Die letzte Chance

Kyra zupfte gerade das Betttuch zurecht, als aus den Lautsprechern der winzigen Kabine die Stimme ihres Vaters ertönte. Er klang besorgt. Überaus besorgt.

Lisa, die ein Kopfkissen bezog, zuckte erschrocken zusammen. »Was ist denn jetzt wieder? Noch mehr Katastrophen?«

»Komm!« Kyra sprang auf und lief aus der Kabine.

Lisa folgte ihr. Gemeinsam stürmten die Mädchen die stählernen Korridore der KARTHAGO entlang. Im Stockwerk über sich hörten sie scheppernde Schritte auf den Metallfußböden; Bischof und die Jungs waren ebenfalls unterwegs zur Zentrale.

Dort angekommen, versammelten sich alle dicht gedrängt vor der Monitorwand. Die einstmals dunklen Rechtecke der Bildschirme waren jetzt von Licht überflutet.

Die Landschaft rund um die Station sah aus wie die Bilder von der ersten Mondlandung: eine weißgraue Staubwüste, rau und zerfurcht. Und aus der Tiefe einen Kilometer unter ihnen, am Fuß der Berge, ragte eine Lichtsäule über dem Ring der Schwarzen Raucher empor und schien sich ungebrochen nach oben hin fortzusetzen, vermutlich bis hinauf zur Wasseroberfläche.

»Mater Suspiriorum«, wisperte Lisa.

»Das muss so was wie ’n Traktorstrahl in Star Wars sein«, bemerkte Nils und handelte sich damit einen finsteren Blick von Bischof ein. Als Wissenschaftler fand er solche Vergleiche absurd und kindisch. Trotzdem fügte Nils hinzu: »Damit ziehen sie bestimmt die Hexenfische zu sich herauf.«

Kyra beugte sich näher an einen Monitor und versuchte, im Licht der Säule Einzelheiten auszumachen. Sie hoffte, Fische zu sehen, die inmitten der Helligkeit nach oben schwebten. Doch das Licht war zu gleißend und viel zu weit entfernt. Schon nach wenigen Sekunden brannte sein Anblick in den Augen.

Bischof überwand sein Erschrecken. »Sieht aus, als könnten wir ohnehin nichts daran ändern, was immer das auch sein mag.« Er drehte sich zur Tür. »Kommt, macht weiter wie bisher. Enrique und der Hai müssen in ein paar Minuten hier sein.«

Den armen Koch hatten sie in der ganzen Aufregung beinahe vergessen.

Kyra löste sich nur widerwillig von den Bildschirmen – irgendetwas mussten sie doch tun können! –, aber sie sah natürlich ein, dass Enriques Rettung im Augenblick Vorrang vor allem anderen hatte.

Bald darauf standen sie und Lisa wieder in der Kabine und bereiteten alles für das Eintreffen des Kochs vor. Lisa stellte einen Erste-Hilfe-Kasten bereit und klappte den Deckel auf. Die medizinischen Möglichkeiten an Bord der KARTHAGO waren begrenzt, und mit dem Inhalt des Kastens würden sie kaum mehr als ein paar Schrammen verarzten können.

Oben im Turm der Station beendeten Bischof und die beiden Jungen derweil den Check der Schleuse. Die drei Anlegestellen lagen rund um die Turmspitze; eine davon hatten die Kinder ja bereits bei ihrer Ankunft gesehen. Hinter jeder befand sich ein separater Schleusentunnel. Die engen Stahlröhren boten Platz für maximal sechs Menschen. Neuankömmlinge mussten hier eng gedrängt abwarten, bis der Druckausgleich beendet war.

Für Enrique wurde die mittlere Schleuse vorbereitet. Bischof war überzeugt, dass der Autopilot der Kapsel das Gefährt zielgenau an die Anlegestelle andocken würde – vorausgesetzt, es gab keine Störungen durch den Riesenhai. Davor hatten sie alle am meisten Angst. Und der arglose Koch wusste noch nicht einmal, auf was für eine Gefahr er zusteuerte.

»Geht zurück in die Zentrale«, sagte Bischof zu Chris und Nils, »und schickt mir den Professor rauf. Nach allem, was Enrique durchgemacht hat, wird ihn der Druckausgleich ziemlich mitnehmen. Gut möglich, dass er das Bewusstsein verliert. Der Professor wird mir dann helfen müssen, ihn zu tragen.«

»Aber das können wir doch machen«, sagte Chris ein wenig empört.

Bischofs Augen blitzten. »In einer solchen Situation hätte ich trotz allem lieber einen Erwachsenen an meiner Seite.«

Chris und Nils wechselten einen missbilligenden Blick, dann aber ließen sie Bischof seinen Willen.

Sie würden ihn nie davon überzeugen können, dass sie, seit sie die Siegel trugen, mehr durchgemacht hatten, als er sich überhaupt vorstellen konnte. Bei dem, was Lisa ihm vom Arkanum berichtet hatte, hatte der Forscher zwar geduldig zugehört, aber sie hatten ihm deutlich angesehen, dass er ihnen nicht wirklich glaubte. Gewiss zog er einiges davon in Betracht, doch es verwirrte ihn zu sehr, als dass er sich länger Gedanken darüber gemacht hätte. Er wollte sich den Kopf frei halten für Wichtigeres – wie sie hier unten überleben konnten zum Beispiel.

Chris und Nils eilten in die Zentrale und informierten den Professor. Kyras Vater brach sofort auf und ließ die Jungen allein zurück.

Nils beugte sich über den Radarmonitor.

»Sieh mal, der Hai lässt sich Zeit. Mit ein wenig Glück ist die Kapsel vor ihm hier.«

»Vorausgesetzt, er sieht sie nicht schon von weitem und gibt Gas«, sagte Chris.

Nils nickte düster und schwieg.

 

Lisa betrachtete den offenen Erste-Hilfe-Kasten neben dem Bett. »Glaubst du, das reicht? Ich meine, was, wenn die Hexen diesen Enrique in die Mangel genommen haben?«

»Dann wäre er wohl kaum auf dem Weg hierher«, antwortete Kyra. »Sie hätten ihn nicht einfach laufen lassen.«

»Trotzdem könnte er sich auf der Flucht verletzt haben. Ich meine, klar, das muss nicht sein, aber was, wenn es ihm wirklich so schlecht geht, wie Bischof befürchtet?«

Kyra überlegte. »Vielleicht sollten wir noch ein paar größere Verbände aus dem Medizinraum holen. Wenn wir alles hier bereitlegen, haben wir zumindest getan, was wir konnten.«

Lisa stimmte zu. »Okay.«

Der Medizinraum der KARTHAGO befand sich im untersten Stockwerk, nahe der Hauptschleuse. Diese hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit den drei kleineren Anlegestellen oben an der Turmspitze. Die Hauptschleuse umfasste den größten Raum der ganzen Station. Sie war eine niedrige Halle, in deren Zentrum das Shuttle lag. Wenn dieses starten sollte, konnte hier ein Druckausgleich durchgeführt werden. Danach wurde der gesamte Raum geflutet, und ein Schott, so breit wie eine ganze Wand, öffnete sich, damit das Shuttle ins Freie tauchen konnte.

Die Tür des Medizinraums lag dem Eingang der Hauptschleuse genau gegenüber; beides zusammen belegte das gesamte unterste Geschoss der Station. Die Zentrale und die Mannschaftskabinen befanden sich darüber im ersten Stock, und weiter oben, auf der höchsten Ebene, waren die technischen Labors – und der Zugang zum Stationsturm mit seinen Anlegedocks für die schwerfälligeren Tauchkapseln.

Kyra und Lisa stürmten in den Medizinraum und blieben ein wenig ratlos vor den eng bepackten Regalen stehen. Kisten und Kartons waren voll gestopft mit Verbänden und Pflastern, mit zahllosen Medikamentenschachteln, medizinischem Gerät, sogar ein Operationsbesteck war vorhanden. In der Mitte des kleinen Raums befand sich eine Krankenliege.

»Ich frag mich«, meinte Lisa, »ob wir nicht besser hier alles für Enrique hergerichtet hätten statt in einer der Kabinen.«

»Ich schätze mal, Bischof will ihm den langen Weg vom Turm herunter nicht zumuten.«

Seufzend machten sich die Mädchen auf die Suche nach allem, was sie für die rasche Versorgung eines Verletzten brauchen konnten. Oben im Turm blickte Bischof schwitzend auf eine Anzeige in der Wand neben den drei Schleusentüren.

»Die Kapsel dockt an«, sagte er und klang dabei sehr erschöpft.

Professor Rabenson horchte in die Stille. Wie aus weiter Ferne drang mit einem Mal ein metallisches Quietschen und Knarren an seine Ohren.

»Klingt das gut?«, fragte er zweifelnd.

Bischof nickte ihm beruhigend zu. »Bis jetzt hat alles seine Ordnung.«

»Ich wäre ruhiger, wenn ich zusehen könnte«, sagte der Professor. Monitore mit den Bildern der Außenkameras gab es im Turm jedoch nicht.

»Machen Sie sich keine Sorgen.«

Bischof hatte kaum zu Ende gesprochen, als ein lautes Krachen und Donnern die Titanwände ringsherum erschütterte. Die beiden Männer mussten sich abstützen, um nicht hinzufallen.

»Was zum Teufel war das?«, brüllte der Professor.

Alles Blut war aus Bischofs Zügen entwichen.

»Das, fürchte ich, war unser großer, grauer Freund.« Er atmete tief durch und versuchte, irgendetwas von den Digitalanzeigen abzulesen. »Der Hai hat die Kapsel gerammt und sie gegen den Turm geschleudert.«

 

»So ein Mist!« Nils war vor Aufregung aufgesprungen und massierte sich nervös die Kopfhaut. »Das hat gesessen!«

Ein auf- und abschwellendes Pfeifen jaulte durch die Zentrale. Ein Alarmsignal!

»Hat Doktor Bischof nicht gesagt, die Station sei erdbebensicher?« Chris zappelte auf dem Kommandosessel herum und fühlte sich schrecklich hilflos.

Vor ihnen auf den Monitoren drehte der Riesenhai eine rasche Schleife um die Station und nahm dann erneut die angeschlagene Kapsel ins Visier. Der Autopilot versuchte gerade, das Tauchgefährt wieder auf Kurs zu bringen, als der Hai abermals daran vorbeirauschte und der Kapsel einen kraftvollen Hieb mit der Schwanzflosse verpasste.

»Oh nein«, stöhnte Chris.

Nils ließ sich wieder in seinen Sessel vor der Monitorwand fallen. Es fiel ihm schwer, den Attacken des mörderischen Riesenhais zuzusehen; er wollte sich abwenden, sich die Augen zuhalten, aber natürlich konnte er das nicht. Sein Erschrecken und seine Neugier hielten sich die Waage. Fast gegen seinen Willen starrte er die Monitore an, so als hätte man ihn mit unsichtbaren Seilen aufrecht an den Sitz gefesselt.

Durch den zweiten Angriff war die Kapsel mehrere Meter vom Kurs abgekommen, den der Computer für sie berechnet hatte. Sie trudelte an der Wand des Stationsturms hinunter wie ein Stein, fing sich dann aber wieder und schwebte auf einem Strahl von Luftblasen aufwärts.

Das Gefährt war nur noch ein kleines Stück von der Anlegestelle entfernt, als der achtzehn Meter lange Koloss zu seiner dritten Attacke ansetzte. Diesmal schoss er mit aufgerissenen Kiefern Richtung Kapsel – ein schwarzer Schlund, umrahmt von zahllosen Reihen handtellergroßer Zähne. Die runden Augen des Hais schienen tückisch zu funkeln, als er wie ein Schlachtschiff auf seine stählerne Beute zuraste.

Chris hantierte hektisch an den Kontrollen herum. Nils sah es und wunderte sich: »Was machst du denn da?«

»Ich stelle alle Scheinwerfer in Richtung des Hais ein. Vielleicht schreckt ihn das ab. Die ungewohnte Helligkeit muss ihn ohnehin verwirren, möglicherweise verjagen ihn die Strahler dann ganz.«

»Oder sie machen ihn noch aggressiver«, wandte Nils leise ein, aber er versuchte nicht, Chris aufzuhalten. Immerhin war es einen Versuch wert.

Chris’ Finger huschten über die Schaltknöpfe der Scheinwerfer, die in zwei Reihen am oberen Rand der Konsole angebracht waren. Er hatte Bischof beobachtet, als dieser die Strahler bedient hatte, und er hoffte, dass er jetzt alles richtig machte.

Der Riesenhai kam schneller heran, als Chris gedacht hatte. Trotzdem gelang es ihm, zumindest einen Teil der Scheinwerfer neu zu justieren. Auf einen letzten Knopfdruck hin flammten sie auf und feuerten ihre Helligkeit in die empfindlichen Augen der Urzeitbestie.

Der Hai zuckte, eine heftige, wellenförmige Bewegung, die seinen ganzen gewaltigen Leib erfasste. Er besaß keine Lider, konnte die Augen daher nicht schützen. Von einem Sekundenbruchteil zum nächsten war er praktisch blind.

»Es funktioniert!«, rief Nils begeistert.

Der Hai verfehlte die Kapsel um mehrere Meter und schoss an ihr vorbei. Beinahe hätte er sich geradewegs in den Berghang gebohrt, wäre es ihm nicht im letzten Moment gelungen, mit einem kraftvollen Flossenschlag die Richtung zu ändern.

Chris atmete auf. Seine Lichtattacke hatte der Kapsel die nötige Zeit verschafft. Auf den Monitoren beobachteten sie, wie das Gefährt in den Radius der starken Dockmagneten geriet und sicher an die Anlegestelle gezogen wurde.

 

»Es hat geklappt!« Bischof war ganz außer sich vor Erleichterung.

»Die Kapsel hat angedockt?« Der Professor konnte es noch gar nicht glauben.

»Allerdings, ja!«, jubelte Bischof. Mit raschen Bewegungen bediente er die Knöpfe in der Wand.

»Mal sehen … Verflucht, wenn Enrique nur das Funkgerät eingeschaltet hätte. So muss ich das Schott zum Schleusentunnel von hier aus öffnen.«

»Können Sie das denn?«

Bischof grinste. »Ich war an der Konzeption dieser Station beteiligt. Hier unten ist fast alles möglich. Unser besonderes Anliegen war es, auf Notfälle wie diesen vorbereitet zu sein.«

Ein leises Zischen ertönte, als sich – für die beiden unsichtbar – das Schott der Kapsel öffnete. Professor Rabenson hätte einiges für Sichtfenster oder eine Kameraüberwachung der Schleuse gegeben, aber beides gab es nicht. Sie würden erst sehen, wie es um Enrique stand, wenn der Druckausgleich beendet war und die Tür zum Turm sich öffnete. Der Professor hielt sich bereit, einen Verletzten in Empfang zu nehmen.

»Ich gleiche jetzt den Druck aus.« Bischof drückte eine Kombination von Knöpfen. Aus dem Inneren des Schleusentunnels drang ein sanftes Rauschen wie von Luft, die aus einem kaputten Ballon entweicht.

»Wie lange wird es dauern?«, fragte der Professor.

»Nur zwei, drei Minuten«, sagte Bischof. »Die Technik der KARTHAGO ist die modernste, die derzeit überhaupt in der Tiefseeforschung eingesetzt wird. Mister Simons ist ein spendabler Sponsor, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Der Professor lauschte auf das Zischen und Seufzen der Generatoren und fragte sich, in welchem Zustand der arme Koch wohl sein würde. Es war eine bewundernswerte Leistung, sich vor einigen Dutzend Hexen des Arkanums versteckt zu halten. Und geradezu unfassbar war es, ihnen eine Kapsel unter der Nase wegzustehlen. Das Gelingen eines solchen Unterfangens grenzte an ein Wunder.

Wenn er genauer darüber nachdachte, war es eigentlich schlichtweg unmöglich.

Das Zischen endete. Das Schott des Schleusentunnels begann, sich zu öffnen.

Der Professor und Bischof strafften sich.

Etwas blitzte im Dämmerlicht des Tunnels.

Und dann erkannten beide die Wahrheit.

Es war kein Mensch, der zu ihnen herabgekommen war. Enrique war es nie gelungen, bis zu den Kapseln vorzudringen. Das Arkanum hatte eine Überraschung für sie vorbereitet.

Der Tunnel war voller Hexenfische. Ein Dutzend. Vielleicht zwei.

Sie wandten ihre bösen Augen den Männern zu und rissen ihre Mäuler auf.

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