Das Shuttle erreichte das Ende des Abhangs und legte sich in die Horizontale. Jetzt schoss es vorwärts über den ebenen Meeresboden, und allmählich kletterte die Anzeige auf siebzig Stundenkilometer.

»Wir können den Ring der Schwarzen Raucher jetzt deutlich sehen«, sagte Kyra.

Auf dem Hauptmonitor rückte der zerklüftete Felsring immer näher. Die Lichtsäule in seinem Inneren erfüllte die schwarzen Wolken über den Schloten mit einem unheimlichen Glühen, so als hätte sich ein Schwarm von Leuchtfischen in die dunklen Schwaden verirrt.

Der Hai kam immer noch näher.

»Noch fünfzehn Meter«, stöhnte Lisa mit einem Blick auf den Heckmonitor. »Allerhöchstens.« Damit war ihr Vorsprung kürzer als die Körperlänge des Hais. Es war nur noch eine Frage der Zeit, ehe er sie einholen würde.

Bischofs Stimme dröhnte blechern durch die Kabine des Shuttles. »Kyra, du musst dich jetzt bereitmachen, auf Handsteuerung umzuschalten.« Bevor sie die Station verlassen hatten, hatte der Forscher ihnen über Funk haargenau erklärt, was sie tun mussten, um den Autopiloten zu deaktivieren und das Shuttle manuell zu führen.

Kyra erledigte die nötigen Handgriffe. Ihre Bewegungen waren rasch und verbissen. »Okay.«

»Noch dreißig Sekunden«, sagte Bischof.

Das Shuttle stieg ein paar Meter höher. Hinter ihnen änderte auch der Hai seinen Kurs, blieb genau auf ihrer Spur.

»Noch zwanzig Sekunden.«

»Gleich hat er uns«, presste Lisa zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Kyra umklammerte mit beiden Händen den Steuerknüppel.

»Noch zehn Sekunden«, sagte Bischof.

Der Hai war nur noch drei Meter entfernt, seine Zahnreihen füllten den Heckmonitor wie weiße Splitter zerbrochenen Porzellans.

»Jetzt!«

Ein Ruck ging durch das Shuttle, als Kyra den Autopiloten lahm legte. Sie musste die gesamte Wucht des Fahrzeugs mit ihren Händen auffangen. Ihr Körper spannte sich. Um sie herum flackerten die Lichter und Anzeigen der Konsole. Von irgendwoher ertönte ein helles Piepsen, vielleicht ein Alarmsignal.

Keine Zeit, sich darüber Sorgen zu machen.

Mit einem kräftigen Ruck riss sie den Hebel herum. Das Shuttle legte sich blitzartig auf die Seite, trudelte einmal um sich selbst und schlug dann einen scharfen Haken nach links, durch die zerfasernden Ausläufer der Raucherwolken und zurück in klares Wasser.

Der Hai wurde Opfer seiner eigenen maßlosen Kraft. Wie ein Torpedo aus Fleisch und Blut fegte er an dem abdrehenden Shuttle vorüber. Es gelang ihm nicht mehr rechtzeitig zu wenden. Er raste geradeaus ins Innere der dunklen Schwaden und wurde von ihnen verschluckt. Einen Moment lang war er noch als finstere Silhouette vor dem hellen Glühen des Hexenstrahls zu sehen, dann verschwand er vom Monitor.

Kyra und Lisa schauten sich stumm an. Sie wollten schreien, wollten jubeln, doch sie brachten keinen Ton heraus.

Kyra drückte ein paar Knöpfe. Schweigend horchten sie auf das Klicken und Ruckeln, als der Autopilot erneut die Steuerung übernahm und sie sicher zurück zur Station brachte.

 

Der Hai schoss aus den schwarzen Wolken in das gleißende Licht.

Er veränderte sich. Kräfte, die er nicht begreifen konnte, zogen und zerrten an ihm, formten seinen Körper um. Seine Zähne wuchsen, bis sie wie weiße Klingen rechts und links aus seinem Maul hervorstachen. Seine Schwanzflosse wurde größer, ihre Enden spitzer. In seinen Augen erschien ein bösartiges Leuchten, ein wahnsinniges Funkeln und Brennen, und tief unten, im Inneren seines Leibes, wurde ein Feuer entfacht wie die Hitze im Zentrum eines Hochofens.

Dann zog ihn die Macht der Mater Suspiriorum sanft hinauf zur Oberfläche.

 

Sie fanden den schlafenden Enrique, als sie nach dem Druckausgleich die gewaltige Schleusenhalle der S.I.M.-1 verließen.

Die Hexen mussten ihn überwältigt haben, kurz bevor er mit einer der Kapseln fliehen konnte. Professor Rabenson fühlte den Puls des Kochs, hob seine Lider und schaute in seine Augen.

»Alles in Ordnung«, erklärte er dann. »Enrique schläft tief und fest. Ansonsten scheint es ihm gut zu gehen.«

Kyra stand zwischen Lisa, Nils und Chris. Sie atmete auf. Ebenso gut hätten die Hexen den Koch und alle anderen Menschen an Bord der Forschungsinsel in Frösche verwandeln können. Oder in Spinnen. Oder aber sie hätten sie schlicht und einfach umbringen können.

Auch die Männer und Frauen im Speisesaal, den sie auf dem Weg zum Deck passierten, lagen noch immer im Tiefschlaf. Die Besatzung der KARTHAGO hatte beschlossen, den Menschen auf der S.I.M.-1 nichts darüber zu erzählen, was wirklich vorgefallen war. Man hätte sie ohnehin für verrückt erklärt.

Der wahnwitzigste Anblick aber erwartete sie, als sie das Deck der Forschungsinsel betraten.

Der schwarze Hexenkreuzer versank im Meer.

Ganz langsam und wahrscheinlich schon seit einiger Zeit. Er sank nicht schräg, sondern verschwand gleichmäßig immer tiefer und tiefer unter der Oberfläche.

Etwa zwei Kilometer lagen zwischen dem sinkenden Schiff und der Forschungsinsel, und dennoch konnten die Freunde deutlich erkennen, dass winzige Gestalten über das Deck des Kreuzers wimmelten, aufgeregt wie Arbeiterinnen eines Ameisenhaufens. Keine von ihnen bemerkte die Beobachter an der Reling der Insel, keine ahnte, dass die Besatzung der KARTHAGO zur Oberfläche zurückgekehrt war. Die Hexen hatten wahrlich andere Sorgen.

Kyra und ihre Freunde waren gerade rechtzeitig gekommen, um das Ende des Kreuzers mit anzusehen.

Plötzlich brach auf der Steuerbordseite des Hexenschiffs der Ozean auf. Ein monströser Koloss stieg aus der Tiefe empor. Wie alle Hexenfische konnte auch der Hai das Wasser verlassen und durch die Luft schweben. Aus der Ferne hatte er Ähnlichkeit mit einem kantigen, zuckenden Zeppelin, der sich über das Schiff erhob. Er war noch größer geworden, gewiss über dreißig Meter lang, und sein Maul war so schwarz und klaffend wie die Einfahrt eines Autobahntunnels.

Der Hai musste sich aus dem Inneren des Schiffes befreit haben, indem er mit seinen mächtigen Zähnen den Rumpf aufgerissen hatte. Jetzt setzte er zum Angriff auf das Deck an. Er war offensichtlich viel zu groß und zu gewalttätig, als dass die gewöhnlichen Hexen ihn kraft ihrer Gedanken hätten kontrollieren können, so wie sie es mit den anderen Fischen taten. In dieser Bestie hatten sie ihren Meister gefunden – und zu allem Überfluss hatten sie das Monster selbst erschaffen.

Eine einzelne Gestalt erschien nun am Bug des Kreuzers. Lange, schwarze Gewänder flatterten meterlang im Wind, und eine weite Kapuze bedeckte ihren Kopf. Sie hatte den Beobachtern auf der fernen Schwimminsel den Rücken zugewandt.

»Ist das –«, begann Nils flüsternd, aber er führte den Satz nicht zu Ende.

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