Kyra schob instinktiv den Ärmel ihres weißen Overalls zurück. Die Sieben Siegel blieben unsichtbar. Normalerweise erschienen die magischen Male, sobald sich ihnen eine Kreatur der Finsternis näherte – Dämon, Geist oder Hexe –, doch jetzt war nichts zu sehen. Was immer es war, das die kleine Kapsel angegriffen hatte, es schien sich um einen natürlichen Gegner zu handeln.

Auch wenn das bei achtzehn Metern Länge wahrscheinlich kaum noch ins Gewicht fiel.

»Ich schalte jetzt auf Untersicht«, verkündete Bischof.

Auf allen sechs Monitoren erschien das Bild jener Kamera, die sich an der Unterseite der Kapsel befand.

Aus der Dunkelheit schälte sich ein finsterer Koloss, dessen Umriss entfernt an eine im Meer versunkene Kirche erinnerte: ein kantiger Metallblock, an dessen Seite sich ein Turm erhob, gespickt mit Sensoren, Radarschüsseln und Antennen.

Die KARTHAGO – die geheime Forschungsstation an den zerklüfteten Hängen eines unterseeischen Gebirgszuges.

Die Station klammerte sich mit Hilfe eines bizarren Netzwerks aus Gittern und Streben an die Flanke eines Berges, dessen höchsten Grat die Kapsel längst passiert haben musste. Wie die Landschaft darunter beschaffen war, war nicht auszumachen – sichtbar war nur, was die engen Kegel der Suchscheinwerfer beleuchteten. Alles andere blieb in der ewigen Nacht des Ozeans verborgen.

»Wir sind gleich da!«, entfuhr es Bischof erleichtert.

Er hatte den Satz kaum beendet, als die Kapsel erneut gerammt wurde. Heftiger diesmal. Kyra wurde so ruckartig in ihren Sitzgurt gezerrt, dass ihr ganzer Oberkörper schmerzte. Den anderen erging es nicht besser.

»Ich hab’s gesehen!«, stieß Nils aus. »Es war gerade noch unter uns.«

Jetzt hatten auch alle anderen einen Blick auf das Wesen erhaschen können – auf einen grauweißen Leib, so breit wie ein Straßenbahnwaggon. Und auf eine gewaltige Rückenflosse, die spitz und scharf aus ihm emporragte wie eine Messerklinge.

Angst und Panik schnürten ihnen die Kehlen zu.

»Einen so großen Hai kann es gar nicht geben!«, stieß Professor Rabenson atemlos aus. »Die Sensoren müssen sich täuschen.«

Aber noch immer leuchtete die Digitalanzeige in gnadenlosem Rot: 18 Meter.

»Haie in dieser Größe sind seit Jahrmillionen ausgestorben«, keuchte Bischof. »Die letzten Exemplare lebten zur Zeit der Dinosaurier. Wenn so ein Tier wirklich noch existierte, dann wäre das eine biologische Sensation!«

»Das Megalodon«, flüsterte Nils tonlos. »Der Ururgroßvater aller Haie. Ich hab mal in ’nem Buch eine Zeichnung gesehen, und –«

Chris unterbrach ihn. »Wie lange noch?«, rief er in Bischofs Richtung.

Die Finger des Forschers zuckten hastig über die Kontrollinstrumente. »Bereit zum Andocken in zwanzig Sekunden … achtzehn … sechzehn …« Er zählte in Zweierschritten rückwärts.

Alle erwarteten jeden Moment einen erneuten Angriff des Riesenhais. Lisa kaute wie besessen auf ihrer Unterlippe, während Chris und Nils der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief. Kyra presste sich mit dem Rücken in ihren Liegesitz, als hinge ihr Leben davon ab.

Da! Eine weitere Erschütterung ließ die Kapsel erbeben. Alle außer Bischof schrien erschrocken auf. Doch diesmal war es nur der Kontakt mit der Titankonstruktion des Stationsturms, als riesige Elektromagneten die Kapsel packten und millimetergenau in eine der drei Anlegestellen an der Turmspitze zogen.

»Wir sind da«, keuchte Bischof und löste seine Gurte. »Schnell, raus hier!«

Die sechs kletterten aus ihren Liegesitzen, krochen auf allen vieren in die niedrige Schleuse und waren einen Augenblick später in dem engen Stahltunnel eingeschlossen. Rund um sie herum rauschte und gurgelte es, während die hochmoderne Technologie der KARTHAGO den Druckausgleich herstellte. Ihnen allen wurde in diesem Augenblick schwindlig, und ein heftiger Brechreiz stieg in ihnen auf.

Dann aber war es vorbei. In wenigen Sekunden würde sich das Stahlschott der Station öffnen. Endlich fester Boden unter den Füßen.

Während sie warteten, murmelte Professor Rabenson: »Es kann einfach kein Hai gewesen sein!«

Bischof nickte. »Wissen Sie, was mir fast noch mehr Sorgen bereitet?«, flüsterte er. »Warum hat sich von der S.I.M.-1 keiner auf unseren Funkspruch gemeldet? Die Geräte haben angezeigt, dass der Kontakt hergestellt war. Aber es hat einfach niemand geantwortet.«

»Und was bedeutet das?«, fragte Kyra vorsichtig.

Bischof schaute von einem zum anderen, wohl um sich zu vergewissern, dass die Freunde die Wahrheit vertragen konnten.

»Die S.I.M.-1 wollte oder konnte uns keine Antwort geben«, sagte er schließlich. »Irgendwas ist da oben passiert.«

Das Schott öffnete sich mit einem Zischen. Es klang wie der Atemzug eines monströsen Lebewesens.