Der Ring der Schwarzen Raucher

Das Shuttle bot Platz für drei Personen. Chris wollte unbedingt mitkommen, doch Kyra und ihr Vater hielten ihn davon ab.

»Kyra ist meine Tochter, und ich kenne ihren Dickkopf«, verkündete der Professor. »Für sie kann ich notfalls die Verantwortung übernehmen. Aber ihr anderen bleibt bei Doktor Bischof in der KARTHAGO. Und damit Schluss!«

Chris schmollte, während Lisa insgeheim froh war, dass er sich nicht an der wahnwitzigen Fahrt zum Wrack beteiligen durfte. Sie mochte ihn – viel mehr, als sie offen zugegeben hätte.

Das Shuttle lag in der großen Hauptschleusenhalle im unteren Geschoss der KARTHAGO. Es war enger als die Tauchkapsel und hatte dreieckige Seitenflügel wie ein Rochen.

»Damit kann man sich in dieser Tiefe am besten bewegen«, erklärte Bischof. »Das Shuttle ist schneller und wendiger als die Kapsel, mit der wir gekommen sind.«

Kyra kletterte in den hinteren Teil des Gefährts und machte dabei eine verbissene Miene, die allen signalisieren sollte, wie entschlossen sie war, ihren Vater zu begleiten.

Professor Rabenson zwängte sich auf den Steuersitz. In Anbetracht seiner Leibesfülle fiel ihm das nicht ganz leicht. Zuletzt zupfte er seinen Schlapphut zurecht – er war ein unentbehrliches Utensil auf allen seinen Reisen, auch wenn er diesmal – über dem weißen Overall – ein wenig deplatziert aussah.

Kurz darauf beobachteten Kyras Freunde auf einem Monitor in der Zentrale, wie die Schleusenhalle geflutet wurde. Die Turbinen des Shuttles erzeugten eine Wolke aus Luftblasen, als sie das metallisch glänzende Gefährt aus dem Inneren der KARTHAGO hinaus in die nachtschwarze Tiefsee beförderten. Einige Sekunden lang glitt das Shuttle durch die Lichtkegel der Suchscheinwerfer, dann verschwand es lautlos in der Schwärze des Abgrunds.

Lisa hatte schreckliche Angst um Kyra und ihren Vater, doch sie sprach erst darüber, als auch Chris seine Sorge zum Ausdruck brachte.

»Das ist doch völliger Wahnsinn«, flüsterte er tonlos.

»Total bescheuert«, pflichtete Lisa ihm bei. »Was hat sie sich nur dabei gedacht?«

»Das machen die Siegel«, sagte Nils. »Kyra versucht, genau wie ihre Mutter zu sein.«

Lisa schüttelte den Kopf. »Ihre Mutter hat ihr ganzes Leben lang Dämonen gejagt – und trotzdem haben sie sie am Ende besiegt.«

»Fest steht nur, dass sie tot ist«, bemerkte Chris. »Nicht mal Kyra hat ’ne Ahnung, wie sie wirklich starb.«

Doktor Bischof schaute von dem runden Monitortisch auf und legte die Stirn in Falten. »Was redet ihr da eigentlich für ein Zeug?«, fragte er mit sichtlichem Missfallen. Offenbar glaubte er, sie spielten eine Art Spiel.

»Nichts«, erwiderte Chris schnell.

»Gar nichts«, setzte Lisa hinzu.

Die drei gesellten sich zu dem Forscher und blickten auf den Bildschirm. Das Signal des Riesenhais blieb verschwunden – zum Glück! Der rote Punkt der Station glühte im Zentrum des Monitors, und ein paar Zentimeter daneben entfernte sich das winzige Lichtsignal des Shuttles.

Bischof ergriff das Mikrofon des Funkgeräts.

»Professor? Hier KARTHAGO. Können Sie mich hören? Ich wiederhole: Können Sie mich hören? KARTHAGO Ende.«

Als Antwort ertönte aus dem Lautsprecher klar und deutlich die Stimme von Kyras Vater:

»Hier Shuttle. Wir hören. Guter Empfang, keine Störungen. Wir sinken weiter, am Hang des Gebirges entlang. In ein paar Minuten müssten wir die Ebene erreichen. Shuttle Ende.«

»Sie werden die Schwarzen Raucher erst sehen, wenn Sie dicht davor sind. Umfahren Sie die Spitzen weiträumig. Sie müssen durch die dunklen Wolken tauchen, um in den Ring der Raucher und bis zum Wrack zu gelangen. Geben Sie Acht, dass sie in dieser Suppe keinen Felsen streifen. KARTHAGO Ende.«

»Alles klar«, erwiderte der Professor.

Es raschelte kurz, dann ertönte Kyras Stimme:

»Hey, ihr drei! Ich nehme an, euch schlackern schon gehörig die Knie. Das will ich jedenfalls hoffen. Ich wette, Chris hat schon gesagt, wie verrückt er das alles findet. Und Lisa war bestimmt seiner Meinung.« Sie kicherte vernehmlich. »Macht euch keine Sorgen, das hier wird schon gut gehen … Bis später.«

Es knisterte erneut, dann sagte der Professor:

»Shuttle Ende.«

Bischof trennte die Verbindung, während die drei Freunde sich ein schmerzliches Lächeln nicht verkneifen konnten. Vor allem Chris und Lisa grinsten einander an, weil Kyra sie wieder einmal mühelos durchschaut hatte.

Nils kreuzte den Blick des Forschers. »Sagen Sie mal, wie oft waren Sie eigentlich schon da unten?«

Bischof zögerte, räusperte sich dann und schaute eilig in eine andere Richtung. »Nur ein einziges Mal. Und noch mal würden mich alle Riesenhaie der Meere nicht dort runterkriegen.« Er verstummte und fügte nach einem Augenblick leiser hinzu: »Wenn es irgendwo auf diesem Planeten eine Hölle gibt, dann liegt sie da unten – im Ring der Schwarzen Raucher.«

 

Auf dem Monitor des Shuttles explodierten die Tentakel einer Leuchtqualle wie Feuerwerkskörper. Gleich darauf zog sich das glühende Wesen blitzschnell wieder zusammen und trudelte davon in die Dunkelheit.

Kyra schaute ihrem Vater über die Schulter, während dieser aufmerksam die Instrumente studierte und mit der linken Hand den Steuerknüppel umfasste. Oberhalb der Konsole zeigte ein Monitor die absolute Schwärze, die sich vor ihnen erstreckte. Von der Qualle war nichts mehr zu sehen. Sie war das erste und einzige Lebewesen, das ihnen bislang begegnet war.

Noch immer bewegte sich das Shuttle steil abwärts. Auf einem seitlichen Monitor war der graue Meeresstaub des Gebirgshangs zu sehen, der unter ihnen dahinraste. Ebenso gut hätten sie über die Landschaft eines fremden Planeten gleiten können – es wäre kaum ein Unterschied gewesen. Die Tiefsee war eine vollkommen fremde Welt. Dunkel, kalt und Angst einflößend.

»Da unten liegt der Meeresboden«, sagte der Professor. »Eine so große Ebene gibt es nirgends an der Oberfläche. Das Gebiet hier ist größer als die sibirische Steppe oder die Savannen Afrikas.«

Im Strahl der Scheinwerfer sahen sie, dass vor ihnen der Abhang endete und in ebenen Boden überging. Eine graue, leblose Wüste aus erstarrter Lava, entstanden zu einer Zeit, als die Erde nicht mehr war als ein toter, glühender Koloss. Tiere, die hier unten lebten, flohen vor dem Licht des Shuttles, ohne dass seine beiden Insassen sie zu sehen bekamen.

Kyras Kehle war wie zugeschnürt. Hin und wieder blickte sie auf ihren Unterarm. Die Siegel waren unverändert sichtbar.

Plötzlich schälte sich vor ihnen aus der Finsternis eine bizarre Formation kegelförmiger Felsen, so hoch wie ein mehrstöckiges Wohnhaus. Auf dem Monitor sah es aus, als bildeten sie einen langen Wall, der rechts und links im Dunkel verschwand. Eine Computeranimation, die in der Konsole des Professors flimmerte, zeigte ihnen jedoch, dass die gezackten Felskegel einen weitläufigen Ring bildeten. Ihre Spitzen spien dunkle Wolken aus – sie ähnelten den Schloten einer fantastischen, vorzeitlichen Fabrikanlage.

»Die Schwarzen Raucher«, flüsterte der Professor ehrfürchtig.

»Wie sind die eigentlich entstanden?«, fragte Kyra. Sie hoffte, die Antwort würde sie von ihrer Furcht ablenken.

»Wenn sich die Erdkruste hier unten verschiebt, bilden sich Spalten und Risse, durch die Wasser ins Erdinnere gelangt. Oft sickert es mehrere Kilometer tief nach unten, bis es auf über tausend Grad heißes Magma stößt. Das Wasser wird erhitzt, und es kommt zu einer chemischen Reaktion mit dem Gestein. Die Wassermassen sättigen sich mit Metallen, Wasserstoff und Schwefelwasserstoff an und werden wieder nach oben gespuckt. Diese stinkende, schwarze Brühe dringt dann aus dem Fels wieder ins Meer, wobei sich Jahr um Jahr mehr Metall- und Mineralpartikel rund um die Öffnungen im Boden absetzen. Irgendwann werden diese Ablagerungen schließlich viele Meter hoch – und das sind dann die Schwarzen Raucher, die wir jetzt vor uns sehen.« Der Professor bremste das Shuttle leicht ab, damit sie den majestätischen Anblick der finsteren Schlote einen Moment länger betrachten konnten. »Die dunkle Flüssigkeit, die du da vorne aufsteigen siehst, ist bis zu dreihundertfünfzig Grad heiß. Dadurch erwärmt sich auch die Umgebung. Schau mal genau hin, und du wirst Pflanzen an den Hängen der Raucher erkennen.«

Bei näherer Betrachtung entdeckte Kyra tatsächlich Tentakel von Tiefseegewächsen, die sich wie Haarbüschel in den unterseeischen Strömungen wiegten. Über die Oberfläche eines der Raucher, ganz nahe vor ihnen, kletterte eine Seespinne, so groß wie ein Kanaldeckel. Kyra schüttelte sich.

»Okay«, sagte der Professor, »wir brechen jetzt durch die heißen Wolken, um ins Innere des Rings zu gelangen. Dann dürften wir bald das Wrack vor uns sehen.«

Kyra atmete tief durch. Jetzt erst bemerkte sie, dass sich die Kabine merklich erhitzt hatte. Kondenswasser bildete sich auf den Kunststoffkonsolen. Kyra begann schlagartig zu schwitzen.

Ihr Vater schob den Hebel nach vorne und lenkte das Tauchboot mit vollem Schub in Richtung der bedrohlichen Unterwasserwolken.

Die Monitore erblindeten, als das Shuttle in die tiefschwarzen Wogen eintauchte.

 

Bischof versuchte zum wiederholten Mal, Kontakt mit der S.I.M.-1 an der Oberfläche herzustellen. Chris wippte ungeduldig mit den Füßen, während sie alle wie gebannt auf eine Antwort warteten.

Es kam keine.

»Können Sie denn gar nichts tun?«, fragte Lisa besorgt.

»Es gibt vielleicht eine Möglichkeit.« Bischof zog einen zerfledderten Aktenordner unter der Konsole hervor, blätterte darin und begann schließlich, einen vielstelligen Code vom Papier abzutippen. »Allerdings werden wir dann eine Weile nicht mehr sehen können, was um uns herum geschieht.«

Die drei Freunde blickten sich verständnislos an.

Im selben Moment verwandelten sich die dunklen Rechtecke der Monitorwand in helle, scharf konturierte Bilder. Zwei, drei Sekunden lang kniffen alle geblendet die Augen zu. Als sie schließlich wieder hinschauten, waren auf den Monitoren die Bilder jener Kameras zu sehen, die jeden Winkel der S.I.M.-1 überwachten. Es hieß, dass Simon Simons sich gelegentlich selbst diese Aufnahmen in sein High-Tech-Hauptquartier in Florida übertragen ließ, um auf der Forschungsinsel unauffällig nach dem Rechten zu sehen.

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