Tauchgang in die Tiefsee

Hundert Meter unter der Wasseroberfläche verblasste das Dunkelblau der See und wurde zu undurchdringlicher Finsternis. Kein Lichtstrahl brach sich mehr in den Wasserschichten über der winzigen Tiefseekapsel, kein Funkeln, kein Glitzern auf ihrer Außenhaut.

Nur Dunkelheit. Nur Schwärze. Nur eiskaltes Nichts.

Sechs Menschen befanden sich an Bord der Kapsel, eingepfercht in einen winzigen, schlauchförmigen Raum, fest angeschnallt in Liegesesseln, die kaum eine Bewegung erlaubten. Alle sechs trugen weiße Overalls aus Kunststoff. Das einzige Geräusch war das beständige Gurgeln der Ballasttanks.

Ganz vorne lagen Professor Rabenson und Doktor Bischof, der Leiter der Expedition. Dahinter, in der zweiten Reihe, starrten Kyra und Lisa angespannt zur Decke, wo über jedem Liegesitz ein Monitor angebracht war. Die Bildschirme waren die einzige Möglichkeit, nach draußen zu schauen – auch wenn es dort nichts zu sehen gab. Bullaugen oder Sichtscheiben hatte man in die Kapsel gar nicht erst eingebaut.

In der hinteren Reihe lagen Chris und Nils nebeneinander, die Blicke gleichfalls auf ihre Monitore gerichtet. Es kam selten vor, dass die beiden einer Meinung waren, doch heute stimmten sie ausnahmsweise völlig überein.

»Mir ist schlecht.«

»Und mir erst.«

»Schwindlig ist mir außerdem.«

»Und ich krieg Kopfschmerzen.«

Kyra und Lisa wandten die Köpfe zur Seite und schauten einander an. Lisa verdrehte stumm die Augen, während Kyra flüsterte: »So was von memmig.«

»Das hab ich gehört«, brummte Nils.

»Solltest du auch«, erwiderte Kyra. »Ihr stellt euch an wie kleine Kinder.«

Tatsächlich meckerten die beiden Jungen nun schon über eine Woche herum – seit sie gemeinsam mit Professor Rabenson, Kyras Vater, an Bord der künstlichen Forschungsinsel S.I.M.-1 gegangen waren und begonnen hatten, eine Art Astronautentraining zu absolvieren, um fit für die Tauchfahrt zur geheimen Tiefseestation zu sein.

Chris und Nils waren beide nicht allzu begeistert gewesen, als sie erfuhren, wohin sie die Reise mit dem Professor diesmal führen würde. Mit dem Flugzeug waren sie nach Seattle geflogen, einer Stadt im Nordwesten der USA. Von dort aus hatte sie ein Hubschrauber ihres Gastgebers, des mysteriösen Multimilliardärs Simon Simons, hinaus zur S.I.M.-1 gebracht, einem schwimmenden Forschungslabor in den Weiten des Ostpazifiks.

Zwei Wochen sollte die gesamte Reise dauern. In den ersten Tagen hatten sie wie geplant ihr Training durchlaufen, was eine spannende und aufregende Sache gewesen war – zumindest in den Augen der beiden Mädchen. Nun aber, zu Beginn der zweiten Woche, wurde es ernst. Endlich waren sie unterwegs Richtung Meeresgrund: zur Station KARTHAGO in fast fünftausend Metern Tiefe, fest montiert am Felsrücken eines gewaltigen Unterwassergebirges.

Doch schon jetzt, nach den ersten Minuten der Tauchfahrt, hatte ihr Expeditionsleiter Doktor Bischof die Nase voll vom ewigen Gestänker der beiden Jungen.

»Könntet ihr dahinten bitte den Mund halten«, zischte er unfreundlich über seine Schulter, während seine Hände blind eine Vielzahl von Schaltern und Hebeln am Kontrollpult der Kapsel bedienten.

Chris und Nils verstummten mürrisch, und die Mädchen in der Liegereihe vor ihnen grinsten sich an.

Eine Dreiviertelstunde lang sank die Kapsel tiefer und tiefer hinab, und noch immer stießen ihre Suchscheinwerfer auf nichts, was die Außenkameras für die Monitore der Besatzung hätten einfangen können.

Bis plötzlich Professor Rabenson sagte: »Da war was!«

»Hm?« Doktor Bischof schaute überrascht von den Kontrollinstrumenten auf. Sein Blick saugte sich regelrecht am Monitor über seinem Gesicht fest.

»Ich hab’s auch gesehen«, bestätigte Chris.

»Ich auch«, fügte Nils schnell hinzu, aber es klang so, als ob er das nur behauptete, um nicht eingestehen zu müssen, dass er für ein paar Minuten eingedöst war. Die Mädchen hatten gerade einen gelangweilten Blick gewechselt, als der Professor seine Entdeckung gemacht hatte, deshalb war ihnen nichts Ungewöhnliches aufgefallen.

»Was haben Sie denn gesehen?«, wandte sich Bischof an Kyras Vater.

»Eine Bewegung«, antwortete Professor Rabenson, »ganz am Rand des Bildschirms.«

»Es gibt eine Menge kleiner Lebewesen hier unten«, sagte Bischof und lächelte oberlehrerhaft. »Ein paar davon sehen recht gruselig aus.«

»Das weiß ich«, erwiderte der Professor eingeschnappt. »Aber das, was da draußen war, sah vor allen Dingen ziemlich groß aus!«

Er hatte sich monatelang auf die Expedition vorbereitet und wusste genau, welche Tiere in diesen Tiefen anzutreffen waren. Der Ausflug zur Unterwasserstation KARTHAGO war Teil der Recherche für sein neues Buch. Der Professor hatte bereits zahllose Bestseller über unheimliche Phänomene veröffentlicht. Auch sein derzeitiges Projekt – ein Band über die Geheimnisse der Tiefsee – würde zweifellos neue Verkaufsrekorde aufstellen.

Der ungewöhnliche Beruf Professor Rabensons war schuld daran, dass er und seine Tochter einander nicht allzu häufig sahen. Seine Reisen führten den Forscher rund um den Globus, während Kyra, die natürlich zur Schule gehen musste, bei ihrer Tante Kassandra in dem verschlafenen Örtchen Giebelstein lebte. In den Ferien jedoch durften Kyra, Chris und die beiden Geschwister Nils und Lisa den Professor oft auf seinen Expeditionen begleiten. Kyras Vater übernahm dann großzügig die Reisekosten für alle vier Kinder – aufgrund seines beträchtlichen Vermögens schmerzte ihn das nicht.

»Ich kann nichts entdecken«, sagte Doktor Bischof kopfschüttelnd. Über seinen Bildschirm flimmerten nacheinander die Übertragungen aller sechs Kameras, die am Rumpf der Kapsel angebracht waren. Überall das gleiche Bild: Schwärze, Schwärze, Schwärze.

»Wie weit ist es noch bis zur KARTHAGO?«, fragte Lisa beunruhigt. Wenn da draußen wirklich etwas war, das nicht hergehörte, dann wollte sie gerne so schnell wie möglich an Bord der Station gehen, statt hier im Nichts zu schweben.

»Wir sind jetzt knapp viertausend Meter unter der Wasseroberfläche«, las Bischof von einer Digitalanzeige ab. »Das heißt, wir werden noch ungefähr zwölf Minuten sinken.«

Lisa schauderte. Zwölf Minuten lang wie ein Stein in die Tiefe fallen, gebremst nur durch kleine Turbinen an der Unterseite der Kapsel. In zwölf Minuten konnte viel passieren.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Bischof. »Diese Kapsel hält eine Menge aus. Die Bordwand besteht aus fünf Zentimeter dickem Titan. Daran beißt sich selbst der größte Fisch die Zähne aus.«

Kyra runzelte düster die Stirn. »Ist ja klasse, dass Sie so was überhaupt in Betracht ziehen.«

»Was könnte uns denn hier unten angreifen?«, wollte Nils wissen. Er hatte seine Hände fest um die Ränder seines Liegesitzes gekrallt.

»Gar nichts!«, verkündete Bischof entschieden.

»Da war es wieder!«, rief Professor Rabenson plötzlich alarmiert. Er drehte das Gesicht zu dem Meeresforscher auf dem Nebensitz. »Das müssen Sie doch gesehen haben!«

Bischof gab keine Antwort. Sein Schweigen beunruhigte Kyra so sehr, dass sie trotz des ausdrücklichen Verbots ihre Gurte öffnete und über die Lehne der Vordersitze in das Gesicht des Wissenschaftlers blickte.

Er war kreidebleich. Seine Unterlippe zitterte.

»Was ist denn los?«, fragte Kyra besorgt. Plötzlich war ihr siedend heiß.

Bischofs Hände flogen über die Armaturen.

»Schnall dich sofort wieder an!«, fuhr er Kyra an, ohne sich zu ihr umzudrehen.

Kyra zog sich rasch auf ihren Sitz zurück und ließ die Gurte einrasten.

»Oh Mann«, knurrte Nils, und Chris schickte einen geflüsterten Fluch hinterher.

Lisas Hand kroch zu Kyra hinüber und umklammerte deren Finger. Gleichzeitig presste sie die Lippen fest aufeinander, so als wollte sie verhindern, vor lauter Angst wild draufloszuplappern.

»Also?«, fragte Professor Rabenson ungeduldig. »Was für ein Ding war das?«

Bischof wischte sich mit dem Handrücken Schweißperlen von der Stirn. »Ich weiß es nicht. Hier unten dürfte es nichts Lebendiges geben, das …« – er zögerte – »… das auch nur halb so groß ist.«

»Könnte mir mal jemand sagen, was da überhaupt war?«, verlangte Chris. »Ich hab nix gesehen.«

Das Sonargerät klickte und pfiff geheimnisvoll.

»Es ist nur ganz schnell durch das Licht der Suchscheinwerfer gehuscht«, sagte Lisa, die es ebenfalls bemerkt hatte. »Dann war es wieder weg.« Sie hatte zwar die Bewegung wahrgenommen, wunderte sich aber, dass die beiden Männer vorne im Bug der Kapsel die Größe hatten ausmachen können. Das Ding war so verflixt schnell gewesen!

Dann aber fiel ihr Blick auf eine der Anzeigen des Armaturenbretts. Offenbar hatten die Außensensoren der Kapsel das mysteriöse Wesen vermessen können.

18 Meter, stand da in blutroten Leuchtzeichen.

Kyra sah die Anzeige im selben Moment wie Lisa. »Was für Tiere gibt es, die so groß sind? Riesenkraken?«

Lisa warf ihr aus aufgerissenen Augen einen Blick zu. »Kraken?«

Doktor Bischof und der Professor schüttelten gleichzeitig die Köpfe. »Kraken können zwar so groß werden«, sagte Bischof, »aber die Fangarme sind zu dünn, als dass die Sensoren sie hätten registrieren können.« Er schluckte. »Die achtzehn Meter müssen massiv sein. Fleisch und Muskeln.«

»Und Zähne«, flüsterte Nils im Hintergrund.

Professor Rabenson starrte Bischof fassungslos an. »Mir wurde versichert, dieser Tauchgang sei vollkommen ungefährlich. Mister Simons selbst –«

Der Tiefseeforscher unterbrach ihn. »Mister Simons sitzt irgendwo in Florida und sonnt sich. Er finanziert die KARTHAGO nur – er hat keine Ahnung, was hier wirklich geschieht.« Offenbar hielt Bischof nicht viel von seinem schwerreichen Geldgeber. »Aber was die Gefährlichkeit angeht – normalerweise kann nicht das Geringste passieren.«

»Normalerweise«, äffte Nils ihn leise nach.

Bischof fuhr fort. »Die Kapsel besteht aus dem härtesten Metall der Welt. Wir haben Sauerstoffvorräte für zweiundsiebzig Stunden an Bord, das ist ein Zigfaches von dem, was wir benötigen. Und wir stehen in ständigem Funkkontakt mit der S.I.M.-1 an der Oberfläche.«

»Gute Idee«, sagte Professor Rabenson und griff nach dem Mikrofon des Funkgeräts. Ein Spiralkabel verband es mit der Konsole.

»Kapsel an S.I.M-1«, sprach er hinein. »Rabenson an S.I.M.-1!«

»Und was wollen Sie denen sagen?«, fragte Bischof zornig. »Dass sie uns eine Harpune hinterherwerfen sollen?«

»Kapsel an S.I.M.-1«, wiederholte der Professor, ohne auf Bischofs Worte zu achten.

Er erhielt keine Antwort.

»Ist das Funkgerät tot?«, fragte Lisa mit flauer Stimme.

Bischof riss dem Professor das Mikrofon aus der Hand. »Kapsel an S.I.M.-1«, sagte er laut. »Hier ist Bischof. Hey, Jungs, was macht ihr da oben? Hört uns keiner?«

Der Lautsprecher blieb stumm.

»Der Kontakt ist da«, murmelte Bischof. »Aber es antwortet niemand.«

Rumms!

Eine heftige Erschütterung ließ die Kapsel erzittern. Plötzlich brüllten alle durcheinander, klammerten sich an ihren Sitzen fest und gaben sich größte Mühe, nicht die Nerven zu verlieren.

»Was zum Teufel ist das da draußen?« Professor Rabenson drückte einen Knopf an seinem Monitor, um den Bildausschnitt zu vergrößern. Doch das, was sie gerammt hatte, war bereits wieder aus dem Sichtfeld der Kameras verschwunden. Die Schwärze der Tiefsee schloss sich wie ein Samtvorhang.

img4.jpg