wir-sind-die-Größten gewesen war. Und wenn man ihre Kelda gewesen war, wenn auch nur für einige Tage, so wachten die Größten über einen... für immer.

»Un' sie is' die Hexe unserer Hügel«, sagte Billy Breitkinn. »Sie kümmert sich um sie und schützt sie. Aber...«

Er zögerte, und Rob Irgendwer fuhr fort: »Unsere jetzige Kelda hat Träume. Träume von der Zukunft. Sie träumt von Schnee auf den Hügeln und davon, dass alle tot sin' und die große kleine Hexe eine Krone aus Eis trägt.«

»Meine Güte!«

»Ja, un' da war noch mehr!«, sagte Billy und streckte die Arme aus. »Sie sah einen grünen Baum, der in einem Land aus Eis wuchs! Sie sah einen Ring aus Eisen! Sie sah einen Mann mit einem Nagel im Herzen! Sie sah eine Hühnerplage und einen Käse, der wie ein Mensch läuft!«

Es wurde still, und dann sagte Fräulein Verrat: »Die ersten beiden Bilder, der Baum und der Ring, sind klar - das ist guter okkulter... Symbolismus. Und auch der Nagel, sehr metaphorisch. Bei dem Käse bin ich mir nicht sicher - könnte sie Horace meinen? - und die Hühner... Gibt es überhaupt so etwas wie eine Hühnerplage?«

»Jeannie war es damit sehr ernst«, betonte Rob Irgendwer. »Sie hat von vielen seltsamen un' beunruhigenden Dingen geträumt, un' da dachten wir, dass wir besser nachsehen sollten, wie's der großen kleinen Hexe geht.« »Und deshalb haben sich vier von euch auf den weiten Weg hierher gemacht?«, fragte Fräulein Verrat.

»Oh, wir haben noch ein paar Kumpel mitgebracht«, sagte Rob. »Wir wollten nicht alle auf einmal hier aufkreuzen, weißt du. Sie warten draußen im Wald.«

»Wie viele sind es?«

»Och, ungefähr fünfhundert, so um und bei.«

Fräulein Verrats diverse Augen fixierten ihn. Rob Irgendwer starrte mit wild entschlossener Aufrichtigkeit zurück, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Das scheint ja ein ehrenhaftes Unterfangen zu sein«, sagte Fräulein Verrat. »Aber warum habt ihr zunächst gelogen?«

»Oh, die Lüge wäre viel interessanter gewesen«, sagte Rob Irgendwer.

»In diesem Fall erscheint mir die Wahrheit sehr interessant«, sagte Fräulein Verrat.

»Vielleicht, aber ich wollte noch Riesen un' Piraten un' magische Wiesel mit einbauen«, erklärte Rob Irgendwer. »Das hätte sich echt gelohnt.«

»Na schön«, sagte Fräulein Verrat. »Als Fräulein Tick Tiffany zu mir brachte, meinte sie, sie würde von sonderbaren Mächten beschützt.«

»Ja«, brummte Rob Irgendwer stolz. »Das sin' wir, kein Zweifel.«

»Aber Fräulein Tick ist eine ziemlich rechthaberische Frau«, fuhr Fräulein Verrat fort. »Tut mir leid, das zu sagen, aber ich habe ihr kaum zugehört. Sie behauptet immer, dass die Mädchen sehr lerneifrig sind, aber meistens sind es nur flatterhafte Gänse, die Hexen werden wollen, um die jungen Männer zu beeindrucken, und nach ein paar Tagen laufen sie weg. Aber dieses Mädchen nicht, o nein! Tiffany läuft nicht vor Dingen weg, sondern auf sie zu! Habt ihr gewusst, dass sie versucht hat, mit dem Winterschmied zu tanzen?«

»Ja«, erwiderte Rob Irgendwer. »Das wissen wir. Wir waren dabei.«

»Ihr seid dabei gewesen?«

»Ja. Wir sin' euch gefolgt.«

»Niemand hat euch dort gesehen«, sagte Fräulein Verrat. »Es wäre mir aufgefallen, wenn euch dort jemand gesehen hätte.«

»Oh, wir sind gut darin, nicht gesehen zu werden.« Rob Irgendwer lächelte. »Es is' erstaunlich, wie viele Leute uns nich' sehen.«

»Sie hat tatsächlich versucht, mit dem Winterschmied zu tanzen«, sagte Fräulein Verrat. »Obwohl ich es ihr verboten habe.«

»Ach, die Leute verbieten uns immer wieder irgendwas«, sagte Rob Irgendwer. »Dadurch wissen wir, was am interessantesten ist.«

Fräulein Verrat starrte ihn mit den Augen einer Maus, zweier Raben, mehrerer Motten und eines Ohrwurms an. »In der Tat«, sagte sie und seufzte. »Ja. Wisst ihr, das Problem mit meinem Alter ist... das Jungsein ist so weit von mir entfernt, dass es sich manchmal anfühlt, als gehörte es einer anderen Person. Ein langes Leben ist nicht das, was man sich darunter vorstellt, das könnt ihr mir glauben. Es ...«

»Der Winterschmied sucht die große kleine Hexe, Frau Hexe«, sagte Rob Irgendwer. »Wir haben sie mit dem Winterschmied tanzen sehen. Jetzt sucht er sie. Wir hören ihn im Heulen des Winds.«

»Ich weiß«, erwiderte Fräulein Verrat. Sie hielt inne und lauschte kurz. »Der Wind hat nachgelassen«, stellte sie fest. »Er hat sie gefunden.«

Sie nahm ihre Gehstöcke, trippelte zur Treppe und eilte verblüffend schnell hinauf. Ein paar Größte liefen an ihr vorbei ins Schlafzimmer, wo Tiffany auf einem schmalen Bett lag.

In jeder Ecke des Raums brannte eine Kerze auf einer Untertasse.

»Aber wie hat er sie gefunden?«, fragte Fräulein Verrat. »Ich habe sie doch versteckt! Los, ihr blauen Männer, holt Holz!« Sie blickte auf die Größten hinab. »Ich habe gesagt, ihr sollt Holz...«

Sie hörte ein wiederholtes Rumsen. Staub sank zu Boden. Erwartungsvoll schauten die Größten Fräulein Verrat an.

Unmengen von Reisig häufte sich im kleinen Kamin des Zimmers.

»Das habt ihr gut gemacht«, sagte Fräulein Verrat. »Und keine Minute zu früh!«

Schneeflocken fielen durch den Schornstein.

Fräulein Verrat kreuzte ihre Gehstöcke und trat fest mit dem Fuß auf.

»Holz brenne, Feuer lodre!«, rief sie. Von einem Augenblick zum anderen brannte das Feuer im Kamin lichterloh. Doch es bildete sich bereits Raureif an den Fenstern. Weiße Ranken wuchsen knisternd über die Scheiben.

»Das lasse ich mir in meinem Alter nicht bieten!«, sagte die Hexe.

Tiffany öffnete die Augen und fragte: »Was ist denn los?«