7. Der Tanz geht weiter
Der Winterschmied und die Sommerfrau... tanzten. Der Tanz ging nie zu Ende.
Der Winter stirbt nie. Nicht so wie Menschen. Er bleibt im späten Frost, im Herbstgeruch an einem Sommerabend hängen, und wenn es heiß wird, flieht er in die Berge.
Der Sommer stirbt nie. Er versinkt im Boden. Im tiefsten Winter entstehen Knospen an geschützten Orten, und weiße Sprossen kriechen unter welkes Laub. Ein Teil von ihm flieht in die tiefsten, heißesten Wüsten, wo der Sommer nie endet.
Für Tiere waren sie nur Wetter, einfach nur Teil von allem. Aber Menschen gaben ihnen Namen, so wie sie den Sternenhimmel mit Helden und Ungeheuern füllten, denn das verwandelte sie in Geschichten. Und die Menschen lieben Geschichten, denn wenn man die Dinge in Geschichten verwandelt hat, kann man diese verändern. Und darin lag in diesem Fall das Problem.
Die Sommerfrau und der Winterschmied tanzten ums ganze Jahr herum und wechselten im Frühling und Herbst die Plätze. Über Jahrtausende hinweg hatte das gut funktioniert, bis ein Mädchen seine Füße nicht im Zaum halten konnte und sich genau im falschen Moment in den Tanz stürzte.
Aber die Geschichte hatte ein Eigenleben. Sie war jetzt wie ein Theaterstück, das rund ums Jahr aufgeführt wurde, und wenn einer der Darsteller nicht die richtige Schauspielerin war, sondern nur ein Mädchen, das die Bühne rein zufällig betreten hatte... nun, das war Pech. Dann musste sie das Kostüm tragen, den Text sprechen und hoffen, dass alles ein gutes Ende nahm. Wenn man die Geschichte veränderte, auch ohne es zu wollen, so wurde man selbst von der Geschichte verändert.
Fräulein Tick verwendete noch viel mehr Worte, wie zum Beispiel »anthropomorphe Personifikation«, aber das war das, was Tiffany davon behielt.
»Ich... bin also keine Göttin?«, fragte sie.
»Ach, wenn ich doch nur eine Tafel hätte«, seufzte Fräulein Tick. »Aber das Wasser ist schlecht für sie, und die Kreide wird so schwammig...«
»Wir glauben, dass beim Tanz Folgendes passiert ist«, sagte Oma Wetterwachs mit lauter Stimme. »Du und die Sommerfrau, ihr habt euch irgendwie... vermischt.«
»Vermischt?«
»Vielleicht hast du einige ihrer Fähigkeiten übernommen. Im Mythos von der Sommerfrau heißt es, dass Blumen wachsen, wo sie geht und steht«, erläuterte Oma Wetterwachs.
»Wo auch immer sie wandelt«, warf Fräulein Tick pedantisch ein.
»Was?«, blaffte Oma, die inzwischen vor dem Feuer auf und ab tigerte.
»Es heißt >wo auch immer sie wandelte«, sagte Fräulein Tick. »Das ist... poetischer.«
»Ha«, brummte Oma. »Poesie!«
»Gerate ich deshalb in Schwierigkeiten?«, fragte Tiffany. »Und was ist mit der echten Sommerfrau? Wird sie sauer sein?«
Oma Wetterwachs blieb stehen und sah Fräulein Tick an, die sagte: »Ah, ja... äh... wir untersuchen alle Möglichkeiten...«
»Das bedeutet, wir wissen es nicht«, sagte Oma. »Das ist die Wahrheit. Es geht hierbei um Götter, verstehst du? Und da du schon fragst: Sie können ein wenig zickig sein.«
»Ich habe sie aber beim Tanz gar nicht gesehen«, meinte Tiffany.
»Hast du den Winterschmied gesehen}«
»Äh... nein«, antwortete Tiffany. Wie sollte sie diesen wundervollen, endlosen, goldenen, umwerfenden Moment beschreiben? Er ging über Körper und Gedanken hinaus. Aber es hatte tatsächlich so geklungen, als hätten zwei Personen gefragt: »Wer bist du?« Sie zog ihre Stiefel wieder an. »Äh... wo ist sie jetzt?«, fragte sie, als sie die Schnürsenkel zuband. Vielleicht musste sie schon bald vor jemandem weglaufen.
»Vermutlich hat sie sich für den Winter wieder unter die Erde zurückgezogen. Überirdisch ist die Sommerfrau im Winter nicht unterwegs.«
»Bis jetzt«, sagte Nanny Ogg gut gelaunt. Ihr schien die Sache zu gefallen.
»Ah, damit spricht Frau Ogg das andere Problem an«, sagte Fräulein Tick. »Der, äh, Winterschmied und die Sommerf rau sind, äh, das heißt, sie haben nie...« Sie warf Nanny Ogg einen flehenden Blick zu.
»Sie sind sich nur beim Tanz begegnet«, sagte Nanny. »Aber jetzt bist du da, und er hält dich für die Sommerfrau, die frech wie Oskar im Winter herumspaziert, und deshalb könntest du... wie soll ich das sagen...« »Du könntest seinen romantischen Impetus stimulieren«, kam ihr Fräulein Tick rasch zur Hilfe.
»So wollte ich es eigentlich nicht ausdrücken«, sagte Nanny Ogg.
»Ja, kann ich mir denken!«, erwiderte Oma Wetterwachs. »Ich nehme an, du wolltest gewisse Wörter benutzen.« Tiffany hörte deutlich die Kursivschrift heraus, die darauf hinwies, dass Nannys Wörter sich nicht für den Gebrauch unter wohlerzogenen Menschen eigneten.
Nanny Ogg stand auf und versuchte, blasiert dreinzuschauen, was schwer ist, wenn man ein Gesicht wie ein fröhlicher Apfel hat.
»Ich wollte Tiffs Aufmerksamkeit hierauf lenken«, sagte sie und nahm einen Gegenstand vom Kaminsims, auf dem es ziemlich eng zuging. Es war ein kleines Haus. Tiffany hatte es sich bereits angeschaut. Es hatte vorn zwei kleine Türen, und im Moment war eine davon geöffnet. Ein winziger hölzerner Mann mit einem Zylinder auf dem Kopf war darin zu sehen.
»Das ist ein Wetterhäuschen«, sagte Nanny und reichte es Tiffany. »Ich weiß nicht, wie es funktioniert - mit besonderen Bindfäden oder so was -, aber ein kleiner Holzmann kommt heraus, wenn es regnet, und eine kleine Holzfrau zeigt sich, wenn die Sonne scheint. Die beiden Gestalten stehen jedoch auf so einer Drehscheibe, verstehst du? Sie können nie zur gleichen Zeit rauskommen. Nie. Und ich frage mich, was passiert, wenn sich das Wetter ändert... Vielleicht sieht der kleine Mann die kleine Frau aus dem Augenwinkel und denkt...«
»Geht es hier um Sex?«, fragte Tiffany.
Fräulein Tick wandte den Blick zur Decke. Oma Wetterwachs räusperte sich. Nanny brach in ein lautes Lachen aus, das selbst den kleinen Holzmann in Verlegenheit gebracht hätte.
»Sex?«, sagte sie. »Zwischen Sommer und Winter? Na, das ist ja mal ein Gedanke...«
»Denk... ihn... nicht«, sagte Oma Wetterwachs streng und wandte sich an Tiffany. »Er ist von dir fasziniert. Und wir wissen nicht, wie viel von der Kraft der Sommerfrau in dir steckt. Sie könnte recht schwach sein. Du musst der Sommer im Winter sein, bis der Winter zu Ende geht«, fügte sie hinzu. »Das ist Gerechtigkeit. Keine Ausflüchte. Du hast deine Wahl getroffen. Man bekommt, was man sich aussucht.«
»Könnte ich nicht einfach zu ihr gehen und ihr sagen, dass es mir leid tut?«, fragte Tiffany.
»Nein«, sagte Oma Wetterwachs und fing wieder an, auf und ab zu gehen. »Die alten Götter geben nicht viel auf Entschuldigungen. Sie wissen, dass das nur Worte sind.«
»Weißt du, was ich glaube, Tiff?«, fragte Nanny. »Ich glaube, sie beobachtet dich. Sie sagt sich: >Wer ist diese eingebildete junge Dame, die in meine Rolle schlüpft? Nun, soll sie eine Zeit lang spielen, mal sehen, wie es ihr gefällt.<«
»Da könnte Frau Ogg durchaus Recht haben«, sagte Fräulein Tick. Sie blätterte in Buchfinks Mythologie. »Die Götter erwarten, dass man für seine Fehler bezahlt.«
Nanny Ogg tätschelte Tiffanys Hand. »Wenn sie sehen möchte, was du kannst... Zeig es ihr, Tiff. Überrasch sie!«
»Meinst du die Sommerfrau?«, fragte Tiffany.
Nanny zwinkerte. »Oh, und auch die Sommerfrau!«
Es folgte ein Laut, als wollte Fräulein Tick loslachen, doch Oma Wetterwachs brachte sie mit einem eisigen Blick zum Schweigen.
Tiffany seufzte. Es war ja ganz nett, über Wahlmöglichkeiten zu reden, aber sie hatte keine Wahl.
»Na schön. Womit muss ich sonst noch rechnen, abgesehen von den... äh, Füßen?«
»Ich sehe gerade nach«, sagte Fräulein Tick, die immer noch in dem Buch blätterte. »Ah... hier steht, dass sie schöner war, ich meine: ist als die Sterne am Himmel...«
Aller Augen richteten sich auf Tiffany.
»Du könntest versuchen, etwas mit deinen Haaren zu machen«, sagte Nanny Ogg nach einer Weile.
»Zum Beispiel?«, fragte Tiffany.
»Irgendwas.«
»Gibt es abgesehen von den Füßen und den Haaren noch etwas?«, fragte Tiffany spitz.
»Hier steht ein Zitat aus einem sehr alten Manuskript: >Sie vandelt im Aprüll durchs Grahs und fület die Biehnenstöke mit süßigem Honing<«, berichtete Fräulein Tick.
»Wie soll ich das anstellen?«
»Keine Ahnung, aber vermutlich geschieht es von allein«, antwortete Fräulein Tick.
»Und die Sommerfrau erntet die Anerkennung dafür?«
»Ich glaube, ihre Existenz allein genügt schon, damit es passiert«, sagte Fräulein Tick.
»Sonst noch etwas?«
»Äh, ja«, sagte Fräulein Tick. »Du musst dafür sorgen, dass der Winter zu Ende geht. Und du musst natürlich mit dem Winterschmied fertig werden.«
»Wie soll ich das anstellen?«
»Wir glauben, dass du einfach... da sein musst«, sagte Oma Wetterwachs. »Ach, vielleicht weißt du ja, was es zu tun gilt, wenn es so weit ist.«
»Miep?«
»Wo soll ich sein?«, fragte Tiffany.
»Überall. Ganz egal.«
»Dein Hut hat gequiekt, Oma«, sagte Tiffany. »Er hat >Miep< gemacht.«
»Nein, das hat er nicht!«, widersprach Oma Wetterwachs.
»Doch, das hat er«, sagte Nanny Ogg. »Ich habe es ebenfalls gehört.«
Oma Wetterwachs grunzte und nahm den Hut ab. Das weiße Kätzchen, das an ihren festen Haarknoten geschmiegt lag, blinzelte ins Licht.
»Ich kann nichts dafür«, sagte Oma. »Wenn ich das verflixte Ding allein lasse, kriecht es unter die Anrichte und hört nicht auf zu weinen.« Sie sah die anderen an, und ihr Blick warnte sie vor Kommentaren. »Wie dem auch sei...«, fügte sie hinzu. »Es hält mir den Kopf warm.«
Im Sessel öffnete sich Greebos linkes Auge träge zu einem gelben Schlitz.
»Runter mit dir, Du«, sagte Oma. Sie nahm das Kätzchen von ihrem Kopf und setzte es auf den Boden. »Frau Ogg hat bestimmt Milch für dich in der Küche.«
»Nicht viel«, sagte Nanny. »Ich könnte schwören, dass jemand davon getrunken hat!«
Greebos Auge öffnete sich ganz, und er begann leise zu knurren.
»Weißt du auch, was du da tust, Esme?«, fragte Nanny Ogg und griff nach einem Kissen, bereit, damit zu werfen. »Er ist sehr eigen, wenn es um sein Revier geht.«
Das Kätzchen namens Du saß auf dem Boden und putzte sich die Ohren. Dann, als sich Greebo aufrichtete, sah es ihn unschuldig an, machte einen Riesensatz und landete mit ausgefahrenen Krallen auf seiner Nase.
»Sie auch«, sagte Oma Wetterwachs, während Greebo aus dem Sessel schreckte und durchs Zimmer stob, bevor er in der Küche verschwand. Töpfe klapperten, und ein sich auf dem Boden drehender Pfannendeckel machte Gloioioioing, bis er langsam verstummte.
Das Kätzchen tapste ins Zimmer zurück, sprang in den leeren Sessel und rollte sich wieder zusammen.
»Letzte Woche hat er einen halben Wolf hereingebracht«, sagte Nanny Ogg. »Du hast doch nicht mit dem armen Ding hexperimentiert*, oder?«
»So etwas käme mir nie in den Sinn«, erwiderte Oma Wetterwachs. »Sie weiß nur, was sie will, das ist alles.« Oma wandte sich an Tiffany. »Ich schätze, der Winterschmied wird für eine Weile nicht viel Zeit für dich haben«, sagte sie. »Bald beginnt das große Winterwetter. Das dürfte ihn erst mal beschäftigen. In der Zwischenzeit wird dich Frau Ogg Dinge lehren, mit denen sie... sich auskennt.«
Und Tiffany dachte: Wie peinlich das wohl wird?
Tief im Schnee, mitten in einem windgepeitschten Moor, saß eine kleine Gruppe reisender Bibliothekare um einen kalt werdenden Ofen und überlegte, was sie als Nächstes verbrennen sollten.
Tiffany hatte nie viel über die Bibliothekare herausfinden können. Sie waren ein wenig wie die wandernden Priester und Lehrer, die selbst die kleinsten, abgelegensten Orte be-Hexperiment: Die Anwendung von Magie, nur um zu sehen, was passiert.
suchten und jene Dinge anboten - Gebete, Medizin, Fakten -, ohne die Menschen wochenlang auskommen konnten, die sie manchmal aber ganz plötzlich brauchten. Die Bibliothekare verliehen ein Buch für einen Cent, doch oft nahmen sie als Bezahlung auch Lebensmittel oder gut erhaltene gebrauchte Kleidung. Wenn man ihnen ein Buch schenkte, durfte man sich zehnmal kostenlos eins ausleihen.
Manchmal sah man zwei oder drei ihrer Wagen auf einer Lichtung stehen und roch den Leim, den sie kochten, um damit die ältesten Bücher zu reparieren. Manche der Bücher, die sie verliehen, waren so alt, dass durch den Druck des Blicks lesender Menschen die Schrift verblasst war.
Die Bibliothekare waren geheimnisvolle Zeitgenossen. Es hieß, dass sie einen nur ansehen mussten, um zu wissen, welches Buch man brauchte, und dass sie jemandem mit einem Wort die Stimme nehmen konnten.
Doch nun suchten sie in den Regalen nach T. H. Maushalters berühmtem Buch Überleben im Schnee.
Die Lage wurde allmählich verzweifelt. Die Zugochsen hatten sich im Schneesturm losgerissen und waren fortgelaufen. Der Ofen war fast aus, und schlimmer noch: Sie waren bei der letzten Kerze angelangt, was bedeutete, dass sie bald nicht mehr lesen konnten.
»Hier in K. Pierpunkt Pfundwerts Unter Schneewieseln steht, dass die Teilnehmer der unglückseligen Expedition zur Walbucht überlebten, indem sie aus ihren eigenen Zehen eine Suppe machten«, sagte der stellvertretende Bibliothekar Grizzler.
»Interessant«, erwiderte Oberster Bibliothekar Schwinslich, der im Regal darunter stöberte. »Steht da auch das Rezept drin?«
»Nein, aber vielleicht finden wir eins in Superflua Rabens Kochen in ernsten Notlagen. Daraus hatten wir gestern das Rezept für die >Surprise von nahrhaften gekochten Socken<...« Jemand hämmerte an die Tür. Sie bestand aus zwei Teilen, und nur der obere Teil konnte geöffnet werden, so dass das Fensterbrett darunter als eine Art kleiner Schreibtisch für das Abstempeln von Büchern verwendet werden konnte. Schnee drang durch den Schlitz, während das Hämmern andauerte.
»Ich hoffe, das sind nicht wieder die Wölfe«, sagte Herr Grizzler. »In der vergangenen Nacht habe ich überhaupt keinen Schlaf bekommen!«
»Klopfen Wölfe an? Wir könnten in Rittmeister W E. Leichtigs Das Verhalten der Wölfe nachsehen«, sagte der Oberste Bibliothekar Schwinslich. »Oder wie war's, wenn du einfach die Tür öffnest? Schnell! Die Kerze geht aus!«
Grizzler öffnete die obere Hälfte der Tür. Eine große Gestalt stand auf der Treppe, im unsteten, von Wolken verhüllten Mondschein nur schwer zu erkennen.
»Ich suche nach einer Romanze«, polterte sie.
Der stellvertretende Bibliothekar überlegte kurz und fragte dann: »Ist es da draußen nicht ein bisschen frisch dafür?«
»Ihr seid doch die Leute mit all den Büchern, nich' wahr?«, fragte die Gestalt.
»Ja... ach, eine Romanze! Ja, gewiss«, sagte Herr Schwinslich und wirkte erleichtert. »Ich glaube, in dem Fall solltest du dich an Fräulein Jenkins wenden. Komm bitte mal her, Fräulein Jenkins.«
»Ihr scheint's da drin ja verdammich kalt zu ham«, sagte die Gestalt. »Es hängen Eiszapfen an der Decke.«
»Ja, aber von den Büchern haben wir sie fernhalten können«, sagte Herr Schwinslich. »Ah, Fräulein Jenkins. Der, äh, Herr sucht nach einer Romanze. Dein Fachgebiet, denke ich.«
»In der Tat«, bestätigte Fräulein Jenkins und trat zwischen den Regalen hervor. »Nach welcher Art von Romanze suchst du?«
»Oh, eine mit 'nem Umschlag, weißt du, und mit Seiten mit vielen Wörter drauf un' so«, antwortete die Gestalt. Fräulein Jenkins, die an so etwas gewöhnt war, verschwand auf der anderen Seite des Wagens im Dunkeln. »Diese Hirnis sin' total plemplem!«, erklang eine weitere Stimme. Sie schien irgendwo aus dem geheimnisvollen Buchausleiher zu kommen, aber ein ganzes Stück unter dem Kopf.
»Wie bitte?«, entgegnete Herr Schwinslich.
»Ach, null Problemo«, sagte die Gestalt schnell. »Mein Knie gibt manchmal komische Geräusche von sich, das is' ein altes Leiden...«
»Warum verbrennen sie nich' all die Bücher?«, murrte das Knie hinter der Tür.
»Entschuldigung. Du weißt sicher, in welche Schwierigkeiten Knie einen Mann in aller Öffentlichkeit bringen können«, sagte der Fremde. »Das ist wirklich nicht auszuhalten.«
»Ich weiß, wie das ist«, erwiderte Herr Schwinslich. »Bei feuchtem Wetter bereitet mir mein Ellenbogen Schmerzen.« In den unteren Regionen des Fremden schien eine Art Kampf stattzufinden - dort schlackerte er wie eine Marionette.
»Das macht einen Cent«, sagte Fräulein Jenkins. »Und ich brauche deinen Namen und die Adresse.«
Die dunkle Gestalt schauderte. »Oh, ich... wir nennen nie unseren Namen un' die Adresse!«, stieß sie hervor. »Das is' gegen unsere Religion, weißt du. Äh... ich will niemandem zu nahe treten, aber warum friert ihr euch da drin zu Tode?«
»Unsere Ochsen sind weggelaufen, und der Schnee liegt so hoch, dass man nicht durchkommt«, antwortete Herr Schwinslich.
»Ja, aber ihr habt einen Ofen un' all die trockenen alten Bücher«, meinte die dunkle Gestalt.
»Ja, ich weiß«, erwiderte der Bibliothekar verwirrt.
Es folgte ein peinliches Schweigen, das entsteht, wenn zwei Personen völlig aneinander vorbeireden. Dann:
»Was haltet ihr davon, wenn ich un' - mein Knie - losgehen un' die Ochsen für euch holen?«, fragte die geheimnisvolle Gestalt. »Dürfte doch einen Cent wert sein, oder? Großer Yan, gleich setzt es was!«
Die Gestalt verschwand hinter dem unteren Teil der Tür. Im Mondschein stob Schnee auf. Für einen Moment klang es, als würde eine Rauferei stattfinden, und dann ertönte etwas, das sich wie »Potzblitz!« anhörte.
Gerade als die Bibliothekare die Tür wieder schließen wollten, hörten sie das erschrockene Gebrüll der Ochsen, das schnell lauter wurde.
Zwei wogende Schneewehen rasten über das glitzernde Moor. Die Ochsen ritten wie Surfer darauf und heulten zum Mond empor. Dicht vor dem Wagen kam die Schneewehen zur Ruhe. Ein blauroter Schemen huschte durch die Luft, und das Buch über Romanzen verschwand.
Aber besonders seltsam erschien den Bibliothekaren dies: Als die Ochsen auf sie zugesaust waren, hatte es ausgesehen, als würden sie rückwärts laufen.
... Es war schwer, sich in Nanny Oggs Gegenwart für etwas zu schämen, denn ihr Lachen vertrieb jede Verlegenheit. Ihr selbst war jedenfalls nichts peinlich.
An diesem Tag hatte Tiffany ein zusätzliches Paar Socken an, um unangenehme pflanzliche Erscheinungen zu vermeiden, und sie ging mit Nanny Ogg »auf Besuch«, wie es bei Hexen hieß.
»Das hast du für Fräulein Verrat getan?«, fragte Nanny, als sie das Haus verließen. Große dicke Wolken sammelten sich in den Bergen und kündigten noch mehr Schnee an.
»Ja. Und auch für Frau Grad und Frau Pullunder.«
»Hat dir Spaß gemacht, wie?«, fragte Nanny und zog ihren Mantel zu.
»Manchmal. Ich meine, ich weiß, warum wir es machen, aber manchmal hat man es satt, dass die Leute so dumm sind. Alles, was mit Medizin zu tun hat, gefällt mir allerdings gut.«
»Kennst dich gut mit Kräutern aus, wie?«, fragte Nanny.
»Nein. Ich kenne mich sehr gut mit Kräutern aus.«
»Oh, da gibt aber jemand an, was?«, erwiderte Nanny.
»Wenn ich nicht wüsste, dass ich mich mit Kräutern gut auskenne, wäre ich dumm, Frau Ogg.«
»Stimmt. Gut. Es ist gut, sich mit etwas auszukennen. Nun, die nächste kleine Gefälligkeit, die wir jemandem erweisen wollen, besteht darin...«
...einer alten Frau ein Bad zu ermöglichen, soweit sich das mit zwei Blechschüsseln und ein paar Waschlappen bewerkstelligen ließ. Und das war Hexerei. Dann sahen sie nach einer Frau, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hatte, und das war Hexerei, und nach einem Mann mit einer scheußlichen Beinwunde, von der Nanny sagte, dass sie schon viel besser aussah, und auch das war Hexerei. Und dann, in einer abgelegenen Ansammlung kleiner Hütten, stiegen sie eine schmale Holztreppe hoch zu einem kleinen Schlafzimmer, in dem ein alter Mann mit einer Armbrust auf sie schoss.
»Du alter Teufel, bist du immer noch nicht tot?«, fragte Nanny. »Siehst gut aus! Ich wette, der Bursche mit der Sense hat vergessen, wo du wohnst!«
»Ich warte auf ihn, Frau Ogg!«, sagte der Alte fröhlich. »Wenn ich gehen muss, nehme ich ihn mit!«
»Dies ist mein Mädchen, Tiff. Sie lernt die Hexerei bei mir«, sagte Nanny laut. »Dies ist Herr Petersilie, Tiff... Tiff?« Sie schnippte vor Tiffanys Augen mit den Fingern.
»Was?«, fragte Tiffany. Sie starrte noch immer entsetzt auf die Armbrust.
Das Schnalzen des Bogens, als Nanny Ogg die Tür geöffnet hatte, war schlimm genug gewesen, aber für den Bruchteil einer Sekunde hätte sie schwören können, dass ein Pfeil durch Nanny Ogg hindurchgesaust war und sich in den Türrahmen gebohrt hatte.
»Auf eine junge Dame zu schießen, Willi... Du solltest dich schämen«, sagte Nanny Ogg streng und klopfte die Kissen auf. »Und Frau Wünschelrute sagt, dass du auf sie geschossen hast, als sie dich besucht hat«, fügte sie hinzu und stellte ihren Korb neben das Bett. »Behandelt man so eine ehrbare Frau, die einem das Essen bringt? Pfui!«
»Tut mir leid, Nanny«, brummte Willi. »Es ist nur... Sie ist so dünn wie eine Bohnenstange und trägt Schwarz. In schlechtem Licht kann man sie leicht verwechseln.«
»Herr Petersilie wartet hier auf den Tod, Tiff«, erklärte Nanny. »Frau Wetterwachs hat dir dabei geholfen, spezielle Fallen und Pfeile anzufertigen, nicht wahr, Willi?«
»Fallen?«, flüsterte Tiffany. Nanny stieß sie an und deutete auf den Boden, der mit zahlreichen mit hässlichen Stacheln ausgestatteten Fußangeln gepflastert war.
Sie alle waren mit Holzkohle auf die Dielenbretter gezeichnet.
»Nicht wahr, Willi?«, wiederholte Nanny noch lauter. »Sie hat dir bei den Fallen geholfen!«
»Ja, das hat sie!«, bestätigte Herr Petersilie. »Ha! Mit ihr möchte ich's mir nicht verderben!«
»Gut, also keine Pfeile auf irgendjemand anderen als den Tod abfeuern, klar? Sonst hilft dir Frau Wetterwachs nicht mehr«, sagte Nanny und stellte eine Flasche auf die alte Holzkiste, die Herrn Petersilies Nachtschränkchen darstellte. »Hier ist was von deiner Medizin, frisch angemischt. Wo, hat sie gesagt, sollst du den Schmerz hintun?«
»Er sitzt hier auf meiner Schulter und macht keine Schwierigkeiten, gnä' Frau.«
Nanny berührte die Schulter und schien kurz nachzudenken. »Ein braunweißer Schnörkel, länglich?«
»Ja, gnä' Frau«, sagte Herr Petersilie und zog am Korken der Flasche. »Da hockt er und krümmt sich, und ich lache ihn aus.« Der Korken löste sich. Plötzlich roch es im Zimmer nach Äpfeln.
»Er ist schon ziemlich groß«, sagte Nanny. »Heute Abend kommt Frau Wetterwachs und nimmt ihn mit.«
»In Ordnung, gnä' Frau«, sagte der Alte und füllte einen Becher bis zum Rand.
»Bitte schieß nicht auf sie, ja? Das macht sie wütend.«
Als sie aus die Hütte traten, schneite es wieder. Große, fedrige Flocken fielen - kein gutes Zeichen.
»Ich schätze, das war's für heute«, verkündete Nanny. »Ich muss mich drüben in Schnitte um einige Dinge kümmern, aber wir machen uns morgen mit dem Besen auf den Weg.«
»Der Pfeil, den er auf uns abgeschossen hat...«, sagte Tiffany.
»Einbildung.« Nanny lächelte.
»Für einen Moment sah er echt aus.«
Nanny Ogg lachte leise. »Esme Wetterwachs kann die Leute dazu bringen, sich die erstaunlichsten Dinge einzubilden!«
»Wie Fallen für den Tod?«
»Ja. So verliert der alte Bursche seinen Lebenswillen nicht ganz. Er ist auf dem Weg zur Dunklen Tür. Aber wenigstens hat Esme dafür gesorgt, dass er keine Schmerzen hat.«
»Indem sie auf seiner Schulter sitzen?«, fragte Tiffany.
»Ja«, sagte Nanny. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. »Esme hat den Schmerz aus seinem Körper geholt, damit er nicht leidet.«
»Ich wusste gar nicht, dass so etwas möglich ist!«
»Mir gelingt das nur bei Kleinigkeiten, zum Beispiel bei Zahnschmerzen und dergleichen. Esme ist darin eine wahre Meisterin. Niemand von uns ist zu stolz, sie um Hilfe zu bitten. Weißt du, sie kommt sehr gut mit Menschen zurecht. Eigentlich komisch, denn sie mag sie nicht besonders.«
Tiffany sah zum Himmel hoch, und Nanny gehörte zu den unbequemen Personen, denen nichts entgeht.
»Fragst du dich, ob dein Liebster vorbeikommt?«, sagte Nanny mit einem breiten Grinsen.
»Ich bitte dich, Nanny!«, erwiderte Tiffany schockiert.
»Aber das tust du, nicht wahr?«, beharrte Nanny, der jede Peinlichkeit fremd war. »Natürlich ist er immer da, wenn man's recht bedenkt. Du gehst durch ihn hindurch, du fühlst ihn auf der Haut, du trampelst ihn dir von den Stiefeln, bevor du ein Haus betrittst...«
»Bitte, red nicht so«, sagte Tiffany.
»Außerdem, was bedeutet Zeit schon für eine elementare Kraft?«, plauderte Nanny weiter. »Und ich schätze, Schneeflocken machen sich nicht selbst, erst recht nicht, wenn man die Beine und Arme richtig hinkriegen muss...«
Sie beobachtet mich aus dem Augenwinkel, um festzustellen, ob ich rot werde, dachte Tiffany. Das weiß ich genau.
Dann gab ihr Nanny einen Stoß in die Rippen und lachte eins ihrer Lachen, das sogar einen Felsen hätte erröten lassen.
»Sei doch froh!«, sagte sie. »Ich hatte selbst einige Freunde, die ich mir nur zu gern von den Stiefeln getrampelt hätte!«
Als Tiffany zu Bett ging, fand sie ein Buch unter dem Kopfkissen.
Der Titel in feurig roten Buchstaben lautete SPIELZEUG DER LEIDENSCHAFT von Marjorie J. Leibchen. In kleinerer Schrift stand darunter: Götter und Menschen verwehrten ihnen ihre Liebe, aber sie hörten nicht darauf!!! Die qualvolle Geschichte einer stürmischen Romanze, aus der Feder der Autorin von ENTZWEITE HERZEN!!!
Das Titelbild zeigte eine junge Frau mit dunklem Haar und recht knapper Bekleidung, wie Tiffany fand. Haare und Kleid flatterten im Wind. Die Frau wirkte wild entschlossen, aber auch ein bisschen kühl. Ein junger Mann auf einem Pferd beobachtete sie aus einiger Entfernung. Am Himmel zeigten sich die dunklen Wolken eines heranziehenden Gewitters.
Seltsam. Im Buch klebte eine Bibliotheksmarke, und Nanny lieh sich nichts aus der Bibliothek aus. Nun, es konnte nicht schaden, noch ein wenig zu lesen, bevor sie die Kerze auspustete.
Tiffany blätterte zur ersten Seite. Dann zur zweiten. Als sie bei Seite neunzehn anlangte, stand sie auf und holte das Ungekürzte Wörterbuch.
Ich habe ältere Schwestern, und einiges davon weiß ich schon, dachte sie. Aber bei einigen Dingen lag Marjorie J. Leibchen auf geradezu lächerliche Weise falsch. Die Mädchen des Kreidelands liefen nicht oft vor jungen Männern weg, die reich genug waren, um ein eigenes Pferd zu besitzen - zumindest nicht für lange und nicht, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, sie einzuholen. Und Megs, die Heldin des Buches, hatte offenbar keine Ahnung von Landwirtschaft. Kein junger Mann würde sich für eine Frau interessieren, die weder eine Kuh behandeln noch ein Ferkel tragen konnte. Welche Hilfe wäre sie auf dem Hof? Dadurch, dass sie nur mit kirschroten Lippen in der Gegend herumstand, wurden weder die Kühe gemolken noch die Schafe geschoren! Apropos: Wusste Marjorie J. Leibchen irgendetwas über Schafe? Das Buch spielte im Sommer in einer Schafzucht, nicht wahr? Wann also scherten sie die Schafe? Das zweitwichtigste Ereignis bei einer Schafzucht, und es wurde nicht einmal erwähnt?
Es konnte natürlich sein, dass sie eine Rasse wie den Kleinen Wärmer oder das Tiefland-Kurzhaar hielten, die nicht geschoren werden mussten, aber die waren selten, und ein vernünftiger Autor hätte bestimmt darauf hingewiesen.
Und die Szene im fünften Kapitel, als Megs die Schafe sich selbst überließ, um mit Roger Nüsse zu sammeln... wie konnte man nur so dumm sein? Die Schafe hätten weglaufen können, und wieso glaubten Megs und Roger eigentlich, im Juni irgendwo Nüsse zu finden?
Tiffany las noch ein bisschen weiter und dachte: Oh, ich verstehe. Hmm. Ha. Es ging also gar nicht um Nüsse. Im Kreideland nennen wir so etwas »nach Kuckucksnestern suchen«.
An dieser Stelle unterbrach sie die Lektüre, um nach unten zu gehen und eine neue Kerze zu holen. Dann kroch sie wieder unter die Bettdecke, wärmte ihre Füße auf und las weiter.
Sollte Megs den mürrischen, dunkeläugigen William heiraten, dem bereits zweieinhalb Kühe gehörten, oder sollte sie Rogers Werben nachgeben, der sie »meine stolze Schönheit« nannte und ganz offensichtlich ein schlechter Mensch war, denn er ritt einen schwarzen Hengst und hatte einen Schnurrbart?
Warum glaubt Megs, einen der beiden Männer heiraten zu müssen?, fragte sich Tiffany. Und überhaupt, sie verbrachte zu viel Zeit damit, sich bedeutungsvoll irgendwo anzulehnen und einen Schmollmund zu ziehen. Musste denn da niemand arbeiten? Und wenn sie immer so angezogen war, holte sie sich früher oder später eine Erkältung.
Es war erstaunlich, was sich diese Männer gefallen ließen. Aber es gab einem zu denken.
Tiffany pustete die Kerze aus und rutschte langsam unter die Daunendecke, die so weiß war wie Schnee.
Schnee bedeckte das Kreideland. Er fiel um die Schafe herum und verlieh ihnen eine schmutziggelbe Farbe. Er verbarg die Sterne, leuchtete jedoch in seinem eigenen Licht. Er klebte an den Fenstern der Hütten und Häuser und schluckte den orangefarbenen Kerzenschein. Aber das Schloss konnte er nicht einhüllen. Es erhob sich auf einem Hügel, in einiger Entfernung vom Dorf, ein Turm aus Stein, der über all die Strohdachhäuser herrschte.
Sie sahen aus, als seien sie aus dem Land emporgewachsen, aber das Schloss regierte es. Es sagte: Du gehörst mir.
In seinem Zimmer kritzelte Roland sorgfältig Buchstaben aufs Papier. Dem Hämmern an der Tür schenkte er keine Beachtung.
Annagramma, Petulia, Fräulein Verrat - Tiffanys Briefe waren voller ferner Menschen mit seltsam klingenden Namen. Manchmal versuchte er, sich diese Personen vorzustellen, und er fragte sich, ob Tiffany sie erfunden hatte. Die Hexerei war offenbar... nicht so, wie viele Leute glaubten. Sie war eher...
»Hast du das gehört, du ungezogener Junge?«, fragte Tante Danuta triumphierend. »Jetzt ist die Tür auch von dieser Seite verriegelt! Ha! Es ist nur zu deinem Besten, weißt du. Du wirst da drin bleiben, bis du bereit bist, dich zu entschuldigen!«
...harte Arbeit, um ehrlich zu sein. Achtbar, wie zum Beispiel die Krankenbesuche und so, aber sehr anstrengend und nicht sehr magisch. Roland hatte vom »Tanzen ohne Schlüpfer« gehört und war sehr bemüht, es sich nicht vorzustellen, aber so etwas schien es ohnehin nicht zu geben. Selbst das Fliegen mit Besen klang...
»Und wir wissen jetzt von deinem Geheimgang, o ja! Er wird zugemauert! Du wirst die Menschen, die nur dein Bestes wollen, nicht mehr an der Nase herumführen!«
... langweilig. Roland hielt kurz inne und starrte mit leerem Blick auf die sorgfältig aufgeschichteten Brotlaibe und Würste neben dem Bett. Ich sollte mir heute Nacht ein paar Zwiebeln besorgen, dachte er. General Taktikus meint, dass sie unschlagbar für das richtige Funktionieren des Verdauungssystems sind, wenn kein frisches Obst zur Verfügung steht.
Was sollte er bloß schreiben... ja! Er würde ihr von der Party erzählen. Er war nur deshalb hingegangen, weil sein Vater ihn in einem seiner guten Momente darum gebeten hatte. Es war wichtig, sich mit den Nachbarn gutzustellen, aber nicht mit den Verwandten. Es war ganz schön gewesen, einmal aus dem Schloss herauszukommen, und er hatte das Pferd in Herrn Geimligs Stall unterstellen können, wo die Tanten nie danach suchen würden. Ja... Tiffany würde sich freuen, von der Party zu lesen.
Die Tanten brüllten schon wieder etwas durch die Tür. Sie hatten die Tür von Vaters Zimmer verriegelt. Und sie verrammelten den Geheimgang. Das bedeutete, dass ihm nur noch der lose Stein hinter dem Wandteppich im Nebenzimmer blieb, außerdem die lockere Steinplatte, die es ihm ermöglichte, ins Zimmer darunter zu gelangen, und natürlich die Kette am Fenster, an der er bis zum Boden hinabklettern konnte. Und auf dem Schreibtisch, auf General Taktikus' Buch, lagen nagelneue Schlüssel für alle Türen des Schlosses. Er hatte sie von Herrn Geimlig anfertigen lassen. Der Schmied war ein sehr umsichtiger Mann und wusste, wie vorteilhaft es sein konnte, den nächsten Baron zum Freund zu haben.
Roland konnte nach Belieben kommen und gehen, was auch immer die Tanten dagegen unternahmen. Sollten Danuta und Araminta seinen Vater schikanieren und herumschreien, so viel sie wollten - ihn würden sie nicht unter ihre Fuchtel kriegen.
Aus Büchern konnte man viel lernen.
Der Winterschmied lernte. Es ging nur schwer und langsam voran, wenn man auf ein Gehirn aus Eis zurückgreifen musste. Aber er wusste jetzt über die Schneemänner Bescheid. Die kleineren Menschen bauten sie. Das war interessant. Abgesehen von den Frauen mit den spitzen Hüten schienen ihn die größeren Menschen nicht zu hören. Sie wussten, dass keine unsichtbaren Geschöpfe aus der Luft zu ihnen sprachen.
Die kleinen Menschen hingegen hatten noch nicht herausgefunden, was unmöglich war.
In der großen Stadt stand ein großer Schneemann.
Es wäre angebrachter gewesen, ihn Schneematschmann zu nennen. Eigentlich war es Schnee, aber wenn er durch
die dichten Nebelschwaden der Stadt gefallen war, durch Smog und Rauch, hatte sich das Weiß in ein gelbliches Grau verwandelt, und auf dem Pflaster landete schließlich vor allem das, was von Wagenrädern aus dem Rinnstein geschleudert worden war. Man konnte bestenfalls von einem Fast-Schneemann sprechen. Aber drei schmuddelige Kinder bauten ihn trotzdem, denn im Winter baut man eben etwas, das man als Schneemann bezeichnen kann. Selbst wenn er gelb ist.
Sie hatten sich alle Mühe gegeben, etwas Passendes dafür aufzutreiben, und dem Schneemann als Augen zwei Pferdeäpfel''! und als Nase eine tote Ratte gegeben.
Und dann sprach der Winterschmied in ihren Köpfen zu ihnen.
Kleine Menschen, warum macht ihr das?
Der Junge, der wohl der älteste Junge war, sah das Mädchen an, das wohl das älteste Mädchen war. »Ich verrate dir, dass ich das gehört habe, wenn du sagst, dass du es ebenfalls gehört hast«, sagte er.
Das Mädchen war noch klein genug, um nicht »Schneemänner können nicht sprechen« zu denken, obwohl es gerade von einem angesprochen worden war, und deshalb sagte es: »Man klebt das dran, damit ein Schneemann daraus wird.«
Macht mich das zu einem Menschen?
»Nein, weil...« Das Mädchen zögerte.
»Du hast keine Eingeweide«, sagte das dritte und kleinste Kind, das entweder der jüngste Junge oder das jüngste Mädchen sein konnte. Das ließ sich kaum feststellen, denn es trug so viele Kleidungsschichten, dass es kugelrund war. Es hatte zwar eine rosarote Pudelmütze mit einem Bommel dran auf, aber das musste nichts heißen. Offenbar gab es jemanden, der gut für das Kind sorgte, denn die Fäustlinge waren mit einem aufgestickten »R« und »L« gekennzeichnet. Ein »V« und ein »H« zierten die Vorder- beziehungsweise Hinterseite des Mantels, ein »O« den Bommel der Mütze und vermutlich ein »U« die Unterseite der Gummistiefel. Es bedeutete: Man wusste zwar nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, aber man konnte erkennen, dass der richtige Teil des Kinds nach oben zeigte und in welche Richtung es blickte.
Ein Wagen rollte vorbei, und die Räder wühlten eine weitere Woge Schneematsch auf.
Eingeweide ?, fragte die geheimnisvolle Stimme des Schneemanns. Aus speziellem Staub, ja! Aber was für ein Staub?
»Eisen«, antwortete der vermutlich älteste Junge sofort. »Genug Eisen für einen Nagel.«
»Ach ja, stimmt, so geht das«, sagte das vermutlich älteste Mädchen. »Wir haben danach Hüpfspiele gemacht. Ah... >Genug Eisen für einen Nagel, genug Wasser, um eine Kuh zu ertränken...<«
»Einen Hund«, warf der vermutlich älteste Junge ein. »Es heißt, >Genug Wasser, um einen Hund zu ertränken, genug Schwefel, um die Flöhe zu töten .< Und es heißt: >Genug Gift, um eine Kuh zu töten.<«
Was ist das?, fragte der Winterschmied.
»Es ist... eine Art... altes Lied«, antwortete der vermutlich älteste Junge.
»Eher eine Art Gedicht«, sagte das vermutlich älteste Mädchen. »Das kennt doch jeder.«
»Der Titel lautet >Dies sind die Dinge, aus denen der Mensch besteht<«, sagte das Kind, dessen richtiger Teil nach oben zeigte.
Erzählt mir auch den Rest, verlangte der Winterschmied, und die Kinder blieben auf dem kalten Pflaster stehen und erzählten ihm alles, was sie davon wussten.
Als sie fertig waren, fragte der vermutlich älteste Junge hoffnungsvoll: »Kannst du uns vielleicht fliegen lassen?«
Nein, erwiderte der Winterschmied. Ich muss Dinge suchen! Dinge, aus denen der Mensch besteht!
Eines Nachmittags, als der Himmel kalt wurde, klopfte es wie wild an Nannys Tür. Wie sich herausstellte, war es Annagramma, die fast ins Zimmer gefallen wäre. Sie sah schrecklich aus, und ihr klapperten die Zähne. Nanny und Tiffany führten sie zum Feuer, aber Annagramma begann zu reden, bevor ihre Zähne warm geworden waren.
»Schschschschädel!«, brachte sie hervor.
Ach du Schande, dachte Tiffany.
»Was ist damit?«, fragte sie, als Nanny Ogg mit einem heißen Getränk aus der Küche zurückkehrte. »Fffffräulein Vwwerrats Schschschädel!«
»Ja? Was ist mit ihnen?«
Annagramma trank einen Schluck aus dem Becher. »Was hast du damit gemacht?«, schnaufte sie, während ihr Kakao das Kinn hinabtropfte.
»Ich habe sie vergraben.«
»O nein! Warum?«
»Es waren Schädel. Man kann Schädel nicht einfach herumliegen lassen!«
Annagramma sah sich verzweifelt um. »Leihst du mir eine Schaufel?«
»Annagramma! Du willst doch nicht etwa Fräulein Verrats Grab öffnen!«
»Aber ich brauche die Schädel!«, beharrte Annagramma. »Die Leute hier... Es ist wie früher! Ich habe die Hütte mit meinen eigenen Händen getüncht! Habt ihr eine Ahnung, wie lange es dauert, Schwarz mit Weiß zu übermalen? Die Leute haben sich beschwert! Von Kristalltherapie wollen sie überhaupt nichts wissen, sie runzeln nur die Stirn und sagen, dass Fräulein Verrat ihnen eine klebrige schwarze Medizin gab, die schrecklich schmeckt, aber wirkt! Und sie bitten mich dauernd, irgendwelche albernen kleinen Problemchen für sie zu lösen, und ich weiß überhaupt nicht, was sie meinen. Und heute Morgen ist ein alter Mann gestorben, und ich muss ihn aufbahren und heute Nacht bei ihm wachen. Ich meine, es ist so... igitt...«
Tiffany sah zu Nanny Ogg, die in ihrem Sessel saß und Pfeife rauchte. Ihre Augen glänzten. Als sie Tiffanys Gesichtsausdruck bemerkte, zwinkerte sie ihr zu und sagte: »Ich lasse euch Mädels allein, damit ihr euch ungestört unterhalten könnt, ja?«
»Gute Idee, Nanny. Und bitte lausch nicht an der Tür.«
»Ein privates Gespräch belauschen?«, fragte Nanny. »Käme mir nie in den Sinn.« Sie ging in die Küche.
»Lauscht sie?«, flüsterte Annagramma. »Ich falle tot um, wenn Frau Wetterwachs davon erfährt.«
Tiffany seufzte. Begriff Annagramma denn gar nichts? »Natürlich lauscht sie. Sie ist eine Hexe.«
»Aber sie hat gesagt, dass sie nicht lauschen würde!«
»Sie wird lauschen und vorgeben, dass sie es nicht getan hat, und sie wird niemandem davon erzählen«, sagte Tiffany. »Immerhin ist es ihr Haus.«
Annagramma wirkte verzweifelt. »Und am Dienstag muss ich wahrscheinlich los und in irgendeinem Tal bei der Geburt eines Kindes helfen! Eine alte Frau ist zu mir gekommen und hat mir deswegen ein Ohr abgekaut!«
»Das dürfte Frau Oslicks Baby sein«, sagte Tiffany. »Aber ich habe dir doch einige Hinweise hinterlassen. Hast du sie nicht gelesen?«
»Vielleicht hat Frau Ohrwurm sie weggeräumt«, sagte Annagramma.
»Du hättest sie lesen sollen! Es hat mich eine Stunde gekostet, all das aufzuschreiben!«, sagte Tiffany vorwurfsvoll. »Drei Seiten! Hör mal... beruhig dich. Hast du denn gar nichts über Geburtshilfe gelernt?«
»Frau Ohrwurm sagt, die Geburt ist ein natürlicher Vorgang, und man sollte der Natur ihren Lauf lassen«, sagte Annagramma, und Tiffany glaubte, ein abfälliges Schnauben hinter der Küchentür zu hören. »Aber ich kenne einen beruhigenden Gesang.«
»Na, der hilft bestimmt«, sagte Tiffany matt.
»Frau Ohrwurm meint, die Dorffrauen wüssten schon, was zu tun ist«, sagte Annagramma hoffnungsvoll. »Sie sagt, ich sollte ihrer bäuerlichen Weisheit vertrauen.«
»Nun, die Alte, die bei dir war, ist Frau Obbel, und sie besitzt keine bäuerliche Weisheit, sondern bäuerliche Ignoranz«, erwiderte Tiffany. »Wenn man nicht aufpasst, legt sie Laubmulch auf Wunden. Weißt du, nur weil eine Frau keine Zähne mehr hat, ist sie noch lange nicht weise. Es könnte sogar bedeuten, dass sie lange Zeit dumm gewesen ist. Lass sie bis zur Geburt nicht in Frau Oslicks Nähe. Und es wird keine leichte Geburt sein.«
»Oh, ich kenne viele Zauberformeln, die hilfreich sein können...«
»Nein! Keine Magie! Nur um ihr den Schmerz zu nehmen! Das weißt du doch, oder?«
»Ja, aber Frau Ohrwurm sagt...«
»Warum gehst du dann nicht und bittest Frau Ohrwurm um Hilfe?«
Annagramma starrte Tiffany groß an. Der Satz war etwas lauter als beabsichtigt aus ihr herausgeplatzt. Und dann veränderte sich Annagrammas Gesicht zu etwas, das wohl ein freundlicher Ausdruck sein sollte. Dadurch sah sie ein bisschen irre aus.
»He, ich habe eine großartige Idee!«, sagte sie mit einer Stimme so hell wie ein Kristall kurz vor dem Zerspringen. »Warum kommst du nicht mit zur Hütte zurück und arbeitest für mich?«
»Nein. Ich muss mich um andere Dinge kümmern.«
»Aber du kennst dich doch so gut mit all diesem ekligen Kram aus, Tiffany«, sagte Annagramma mit honigsüßer Stimme. »Das scheint dir zu liegen.«
»Das kommt, weil ich schon als kleines Kind beim Ablammen geholfen habe. Wenn man so kleine Hände hat, kann man in die Schafe hineingreifen und Dinge entwirren.«
Und jetzt bekam Annagramma den gequälten Gesichtsausdruck, den sie immer hatte, wenn sie etwas nicht sofort verstand.
»Hineingreifen? In die Schafe? Du meinst, durch den...«
»Ja, natürlich.«
»Dinge entwirren?«
»Manchmal versuchen die Lämmer, rückwärts geboren zu werden«, sagte Tiffany.
»Rückwärts«, murmelte Annagramma schwach.
»Und es kann noch schlimmer werden, wenn es Zwillinge sind.«
»Zwillinge...« Dann sagte Annagramma so, als hätte sie die Schwachstelle in Tiffanys Geschichte entdeckt:
»Aber ich habe schon viele Bilder von Schäfern und Schafen gesehen, und da war nie so was drauf. Ich dachte, Schäfer... stehen einfach da und beobachten die Schafe beim Grasfressen.«
Manchmal bekam man das Gefühl, dass die Welt ein besserer Ort gewesen wäre, wenn Annagramma hin und wieder mal eine Ohrfeige bekommen würde. Die dummen, gedankenlosen Beleidigungen, ihr kolossaler Mangel an Interesse an allen Menschen außer ihr selbst, der Umstand, dass sie einen behandelte, als wäre man schwerhörig und ein bisschen blöd... das konnte einen zur Weißglut bringen. Aber man nahm es hin, weil man dann und wann einen Blick auf das erhaschen konnte, was sich dahinter verbarg: ein ängstliches, verzweifeltes Gesicht, das die Welt beobachtete wie ein Häschen den Fuchs. Das Häschen schrie den Fuchs an, in der Hoffnung, dass er weglief und ihm nichts tat. Und eine Versammlung von Hexen, die als klug galten, hatte ihr diese Hütte anvertraut, was selbst für eine erfahrene Hexe eine schwierige Aufgabe gewesen wäre.
Es ergab keinen Sinn.
Nein, es ergab überhaupt keinen Sinn.
»So was passiert nur bei einer schweren Geburt«, sagte Tiffany, während es in ihrem Kopf hektisch arbeitete. »Und die findet unter freiem Himmel statt, in Dunkelheit, Kälte und Regen. Maler scheinen bei solchen Gelegenheiten nie zugegen zu sein. Erstaunlich.«
»Warum siehst du mich so an?«, fragte Annagramma. »Als wäre ich gar nicht da!«
Tiffany blinzelte. Na schön, dachte sie. Wie packe ich die Sache an?
»Also gut, ich komme und helfe dir beim Aufbahren«, sagte sie so ruhig wie möglich. »Und ich schätze, ich kann dir auch bei Frau Oslick helfen. Oder frag Petulia. Sie ist gut. Doch die Totenwache musst du selbst übernehmen.«
»Ich soll die ganze Nacht bei einem toten Menschen sitzen?«, fragte Annagramma und schauderte.
»Du kannst dir was zu lesen mitnehmen«, schlug Tiffany vor.
»Ich schätze, ich könnte den Stuhl mit einem Schutzkreis umgeben...«, murmelte Annagramma.
»Nein«, sagte Tiffany. »Keine Magie. Das hat dir Frau Ohrwurm doch bestimmt gesagt, oder?«
»Aber ein Schutzkreis...«
»Er weckt Aufmerksamkeit. Er könnte etwas anlocken, das nachschauen will, warum er da ist. Keine Sorge, die Totenwache soll nur die alten Leute glücklich machen.«
»Ah... was meinst du damit, dass er irgendwas anlocken könnte?«, fragte Annagramma.
Tiffany seufzte. »Na schön, ich bleibe bei dir, aber nur dieses eine Mal«, sagte sie. Annagramma strahlte.
»Und was die Schädel betrifft...«, fügte Tiffany hinzu. »Warte einen Moment.« Sie ging nach oben und holte den Boffo-Katalog, den sie in ihrem alten Koffer versteckt hatte.
Sie rollte ihn sorgfältig zusammen, ging wieder hinunter und reichte ihn Annagramma. »Sieh ihn dir später an«, sagte sie. »Wenn du allein bist. Er könnte dich auf die eine oder andere Idee bringen. In Ordnung? Um sieben heute Abend bin ich bei dir.«
Als Annagramma gegangen war, setzte sich Tiffany und zählte leise. Bei fünf kam Nanny Ogg herein und staubte energisch ein paar Ziergegenstände ab, bevor sie sagte: »Oh, ist deine kleine Freundin schon weg?« »Hältst du mich für blöd?«, fragte Tiffany.
Nanny hörte auf, so zu tun, als würde sie staubwischen. »Ich weiß nicht, wovon du redest, da ich nicht gelauscht habe«, sagte sie. »Aber wenn ich gelauscht hätte, würde ich denken, dass du keinen Dank erwarten darfst. Das ist meine Meinung.«
»Oma hätte sich nicht einmischen sollen«, sagte Tiffany.
»Ach nein?«, erwiderte Nanny mit ausdrucksloser Miene.
»Ich bin nicht dumm, Nanny«, sagte Tiffany. »Ich habe sie durchschaut.«
»Hast sie durchschaut, wie? Ganz schön clever«, sagte Nanny Ogg und nahm in ihrem Sessel Platz. »Und was genau hast du herausgefunden?«
Das würde nicht einfach werden. Normalerweise war Nanny immer fröhlich. Wenn sie ernst wurde, so wie jetzt, konnte einen das ganz schön nervös machen. Doch Tiffany ließ sich nicht den Wind aus den Segeln nehmen.
»Ich konnte keine Hütte übernehmen«, sagte sie. »Oh, mit den meisten alltäglichen Sachen komme ich gut klar, aber für eine eigene Hütte muss man älter sein. Es gibt Dinge, die einem die Leute nicht sagen, wenn man dreizehn ist, ob man einen spitzen Hut trägt oder nicht. Aber Oma hat sich überall für mich eingesetzt, und deshalb sahen darin alle einen Wettstreit zwischen Annagramma und mir, nicht wahr? Und dann haben sie sich für sie entschieden, weil sie älter ist und einen sehr tüchtigen Eindruck macht. Und jetzt bricht alles in sich zusammen. Es ist nicht ihre Schuld, dass man sie Magie anstatt Hexerei lehrte. Oma will, dass sie versagt, damit alle wissen, wie wenig Frau Ohrwurm als Lehrerin taugt. Und das finde ich nicht gut.«
»An deiner Stelle würde ich nicht vorschnell darüber urteilen, was Esme Wetterwachs will«, erwiderte Nanny Ogg. »Natürlich werde ich kein Wort sagen. Geh nur und hilf deiner Freundin, wenn du möchtest, aber du musst trotzdem weiter für mich arbeiten, klar? Das ist nur recht und billig. Was machen die Füße?«
»Denen geht's gut, Nanny. Danke der Nachfrage.«
Mehr als hundert Meilen entfernt lebte Herr Fusel Johnson, der nichts von Tiffany, Nanny Ogg oder sonst irgendwas wusste, abgesehen von Uhren, mit denen er sich seinen Lebensunterhalt verdiente. Er verstand es auch, die Küchenwände mit Kalkmilch zu tünchen - eine einfache und billige Methode, hübsch weiße Wände zu bekommen, auch wenn das Zeug ein bisschen arg flüssig war. Er hatte keine Ahnung, warum mehrere Handvoll des weißen Pulvers plötzlich aus dem Mischgefäß stoben, bevor er Wasser hinzugeben konnte, einen Moment wie ein Geist in der Luft schwebten und dann durch den Kamin verschwanden. Letzten Endes führte er es auf die Unmengen von Trollen in der Gegend zurück. Das war nicht besonders logisch, aber mit Logik haben solche Überzeugungen ohnehin wenig zu tun.
Und der Winterschmied dachte: Genug Kalk, um einen Menschen zu machen!
In jener Nacht saß Tiffany bei Annagramma und dem alten Herrn Tissot, der allerdings lag, weil er tot war. Tiffany hatte nie gern bei Toten gewacht. Es war nicht unbedingt etwas, an dem man Gefallen finden konnte. Sie empfand es immer als Erleichterung, wenn der Himmel schließlich grau wurde und die Vögel zu singen begannen.
Während der Nacht machte Herr Tissot manchmal leise Geräusche. Natürlich war es nicht Herr Tissot selbst, der sie machte, denn er war vor Stunden dem Tod begegnet. Verursacht wurden sie von dem Körper, den er zurückgelassen hatte, und diese Geräusche unterschieden sich kaum von denen eines alten Hauses, das langsam auskühlt.
Es war wichtig, sich gegen zwei Uhr nachts diese Dinge in Erinnerung zu rufen. Besonders wichtig war es, wenn die Kerze plötzlich zu flackern begann.
Annagramma schnarchte. Niemand mit einer so kleinen Nase sollte imstande sein, so laut zu schnarchen. Es hörte sich an wie ein ganzes Sägewerk. Wenn sich in dieser Nacht böse Geister in der Nähe befanden - dieses Geräusch verjagte sie bestimmt.
Das Gnh gnh gnh war eigentlich gar nicht so schlimm, und auch mit dem Bloooooorrrt! konnte Tiffany leben. Es war die Pause dazwischen, die ihr auf die Nerven ging -nachdem sich das Gnh gnh gnh immer weiter gesteigert hatte und bevor es sich schließlich in dem Bloooooorrrt! entlud. Sie war immer unterschiedlich lang. Manchmal kam das Bloooooorrrt! direkt nach dem Gnh gnh gnh, doch ein andermal folgte dem Gnh gnh gnh eine so lange Stille, dass Tiffany unwillkürlich den Atem anhielt, während sie auf das Bloooooorrrt! wartete. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn Annagramma regelmäßiger geschnarcht hätte. Manchmal hörte sie ganz auf, und dann herrschte herrliche Stille, bis das Gegrunze erneut begann, meistens mit einem leisen, schmatzenden Mni mni, wenn Annagramma ihre Position im Sessel veränderte.
Wo bist du, Blumenfrau? Was bist du? Du solltest schlafen!
Die Stimme war so leise, und Tiffany hörte sie nur, weil sie voller Anspannung auf das nächste Gnh gnh gnh wartete. Und da war es schon...
Gnh gnh gnh!
Lass mich dir meine Welt zeigen, Blumenfrau. Lass mich dir alle Farben des Eises zeigen!
BLOOOOOORRRT!
Etwa drei Viertel von Tiffany dachten: O nein! Findet er mich, wenn ich antworte? Nein. Wenn er mich finden könnte, wäre er hier. Meine Hand juckt nicht.
Das verbliebene Viertel dachte: Ein Gott oder ein gottähnliches Wesen spricht zu mir, und ich könnte wirklich gut auf das Schnarchen verzichten, Annagramma, herzlichen Dank.
Gnh gnh gnh!
»Ich habe gesagt, dass es mir leid tut«, flüsterte sie in das tanzende Kerzenlicht hinein. »Ich habe den Eisberg gesehen. Das war... äh... sehr nett von dir.«
Ich habe noch viel mehr davon gemacht.
BLOOOOOORRRT!
Noch mehr Eisberge, dachte Tiffany. Große, kalte, schwimmende Berge, die wie ich aussehen und Nebelbänke und Schneestürme hinter sich herziehen. Wie viele Schiffe wohl mit ihnen zusammenstoßen?
»Du hättest dir nicht all die Mühe machen sollen«, hauchte sie.
Ich werde immer stärker! Ich lausche und lerne! Ich verstehe die Menschen!
Draußen begann eine Drossel zu singen. Tiffany pustete die Kerze aus, und graues Licht kroch ins Zimmer. Lauschen und lernen... Wie konnte ein Schneesturm irgendetwas verstehen?
Tiffany, Blumenfrau! Ich mache aus mir einen Mann!
Ein stotterndes Brummen ertönte, als Annagrammas Gnh gnh gnh und Bloooooorrrt! sich miteinander vermischten und sie erwachte.
»Ah«, sagte sie, reckte die Arme und gähnte. Dann sah sie sich um. »Scheint alles gut gegangen zu sein.«
Tiffany starrte an die Wand. Er machte einen Mann aus sich? Was bedeutete das? Er konnte doch nicht...
»Du bist wohl nicht eingeschlafen, Tiffany, oder?«, fragte Annagramma in einem Tonfall, den sie vermutlich für neckisch hielt. »Nicht einmal für eine klitzekleine Sekunde?«
»Was?«, fragte Tiffany, den Blick noch immer auf die Wand gerichtet. »Oh, nein... nein, bin ich nicht!«
Unten ertönten Schritte. Nach einer kleinen Weile knarrten die Treppenstufen, und die niedrige Tür wurde aufgestoßen. Ein verlegen wirkender Mann in mittleren Jahren fragte: »Mama fragt, ob die Damen ein Frühstück möchten?«
»O nein, ihr habt so wenig, wir können unmöglich...«, begann Annagramma.
»Ja, bitte, für ein Frühstück wären wir sehr dankbar«, fiel Tiffany ihr ins Wort. Der Mann nickte und schloss die Tür.
»Mensch, wie kannst du so was sagen?«, fragte Annagramma, während seine Schritte die Treppe hinunter knarrten. »Das sind arme Leute! Ich dachte, du...«
»Sei still!«, fauchte Tiffany. »Sei still und wach auf! Dies sind echte Menschen! Sie sind nicht irgendeine... Vorstellung*. Wir gehen nach unten und frühstücken, und wir sagen ihnen, wie gut es schmeckt, dann danken wir ihnen, und sie danken uns, und dann gehen wir! Das bedeutet, dass alle das getan haben, was sich gehört, und das ist wichtig für diese Leute. Außerdem halten sie sich nicht für arm, denn hier sind alle arm! Aber sie sind nicht so arm, dass sie es sich nicht leisten können, das Richtige zu tun! Das wäre arm!«
Annagramma starrte sie mit offenem Mund an.
»Pass auf, was du als Nächstes sagst«, stieß Tiffany schwer atmend hervor. »Am besten sagst du gar nichts.«
Das Frühstück bestand aus Schinken und Eiern, und es wurde in höflichem Schweigen verzehrt. Danach flogen sie immer noch schweigend zu der Hütte zurück, die für die Dorfbewohner wahrscheinlich stets »Fräulein Verrats Hütte« bleiben würde.
Ein kleiner Junge wartete dort. Als Tiffany und Annagramma landeten, sprudelte er hervor: »Frau Obbel sagt, das Baby ist unterwegs, und sie sagt, ihr würdet mir einen Cent dafür geben, dass ich hierher gelaufen bin.«
»Du hast doch eine Tasche, oder?«, wandte sich Tiffany an Annagramma.
»Ja, äh, viele.«
»Ich meine eine Bereitschaftstasche. Du weißt schon, sie steht immer neben der Tür, mit allen Dingen drin, die man braucht, wenn...«
Tiffany sah den erschrockenen Ausdruck in Annagrammas Gesicht. »Na schön, du hast also keine Tasche. Dann müssen wir eben so zurechtkommen. Gib ihm einen Cent und lass uns aufbrechen.«
»Können wir nicht jemanden um Hilfe bitten, falls etwas schief geht?«, fragte Annagramma, als sie abhoben. »Wir sind die Hilfe«, erwiderte Tiffany schlicht. »Und da du die hiesige Hexe bist, überlasse ich dir den schweren Teil...«
...womit sie meinte, Frau Obbel zu beschäftigen. Frau Obbel war keine Hexe, obwohl die meisten Leute sie dafür hielten. Sie sah wie eine aus - anders ausgedrückt, sie sah aus, als hätte sie an dem Tag, als bei Boffo behaarte Warzen im Sonderangebot waren, alle aufgekauft -, und sie war ein wenig verrückt. Man musste sie mindestens eine Meile von einer Mutter fernhalten, die ihr erstes Kind bekam, denn sonst würde sie ihr ausführlich schildern (beziehungsweise vorgackeln), was alles schief gehen konnte, und zwar so, als würde tatsächlich alles schief gehen. Aber eigentlich war sie keine schlechte Krankenschwester, wenn man sie daran hinderte, jedes Leiden mit einer Packung aus Laubmulch zu behandeln.
Es ging recht laut und ziemlich chaotisch zu, aber Frau Obbels Prophezeiungen bewahrheiteten sich nicht. Das Ergebnis war ein Junge, der nur deshalb nicht zu Boden fiel, weil Tiffany ihn auffing. Annagramma wusste nicht, wie man Babys hielt.
Doch sie sah gut aus mit ihrem spitzen Hut, und da sie ganz offensichtlich älter war als Tiffany und kaum mit anpackte, hielten die Frauen sie für die Oberhexe.
Tiffany ließ sie mit dem Baby im Arm (diesmal richtig herum) und stolzer Miene zurück und begann dann mit dem langen Rückflug durch den Wald nach Tir Nani Ogg. Es war ein frischer Abend, und der Wind wehte pieksige Schneekristalle von den Bäumen. Der Flug schien kein Ende nehmen zu wollen, und es wurde immer kälter. Er kann nicht wissen, wo ich bin, sagte sie sich immer wieder, während sie durch die Abenddämmerung flog. Und er ist nicht besonders clever. Der Winter muss irgendwann zu Ende gehen, oder?
Äh... wie denn?, fragten ihre Zweiten Gedanken. Fräulein Tick meint, es genügt, wenn du einfach nur da bist, aber bestimmt musst du irgendwas tun, oder?
Vielleicht sollte ich mit bloßen Füßen herumlaufen, dachte Tiffany.
Überall?, fragten die Zweiten Gedanken, während sie die Bäume umkurvte.
Wahrscheinlich ist es so ähnlich, wie eine Art Königin zu sein, sagten die Dritten Gedanken. Sie sitzt nur in einem Palast und fährt vielleicht ein wenig in einer großen Kutsche herum und winkt, und dabei regiert sie ein riesiges Königreich.
Doch während Tiffany weiteren Bäumen auswich, versuchte sie gleichzeitig, dem Gedanken auszuweichen, der sich hartnäckig in ihr Bewusstsein zu stehlen versuchte: Früher oder später, auf die eine oder andere Weise, wird er dich finden... und wie kann er einen Mann aus sich machen?
Hilfspostmeister Grütze hielt nichts von Ärzten. Sie machten einen krank, fand er. Deshalb streute er jeden Morgen Schwefel in seine Socken und konnte stolz von sich behaupten, dass er in seinem ganzen Leben nicht
einen Tag krank gewesen war. Vielleicht lag es daran, dass sich wegen des Geruchs kaum jemand in seine Nähe wagte. Doch jetzt näherte sich ihm etwas. Ein Windstoß fauchte ins Postamt, als er eines Morgens die Tür öffnete, und zog ihm glatt die Socken aus.::"
Und niemand hörte den Winterschmied sagen: »Genug Schwefel, um einen Menschen zu machen!«
Nanny Ogg saß am Kamin, als Tiffany hereinkam und sich den Schnee von den Stiefeln trampelte.
»Du siehst ja völlig durchgefroren aus«, sagte sie. »Du brauchst ein Glas heiße Milch mit einem Tropfen Brandy drin, das brauchst du.«
»Ooh, j-ja...«, brachte Tiffany zwischen klappernden Zähnen hervor.
»Bring mir eins mit, ja?«, sagte Nanny. »War nur ein Scherz. Wärm du dich auf. Ich kümmere mich um die Getränke.«
Tiffanys Füße fühlten sich wie Eisblöcke an. Sie kniete sich an den Kamin und streckte die Hände dem Suppentopf an seinem großen schwarzen Haken entgegen. Darin blubberte es die ganze Zeit.
Die richtige Einstellung und Gleichgewicht. Halt die Hände an den Topf und konzentrier dich, konzentrier dich auf deine eiskalten Stiefel.
Nach einer Weile wurden ihre Zehen warm, und dann...
»Aua!« Tiffany zog die Hände zurück und lutschte an den Fingern.
»Du hattest nicht die richtige Einstellung«, kommentierte Nanny Ogg von der Tür aus.
Die Zeitungen berichteten darüber, und kurz danach schrieb ihm eine Witwe und meinte, wie sehr sie Männer bewunderte, die wirklich etwas von Hygiene verstanden. Später sah man sie zusammen spazieren gehen, was bestätigt: Etwas Gutes ist an allem.
»Weißt du, es ist nicht ganz einfach, die richtige Einstellung zu haben, wenn man einen langen Tag und eine schlaflose Nacht hinter sich hat und der Winterschmied nach einem sucht«, erwiderte Tiffany spitz.
»Das ist doch dem Feuer egal«, sagte Nanny und zuckte mit den Schultern. »Die heiße Milch ist unterwegs.« Tiffany war schon ein wenig wohler, als sie sich aufgewärmt hatte. Sie fragte sich, wie viel Brandy Nanny in die Milch gegeben hatte. Nanny selbst hatte sich vermutlich nur einen kleinen Schuss Milch in den Brandy gegossen.
»Ist das nicht schön gemütlich?«, fragte Nanny nach einer Weile.
»Reden wir jetzt über Sex?«, sagte Tiffany.
»Hat das jemand behauptet?«, fragte Nanny unschuldig.
»Ich habe irgendwie so ein Gefühl«, erwiderte Tiffany. »Und ich weiß, woher Babys kommen, Frau Ogg.«
»Das will ich stark hoffen.«
»Ich weiß auch, wie sie entstehen. Ich lebe auf einer Farm und habe viele ältere Schwestern.«
»Aha, na schön«, sagte Nanny. »Du scheinst also gut aufs Leben vorbereitet zu sein. Ich schätze, es gibt kaum noch etwas, das ich dich lehren könnte. Und ich erinnere mich nicht daran, dass jemals irgendein Gott ein Auge auf mich geworfen hat. Fühlst dich geschmeichelt, wie?«
»Nein!« Tiffany sah Nannys Lächeln. »Nun, ein bisschen«, gab sie zu.
»Und du fürchtest dich vor ihm?«
»Ja.«
»Der arme Kerl hat es immer noch nicht richtig kapiert. Er hat ganz gut angefangen, mit den Eisrosen und so, und dann musste er sich ordentlich vor dir aufplustern. Typisch.
Aber du solltest dich nicht vor ihm fürchten. Er sollte Angst vor Erhaben.«
»Warum? Weil ich vorgebe, die Blumenfrau zu sein?«
»Weil du ein Mädchen bist! Das wäre ja noch schöner, wenn ein gescheites Mädchen einen Jungen nicht um den kleinen Finger wickeln könnte. Er ist in dich verknallt. Ein Wort von dir könnte ihn in ein Häufchen Elend verwandeln. Als ich noch jung war, hätte sich ein junger Mann fast von der Lancre-Brücke gestürzt, weil ich ihn verschmäht habe.«
»Tatsächlich? Was ist dann passiert?«
»Ich hab mir das mit dem Verschmähen noch mal überlegt. Er war so hübsch, als er so dastand, und ich dachte: Ich habe schon seit langem keinen so knackigen Hintern mehr gesehen.« Nanny lehnte sich zurück. »Und denk nur an den armen alten Greebo. Er legt sich mit jedem an. Aber dann hat Esmes kleines weißes Kätzchen ihn angesprungen, und jetzt kommt der arme Kerl nicht mehr ins Zimmer, ohne vorher um die Tür zu spähen und zu sehen, ob sie da ist. Du solltest sein armes kleines Gesicht dabei sehen. Ist vollkommen zerknittert. Natürlich könnte er sie mit einer Kralle in Stücke reißen, aber das macht er nicht, weil sie ihm den Kopf zurechtgerückt hat.«
»Du schlägst doch nicht vor, dass ich dem Winterschmied das Gesicht zerkratzen soll, oder?«
»Nein, nein, so direkt brauchst du nicht zu sein. Gib ihm ein wenig Hoffnung. Sei nett, aber bestimmt...«
»Er will mich heiraten!«
»Gut.«
»Gut?«
»Es bedeutet, dass er freundlich bleiben wird. Sag nicht nein, und sag nicht ja. Verhalte dich wie eine Königin. Er muss lernen, dir mit Respekt zu begegnen. Was machst du da?«
»Ich schreibe es mir auf«, sagte Tiffany, die in ihrem Tagebuch kritzelte.
»Du brauchst es nicht aufzuschreiben, mein Schatz«, sagte Nanny. »Es steht irgendwo in dir geschrieben. Auf einer Seite, die du noch nicht gelesen hast, schätze ich. Da fällt mir ein: Das hier kam, als du weg warst.« Nanny suchte zwischen den Sitzpolstern und holte zwei Briefumschläge hervor. »Der Postbote ist mein Sohn Shawn, deshalb weiß er, dass du jetzt hier wohnst.«
Tiffany riss sie ihr geradezu aus der Hand. Zwei Briefe! »Du magst ihn, nicht wahr?«, fragte Nanny. »Deinen jungen Mann im Schloss.«
»Er ist ein Freund, der mir schreibt«, erwiderte Tiffany von oben herab.
»Ja, diesen Blick und diese Stimme brauchst du für den Winterschmied!«, sagte Nanny und wirkte entzückt.
»Für wen hält er sich, so mit dir zu reden! Richtig so!«
»Ich lese die Briefe in meinem Zimmer«, sagte Tiffany.
Nanny nickte. »Eins der Mädchen hat uns eine leckere Kasserolle gemacht«, sagte sie (Nanny war berühmt dafür, dass sie sich nie an die Namen ihrer Schwiegertöchter erinnerte). »Deine Portion steht im Backofen. Ich geh in die Kneipe. Morgen brechen wir früh auf!«
Allein in ihrem Zimmer las Tiffany den ersten Brief.
Auf den ersten Blick geschah nicht viel im Kreideland. Historische Ereignisse fanden dort nicht statt, sondern nur Kleinigkeiten. Tiffany las gern darüber.
Der zweite Brief schien sich zunächst kaum vom ersten zu unterscheiden - bis sie zu dem Ball kam. Roland hatte einen Ball besucht, im Haus seines Nachbarn Lord Diwer! Er hatte mit seiner Tochter getanzt, die Jod hieß, weil Lord Diwer das für einen hübschen Mädchennamen hielt! Dreimal hatten sie getanzt!! Und anschließend hatten sie Eis gegessen!! Und Jod hatte ihm ihre Aquarelle gezeigt!!!
Wie konnte er sich hinsetzen und ihr solche Dinge schreiben?!!!
Tiffanys Blick wanderte weiter, über alltägliche Nachrichten wie schlechtes Wetter und was mit dem Bein des alten Aggie geschehen war, aber die Worte erreichten ihren Verstand nicht, weil er in Flammen stand.
Wofür hielt er sich? Einfach mit einem anderen Mädchen zu tanzen!
Du hast mit dem Winterschmied getanzt, sagten ihre Dritten Gedanken.
Na schön, aber was ist mit den Aquarellen?
Der Winterschmied hat dir die Schneeflocken gezeigt, sagten die Dritten Gedanken.
Aber ich war nur höflich!
Vielleicht war auch Roland nur höflich.
Na gut, aber ich kenne die Tanten, dachte Tiffany wütend. Sie haben mich nie gemocht, weil ich nur ein einfaches Bauernmädchen bin! Und Lord Diwer ist sehr reich, und seine Tochter ist sein einziges Kind! Sie hecken was aus!
Wie konnte er sich hinsetzen und ihr schreiben, als wäre Eisessen mit einem anderen Mädchen die normalste Sache auf der Welt! Es war so schlimm wie... nun, wie etwas ziemlich Schlimmes, mindestens!
Und was die Aquarelle betraf...
Er ist nur ein Junge, dem du schreibst, sagten die Dritten Gedanken.
Ja, aber...
Aber was?, fragten die Dritten Gedanken. Sie gingen Tiffany auf die Nerven. Das eigene Gehirn sollte den Anstand haben, auf der gleichen Seite wie man selbst zu sein!
Einfach bloß »Ja, aber...«, in Ordnung?, dachte sie verärgert.
Du bist aber nicht sehr vernünftig.
Ach, tatsächlich nicht? Ich bin den ganzen Tag vernünftig gewesen! Ich bin seit Jahren vernünftig! Ich glaube, ich habe es mir verdient, fünf Minuten völlig unvernünftig und stinkwütend zu sein, oder?
Unten wartet eine Kasserolle auf dich, und du hast seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, sagten die Dritten Gedanken. Du fühlst dich besser, wenn du etwas im Magen hast.
Wie kann ich Eintopf essen, wenn sich andere Leute Aquarelle ansehen? Wie kann er es wagen, sich Aquarelle anzusehen?
Aber die Dritten Gedanken hatten Recht - was die Sache allerdings nicht besser machte. Wenn sie schon zornig und unglücklich sein musste, so konnte sie dabei wenigstens einen vollen Magen haben. Tiffany ging nach unten und öffnete den Backofen. Die Kasserolle duftete gut. Nur das Beste für die liebe alte Mama!
Sie wollte die Besteckschublade aufziehen, um sich einen Löffel herauszunehmen, doch sie klemmte. Tiffany zerrte und rüttelte daran und fluchte einige Male, aber das Ding rührte sich nicht.
»Oh, ja, nur zu«, erklang eine Stimme hinter ihr. »Sieh nur, wie sehr das hilft. Sei bloß nicht so vernünftig, die Hand in die Ritze zu stecken und den festsitzenden Gegenstand zu lösen. O nein. Rütteln und fluchen, so ist es richtig!«
Tiffany drehte sich um.
Eine dürre, müde aussehende Frau stand neben dem Küchentisch. Sie schien in ein Laken gewickelt zu sein und rauchte eine Zigarette. Tiffany hatte noch nie zuvor eine Zigarette rauchende Frau gesehen, und hinzu kam, dass die Zigarette mit einer großen roten Flamme brannte und gelegentlich Funken sprühte.
»Wer bist du, und was machst du in Frau Oggs Küche?«, fragte sie scharf.
Nun war die Frau überrascht.
»Du kannst mich hören?«, erwiderte sie. »Und sehen?«
»Ja!«, zischte Tiffany. »Und dies ist ein Ort, an dem Essen zubereitet wird!«
»Eigentlich dürftest du mich nicht sehen können!«
»Aber ich sehe dich!«
»Moment mal«, sagte die Frau und musterte Tiffany mit gerunzelter Stirn. »Du bist nicht bloß ein Mensch, oder?« Sie kniff merkwürdig die Augen zusammen und fügte hinzu: »Oh, du bist sie. Habe ich Recht? Die neue Sommerfrau?«
»Es spielt keine Rolle, wer ich bin, aber wer bist du}«, stieß Tiffany hervor. »Und es war nur ein Tanz!«
»Ich bin Anoia, Göttin der Dinge, die in Schubladen klemmen«, sagte die Frau. »Freut mich, dich kennen zu lernen.« Sie nahm einen weiteren Zug von der flammenden Zigarette, und wieder stoben Funken. Sie fielen auf den Boden, schienen dort aber keinen Schaden anzurichten.
»Es gibt eine Göttin nur dafür?«, fragte Tiffany.
»Nun, ich finde verlorene Korkenzieher und Dinge, die unter Möbel rollen«, sagte Anoia leichthin. »Manchmal auch Gegenstände, die unter Sofakissen verschwinden. Man möchte, dass ich mich auch um klemmende Reißverschlüsse kümmere, und ich denke darüber nach. Aber meistens manifestiere ich mich dann, wenn Leute an Schubladen rütteln und die Götter anrufen.« Sie paffte an der Zigarette. »Hast du Tee?«
»Aber ich habe niemanden angerufen!«
»Doch«, widersprach Anoia, und ihre Zigarette sprühte noch mehr Funken. »Du hast geflucht. Früher oder später ist jeder Fluch ein Gebet.« Sie winkte mit der freien Hand, und in der Schublade machte etwas Pling. »Jetzt ist alles in Ordnung. Es war der Fischheber. Jeder hat einen, und niemand weiß, warum. Kann sich irgendjemand auf der Welt daran erinnern, losgegangen zu sein, um einen Fischheber zu kaufen? Ich glaube nicht.«
Tiffany zog an der Schublade. Sie ließ sich leicht öffnen.
»Und der Tee... ?«, sagte Anoia und nahm Platz.
Tiffany setzte den Kessel auf. »Du hast von mir gehört?«, fragte sie.
»Oh, ja«, bestätigte Anoia. »Es ist eine Weile her, seit sich zum letzten Mal ein Gott in eine Sterbliche verliebt hat. Alle wollen wissen, wie es ausgeht.«
»Verliebt?«
»Ja.«
»Und du meinst, die Götter sehen zu?«
»Natürlich«, sagte Anoia. »Die meisten der Großen machen heutzutage kaum etwas anderes! Aber ich soll mich um Reißverschlüsse kümmern, und bei diesem Wetter werden meine Hände steif!«
Tiffany sah zur Decke hoch, unter der dichte Rauchschwaden schwebten.
»Sie beobachten mich die ganze Zeit über?«, fragte sie entsetzt.
»Wie ich hörte, interessiert man sich für dich mehr als für
den Krieg in Klatschistan, und der war ziemlich beliebt«, sagte Anoia und streckte ihre roten Hände aus. »Sieh nur, Frostbeulen. Aber das ist den anderen natürlich völlig gleich.«
»Selbst wenn ich mich... wasche?«, fragte Tiffany.
Die Göttin kicherte süffisant. »Ja. Und sie können auch im Dunkeln sehen. Denk besser nicht darüber nach.« Tiffany sah erneut zur Decke. Sie hatte an diesem Abend eigentlich ein Bad nehmen wollen.
»Ich werd's versuchen«, erwiderte sie finster und fügte hinzu: »Ist es... schwer, eine Göttin zu sein?«
»Es gibt auch gute Tage«, sagte Anoia. Sie hielt den Arm angewinkelt, mit der flammenden, Funken stiebenden Zigarette dicht am Mund. Erneut nahm sie einen tiefen Zug, hob den Kopf und blies Rauch an die Decke.
Funken fielen wie Regen daraus herab. »Ich mache noch nicht lange in Schubladen. Früher war ich eine Vulkangöttin.«
»Tatsächlich?«, fragte Tiffany. »Das hätte ich nie vermutet.«
»Oh, ja. Es war eine gute Arbeit, abgesehen von der Schreierei.« In einem bitteren Tonfall fügte sie hinzu: »Ha! Und der Gott der Gewitter ließ es immer auf meine Lava regnen. So sind Männer, meine Liebe. Sie regnen auf deine Lava.«
»Und sehen sich Aquarelle an«, sagte Tiffany.
Anoias Augen verengten sich. »Die Aquarelle einer anderen?«
»Ja!«
»Männer! Die sind doch alle gleich«, sagte Anoia. »Wenn ich dir einen Rat geben darf, Teuerste: Zeig Herrn
Winterschmied die Tür. Immerhin ist er nur eine elementare Kraft.«
Tiffany sah zur Tür.
»Gib ihm einen Tritt, meine Liebe. Schmeiß ihn raus und wechsle die Schlösser aus. Lass es das ganze Jahr Sommer sein, wie in den heißen Ländern. Überall Weintrauben, was? Kokosnüsse an jedem Baum! Ha, als ich noch in der Vulkanbranche war, hatten es mir Mangos angetan. Sag Schnee, Nebel und Graupel adieu. Hast du das Dingsbums?«
»Das Dingsbums?«, fragte Tiffany besorgt.
»Es wird bestimmt noch auftauchen«, sagte Anoia. »Wie ich hörte, kann es ein bisschen heikel sein... Ups, da wird an einer Schublade gerüttelt. Ich muss los. Keine Sorge, ich verrate ihm nicht, wo du bist...«
Sie verschwand, und mit ihr der Rauch.
Da Tiffany nicht wusste, was sie sonst machen sollte, füllte sie einen Teller mit Fleisch und Gemüse und aß. Sie konnte jetzt also Götter sehen? Und die Götter wussten von ihr? Und jeder wollte ihr irgendwelche Ratschläge geben.
Es ist nicht gut, die Aufmerksamkeit der Götter zu wecken, hatte ihr Vater gesagt.
Aber es war beeindruckend. In sie verliebt, wie? Und er erzählte allen davon? Aber er war eigentlich nur eine elementare Kraft, kein richtiger Gott. Er wusste nur, wie man Wind und Wasser bewegt!
Trotzdem... Hm. Hinter manchen Leuten sind eben Elementarkräfte her. Was sagt man dazu? Wenn jemand dumm genug war, mit einem Mädchen zu tanzen, das Aquarelle malte, um ehrbare Männer damit ins Unheil zu stürzen... nun, dann konnte sie j emanden von oben herab behandeln, der beinahe ein Gott war. Das sollte sie in einem Brief erwähnen, obwohl sie ihm jetzt natürlich nicht mehr schreiben würde. Ha!
Einige Meilen entfernt spürte die Alte Mutter Schwarzkappe, die ihre eigene Seife aus Tierfett und Pottasche herstellte, die tatsächlich aus Pflanzenasche bestand, wie ihr beim Kochen einiger Laken der Stab aus der Hand gerissen wurde. Außerdem erstarrte das eben noch heiße Wasser zu Eis.
Sie war eine Hexe, und deshalb sagte sie sofort: »Ein seltsamer Dieb treibt sich herum!«
Und der Winterschmied sagte: »Genug Pottasche, um einen Menschen zu machen!«