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3. Das Geheimnis von Boffo

 

Es war kein schönes Gefühl, zwischen lauter aus dem Tritt gekommenen Tänzern eingequetscht zu werden. Die Männer waren schwer, und Tiffany - nomen est omen - tat alles weh. Sie hatte überall blaue Flecken, darunter einen Stiefelabdruck an einer Stelle, die sie niemandem zeigen wollte.

Größte standen auf allen ebenen Flächen in Fräulein Verrats Webzimmer. Sie arbeitete an ihrem Webstuhl, mit dem Rücken zum Raum. Angeblich half ihr das beim Nachdenken, aber da sie nun mal Fräulein Verrat war, spielte das kaum eine Rolle. Schließlich gab es zahlreiche Augen und Ohren, die sie benutzen konnte. Das Feuer loderte heiß, und überall brannten Kerzen. Natürlich schwarze.

Tiffany ärgerte sich. Fräulein Verrat hatte sie nicht angeschrien, nicht einmal die Stimme gehoben. Sie hatte nur geseufzt und »Du dummes Kind« gesagt, was natürlich viel schlimmer war, vor allem deswegen, weil Tiffany wusste, dass sie Recht hatte. Einer der Tänzer hatte dabei geholfen, sie zur Hütte zurückzubringen. Sie erinnerte sich überhaupt nicht an den Heimweg.

Eine Hexe tat nichts einfach nur deshalb, weil sie gerade Lust dazu hatte! Das lief praktisch auf Gackeln hinaus! Man bekam es den ganzen Tag mit Leuten zu tun, die dumm, faul, unzuverlässig und ausgesprochen unangenehm waren, und man konnte zu der Ansicht gelangen, dass die Welt zu einem besseren Ort würde, wenn man sie ohrfeigte. Aber das tat man nicht, denn, wie Fräulein Tick einmal erklärt hatte, wurde die Welt dadurch a) nur für kurze Zeit zu einem besseren Ort und b) anschließend zu einem etwas schlechteren Ort, außerdem sollte man c) nicht ebenso dumm sein wie die betreffenden Leute.

Tiffanys Füße hatten sich bewegt, und sie hatte ihnen nachgegeben. Sie hätte lieber auf ihren Kopf hören sollen. Jetzt musste sie bei Fräulein Verrat am Kamin sitzen, eine Wärmflasche auf dem Schoß und ein warmes Tuch um die Schultern.

»Der Winterschmied ist also eine Art Gott?«, fragte sie.

»In gewisser Weise ja«, sagte Billy Breitkinn. »Aber nich' die Art von Gott, zu der man betet. Er... macht den Winter. Das ist sein Job, weißt du.«

»Er ist eine elementare Kraft«, sagte Fräulein Verrat an ihrem Webstuhl.

»Ja«, bestätigte Rob Irgendwer. »Götter, elementare Kräfte, Dämonen, Geister... Manchmal isses schwer, sie auseinander zuhalten.«

»Und der Tanz dient dazu, den Winter willkommen zu heißen?«, fragte Tiffany. »Das ergibt doch keinen Sinn! Der Moriskentanz soll den nahenden Sommer begrüßen, ja, das...«

»Du bist doch kein kleines Kind mehr, oder?«, unterbrach Fräulein Verrat sie. »Das Jahr ist rund! Das Rad der Welt muss sich drehen! Deshalb tanzt man hier oben den Moriskentanz, um ein Gleichgewicht zu schaffen. Der Winter wird willkommen geheißen, weil er tief in sich den Sommer birgt!«

Klickklack machte der Webstuhl. Fräulein Verrat webte ein neues Tuch, aus brauner Wolle.

»Na schön«, sagte Tiffany. »Wir haben ihn begrüßt, den Winter... und den Winterschmied. Aber wieso sucht er nach mir?«

»Warum hast du mitgetanzt?«, fragte Fräulein Verrat.

»Äh... Da war noch Platz, und...«

»Ja. Da war noch Platz. Aber er war nicht für dich bestimmt. Nicht für dich, du dummes Kind. Du hast mit ihm getanzt, und jetzt möchte er dieses kühne Mädchen kennen lernen. Von so etwas habe ich noch nie gehört! Hol mir das dritte Buch von rechts von dem zweiten Bord ganz oben in meinem Bücherschrank.« Sie reichte Tiffany einen großen schwarzen Schlüssel. »Ich hoffe, das überfordert dich nicht.«

Hexen brauchen dumme Leute gar nicht zu ohrfeigen, nicht wenn sie eine stets einsatzbereite scharfe Zunge haben.

Fräulein Verrat besaß außerdem ein ganzes Regal voller Bücher, was ungewöhnlich war für eine Hexe im fortgeschrittenen Alter. Das Regal war sehr hoch, die Bücher wirkten groß und schwer, und bisher hatte Fräulein Verrat Tiffany verboten, sie abzustauben, ganz zu schweigen davon, das große schwarze Eisenband aufzuschließen, das sie auf den Borden festhielt. Besucher blickten immer nervös zu ihnen auf. Bücher waren gefährlich.

Tiffany löste das Eisenband und wischte den Staub fort.

Ah... die Bücher waren, genau wie Fräulein Verrat, nicht unbedingt das, was sie zu sein schienen. Sie sahen wie Zauberbücher aus, trugen aber Titel wie Enzyklopädie der Suppen. Tiffany entdeckte ein Wörterbuch. Daneben stand das Buch, das sie holen sollte. Es war voller Spinnweben.

Das Gesicht noch immer rot vor Scham und Zorn, zog Tiffany das Buch aus dem Regal und versuchte, es von den Spinnweben zu befreien. Einige von ihnen machten Pling!, als sie rissen, und Staub rieselte von der Oberkante der Seiten. Als Tiffany das Buch öffnete, roch es so alt und pergamentartig wie Fräulein Verrat. Der Titel in abgegriffenen goldenen Buchstaben lautete: Buchfinks Mythologie der Antike und der Klassik. Es war voller Lesezeichen.

»Die Seiten achtzehn und neunzehn«, sagte Fräulein Verrat, ohne den Kopf zu drehen. Tiffany blätterte.

»Der Tazn der Jahrezseiten?«, las sie. »Soll das >Tanz der Jahreszeiten< heißen?«

»Der Künstler Don Weizen de Yoyo, von dem das Meisterwerk stammt, war bei Buchstaben leider nicht so talentiert wie bei Farben«, erklärte Fräulein Verrat. »Sie beunruhigten ihn aus irgendeinem Grund. Ich stelle fest, dass du die Wörter vor den Bildern erwähnst. Du bist wohl eine kleine Leseratte.«

Die Bilder waren... seltsam. Sie zeigten zwei Gestalten. Tiffany hatte noch nie jemanden in einer Kostümierung gesehen. Für so etwas gab es daheim kein Geld. Aber sie hatte darüber gelesen und sich etwas in dieser Art vorgestellt.

Die Seite zeigte einen Mann und eine Frau, beziehungsweise zwei Geschöpfe, die wie ein Mann und eine Frau aussahen. Unter der Frau stand »Sommer«. Sie war groß, blond und schön, und deshalb erfüllte sie die kleine, braunhaarige Tiffany sofort mit Misstrauen. Sie trug einen großen Korb, der wie eine Schale oder ein Hörn geformt und voller Obst war.

Der Mann namens »Winter« war alt, krumm und grau. Eiszapfen glitzerten in seinem Bart.

»Klar, so muss der Winterschmied aussehen«, sagte Rob Irgendwer und schlenderte quer über die Seite. »Väterchen Frost.«

»Wie bitte?«, erwiderte Tiffany. »Das soll der Winterschmied sein? Der ist ja mindestens hundert Jahre alt!«

»Ja, ganz schön jung, was?«, meinte Fräulein Verrat spitz.

»Lass dich bloß nich' von ihm küssen, denn sonst wird deine Nase blau und fällt ab«, sagte der Doofe Wullie fröhlich.

»Untersteh dich, Doofer Wullie!«, wies ihn Tiffany streng zurecht.

»Ich wollte nur 'n bisschen die Atmosphäre auflockern«, erwiderte der Doofe Wullie verlegen.

»Das ist natürlich eine künstlerische Darstellung«, sagte Fräulein Verrat.

»Was bedeutet das?«, fragte Tiffany und betrachtete das Bild. Es stimmte nicht. Das wusste sie. Der Winterschmied sah ganz anders aus...

»Es bedeutet, der Künstler hat es sich ausgedacht«, antwortete Billy Breitkinn. »Er kann ihn wohl kaum gesehen haben, oder? Niemand hat den Winterschmied gesehen.«

»Noch nich'!«, sagte der Doofe Wullie.

»Wullie...« Rob Irgendwer wandte sich an seinen Bruder. »Weißt du noch, was ich dir über taktvolle Bemerkungen gesagt habe?«

»Ja, Rob, das weiß ich noch«, bestätigte Wullie gehorsam.

»Diese gehörte nich' dazu«, sagte Rob.

Wullie ließ den Kopf hängen. »Tschuldige, Rob.«

Tiffany ballte die Fäuste. »Ich wollte nicht, dass all das geschieht!«

Fräulein Verrat drehte ihren Stuhl und nahm feierlich die Augenbinde ab.

»Was hast du dann gewollt? Wärst du so freundlich, mir das zu sagen? Hast du getanzt, weil die Jugend dazu neigt, dem Alter zu trotzen? Um zu wollen, muss man denken. Hast du überhaupt gedacht? Es haben schon andere den Tanz mitgetanzt. Kinder, Trunkenbolde, Jugendliche wegen einer dummen Wette... Nichts ist passiert. Die Frühlings- und Herbsttänze sind... nur eine alte Tradition, würden die meisten Leute sagen. Nur ein Brauch zur Feier des Augenblicks, wenn Eis und Feuer sich in ihrer Herrschaft über die Welt abwechseln. Einige

von uns glauben, dass wir es besser wissen. Wir glauben, dass dabei etwas passiert. Für dich wurde der Tanz real, und etwas ist passiert. Und jetzt sucht dich der Winterschmied.«

»Warum?«, brachte Tiffany hervor.

»Ich weiß es nicht. Hast du beim Tanzen etwas gesehen oder gehört?«

Wie soll man das Gefühl beschreiben, überall und alles zu sein?, fragte sich Tiffany. Sie versuchte es gar nicht erst.

»Ich... habe eine Stimme gehört, oder vielleicht zwei Stimmen«, murmelte sie. »Äh, sie fragten mich, wer ich bin.«

»In-te-res-sant«, sagte Fräulein Verrat. »Zwei Stimmen? Ich werde darüber nachdenken, was das bedeutet. Was ich noch immer nicht verstehe: Wie hat er dich gefunden? Auch darüber werde ich nachdenken. In der Zwischenzeit halte ich es für eine gute Idee, warme Kleidung zu tragen.«

»Ja«, sagte Rob Irgendwer. »Der Winterschmied erträgt keine Wärme. Meine Güte, ich vergesse noch meinen eigenen Kopf! Wir ham einen Brief aus dem hohlen Baum im Wald mitgebracht. Gib ihn der großen kleinen Hexe, Wullie. Wir ham ihn unterwegs mitgenommen.«

»Einen Brief?«, fragte Tiffany, während der Webstuhl hinter ihr klackte und der Doofe Wullie einen schmutzigen, zusammengerollten Umschlag hervorzog.

»Er is' von dem kleinen Rotzlöffel im Schloss daheim«, fuhr Rob fort, während sein Bruder den Brief ablieferte. »Er schreibt, dasses ihm gut geht und dassa hofft, dasses dir ebenfalls gut geht, un' er freut sich auf deine möglichst baldige Heimkehr, und dann schreibt er viel über Schafe und so, eher langweiliger Kram, meiner Meinung nach, und unten drunter hat er S.W.A.L.K. geschrieben, aber wir ham noch nich' herausgefunden, was das bedeutet.«

»Du hast den Brief an mich gelesen?«, fragte Tiffany entsetzt.

»O ja«, bestätigte Rob stolz. »Null Problemo. Billy Breitkinn hier hat mir bei den längeren Wörtern den einen oder anderen Tipp gegeben, aber das meiste habe ich ganz allein rausgekriegt, ja.« Er strahlte, aber das Grinsen verging ihm, als er Tiffanys Gesicht sah. »Oh, ich verstehe, du bist ein bisschen verärgert, weil wir den Umschlag geöffnet ham«, sagte er. »Keine Sorge, wir ham ihn mit Schneckenschleim wieder zugeklebt. Du hättest gar nich' gemerkt, dass wir den Brief gelesen ham.«

Er hüstelte, weil Tiffany ihn noch immer finster anstarrte. Den Größten waren alle Frauen ein wenig unheimlich, und das galt insbesondere für Hexen. Als er richtig nervös geworden war, fragte Tiffany schließlich: »Woher habt ihr gewusst, wo der Brief lag?«

Sie schaute den Doofen Wullie an, der am Saum seines Kilts kaute. Das machte er nur, wenn er sich wirklich fürchtete.

»Äh... würdest du eine klitzekleine Lüge gelten lassen?«, fragte Rob.

»Nein!«

»Sie is' interessant, mit Drachen un' Einhörnern drin...«

»Nein, ich will die Wahrheit hören!«

»Ach, aber die is' langweilig. Wir gehn immer zum Schloss des Barons un' lesen die Briefe, die du ihm schickst, un' darin hast du geschrieben, dass der Postbote die Briefe an dich in den hohlen Baum am Wasserfall legen soll«, sagte Rob.

Selbst wenn der Winterschmied hereingekommen wäre, hätte die Luft nicht kälter werden können.

»Er bewahrt die Briefe von dir in einem Kasten unter seinem...«, begann Rob und schloss die Augen, als Tiffanys Geduldsfaden riss, mit einem noch lauteren Pling! als Fräulein Verrats sonderbare Spinnweben.

»Weißt du denn nicht, dass es sich nicht gehört, die Briefe anderer Leute zu lesen?«, fragte sie.

»Äh...«, begann Rob Irgendwer.

»Und ihr seid ins Schloss des Barons eingebrochen...«

»Oh, ah, ah, nein, nein, nein«, widersprach Rob und hüpfte auf und ab. »Das kannst du uns nich' anhängen! Wir sin' einfach hineingegangen, durch einen der kleinen Schlitze, durch die man Pfeile abschießen kann...«

»Und dann habt ihr meine privaten Briefe gelesen, die nur für Roland bestimmt waren?«, fragte Tiffany. »Die waren privat!«

»Oh, ja«, sagte Rob Irgendwer. »Aber mach dir keine Sorgen, wir erzählen niemandem, was drinstand.«

»Wir erzählen ja auch niemandem, was du in deinem Tagebuch schreibst«, fügte der Doofe Wullie hinzu. »Nich' mal die Dinge, um die du Blumen malst.«

Bestimmt grinst Fräulein Verrat hinter mir in sich hinein, dachte Tiffany. Das weiß ich genau. Aber inzwischen waren ihr die gehässigen Tonfälle ausgegangen. Das passierte, wenn man längere Zeit mit den Größten sprach. Du bist ihre Kelda gewesen, erinnerten sie ihre Zweiten Gedanken. Sie halten es für ihre heilige Pflicht, dich zu beschützen. Es spielt keine Rolle, was du denkst. Sie werden dir ewig das Leben schwermachen.

»Ich verbiete euch, meine Briefe zu lesen«, sagte Tiffany. »Und ich verbiete euch auch, in meinem Tagebuch herumzuschnüffeln!«

»In Ordnung«, sagte Rob Irgendwer.

»Versprochen?«

»Oh, ja.«

»Aber letztes Mal hast du es ebenfalls versprochen!«

»Ja.«

»Schwörst du, dass du sonst tot umfallen willst?«

»Oh, klar, null Problemo.«

»Und das sagt ein unzuverlässiger, verlogener Dieb, nicht wahr?«, fragte Fräulein Verrat. »Denn schließlich glaubt ihr Größten, bereits tot zu sein, nicht wahr?«

»Ja, Frau Hexe«, antwortete Rob Irgendwer. »Danke, dass du mich darauf aufmerksam machst.«

»Du hast überhaupt nicht die Absicht, irgendein Versprechen zu halten, Rob Irgendwer!«

»Stimmt, Frau Hexe«, sagte Rob Irgendwer stolz. »Jedenfalls nich' so ein kleines, unwichtiges Versprechen. Weißt du, es is' nämlich unsere heilige Pflicht, über die große kleine Hexe zu wachen. Wir müssen unser Leben für sie geben, wenn's sein muss.«

»Wie wollt ihr euer Leben geben, wenn ihr es bereits verloren habt?«, fragte Fräulein Verrat scharf.

»Keine leichte Sache, zugegeben«, sagte Rob. »Wahrscheinlich geben wir das Leben all der verdammten Mistkerle, die versuchen, ihr etwas anzutun.«

Mit einem Seufzer gab Tiffany auf. »Ich bin fast dreizehn. Ich kann selbst auf mich aufpassen.«

»Hört, hört - das personifizierte Selbstbewusstsein«, sagte Fräulein Verrat, aber es klang nicht sehr gehässig. »Glaubst du wirklich, dass du es allein mit dem Winterschmied aufnehmen kannst?«

»Was will er denn?«, fragte Tiffany.

»Das habe ich dir bereits gesagt«, erwiderte Fräulein Verrat. »Vielleicht will er herausfinden, welches Mädchen so dreist war, mit ihm zu tanzen.«

»Das waren meine Füße! Ich wollte doch gar nicht mit ihm tanzen!«

Fräulein Verrat drehte sich auf ihrem Stuhl um. Wie viele Augen sie wohl benutzt?, überlegten Tiffanys Zweite Gedanken. Die der Größten? Der Raben? Der Mäuse? Sie alle? Wie viele Tiffanys sieht sie? Benutzt sie auch die Insekten mit ihren zahlreichen glitzernden Augen?

»Na, dann ist ja alles in Ordnung«, sagte Fräulein Verrat. »Du hast es mal wieder nicht so gewollt. Eine Hexe übernimmt Verantwortung! Hast du denn gar nichts gelernt, Kind?«

Kind. Ein grässliches Wort für jemanden, der fast dreizehn ist. Tiffany spürte, wie sie erneut rot wurde. Eine furchtbare Hitze breitete sich in ihrem Kopf aus.

Das war der Grund, warum sie durchs Zimmer ging, die Tür öffnete und nach draußen trat.

Es schneite ganz sachte. Tiffany sah zu dem blassgrauen Himmel hoch und beobachtete, wie die flauschigen Flocken in weichen, fedrigen Haufen zu Boden sanken. Es war die Art Schnee, von der die Leute daheim im Kreideland sagten: »Oma Weh schert ihre Schafe.«

Tiffany spürte, wie die Flocken auf ihrem Haar schmolzen, als sie von der Hütte fortging. Fräulein Verrat stand in der Tür und rief nach ihr, aber sie ging weiter und ließ den schmelzenden Schnee die Hitze in ihrem Gesicht kühlen.

Natürlich ist das dumm, dachte sie. Aber es ist dumm, eine Hexe zu sein. Warum machen wir das? Es ist harte Arbeit ohne großen Lohn. Was macht für Fräulein Verrat einen guten Tag aus? Wenn jemand ihr gebrauchte Stiefel bringt, die ihr passen! Die hat doch keine Ahnung!

Wo steckt der Winterschmied? Ist er hier? Ich muss mich, was ihn angeht, ganz auf Fräulein Verrat verlassen! Und auf ein Fantasiebild in einem Buch!

»Winterschmied!«, rief sie.

Man konnte den Schnee fallen hören. Er machte ein seltsames kleines Geräusch, wie ein schwaches, kaltes Zischen.

»Winterschmied!«

Keine Antwort.

Was hatte sie erwartet? Eine laute, donnernde Stimme? Väterchen Frost, mit Eiszapfen im Bart? Da waren nur die weichen weißen Flocken, die friedlich zwischen dunklen Bäumen fielen.

Tiffany kam sich ein bisschen albern vor, aber sie war auch zufrieden. Sie hatte wie eine Hexe gehandelt. Sie stellte sich den Dingen, vor denen sie sich fürchtete, und dann verloren sie ihren Schrecken! Darin war sie gut! Dann drehte sie sich um und sah den Winterschmied.

Präg dir alles ein, meldeten sich ihre Dritten Gedanken zu Wort. Jedes Detail ist wichtig.

Der Winterschmied war...

...nichts. Doch der fallende Schnee enthüllte seine Umrisse. Die Flocken glitten um ihn herum wie über eine unsichtbare Haut. Er war nichts als eine Form, abgesehen vielleicht von zwei winzigen, blassen violett-grauen Punkten in der Luft, wo man die Augen vermutete.

Tiffany stand stocksteif da. Ihre Gedanken waren wie eingefroren. Ihr Körper wartete auf Anweisungen.

Eine Hand aus Schneeflocken streckte sich ihr entgegen, aber ganz langsam, so wie man sich einem Tier nähert,

das man nicht erschrecken will. Tiffany spürte... etwas, Dinge, die ungesagt blieben, weil es keine Stimme gab, die sie aussprechen konnte. Sie spürte eine Art... Anstrengung, als würde das Wesen sein ganzes Herz hineinlegen, obwohl es gar nicht wusste, was ein Herz ist.

Die Hand verharrte etwa dreißig Zentimeter vor ihr. Sie war zu einer Faust geballt, drehte sich nun und öffnete sich.

Etwas glänzte auf der Handfläche. Es war das weiße Pferd aus Silber an einer feinen Silberkette.

Tiffanys Hand schnellte an ihren Hals. Sie hatte die Kette am vergangenen Abend getragen! Bevor sie... aufgebrochen waren, um... sich den Tanz anzusehen...

Sie musste sie verloren haben! Und der Winterschmied hatte sie gefunden!

Das ist interessant, sagten die Dritten Gedanken, die sich auf ihre eigene Art und Weise mit der Welt beschäftigten. Man kann also nicht erkennen, was sich in einer unsichtbaren Faust befindet. Wie funktioniert das? Und warum befinden sich dort, wo man die Augen vermutet, diese kleinen violett-grauen Punkte in der Luft? Warum sind sie nicht unsichtbar?

So ist das mit den Dritten Gedanken. Wenn ein großer Felsbrocken auf einen herabstürzt, denken sie: Ist das magmatisches Gestein, wie zum Beispiel Granit, oder handelt es sich um Sandstein?

Der derzeit etwas weniger präzise funktionierende Teil von Tiffanys Gehirn beobachtete, wie das silberne Pferd an der Kette baumelte.

Ihr Erster Gedanke lautete: Nimm es.

Der Zweite Gedanke lautete: Nimm es nicht. Das ist eine Falle.

Der Dritte Gedanke lautete: Nimm es bloß nicht! Es ist kälter, als du dir vorstellen kannst.

Und dann setzte sich der Rest von ihr über die Gedanken hinweg und sagte: Nimm es. Es ist ein Teil von dir. Nimm es. Denk an zu Hause, wenn du es in der Hand hältst. Nimm es!

Sie streckte die rechte Hand aus.

Das Pferd fiel hinein. Instinktiv schloss sie die Finger darum. Es war tatsächlich kälter, als sie sich vorstellen konnte, und es brannte.

Sie schrie. Die Umrisse des Winterschmieds verschwanden in einem Wirbel aus weißen Flocken. Der Schnee zu Tiffanys Füßen spritzte mit einem vielstimmigen »Potzblitz!« auseinander, als Größte ihre Füße packten und sie aufrecht über die Lichtung zur Hüttentür trugen.

Tiffany zwang sich, die Hand zu öffnen, und mit zitternden Fingern riss sie das silberne Pferd von ihrer Handfläche. Es hinterließ einen deutlich erkennbaren Abdruck: ein weißes Pferd auf rosarotem Fleisch. Es war keine Verbrennung, sondern eine... Erfrierung.

Fräulein Verrats Stuhl drehte sich rumpelnd herum. »Komm her, Kind!«, befahl die alte Hexe.

Tiffany hielt sich noch immer die schmerzende Hand und verbiss sich die Tränen, als sie zu Fräulein Verrat ging. »Tritt hier neben meinen Stuhl, sofort!«

Tiffany kam der Aufforderung nach. Dies war nicht der geeignete Zeitpunkt für Ungehorsam.

»Ich möchte dir ins Ohr sehen«, sagte Fräulein Verrat. »Streich mal die Haare beiseite.«

Tiffany hielt ihre Haare zurück und zuckte zusammen, als sie die Schnurrhaare einer Maus spürte. Dann wurde das kleine Tier wieder fortgenommen.

»Hm, das überrascht mich«, sagte Fräulein Verrat. »Ich sehe nichts.«

»Äh... was hast du denn erwartet?«, fragte Tiffany vorsichtig.

»Tageslicht!«, blaffte Fräulein Verrat so laut, dass die Maus davon stob. »Hast du denn überhaupt keinen Verstand, Kind?«

»Äh, ich weiß nich', ob es jemanden interessiert«, sagte Rob Irgendwer, »aber ich glaube, der Winterschmied is' abgehauen. Un' es schneit nich' mehr.«

Niemand hörte ihm zu. Wenn Hexen streiten, bekommen sie nichts um sich herum mit.

»Es gehört mir!« Wieder griff Tiffany nach Pferd und Kette.

»Flitterkram!«

»Nein!«

»Dies is' vielleicht nich' der richtige Zeitpunkt, euch darauf hinzuweisen...«, fuhr Rob kläglich fort.

»Glaubst du, das brauchst du, um eine Hexe zu sein?«

»Ja!«

»Eine Hexe braucht keine Hilfsmittel!«

»Du hast Wirrwarrs benutzt!«

»Benutzt, ja! Nicht gebraucht. Nicht gebraucht*. « »Ich meine, der Schnee schmilzt...«, sagte Rob und lächelte nervös.

Vor Zorn konnte Tiffany ihre Zunge nicht mehr im Zaum halten. Wie konnte es diese dumme alte Vettel wagen zu behaupten, sie brauchte keine Hilfsmittel! »Boffo!«, rief sie. »Boffo, Boffo, Boffo!« Plötzlich war es totenstill. Nach einer Weile schaute Fräulein Verrat an Tiffany vorbei und sagte: »Ihr Größten! Verschwindet auf der Stelle! Ich merke es, wenn jemand von euch bleibt! Das hier geht nur Hexen etwas an!«

Eine Art Wusch! ging durchs Zimmer, und die Küchentür fiel zu.

»So«, sagte Fräulein Verrat, »du weißt also über Boffo Bescheid, wie?«

»Ja«, bestätigte Tiffany schwer atmend. »Ja, allerdings.« »Na schön. Und hast du jemandem davon erzählt?« Fräulein Verrat hielt inne und hob den Zeigefinger an die Lippen. Dann schlug sie mit einem Stock auf den Boden. »Ich hab gesagt, ihr sollt verschwinden, ihr Schlingel! Ab in den Wald mit euch! Seht nach, ob der Winterschmied wirklich weg ist! Und wehe, ihr gehorcht nicht - ich sehe euch mit euren eigenen Augen!«

Man hörte, wie im Keller Kartoffeln durch die Gegend rollten, als die Größten durch das kleine Belüftungsgitter hinauskletterten.

»Jetzt sind sie weg«, sagte Fräulein Verrat. »Und sie werden wegbleiben. Dafür wird Boffo schon sorgen.« Irgendwie war Fräulein Verrat innerhalb weniger Sekunden viel menschlicher und viel weniger furchterregend geworden. Nun, zumindest etwas weniger furchterregend. »Wie hast du es herausgefunden?«, fragte Fräulein Verrat. »Hast du danach gesucht? Hast du herumgestöbert und meine Sachen durchwühlt?«

»Nein! So was mache ich nicht! Ich habe es eines Tages durch Zufall herausgefunden, als du geschlafen hast!« Tiffany rieb sich die Hand.

»Tut es sehr weh?«, fragte Fräulein Verrat und beugte sich vor. Sie mochte blind sind, aber wie allen tüchtigen alten Hexen entging ihr nichts.

»Jetzt nicht mehr. Aber vorhin schon. Weißt du, ich...«

»Dann wirst du lernen zuzuhören! Glaubst du, dass der Winterschmied fort ist?«

»Er schien einfach zu verschwinden... noch mehr zu verschwinden, meine ich. Ich glaube, er wollte mir nur meine Halskette zurückgeben.«

»Glaubst du wirklich, der Geist des Winters, der über Schneestürme und Eis gebietet, würde so etwas tun?«

»Ich weiß es nicht, Fräulein Verrat! Er ist der einzige Winterschmied, dem ich begegnet bin!«

»Du hast mit ihm getanzt.«

»Das wusste ich vorher nicht!«

»Trotzdem.«

Tiffany wartete und fragte dann: »Trotzdem was?«

»Nur ganz allgemein. Das kleine Pferd hat ihn zu dir geführt... Aber jetzt ist er nicht mehr hier, da hast du Recht. Wenn doch, wüsste ich es.«

Tiffany ging zur Tür, zögerte kurz, öffnete sie und trat auf die Lichtung hinaus. Hier und dort lag ein wenig Schnee, und der Tag verwandelte sich in einen ganz normalen grauen Wintertag.

Ich wüsste es ebenfalls, wenn er hier wäre, dachte sie. Und er ist nicht hier. Und ihre Zweiten Gedanken sagten: Ach? Woher willst du das wissen?

»Wir haben beide das Pferd berührt«, sagte Tiffany leise. Sie sah sich um, ließ ihren Blick über die leeren Zweige und schlafenden Bäume streichen und betastete dabei die silberne Kette in ihrer Hand. Die Wälder kuschelten sich zusammen, bereit für den Winter.

Er ist dort draußen, aber nicht in der Nähe. Bestimmt hat er viel zu tun. Muss einen ganzen Winter machen... »Danke!«, sagte sie automatisch, denn ihre Mutter hatte ihr beigebracht, dass Höflichkeit nichts kostet. Dann kehrte sie in die Hütte zurück. Drinnen war es mittlerweile sehr warm. Fräulein Verrat verfügte stets über einen großen Holzvorrat. Dafür war das Geheimnis von Boffo verantwortlich. Die hiesigen Holzfäller sorgten dafür, dass der Holzstapel nie schrumpfte. Eine frierende Hexe konnte womöglich unangenehm werden.

»Ich möchte jetzt eine Tasse schwarzen Tee«, sagte die Alte, als Tiffany mit nachdenklicher Miene hereinkam. Sie wartete, bis das Mädchen die Tasse ausgewaschen hatte, und fragte dann: »Hast du die Geschichten über mich gehört, Kind?« Die Stimme klang freundlich. Sie hatten geschrien und Dinge gesagt, die man netter hätte ausdrücken können. Zorn und Trotz hatten sich Luft verschafft. Aber sie hockten hier nun mal aufeinander und konnten sich nicht aus dem Weg gehen. Die freundliche Stimme war ein Friedensangebot, und Tiffany nahm es dankbar an.

»Ah, dass du einen Dämon im Keller hast?«, erwiderte Tiffany, den Kopf noch immer voller ungelöster Fragen. »Und dass du Spinnen isst? Und dass dich Könige und Prinzen besuchen? Und dass alle in deinem Garten gepflanzten Blumen schwarz blühen?«

»Oh, das sagen die Leute?«, fragte Fräulein Verrat und war ganz offensichtlich erfreut. »Das mit den Blumen wusste

ich noch nicht. Nett. Und hast du auch gehört, dass ich in der dunklen Zeit des Jahres des Nachts umherwandele und diejenigen, die brave Bürger waren, mit einer Börse voll Silber belohne? Und dass ich denen, die böse gewesen sind, mit dem Daumennagel den Bauch aufschlitze, etwa so?«

Tiffany schreckte zurück, als eine faltige Hand sie herumdrehte und Fräulein Verrats gelber Daumennagel knapp an ihrem Bauch vorbeisäbelte. Die alte Hexe sah furchterregend aus.

»Nein! Nein, davon habe ich nichts gehört!«, brachte Tiffany hervor, den Rücken an die Küchenspüle gepresst. »Was? Dabei ist es eine wundervolle Geschichte, mit einem wahren, historisch belegten Kern!«, sagte Fräulein

Verrat, und ihre finstere Miene verwandelte sich in ein Lächeln. »Und ist dir bekannt, dass manche Leute behaupten, ich hätte einen Kuhschwanz?«

»Einen Kuhschwanz? Nein!«

»Wirklich nicht? Wie ärgerlich«, sagte Fräulein Verrat und ließ den Finger sinken. »Ich fürchte, um die Kunst des Geschichtenerzählens ist es hier in unserer Gegend nicht mehr sehr gut bestellt. Ich muss wirklich etwas dagegen unternehmen.«

»Dies ist eine andere Art von Boffo, nicht wahr?«, fragte Tiffany. Sie war nicht ganz sicher. Mit dem Daumennagel hatte Fräulein Verrat sehr furchteinflößend ausgesehen. Kein Wunder, dass die anderen Mädchen so schnell auf und davon gewesen waren.

»Ah, du hast also doch ein Gehirn. Ja, es stimmt. Boffo, ja. Ein guter Name dafür. Boffo. Die Kunst der Annahmen und Erwartungen. Zeige den Leuten das, was sie sehen möchten, zeige ihnen das, von dem sie glauben, dass es da sein sollte. Immerhin habe ich einen Ruf zu wahren.«

Boffo, dachte Tiffany. Boffo, Boffo, Boffo. Sie ging zu den Schädeln, nahm einen und las das Etikett darunter, so wie vor einem Monat:

Gruselschädel Nr. 1 Preis $ 2,99 Boffos Scherzartikelladen Zehntes-Ei-Straße i Ankh-Morpork »Wenn es zum Lachen ist... ist es ein Boffo!«

»Sehr lebensecht, nicht wahr?«, sagte Fräulein Verrat und klapperte zu ihrem Stuhl zurück. »Wenn man das über einen Totenschädel überhaupt sagen kann! In dem Laden gab es auch einen wundervollen Apparat für die Herstellung von Spinnweben. Man gibt so ein klebriges Zeug hinein, weißt du, und mit ein wenig Übung kann man recht gute Spinnweben daraus machen. Ich kann die kleinen Krabbler nicht ausstehen, aber natürlich brauche ich Spinnweben. Hast du die toten Fliegen bemerkt?«

»Ja«, sagte Tiffany und warf einen Blick an die Decke. »Es sind Korinthen. Ich dachte schon, du hältst dir vegetarische Spinnen.«

»Bravo. Zumindest mit deinen Augen ist alles in Ordnung. Auch mein Hut stammt von dort. >Böse alte Hexe Nummer Drei, ein Muss für Gruselpartys< hieß er, glaube ich. Den Katalog habe ich noch irgendwo, wenn's dich interessiert.«

»Kaufen alle Hexen bei Boffo ein?«, fragte Tiffany.

»Nur ich, zumindest in dieser Gegend. Oh, und die Alte Frau Atemlos drüben in Zweifall hat sich dort ihre Warzen besorgt.«

»Aber... warum?«, fragte Tiffany.

»Ihr wuchsen keine. Der armen Frau wuchsen einfach keine Warzen. Sie hat alles Mögliche versucht, aber ihr Gesicht blieb bis ins hohe Alter so glatt wie ein Babypopo.«

»Nein, ich meine, warum willst du...« Tiffany zögerte und fuhr dann fort: »...den Leuten solche Angst einjagen?«

»Ich habe meine Gründe«, sagte Fräulein Verrat. »Aber in Wirklichkeit tust du doch all das gar nicht, was die Leute sich erzählen, stimmt's? Es kommen keine Könige und Prinzen, um deinen Rat einzuholen, oder?«

»Nein, aber sie könnten zu mir kommen«, erwiderte Fräulein Verrat resolut. »Wenn sie sich im Wald verirren, zum Beispiel. Oh, ich kenne all die Geschichten. Die meisten von ihnen habe ich selbst erfunden!« »Du hast sie selbst erfunden?«

»Ja, natürlich. Warum nicht? Etwas so Wichtiges konnte ich doch keinen Amateuren überlassen.«

»Aber die Leute sagen, dass du den Menschen in die Seele blicken kannst!«

Fräulein Verrat lachte leise. »Ja. Das habe ich nicht erfunden! Aber ich sage dir: Bei einigen meiner Gemeindemitglieder brauche ich ein Vergrößerungsglas! Ich sehe, was sie sehen, ich höre mit ihren Ohren. Ich kenne ihre Väter, Großväter und Urgroßväter. Ich kenne die Gerüchte, Geheimnisse, Geschichten und Wahrheiten. Ich bin ihre Justizia, und ich bin gerecht. Schau mich an. Schau mich genau an.« Tiffany schaute sie an - und sie schaute durch den schwarzen Mantel hindurch, durch die Schädel, die Spinnweben aus Gummi, die schwarzen Blumen, die Augenbinde und die Geschichten, und sie sah eine schwerhörige, blinde alte Frau.

Boffo machte den Unterschied... nicht nur die lächerlichen Scherzartikel, sondern das Boffo-Denken - die Gerüchte und die Geschichten. Fräulein Verrat hatte Macht, weil man sie für mächtig hielt. Es war wie mit dem Hexenhut. Aber für Fräulein Verrat war Boffo noch viel, viel mehr.

»Eine Hexe braucht keine Hilfsmittel, Fräulein Verrat«, sagte Tiffany.

»Werd nicht frech, Kind. Hat dir die junge Wetterwachs das nicht erklärt? O ja, man braucht keinen Zauberstab, kein Wirrwarr und nicht einmal einen spitzen Hut, um eine Hexe zu sein. Aber diese Dinge helfen der Hexe, ihre Schau abzuziehen! Die Leute erwarten das. Wenn sie solche Dinge sehen, glauben sie an die Hexe. Ich wäre nicht dort, wo ich heute bin, wenn ich eine Pudelmütze und eine Küchenschürze getragen hätte! Ich werde meiner Rolle gerecht. Ich...«

Ein Krachen ertönte von draußen, aus Richtung der Milchkammer.

»Unsere kleinen blauen Freunde?«, fragte Fräulein Verrat und zog die Brauen hoch.

»Nein, es ist ihnen strikt verboten, irgendeine Milchkammer zu betreten, in der ich arbeite«, sagte Tiffany und ging zur Tür. »Meine Güte, hoffentlich ist es nicht Horace...«

»Ich habe ja gesagt, dass er uns nur Scherereien machen wird, nicht wahr?«, rief Fräulein Verrat ihr nach, als sie forteilte.

Es war Horace. Er hatte sich wieder aus seinem Käfig gezwängt. Er konnte ziemlich flüssig werden, wenn er wollte.

Auf dem Boden lag ein zerbrochener Butterteller. Er war voller Butter gewesen, doch jetzt war er leer. Nur ein Schmierfleck erinnerte noch an sie.

Und aus der Dunkelheit unter der Spüle kam ein seltsames Brummen, das sich anhörte wie Mnnammnamm-namm...

»Ach, jetzt hast du es auf Butter abgesehen, Horace?«, fragte Tiffany und nahm den Besen. »Das ist praktisch Kannibalismus, weißt du.«

Aber es war immer noch besser als Mäuse, musste sie zugeben. Sie hatte es als ein wenig beunruhigend empfunden, kleine Mäuseknochen auf dem Boden zu finden. Nicht einmal Fräulein Verrat hatte diese Sache klären können. Eine Maus, mit deren Augen sie zufällig sah, hatte versucht, an den Käse heranzukommen, und dann war es plötzlich dunkel geworden.

Denn der Käse war Horace.

Tiffany wusste, dass der Schimmelkäse aus Lancre dazu neigte, recht lebendig zu sein, und manchmal musste man ihn festnageln, aber... Nun, bei der Käserei war sie sehr geschickt, auch wenn sie dies selbst von sich sagte, und Horace war zweifellos ein Meisterwerk. Die berühmten blauen Adern, die dieser Käsesorte ihre wundervolle Farbe verliehen, waren sehr hübsch, obwohl Tiffany nicht recht wusste, ob es normal war, dass sie im Dunkeln leuchteten.

Mit dem Besenstiel stocherte sie im Schatten herum. Es knackte, und als sie den Besen zurückzog, fehlten etwa fünf Zentimeter am Ende. Dann hörte sie ein Ptuuuh!, und das fehlende Stück prallte auf der anderen Seite des Raums von der Wand ab.

»Also gut, du kriegst ab sofort keine Milch mehr«, sagte Tiffany, richtete sich auf und dachte: Der Winterschmied ist gekommen, um mir das Pferd zurückzugeben. Er hat sich wirklich Mühe gemacht. Hm...

Das ist... ziemlich beeindruckend, wenn man's recht bedenkt.

Ich meine, er muss Lawinen und Stürme organisieren und sich neue Formen für Schneeflocken einfallen lassen und so, aber er hat sich die Zeit genommen, hierher zu kommen und mir die Halskette zurückzugeben. Hm...

Und er stand einfach da.

Und dann ist er verschwunden. Noch weiter verschwunden, meine ich. Hm...

Sie ließ den brummelnden Horace unter der Spüle sitzen und kochte Tee für Fräulein Verrat, die wieder am Webstuhl saß. Dann ging sie leise zu ihrem Zimmer hoch.

Tiffanys Tagebuch war fast acht Zentimeter dick. Annagramma, eine weitere hiesige Hexenschülerin und (mehr oder weniger) eine Freundin von ihr, meinte, dass sie es ihr »Buch der Schatten« nennen und auf Velinpapier schreiben sollte, mit einer der magischen Tinten, die Zakzak Starkimarm zu guten Preisen in seinem magischen Fachgeschäft anbot - oder wenigstens zu Preisen, die er für gut hielt.

Tiffany konnte sich keine solche Tinte leisten. Man verkaufte die Hexerei nicht; man konnte nur Tauschgeschäfte damit machen. Fräulein Verrat hatte nichts dagegen, dass sie Käse verkaufte, aber Papier war hier oben recht teuer, und die reisenden Händler hatten nie viel. Aber dafür hatten sie meist ein paar Gramm Eisensulfat dabei, und daraus konnte man eine anständige Tinte machen, wenn man es mit zermahlenem Gallapfel oder grünen Walnussschalen mischte. Mit den zusätzlichen Seiten, die Tiffany hineingeklebt hatte, war das Tagebuch jetzt so dick wie ein Backstein. Sie hatte ausgerechnet, dass es noch mindestens zwei Jahre reichte, wenn sie klein schrieb.

Mit einem heißen Fleischspieß hatte sie die Worte »Für Größte verboten!!« in den Buchdeckel gebrannt. Aber es nützte nichts. So etwas hielten Rob Irgendwer und die anderen bloß für eine Einladung. Deshalb hatte Tiffany damit begonnen, teilweise verschlüsselt zu schreiben. Das Lesen fiel den Kleinen Freien Männern des Kreidelands ohnehin schwer genug, und bestimmt gelang es ihnen nicht, einen Code zu knacken.

Tiffany sah sich vorsichtshalber aufmerksam um und öffnete dann das große Vorhängeschloss, das eine ums Buch geschlungene Kette sicherte. Dann blätterte sie zum aktuellen Datum, tauchte den Stift in die Tinte und schrieb:

Bin d begegnet

Ja, eine Schneeflocke war ein guter Code für den Winterschmied.

Er stand einfach da, dachte sie.

Und dann lief er weg, weil ich geschrien habe.

Was natürlich eher ein Glück war.

Hm...

Aber... ich wünschte, ich hätte nicht geschrien.

Tiffany öffnete die Hand. Das Bild des Pferds war noch immer da, weiß wie Kreide, aber es tat überhaupt nicht mehr weh.

Tiffany schauderte leicht und riss sich zusammen. Na und? Sie hatte eine Begegnung mit dem Geist des Winters hinter sich. Sie war eine Hexe. Solche Dinge geschahen manchmal. Er hatte ihr höflich zurückgegeben, was ihr gehörte, und dann war er verschwunden. Kein Grund, deshalb sentimental zu werden. Es gab einiges zu erledigen.

Dann schrieb sie: »Brf v R.«

Ganz vorsichtig öffnete sie den Brief von Roland, was nicht weiter schwer war, denn Schneckenschleim gibt keinen guten Kleber ab. Mit ein wenig Glück konnte sie den Umschlag sogar noch einmal benutzen. Tiffany beugte sich über den Brief, damit niemand über ihre Schulter hinweg mitlesen konnte. Schließlich sagte sie: »Fräulein Verrat, würdest du bitte mein Gesicht verlassen? Ich möchte meine Augen privat benutzen.«

Nach kurzer Stille ertönte unten ein Brummen, und das Prickeln hinter Tiffanys Augen ließ nach.

Es war immer... schön, einen Brief von Roland zu bekommen. Ja, er schrieb oft über Schafe und andere Dinge des Kreidelands, und manchmal legte er auch eine getrocknete Blume in den Umschlag, eine Glocken- oder eine Schlüsselblume. Oma Weh hätte davon nichts gehalten. Sie hatte immer gesagt: Wenn die Hügel wollten, dass die Menschen Blumen pflückten, so hätten sie mehr von ihnen wachsen lassen.

Wenn Tiffany die Briefe las, bekam sie immer Heimweh.

Fräulein Verrat hatte einmal gefragt: »Dieser junge Mann, der dir schreibt... ist das dein Kavalier?« Und Tiffany hatte schnell das Thema gewechselt, und erst, als sie die Zeit gehabt hatte, das Wort in einem Wörterbuch nachzuschlagen, war die Röte aus ihrem Gesicht gewichen.

Roland war... nun, die Sache mit Roland war... das Wichtigste... also, die Hauptsache an ihm war... dass er da war.

Na schön, bei ihrer ersten Begegnung hatte er sich eher als Versager und Dummkopf erwiesen, aber was konnte man anderes erwarten? Die Feenkönigin hatte ihn ein ganzes Jahr lang gefangen gehalten; er war damals ein Fettwanst und halb verrückt vor zu vielen Süßigkeiten und Verzweiflung. Außerdem war er bei zwei hochmütigen Tanten aufgewachsen, denn sein Vater - der Baron - interessierte sich hauptsächlich für Pferde und Hunde.

Inzwischen hatte er sich geändert. Er war nachdenklicher geworden, weniger rüpelhaft, ernster, weniger dumm. Außerdem trug er eine Brille, die erste im Kreideland.

Und er hatte eine Bibliothek! Mit mehr als hundert Büchern! Eigentlich gehörte sie zum Schloss, aber außer ihm schien sich niemand dafür zu interessieren.

Einige der Bücher waren groß und uralt, mit Buchdeckeln aus Holz, großen schwarzen Lettern und bunten Bildern, die seltsame Tiere und ferne Orte zeigten. Die Bibliothek enthielt Wespenschlamms »Buch ungewöhnlicher Tage«, Kromberts »Warum die Dinge nicht anders sind« und bis auf einen Band alle Ausgaben der »Unheilvollen Enzyklopädie«. Es hatte Roland sehr überrascht, dass Tiffany fremdsprachige Texte lesen konnte, und sie hatte ihm lieber nicht verraten, dass ihr die Überreste von Professor Hetzig dabei halfen.

Es war nämlich so... also, das Ding war... nun, wen hatten sie denn sonst? Roland konnte sich als Sohn des Barons unmöglich mit den Dorfkindern anfreunden. Aber Tiffany trug jetzt einen spitzen Hut, und das zählte etwas. Die Leute des Kreidelands hielten nicht viel von Hexen, doch sie war immerhin Oma Wehs Enkelin. Bestimmt hatte sie von der Alten oben in ihrer Schäferhütte viel gelernt. Und es heißt, dass sie den Hexen in den Bergen gezeigt hat, was der Sinn der Hexerei ist, stimmt's? Erinnert ihr euch an das Ablammen im letzten Jahr? Allein mit ihrem Blick hat sie halbtote Lämmer ins Leben zurückgeholt! Und sie ist eine Weh, und die Wehs haben das Hügelland in den Knochen. Sie ist in Ordnung. Sie ist eine von uns.

Und das war schön, nur dass sie jetzt keine alten Freunde mehr hatte. Die Kinder daheim, die zuvor mit ihr befreundet gewesen waren, erfüllte ihr Hut jetzt mit Respekt. Etwas stand zwischen ihnen, so als wäre sie erwachsen geworden und die anderen nicht. Worüber konnten sie reden? Tiffany hatte Orte besucht, die sie sich überhaupt nicht vorstellen konnten. Die meisten der Kinder waren nicht einmal in Zweihemden gewesen, nur eine halbe Tagesreise entfernt. Und das störte sie überhaupt nicht. Sie würden die Arbeit machen, die schon ihre Väter machten, oder Kinder großziehen wie ihre Mütter. Und daran gibt es nichts auszusetzen, fügte Tiffany in Gedanken rasch hinzu. Aber sie trafen keine Entscheidungen. Sie ließen die Dinge einfach geschehen, ohne Kenntnis von ihnen zu nehmen.

So war es auch in den Bergen. Die einzigen Gleichaltrigen, mit denen sie richtig reden konnte, waren andere Hexenschülerinnen wie Annagramma und die übrigen Mädchen. Es hatte keinen Zweck zu versuchen, mit den Dorfbewohnern zu sprechen, und das galt insbesondere für die Jungen. Sie blickten einfach nur zu Boden, nuschelten irgendwas und scharrten mit den Füßen, wie die Leute daheim, wenn sie mit dem Baron reden

mussten.

Nun, Roland machte das ebenfalls, und er wurde jedes Mal rot, wenn sie ihn ansah. Wenn sie das Schloss besuchte oder im Hügelland mit ihm spazieren ging, lastete ein vieldeutiges Schweigen auf ihnen... so ähnlich wie bei der Begegnung mit dem Winterschmied.

Tiffany las den Brief aufmerksam durch und bemühte sich, die vielen schmutzigen Fingerabdrücke der Größten zu übersehen. Roland war so freundlich gewesen, einige leere Blätter Papier hinzuzufügen.

Sie strich eins ganz sorgfältig glatt, blickte eine Zeit lang an die Wand und begann dann zu schreiben.

Unten in der Spülküche war Horace der Käse hinter dem Schmutzwassereimer hervorgekrochen. Er befand sich jetzt vor der Hintertür. Wenn ein Käse nachdenklich aussehen kann, so tat Horace das jetzt.

In dem kleinen Ort Zweihemden hatte der Fahrer der Postkutsche ein Problem. Der Großteil der Post aus der Gegend um Zweihemden landete im dortigen Souvenirladen, der auch als Postamt diente.

Normalerweise holte der Kutscher nur den Postsack ab, doch das erwies sich an diesem Tag als schwierig. Verzweifelt blätterte er in dem Buch mit den Postvorschriften.

Fräulein Tick klopfte mit dem Fuß auf den Boden. Das zerrte an seinen Nerven.

»Ah, ah, ah«, sagte der Kutscher triumphierend. »Hier steht: keine Tiere, Vögel, Drachen oder Fische!«

»Und zu welcher Kategorie gehöre ich deiner Meinung nach?«, fragte Fräulein Tick eisig.

»Ah, nun, der Mensch ist doch eine Art Tier, oder? Ich meine, man schaue sich nur die Affen an.«

»Ich habe kein Interesse daran, mir irgendwelche Affen anzuschauen«, sagte Fräulein Tick. »Ich habe gesehen, was sie alles anstellen können.«

Der Kutscher erkannte, dass dies nicht die richtige Taktik war. Energisch blätterte er in dem Buch, und dann strahlte er.

»Ah, ah, ah!«, sagte er. »Wie viel wiegst du, Fräulein?«

»Dreißig Gramm«, antwortete Fräulein Tick. »Was zufälligerweise das maximale Gewicht von Briefen ist, die man für zehn Cent nach >Lancre und die nahe Umgebung< schicken kann.« Sie deutete auf die beiden Briefmarken an ihrem Revers. »Ich bin bereits frankiert.«

»Du kannst unmöglich nur dreißig Gramm wiegen!«, sagte der Kutscher. »Ich schätze dein Gewicht auf mindestens sechzig Kilo!«

Fräulein Tick seufzte. So etwas hatte sie vermeiden wollen, aber Zweihemden war nicht Hundekrumm. Dieser Ort lag an der Hauptstraße, und von hier aus sah man die Welt vorbeiziehen. Sie griff nach oben und drückte den Knopf, der ihren Hut in die Höhe schnellen ließ.

»Möchtest du, dass ich vergesse, was du gerade gesagt hast?«, fragte sie.

»Warum?«, erwiderte der Kutscher.

Einige Sekunden lang sah Fräulein Tick ihn stumm an. Dann glitt ihr Blick nach oben.

»Entschuldigung«, sagte sie. »Das passiert dauernd, fürchte ich. Er ist zu oft ins Wasser gefallen. Dadurch rostet die Feder.«

Sie klopfte an die Seite des Huts, und daraufhin schoss die verborgene Spitze nach oben, wobei sie mehrere Papierblumen beiseite stieß.

Der Blick des Kutschers folgte der Bewegung. »Oh«, sagte er.

Mit spitzen Hüten verhielt es sich nämlich folgendermaßen: Die Person darunter musste eine Hexe oder ein Zauberer sein. Vermutlich konnte sich auch jemand anderes einen spitzen Hut besorgen und damit herumlaufen, und er hätte keine Probleme bekommen, bis zur Begegnung mit jemandem, der zu Recht einen spitzen Hut trug. Zauberer und Hexen mochten keine Hochstapler. Sie mochten es auch nicht, wenn man sie warten ließ.

»Wie viel wiege ich denn nun, bitteschön?«, fragte sie.

»Dreißig Gramm!«, beeilte sich der Kutscher zu antworten.

Fräulein Tick lächelte. »Ja. Und nicht einen Skrupel mehr! Womit ich nicht den Skrupel meine, sondern das Skrupel, ein altes Apothekergewicht, das etwa eins Komma zwei fünf Gramm entspricht. Ich bin in gewisser Weise... skrupellos!«

Sie wartete, um zu sehen, ob ihr dieser extrem gelehrte Witz ein Lächeln einbrachte, war aber nicht enttäuscht, als sie leer ausging. Es gefiel Fräulein Tick, gescheiter zu sein als andere Leute.

Sie stieg in die Kutsche.

Als das Gefährt die Berge erklomm, begann es zu schneien. Fräulein Tick, die wusste, dass sich keine zwei Schneeflocken gleichen, achtete nicht weiter auf sie. Wenn sie bereit gewesen wäre, ihnen Beachtung zu schenken, wäre sie sich etwas weniger gescheit vorgekommen.

Tiffany schlief. Ein Feuer glimmte im Schlafzimmerkamin. Unten webte sich Fräulein Verrats Webstuhl durch die Nacht...

Kleine blaue Gestalten schlichen durch das Zimmer, bauten sich zu einer Pyramide auf und erreichten so die Oberfläche des kleinen Tischs, den Tiffany als Schreibtisch benutzte.

Tiffany drehte sich im Bett auf die Seite und machte leise snfgl. Die Größten erstarrten für einen Moment, und dann schloss sich die Tür leise hinter ihnen.

Ein blauroter Schemen huschte, eine Staubspur aufwirbelnd, die schmale Treppe hinunter, über den Boden des Webstuhlzimmers, durch die Spülküche und durch ein sonderbares, käseförmiges Loch in der Hintertür. Im Wald zeichnete zerwühltes Laub seinen Weg bis hin zu einem kleinen Feuer nach. Sein Schein erhellte -bestimmt nicht freiwillig - die Gesichter einer Koboldhorde.

Der Schemen hielt an und verwandelte sich in ungefähr sechs Größte. Zwei von ihnen trugen Tiffanys Tagebuch. Sie legten es behutsam hin.

»Wir sin' ein ganzes Stück vom Haus weg«, sagte der Große Yan. »Habt ihr die großen Schädel gesehen? Mit dieser Hexe möcht' ich mich lieber nich' anlegen!«

»Oh, wie ich sehe, hat sie sich wieder ein Vorhängeschloss besorgt«, sagte der Doofe Wullie, während er um das Tagebuch herumging.

»Rob, ich finde es einfach nicht richtig, das zu lesen«, sagte Billy Breitkinn, als Rob Irgendwer den Arm ins Schlüsselloch steckte. »Das geht nur sie etwas an!«

»Sie is' unsere Hexe. Was sie etwas angeht, das geht auch uns etwas an«, erwiderte Rob mit größter Selbstverständlichkeit, während er in dem Schloss herumfummelte. »Außerdem möchte sie bestimmt, dasses jemand liest, denn immerhin hat sie es aufgeschrieben. Welchen Sinn hat es, Dinge aufzuschreiben, wenn sie niemand liest? Das wäre Vergeudung von Papier und Stift!«

»Vielleicht möchte sie es selbst lesen«, meinte Billy skeptisch.

»Ach, warum sollte sie das wollen?«, entgegnete Rob verächtlich. »Sie weiß doch schon, was drinsteht. Und Jeannie möchte wissen, was sie über den Sohn des Barons denkt...«

Es klickte, und das Vorhängeschloss öffnete sich. Die versammelten Größten beobachteten das Geschehen aufmerksam.

Rob blätterte im Tagebuch und lächelte.

»Hier schreibt sie: Die lieben, guten Größten sind wieder aufgetaucht«, sagte er. Diese Worte wurden mit allgemeinem Applaus bedacht.

»Wirklich nett von dem Mädchen, so etwas zu schreiben«, sagte Billy Breitkinn. »Darf ich mal sehen?«

Er las: Du liebe Güte, die Größten sind wieder aufgetaucht.

»Ah«, sagte er. Billy Breitkinn war zusammen mit Jeannie den weiten Weg vom Langen See gekommen. Der dortige Clan kannte sich mit Lesen und Schreiben besser aus, und von ihm als Dudler erwartete man, dass er beides beherrschte.

Die Talente der Wir-sind-die-Größten des Kreidelands lagen eher beim Trinken, Stehlen und Kämpfen, und Rob Irgendwer war in allen drei Disziplinen gut. Er hatte lesen und schreiben gelernt, weil Jeannie ihn darum gebeten hatte, aber wie Billy wusste, ließ er dabei mehr Optimismus als Genauigkeit walten. Wenn er mit einem langen Satz konfrontiert wurde, entzifferte er ein paar Wörter und riet dann einfach ins Blaue hinein.

»Bei der Kunst des Lesens geht es darum zu verstehen, was die Worte zu sagen versuchen, nich' wahr?«, fragte Rob.

»Ja, vielleicht«, räumte der Große Yan ein. »Aber steht da irgendwas drin, das darauf hinweist, dass sich die große kleine Hexe in den Rotzlöffel aus dem steinernen Schloss verguckt hat?«

»Du hast eine sehr romantische Ader«, sagte Rob. »Und die Antwort lautet: Ich weiß es nich'. Teile des Briefs sind verschlüsselt. Dem Leser könnte man kaum etwas Schrecklicheres antun. Es is' schon schwer genug, die Wörter zu lesen, wenn die Buchstaben nicht alle durcheinander gewürfelt sind.«

»Oh, das ist wirklich schlimm, wenn die große kleine Hexe anfängt, sich für Jungs zu interessieren, anstatt die Hexerei zu lernen«, sagte der Große Yan.

»Ja, aber der Junge hat bestimmt keine Lust zu heiraten«, warf der Ein Wenig Verrückte Angus ein.

»Das könnte sich eines Tages ändern«, sagte Billy Breitkinn, der es sich zum Hobby gemacht hatte, die Menschen zu beobachten. »Die meisten Großen heiraten irgendwann.«

»Tatsächlich?«, fragte ein Größter erstaunt.

»Ja.«

»Sie heiraten freiwillig?«

»Viele von ihnen schon«, bestätigte Billy.

»Und dann is' Schluss mit dem Trinken und Stehlen und Kämpfen?«

»He, ich darf immer noch ein bisschen trinken un' stehlen un' kämpfen!«, sagte Rob Irgendwer.

»Ja, Rob, aber es is' unserer Aufmerksamkeit nich' entgangen, dass du das dann erklären musst«, sagte der Doofe Wullie.

Die Größten nickten. Sie hielten das Erklären für eine sehr geheimnisvolle Kunst. Es war einfach zu und zu schwer.

»Wenn wir zum Beispiel vom Trinken und Stehlen und Kämpfen zurückkehren, dann zieht Jeannie eine beleidigte Schnute«, fuhr der Doofe Wullie fort.

Ein Stöhnen entrang sich den Größten: »Ooooh, bewahre uns vor der beleidigten Schnute!«

»Und dann verschränkt sie die Arme«, sagte Wullie unter heftigem Schaudern.

»Oooooh, schlimm, schlimm, schlimm, die verschränkten Arme!«, riefen die Größten und rauften sich die Haare.

»Ganz zu schweigen davon, dass sie ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden klopft...« Der Doofe Wullie stockte, denn der klopfende Fuß entsetzte ihn zu sehr.

»Aargh! Oooooh! Nicht der klopfende Fuß!« Einige Größte begannen damit, ihren Kopf gegen einen Baum zu rammen.

»Ja, ja, ja, schon«, sagte Rob Irgendwer verzweifelt, »aber ihr wisst ja nicht, dass das alles zu den Geheimnissen des Ehelebens gehört.«

Die Größten sahen sich an. Stille herrschte, abgesehen von einem Knirschen, als ein kleiner Baum umfiel. »Davon haben wir noch nie was gehört, Rob«, sagte der Große Yan.

»Nun, das überrascht mich nich'! Wer sollte euch auch davon erzählen? Ihr seid nich' verheiratet! Ihr habt keine Ahnung von der poetischen Sümmetrieh der ganzen Sache! Kommt näher, und ich sage euch, wasses damit auf sich hat...«

Rob schaute sich um, um festzustellen, ob außer etwa fünfhundert Größten noch jemand anders zuhörte. Dann fuhr er fort: »Nun... zuerst kommt das Trinken un' Stehlen un' Kämpfen, ganz klar. Un' wenn man dann zur Höhle zurückkehrt, ist der klopfende Fuß an der Reihe...«

»Ooooooh!«

»... un' die verschränkten Arme...«

»Aaaargh!«

»... un' natürlich die beleidigte Schnute und... Wenn ihr Blödmänner nich’ sofort mit dem Gejammer aufhört, knall' ich eure Köpfe gegeneinander, kapiert?«

Alle Größten schwiegen, bis auf einen:

»Oh, schlimm, schlimm, schlimm! Ohhhhhhh! Aaarrgh! Die... beleidigte...«

Er brach ab und sah sich verlegen um.

»Doofer Wullie?«, fragte Rob Irgendwer mit eisiger Geduld.

»Ja, Rob?«

»Ich hab' dir doch gesagt, dass du mir manchmal gut zuhören sollst, nich' wahr?«

»Ja, Rob.«

»Diesmal hättest du mir zuhören sollen.«

Der Doofe Wullie ließ den Kopf hängen. »Tschuldige, Rob.«

»Nun, wovon habe ich gerade gesprochen...? Ach ja. Wir hatten die Schnute, die Arme und den Fuß, richtig? Und dann...«

»Ist das Erklären dran!«, fiel ihm der Doofe Wullie ins Wort.

»Ja!«, schnauzte Rob Irgendwer. »Hat einer von euch Nichtsnutzen vielleicht Lust, das zu übernehmen?«

Er blickte sich um.

Die Größten wichen zurück.

»Einer Kelda etwas zu erklären, die eine Schnute zieht, die Arme verschränkt un' mit dem Fuß auf den Boden klopft?«, fuhr Rob mit unheilvoller Stimme fort. »Während der Blick ihrer hübschen Augen sagt: >Diesmal sollte die Erklärung wirklich gut sein.< Nun? Irgendwelche Freiwilligen?«

Mittlerweile brachen die Größten in Tränen aus und begannen, entsetzt am Saum ihrer Kilts zu kauen.

»Nein, Rob«, murmelten sie.

»Das will ich wohl meinen!«, sagte Rob Irgendwer triumphierend. »Natürlich will das niemand von euch übernehmen! Weil ihr keine Ahnung vom Eheleben habt!«

»Jeannie hat einmal gesagt, du würdest dir Erklärungen einfallen lassen, an die sich kein anderer Größter auf der ganzen Welt heranwagen würde«, sagte der Doofe Wullie bewundernd.

»Ja, das ist gut möglich«, erwiderte Rob voller Stolz. »Und dabei können die Größten auf eine gute alte Tradition phantasievoller Erklärungen zurückblicken!«

»Sie meinte, einige deiner Erklärungen sind so lang und verworren, dass man am Ende nich' mehr weiß, wie sie begonnen ham«, fügte der Doofe Wullie hinzu.

»Das is' eine Naturbegabung, derer ich mich nicht rühmen möchte«, sagte Rob und winkte bescheiden ab.

»Ich kann mir nich' vorstellen, dass Große gute Erklärer sin'«, sagte der Große Yan. »Sie denken zu langsam.« »Trotzdem heiraten sie«, erwiderte Billy Breitkinn.

»Ja, und der Bengel drüben im großen Schloss is' zu nett zu der großen kleinen Hexe«, sagte der Große Yan. »Sein Vater is' alt un' krank, un' bald gehören dem Jungen ein großes steinernes Schloss un' irgendein Stück Papier, auf dem steht, dass ihm auch die Hügel gehören.«

»Jeannie fürchtet, wenn er dieses Stück Papier dann hat«, sagte Billy Breitkinn, »schnappt er vielleicht über und glaubt, die Hügel wären sein Eigentum. Und wir wissen, wohin das führt, nicht wahr?«

»Ja«, sagte der Große Yan. »Zum Pflügen.«

Das war ein gefürchtetes Wort. Der alte Baron hatte einmal geplant, einige der flacheren Gebiete des Kreidelands zu pflügen, denn Getreide erzielte hohe Preise, und mit Schafen ließ sich kein Geld verdienen. Aber Oma Weh hatte damals noch gelebt und seine Meinung für ihn geändert.

Dennoch wurden einige Weiden des Kreidelands bereits umgepflügt. Mit Getreide ließ sich wirklich viel Geld verdienen. Die Größten gingen davon aus, dass auch Roland das Land pflügen lassen würde. Wurde er nicht von zwei eitlen, intriganten und unfreundlichen Tanten großgezogen?

»Ich trau' ihm nich'«, sagte der Ein Wenig Verrückte Angus. »Er liest Bücher un' so. Er schert sich nich' ums Land.«

»Ja«, bestätigte der Doofe Wullie. »Aber wenna mit der großen kleinen Hexe verheiratet wäre, würde er nich' an den Pflug denken, weil ihm die große kleine Hexe nämlich bald die beleidigten Arme zeigen würde...«

»Es heißt die verschränkten Arme!«, blaffte Rob Irgendwer ihn an.

Alle Größten sahen sich angstvoll um.

»Ooooooh, nicht die verschränkten...«

»Ruhe!«, rief Rob. »Ich muss mich ja für euch schämen! Die große kleine Hexe entscheidet selbst, wenn sie heiratet! Stimmt's, Dudler?«

»Hmm?«, machte Billy und sah nach oben. Er fing eine Schneeflocke auf.

»Ich habe gesagt, dass die große kleine Hexe heiraten kann, wen sie will, nich' wahr?«

Billy Breitkinn betrachtete die Schneeflocke.

»Billy?«, fragte Rob.

»Was?«, fragte er, als würde er gerade zu sich kommen. »Oh... ja. Glaubst du, sie möchte den Winterschmied heiraten?«

»Den Winterschmied?«, wiederholte Rob. »Er kann niemanden heiraten. Er is' eine Art Geist, es is' nichts an ihm dran!«

»Sie hat mit ihm getanzt«, sagte Billy. »Wir haben sie gesehen.« Er fing noch eine Schneeflocke auf und inspizierte sie.

»Das war nichts weiter als mädchenhafter Überschwang! Un' überhaupt, warum sollte die große kleine Hexe sich für den Winterschmied interessieren?«

»Ich habe Grund zu der Annahme«, sagte der Dudler bedächtig, während weitere Schneeflocken vom Himmel tanzten, »dass der Winterschmied sich sehr für die große kleine Hexe interessiert...«