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11. Sogar türkis

 

Kläng-klonk!

Von einem Augenblick zum anderen saß Tiffany kerzengerade da, und Stroh rieselte an ihr herunter. Aber es war nur das Geräusch eines Henkels, der an die Seite eines Metalleimers geschlagen hatte.

Frau Umbritsch melkte ihre Kühe. Bleiches Tageslicht drang durch die Risse in der Wand. Sie sah auf, als sie Tiffany hörte.

»Ah, dachte ich mir doch, dass in der Nacht eine meiner jungen Damen gekommen ist«, sagte sie. »Möchtest du frühstücken, Schätzchen?«

»Bitte!«

Tiffany half der alten Frau mit den Eimern, machte ein wenig Butter, streichelte ihren sehr alten Hund, bekam Bohnen auf Röstbrot, und dann...

»Ich glaube, ich habe hier etwas für dich«, sagte Frau Umbritsch und ging zu dem kleinen Tresen, der das Postamt von Zweihemden darstellte. »Wo habe ich es doch gleich hingelegt? Ah, ja...«

Sie reichte Tiffany ein kleines Bündel Briefe und ein flaches Päckchen, alles von einem Gummiband zusammengehalten und voller Hundehaare. Sie redete weiter, aber Tiffany bekam kaum noch etwas mit. Es ging darum, wie sich der Fuhrmann das Bein gebrochen hatte, der arme Kerl, oder vielleicht hatte sich auch sein Pferd das Bein gebrochen, das arme Tier, und einer der Schneestürme hatte Bäume auf den Weg stürzen lassen, und dann hatte es so sehr geschneit, Schätzchen, dass nicht einmal mehr ein Mann zu Fuß durchkommen konnte, und so führte das eine zum anderen, mit dem Ergebnis, dass sich die Post vom und zum Kreideland verzögerte, und eigentlich gab es kaum mehr Post...

Das alles hörte Tiffany nur als eine Art Summen im Hintergrund, denn die Briefe waren alle für sie bestimmt -drei von Roland und einer von ihrer Mutter. Und auch auf dem Päckchen stand ihr Name. Es wirkte sehr nüchtern, und als sie es öffnete, kam eine glatte schwarze Schachtel zum Vorschein, und darin befanden sich...

Tiffany sah zum ersten Mal in ihrem Leben einen Malkasten mit Wasserfarben. Sie hatte gar nicht gewusst, dass so viele Farben auf einem Haufen existieren konnten.

»Oh, ein Malkasten«, sagte Frau Umbritsch, die ihr über die Schulter schaute. »Wie hübsch. Ich hatte mal einen, als ich noch klein war. Ah, und er enthält sogar Türkis. Ist sehr teuer, Türkis. Das hat dir dein junger Mann geschickt, nicht wahr?«, fügte sie hinzu, denn alte Frauen wissen gern alles und noch ein bisschen mehr.

Tiffany räusperte sich. In ihren Briefen hatte sie das schmerzliche Thema des Malens gemieden. Vermutlich dachte Roland, dass sie es gern einmal ausprobieren würde.

Die Farben in ihren Händen leuchteten wie ein eingefangener Regenbogen.

»Es ist ein schöner Morgen«, sagte Tiffany »Und ich glaube, ich sollte jetzt besser heimkehren...«

Auf dem kalten Fluss kurz vor dem donnernden Lancre-Wasserfall war ein Baumstamm festgemacht. Oma Wetterwachs und Nanny Ogg standen mitten in der Strömung auf einem großen Felsen und beobachteten ihn. Auf dem Baumstamm standen lauter kleine blaue Männer. Sie alle wirkten munter und fröhlich. Zugegeben, der sichere Tod erwartete sie, aber dafür brauchten sie - und darauf kam es an - nichts zu buchstabieren.

»Wisst ihr, niemand, der jemals diesen Wasserfall hinuntergestürzt ist, hat überlebt und konnte davon erzählen«, sagte Nanny Ogg.

»Herr Parkinson schon«, erwiderte Oma Wetterwachs. »Weißt du noch? Vor drei Jahren?«

»Ja, schon, er hat überlebt, aber nachher hat er stark gestottert«, sagte Nanny Ogg.

»Er hat es aufgeschrieben«, fügte Oma hinzu. »Nannte es >Wie ich mal den Wasserfall runtergefallen bin<. Ein interessanter Erlebnisbericht.«

»Aber niemand hat die Geschichte erzählt«, betonte Nanny. »Darum geht es mir.«

»Ja, aber wir sin' federleicht«, sagte der Große Yan. »Und durch den Wind, der einem unter den Kilt weht, bleiben wir immer oben.«

»Das wäre ein interessanter Anblick«, kommentierte Nanny Ogg.

»Seid ihr alle bereit?«, fragte Rob Irgendwer. »Gut! Wärst du bitte so gütig, das Seil loszumachen, Frau Ogg?«

Nanny Ogg löste den Knoten und gab dem Baumstamm einen Schubs mit dem Fuß. Er trieb ein Stück und wurde dann von der Strömung erfasst.

»Ein Schiff wird kommen?«, fragte der Doofe Wullie.

»Welches Schiff?«, fragte Rob Irgendwer, während der Baumstamm an Tempo zulegte.

»Das is' ein Lied. Warum singen wir nicht?«, fragte der Doofe Wullie. Die Wände der Schlucht kamen schnell näher.

»Na schön«, brummte Rob. »Ein hübsches Seefahrerlied kann sicher nich' schaden. Un' Wullie, halt den Käse von mir fern. Es gefällt mir nich', wie er mich ansieht.«

»Er hat doch gar keine Augen, Rob«, sagte Wullie kleinlaut und hielt Horace fest.

»Eben drum«, erwiderte Rob verdrießlich.

»Horace wollte dich gar nicht fressen, Rob«, sagte der Doofe Wullie. »Und du warst so schön sauber, als er dich ausgespuckt hat.«

»Und woher weißt du, wie 'n Käse heißt?«, fragte Rob, während die Gischt über den Baumstamm schäumte.

»Er hat es mir gesagt, Rob.«

»Ach ja?« Rob zuckte mit den Schultern. »Na schön. Ich will mich mit 'nem Käse nich' auf Diskussionen einlassen.«

Eisbrocken tanzten im Fluss. Nanny Ogg wies Oma Wetterwachs darauf hin.

»All der Schnee sorgt dafür, dass die Eisflüsse wieder in Bewegung geraten«, sagte sie.

»Ich weiß.«

»Ich hoffe, man kann den Geschichten trauen, Esme«, sagte Nanny.

»Es sind uralte Geschichten. Sie haben ein eigenes Leben.

Sie sehnen sich nach Wiederholung. Wie der Sommer aus einer Höhle gerettet wird? Die ist sehr alt«, sagte Oma Wetterwachs.

»Aber der Winterschmied wird unser Mädchen jagen.« Oma beobachtete, wie die Wir-sind-die-Größten hinter der Flussbiegung verschwanden.

»Ja, das wird er«, sagte sie. »Und ich muss sagen, er kann einem fast leidtun.«

Und so segelten die kleinen blauen Männer heimwärts. Abgesehen von Billy Breitkinn konnten die Größten nicht einmal dann eine Melodie halten, wenn sie sich mit Händen und Füßen daran festklammerten, aber dieses kleinere Problem wich hinter einem größeren zurück: Sie scherten sich nicht darum, ob sie in der gleichen Tonhöhe, mit der gleichen Geschwindigkeit oder den gleichen Text sangen. Außerdem kam es bald zu kleinen Raufereien, was immer geschieht, wenn die Größten Spaß haben. Als der Baumstamm auf den Rand des Wasserfalls zuraste, wurde Folgendes von den Felswänden zurückgeworfen:

EinSchiff wird ein Schiff autschpassdochauf ein Schiff

Schiff wirdkommen wird einschiff kommen kriegstgleichwasaufdienase ein Schiffarrgh...« POTZBLITZzzzzz!«

Und mitsamt seiner Fracht kippte der Baumstamm über den Rand des Wasserfalls und verschwand zusammen mit dem Lied im Sprühnebel.

Tiffany flog den langen Walrücken des Kreidelands entlang. Es war jetzt ein weißer Wal, doch der Schnee schien hier nicht sehr hoch zu liegen. Der bitterkalte Wind, der ihn ins Tiefland wehte, blies ihn auch wieder fort. Hier gab es keine Bäume und nur wenige Mauern, an denen sich Schneewehen bilden konnten.

Als sich Tiffany ihrem Zuhause näherte, blickte sie auf die tiefer liegenden, geschützten Felder hinab. Die Lammungspferche waren bereits aufgebaut. Für diese Jahreszeit lag viel Schnee - und wessen Schuld war das? -, aber die Mutterschafe hatten ihren eigenen Zeitplan, ob nun Schnee lag oder nicht. Die Schäfer wussten, wie kalt es bei der Lammung sein konnte - der Winter gab sich nie kampflos geschlagen.

Sie landete auf dem Hof der Farm und richtete einige Worte an den Besen. Immerhin war es nicht ihrer. Er stieg wieder auf und sauste in Richtung Berge fort. Ein Besen findet immer den Weg nach Hause, wenn man den Trick kennt.

Es folgten das ein oder andere Wiedersehen, viel Gelächter, ein paar Tränen und die einhellige Meinung, dass sie wie eine Bohnenstange gewachsen und schon so groß wie ihre Mutter war. Hinzu kamen all die anderen Dinge, die man sagt, wenn man sich lange nicht gesehen hat.

Abgesehen von dem kleinen Füllhorn in ihrer Tasche hatte sie alles zurückgelassen: das Tagebuch, ihre Kleidung, alles. Das brauchte sie nicht. Sie war nicht vor etwas weggelaufen, sondern auf etwas zugelaufen, und hier war sie nun und wartete auf sich selbst. Sie spürte wieder ihren eigenen Boden unter den Stiefeln.

Tiffany hängte ihren spitzen Hut an die Tür und ging los, um den Männern beim Aufbau der Pferche zu helfen.

Es war ein guter Tag. Ein wenig Sonnenschein schaffte es, die Nebelschwaden zu durchdringen. Vor dem Hintergrund des weißen Schnees wirkten alle Farben hell, als ob der Umstand, dass sie da waren, ihnen einen besonderen Glanz verliehe. Das alte Pferdegeschirrr an der Stallwand glänzte wie Silber. Selbst die braunen und grauen Töne, die einst so trist gewirkt hatten, schienen jetzt lebendig.

Tiffany holte ihren Malkasten und ein paar Blätter kostbares Papier hervor und versuchte zu malen, was sie sah. Auch dabei gab es eine Art Magie. Alles drehte sich nur um Licht und Dunkel. Wenn man den Schatten und den Glanz aufs Papier bringen konnte, die Form, die jedes Geschöpf in der Welt hinterließ, so drang man zum Kern der Sache vor.

Bisher hatte sie mit bunten Kreidestiften gemalt. Wasserfarben war viel besser.

Es war ein guter Tag, ein Tag wie für sie geschaffen. Sie fühlte, wie sich Teile von ihr öffneten und aus ihrem Versteck kamen. Am kommenden Tag begann die Arbeit - dann würden die Leute sehr nervös zur Farm kommen und eine Hexe um Hilfe bitten. Wenn die Schmerzen nur groß genug waren, kümmerte es niemanden, dass man die Hexe, die sie vertrieb, zuletzt als Zweijährige und nur mit einem Hemdchen bekleidet gesehen hatte. Morgen... konnte alles Mögliche geschehen. Aber heute war die Winterwelt voller Farben.