Das Geheimnis der Hexen

Kyra konnte es kaum erwarten, bis die Schleusentür sich endlich öffnete. Ihre Freunde erwarteten sie bereits und fielen ihr der Reihe nach jubelnd um den Hals.

Der Professor blickte sich suchend um. »Wo steckt Bischof?«

»In der Zentrale«, erwiderte Chris. »Er sagt, er will das Radar nicht unbeobachtet lassen.«

Kyras Vater schob die Freunde beiseite und stapfte davon. »Ich muss dringend mit ihm sprechen.«

Nachdem er fort war, erzählte Kyra den anderen, was sie im Ring der Schwarzen Raucher vorgefunden hatten. Lisa berichtete im Gegenzug von den Hexen, vom Funkspruch des Kochs und von den unheimlichen Gesängen.

»Das heißt, die S.I.M.-1 wurde von einem waschechten Hexenschiff gekapert«, folgerte Kyra mit einem Stoßseufzer. »Und bei unserem Pech ist Mater Suspiriorum selbst an Bord. Oh Mann …«

»Enrique, dieser Koch, wollte versuchen, mit einer Kapsel abzuhauen und zu uns zu kommen«, sagte Nils.

»Kann man ihm kaum verübeln, oder?« Kyra strich sich nervös durch ihre roten Locken. »Ich meine, klar, wer versteckt sich schon gern vor einem Haufen wild gewordener Hexen!«

Chris hatte die ganze Zeit über nachdenklich vor sich hin gestarrt. Jetzt blickte er zu Kyra.

»Mir geht der Ring der Schwarzen Raucher nicht aus dem Kopf. Warum ist dort unten alles wie ausgestorben? Und was, glaubst du, hat die Sache mit den Hexenfischen zu bedeuten?«

Lisa nickte zustimmend. »Was die im Drachenboot zu suchen hatten, wüsste ich auch gern. Und weshalb hat das Schiff überhaupt ein Loch im Deck?«

»Irgendetwas hatten die Wikinger in diesem Wrack eingesperrt«, sagte Kyra. »Damals, als es unterging. Etwas Böses – das konnte ich in der Nähe des Bootes ganz deutlich fühlen. Und was immer es war – es kann sogar bis vor kurzem noch da unten gelegen haben.«

»Was heißt ›bis vor kurzem‹?«, fragte Nils.

»Keine Ahnung. Irgendwann hat es jedenfalls das Loch ins Deck gerissen und ist ausgebrochen. Vielleicht vor ein paar Jahren, vielleicht auch erst vor ein paar Stunden.«

»Aber wenn die Wikinger Hexenfische gefangen gehalten hätten, würde das bedeuten, dass es die Mistviecher schon seit über tausend Jahren gibt«, meinte Lisa. »So lange existiert ja noch nicht mal das Arkanum selbst.«

»Stimmt«, erwiderte Kyra nickend. »Deshalb glaube ich auch nicht, dass sie wirklich die Fische an Bord hatten. Da muss irgendwas anderes gewesen sein – etwas Starkes, Schreckliches. Ein Dämon vielleicht.«

Die anderen nickten stumm.

Chris ergriff schließlich das Wort. »Wie wär’s damit: Der Dämon ist offensichtlich ausgebrochen. Aber seine böse Ausstrahlung erfüllt noch immer das Wrack und die Umgebung. Und diese Aura hat alle Lebewesen aus dem Ring der Raucher vertrieben.«

»Deshalb ist jetzt der Ring selbst zu einem bösen Ort geworden«, pflichtete Lisa ihm bei.

»Ich weiß nicht«, begann Kyra grübelnd, »irgendwie hab ich im Gefühl, dass es noch viel schlimmer ist.« Wenn Kyra sagte, sie habe etwas im Gefühl, dann bedeutete das oft, dass das geistige Erbe ihrer Mutter zu Tage trat. Kyra wusste dann mit einem Mal Dinge, die sie eigentlich gar nicht wissen durfte – fast so, als gäbe ihre Mutter ihr selbst im Tod noch Hinweise und Ratschläge.

»Was meinst du?«, fragte Nils besorgt, als Kyra nicht gleich fortfuhr.

»Na ja – Hexen auf der S.I.M.-1, Hexenfische im Drachenboot auf dem Meeresgrund – das kann doch kein Zufall sein! Das Arkanum muss ein besonderes Interesse am Ring der Schwarzen Raucher haben. Und das hat offenbar mit dem Wrack zu tun. Und mit den Fischen.« Kyra machte eine Pause und überlegte. Dann sprach sie weiter: »Die böse Ausstrahlung des Wracks muss irgendeine Macht haben – eine schreckliche Macht. Ich vermute, dass diese furchtbare Aura alles Leben im Ring der Schwarzen Raucher verdorben hat, so ähnlich wie eine ansteckende Krankheit – nur viel gemeiner. Die Fische und Würmer und Seespinnen im Inneren des Rings haben sich verändert und sind zu dämonischen Wesen geworden. Dann sind sie übereinander hergefallen und haben sich gegenseitig aufgefressen, bis nur die Stärksten und Grausamsten übrig geblieben sind – die Hexenfische.«

Chris massierte sich nachdenklich den Nacken. »Das würde ja bedeuten, dass die Hexenfische irgendwann einmal normale Tiere waren. Ganz harmlose Tiefseefische.«

»Bis die böse Ausstrahlung des Wracks sie verwandelt hat«, nickte Kyra.

»Dann glaubt ihr also, dass der Ring der Schwarzen Raucher quasi der Geburtsort der Hexenfische ist?«, fragte Nils mit aufgerissenen Augen.

Kyra nickte. »Wenn unsere Vermutung richtig ist, sind wir vielleicht gerade auf eines der allergrößten Geheimnisse des Arkanums gestoßen.«

»Das würde auch erklären, warum die Hexen hier sind«, sagte Lisa. »Sie holen Nachschub!«

»So ist es«, stellte Kyra mit grimmiger Zufriedenheit fest.

»Aber warum konnten euch die Fische nicht durch die Wolken der Raucher folgen?«, fragte Nils.

»Das habe ich mich auch schon gefragt«, erwiderte Kyra. »Ich glaube, aus dem gleichen Grund, aus dem die Ausstrahlung des Wracks nicht auch Besitz von mir und meinem Vater ergriffen hat. Und von Bischof und den anderen Forschern, die schon vor uns im Ring waren.«

Sie machte eine kurze Pause, um noch mehr Gewicht auf ihre nächsten Worte zu legen: »Es ist das Metall! Die Schwarzen Raucher spucken Schwermetallpartikel aus dem Inneren der Erde aus. Die dunkle Brühe ist voll davon. Die Aura des Wracks wird vielleicht davon aufgehalten – und ebenso die von ihr infizierten Lebewesen. Uns könnte demnach die Titanhülle des Shuttles beschützt haben.«

Lisa nickte beipflichtend. »Das hieße dann zugleich, dass sich jeder andere Fisch, der sich in den Ring verirrt, durch die Strahlung des Wracks in einen Dämon verwandelt – weil er ja nicht durch eine Metallschicht geschützt wird.«

»Ganz genau«, bestätigte Kyra. »Oder er wird gleich von den Hexenfischen gefressen.«

»Aber eins verstehe ich noch immer nicht«, sagte Nils. »Wenn diese Biester den Ring der Schwarzen Raucher nicht verlassen können, wie kommen sie dann zu den Hexen an die Oberfläche?«

»Durch Magie«, meinte Chris. »Wie sonst?«

»Das ist doch alles nur Spekulation«, hielt Nils kopfschüttelnd dagegen. »In Wahrheit wissen wir überhaupt nichts.«

»Aber es macht Sinn«, widersprach seine Schwester. »Die Hexen kommen wahrscheinlich in gewissen Abständen hierher, vielleicht alle paar Monate oder alle paar Jahre. Mit ihrer Magie saugen sie die Fische hoch an die Wasseroberfläche. Das ist fast so was wie eine Ernte.«

»Und der Druckunterschied?«, bemerkte Nils altklug.

»Mensch, es ist halt Magie«, entgegnete Lisa betont. »Ich bin keine Hexe, ich weiß nicht, wie das funktioniert. Auf alle Fälle klingt es logisch.«

»Wahrscheinlich ist dafür ein besonders starker Zauber nötig«, mutmaßte Kyra.

»Mater Suspiriorum!«, keuchte Chris. »Die Mutter der Seufzer. Deshalb ist sie an Bord! Weil niemand sonst über ihre Kräfte verfügt!«

Lisa schnippte mit den Fingern. »Genau!« Allmählich fügten sich die Teile zusammen wie Bruchstücke eines zerbrochenen Porzellantellers. »Und wisst ihr was? Zumindest ein Gutes könnte die ganze Sache haben.«

»Und das wäre?«

»Wir wissen nicht, seit wann die Fische den Hexen dienen, aber zumindest doch wohl schon eine ziemlich lange Zeit. Wenn die böse Aura wirklich vom Inneren des Wracks ausgeht, müsste es das Loch im Deck demnach etwa genauso lange geben. Und das wiederum würde bedeuten, dass der Dämon, der darin gefangen war, schon vor Jahrzehnten, vielleicht sogar vor Jahrhunderten ausgebrochen ist.«

»Glaubt ihr denn, er konnte den Ring der Schwarzen Raucher einfach so verlassen?«, fragte Chris.

»Sieht ganz danach aus! Wenn er nämlich noch da gewesen wäre, hätte er uns sicher angegriffen«, sagte Kyra. »Entweder er ist irgendwie rausgekommen – vielleicht, weil er viel mächtiger war als die kleinen Fische –, oder aber er ist schlicht und einfach verhungert. Schließlich gab es in dem Ring ja bald keine Nahrung mehr für ihn.«

»Können Dämonen denn verhungern?«

»Warum nicht?«

Chris, der immer hungrig war und – zum Leidwesen der neidischen Mädchen – bei all seiner Esserei nie dicker wurde, räusperte sich. »Das bringt mich auf eine gute Idee.«

»Sag bloß, du willst jetzt was essen?«, fragte Nils und verdrehte die Augen.

»Na und? Habt ihr vielleicht keinen Hunger?«

Sie einigten sich darauf, zurück zu Bischof und dem Professor in die Zentrale zu gehen und sich an den Vorräten der KARTHAGO zu schaffen zu machen. Im Augenblick konnten sie ohnehin nichts anderes tun.

Der Großteil des Nahrungsvorrats an Bord der Tiefseestation bestand aus ballaststoffarmer Verpflegung: eingeschweißte Brotscheiben, dünn wie Papier, dazu als Aufstrich Erdnussbutter und Marmelade. In großer Menge waren auch Schokoriegel vorrätig. Dazu kamen dutzende von Tuben fader Astronautennahrung und das eine oder andere Mikrowellenmenü.

Chris stürzte sich auf die Riegel und Erdnussbutterbrote, und nach einem Moment gesellte Nils sich dazu. Kyra und Lisa dagegen nahmen mit trockenem Brot vorlieb, auf dem sie lustlos herumkauten.

»Enrique hat es tatsächlich geschafft«, rief plötzlich Bischof aus. Alle hörten auf der Stelle auf zu essen. Chris verschluckte sich und musste fürchterlich husten.

»Eine Kapsel nähert sich uns von oben«, fuhr Bischof fort. »Ich hätte nicht gedacht, dass ihm das gelingt.«

»Haben wir Funkkontakt?«, fragte Professor Rabenson.

Bischof schüttelte den Kopf. »Aus irgendeinem Grund kommt keine Verbindung zu Stande. Gut möglich, dass Enrique so mit der Steuerung beschäftigt ist, dass er vergessen hat, das Funkgerät auf Empfang zu schalten. Immerhin ist er nur der Koch der S.I.M.-1, kein erfahrener Tiefseeforscher. Er hat bei seiner Einstellung einen Schnellkurs über die Technik aller wichtigen Geräte an Bord der Insel mitgemacht, aber ihm fehlt natürlich die Erfahrung. Er kann froh sein, wenn er heil bei uns ankommt.«

Bischofs Blick fiel auf Nils, der sich mit einem Erdnussbuttersandwich in der Hand gegen den Rand des runden Radartischs lehnte. »Hey, pass doch auf!«, rief er aufgebracht. »Du schmierst ja die ganze Scheibe voll!«

Nils zog sich sofort zurück und wischte mit einem Ärmelzipfel über das Glas.

Bischof wurde ganz rot vor Wut. »Lass das! Das ist doch nicht irgendein Küchentisch!« Er schob Nils beiseite und suchte die Glasfläche nach Schmierspuren ab. Dabei fiel sein Blick auf ein weiteres Signal, das sich dem Standort der KARTHAGO näherte.

»Oh nein!«, keuchte er erschrocken.

»Was ist?«, fragte der Professor.

Bischof zeigte auf den Radarmonitor. »Dieses Licht hier –«

»Das ist der Hai!«, stöhnte Chris.

Der Forscher nickte. »Unser Freund hat es sich offenbar anders überlegt und stattet uns einen neuen Besuch ab.«

Professor Rabenson wurde blass. »Da können wir ja froh sein, dass er nicht aufgetaucht ist, als Kyra und ich gerade mit dem Shuttle draußen waren.«

»Allerdings«, zischte Bischof. »Ich war sicher, wir würden ihn nie wieder sehen.«

Nils musterte den Forscher ablehnend. »So viel zu vorschnellen Urteilen.«

Bischof erwiderte Nils’ Blick düster, sparte sich aber jeglichen Kommentar.

»Wie lange dauert es noch, bis er hier ist?«, fragte Kyra.

Bischof kratzte sich am Hinterkopf. »Im Augenblick hat er noch nicht ganz die Geschwindigkeit eines Shuttles – aber wenn er sich Mühe gibt, ist er gut und gerne genauso schnell, vielleicht sogar noch schneller. Das heißt, dass er etwa … na ja, noch zwanzig Minuten brauchen wird. Höchstens fünfundzwanzig.«

 

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