Die KARTHAGO

Die Station war verlassen. Kein Mensch hielt sich in ihren engen Korridoren und Stahlkammern auf. Nur das Wummern der Generatoren tief im Herzen der KARTHAGO, das Funkeln tausender und abertausender von Kontrollleuchten und ein monotones Summen und Schnarren gaben der Tiefseestation den Anschein von Leben.

»Ich bin seit drei Monaten der Einzige, der hier herunterkommt«, sagte Bischof, obwohl sie das alle längst wussten. Er klang wie ein Kind, das eine Entschuldigung für sein unaufgeräumtes Zimmer sucht. »Seitdem weiß ich, wie sich die Kosmonauten auf der Raumstation MIR gefühlt haben müssen.«

Sie saßen eng gedrängt in der winzigen Kommandozentrale der KARTHAGO. Bischof hatte Kaffee aufgesetzt, der den Freunden nicht schmeckte, sie aber angenehm wärmte. Die Wassertemperatur betrug hier unten nur drei Grad über null; trotz aller Heizgeneratoren drang die klamme Kälte durch die Titanwände der Station und ließ die sechs Menschen in ihrem Inneren frösteln.

Eine Wand der Zentrale war komplett mit Monitoren bedeckt, die die Umgebung der KARTHAGO aus einer Vielzahl von Perspektiven zeigten. Aus Gründen der Energieersparnis waren die Suchscheinwerfer die meiste Zeit über ausgeschaltet, doch jetzt, nach dem Auftauchen des Riesenhais, hatte Bischof ausnahmsweise alle aktiviert. Grauweißes Licht ergoss sich über den kahlen Hang des Unterwassergebirges und erhellte einen Umkreis von etwa fünfzig Metern. Von der gewaltigen Kreatur, die sie gerammt hatte, war keine Spur zu entdecken.

Bischof hatte in den letzten Minuten mehrfach versucht, Kontakt mit der S.I.M.-1 an der Oberfläche aufzunehmen, doch noch immer antwortete niemand.

Jetzt probierte er es abermals, wieder ohne Erfolg. Verständnislos schüttelte er den Kopf.

»Ich weiß einfach nicht, was da oben los ist. Die einzige Erklärung wäre ein totaler Stromausfall. Aber so was kommt nur bei einem Unwetter vor, bei einem Hurrikan vielleicht.«

»Als wir die S.I.M.-1 verlassen haben, war der Himmel noch strahlend blau«, gab Chris zu bedenken.

»Stürme kommen schnell auf hoher See«, sagte Bischof. Alle merkten ihm an, dass er nur versuchte, eine Erklärung für das Unerklärliche zu finden.

»Was ist mit dem Hai?«, fragte Lisa. »Hier drin kann uns doch nichts passieren, oder? Ich meine, Sie haben gesagt, die Station ist aus Titan.«

Bischof lächelte. »Die KARTHAGO wurde gebaut, um Erdbeben der Stärke acht auszuhalten. Nicht einmal eine Kollision mit einem U-Boot könnte ihr viel anhaben.« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Außerdem glaube ich, dass die Sensoren ein falsches Ergebnis angegeben haben. Achtzehn Meter – das ist ganz und gar unmöglich!«

»Aber wir haben das Vieh doch gesehen!«, hielt Kyra dagegen.

»Ziemlich deutlich sogar«, murrte Nils, formte mit gekrümmten Fingern ein aufgerissenes Haigebiss vor seinem Mund und schnappte damit nach Lisa.

»Lass das!«, fuhr sie ihn entnervt an.

Ihr Bruder nahm grinsend die Hand herunter und wandte sich an Doktor Bischof: »Und wenn es doch ein Megalodon war?«

Der Forschungsleiter sah ihn böse an. »Das Carcharodon Megalodon ist seit zehn Millionen Jahren ausgestorben. Wenn Jungs in deinem Alter sich nicht so viele dumme Dino-Bücher anschauen würden, müssten wir uns jetzt nicht mit solch kindischen Theorien herumärgern.«

Kyra ergriff das Wort: »Nehmen wir mal an, die Anzeige ist wirklich kaputt. Was war es dann?«

»Vielleicht ein Walhai«, sagte Professor Rabenson. »Die werden über zwölf Meter lang.«

Bischof schüttelte den Kopf. »Nicht in fünftausend Metern Tiefe. Mehr als zweitausend schafft kein Hai, und auch das gelingt nur vereinzelten, hochspezialisierten Spezies.«

Kyras Vater seufzte. »Das ändert alles nichts daran, dass wir aus einem ganz bestimmten Grund hier heruntergekommen sind. Die KARTHAGO sollte nur die Zwischenstation sein, um tiefer hinab zu den Schwarzen Rauchern vorzudringen. Und zum Drachenboot.«

Tatsächlich war es das, was ihn wirklich interessierte. Über seine weltweiten Kontakte hatte er erfahren, dass der Multimilliardär und Hobby-Wissenschaftler Simon Simons am Grunde der Tiefsee ein Schiffswrack geortet hatte, bei dem es sich allem Anschein nach um ein gesunkenes Wikingerschiff handelte. Das aber war nach allen Maßstäben der Wissenschaft unmöglich. Die Wikinger mochten, einigen Theorien zufolge, bis zur Ostküste Nordamerikas vorgedrungen sein – aber ganz gewiss nicht bis in den Ostpazifik!

Und dennoch – die verschwommenen Fotos, die auf Simons Expeditionen geschossen worden waren, ließen eigentlich keinen anderen Schluss zu: Bei dem Wrack handelte es sich zweifellos um ein Langboot der Wikinger. Sogar der Drachenkopf am Bug war noch deutlich zu erkennen. Erstaunlicherweise hatte sich der hölzerne Rumpf in all den Jahrhunderten nicht aufgelöst, sondern war perfekt konserviert worden – das gesamte Schiff war versteinert.

Die KARTHAGO diente als Zwischenstation für Forschungskapseln und Robotsonden, die von der S.I.M.-1 ausgesandt wurden, um das Wrack zu untersuchen und die Möglichkeiten einer baldigen Bergung abzuklären.

Das größte Problem war, dass das Schiff inmitten einer Ansammlung Schwarzer Raucher ruhte, die sich am Fuß des Unterseegebirges in einer kreisförmigen Formation auf dem Meeresgrund erhoben. Die so genannten Schwarzen Raucher waren spitze, steinerne Felsschlote, aus deren Enden hocherhitztes, schwefelhaltiges Wasser aus dem Inneren der Erde strömte. Sie ähnelten kleinen Vulkanen, nur dass sie keine Lava abgaben, sondern eine schwarze, stinkende Brühe, die in gewaltigen Wolken rund um das Wrack wogte. Hatten die Kamerasonden diesen finsteren Ring erst einmal durchstoßen, ließen sich detaillierte Aufnahmen des Langbootes machen – von außen konnten die Wissenschaftler dagegen nur mit dem Sonar arbeiten.

Professor Rabenson hatte den Multimilliardär Simons in monatelanger Überzeugungsarbeit dazu gebracht, ihm einen Tauchgang zum Wrack zu ermöglichen. Andere Wissenschaftler waren schon zuvor in Simons’ Auftrag – und unter strengster Geheimhaltung – dort gewesen.

Aber Kyras Vater hatte als Erster die Erlaubnis erhalten, mit seinen Informationen an die Öffentlichkeit zu treten. Simons würde dafür am Verkaufserlös des Buches beteiligt werden. Es war das erste Mal, dass der Professor sich – widerwillig und murrend – auf solch einen Handel eingelassen hatte.

Als Kyra davon erfahren hatte, hatte sie so lange auf ihren Vater eingeredet, bis er ihr erlaubte, mit ihren Freunden an der Reise teilzunehmen. Ursprünglich war geplant gewesen, dass die vier an Bord der S.I.M.-1 bleiben sollten. Aber schließlich hatte Professor Rabenson sich breitschlagen lassen, ihnen auch den – angeblich vollkommen gefahrlosen – Abstieg zur KARTHAGO zu erlauben. Hier sollten sie allerdings abwarten, bis der Professor von seiner Expedition zum Wrack zurückgekehrt war. Eigens dafür hatte er gelernt, wie man die Steuerung eines der ultramodernen Tauchboot-Shuttles der KARTHAGO bediente.

Jetzt waren durch das Auftauchen des Riesenhais alle seine Pläne gefährdet. Kyra bezweifelte, dass Bischof ihrem Vater die Weiterreise zum Wrack gestatten würde.

»Wenn wir sichergehen könnten, dass der Hai fort ist«, überlegte Bischof laut, »könnten wir vorerst so weitermachen wie geplant. Wir haben genug Sauerstoff und Nahrung hier unten für fast vier Wochen. Außerdem sind wir in der Lage, mit der Kapsel auch ohne Hilfe von oben zur Wasseroberfläche aufzusteigen. Aber dieser Hai … ich weiß nicht. Ich denke, Sie sollten in der Station bleiben, Professor.«

Kyras Vater schnaubte. »Ich bin bis hierher gekommen, nun werde ich mich nicht von einem Fisch aufhalten lassen.«

»Er ist größer als Sie, gefräßiger und vor allen Dingen schneller – wenn er wirklich so riesig ist, wird er gut und gerne achtzig Stundenkilometer schwimmen können.«

»Trotzdem«, erwiderte Professor Rabenson stur. »Ich muss dieses Wrack mit eigenen Augen sehen.«

Kyra wollte etwas sagen, ihren Vater davon überzeugen, nicht sein Leben für verbohrte Wissbegier aufs Spiel zu setzen, als Chris plötzlich auf die Monitorwand zeigte.

»Er ist wieder da!«

Alle Blicke rasten zu den Bildschirmen. Tatsächlich – der Hai war zurück! Mit schnellen Stößen seiner Schwanzflosse schwebte er durch die Lichtkegel der Suchscheinwerfer, verließ den einen und schob sich einen Augenblick später in den nächsten. Majestätisch glitt er durch das graue Halblicht, wechselte von einem Monitor zum anderen wie eine schemenhafte Spiegelung im Facettenauge eines Rieseninsekts.

Bischof explodierte förmlich aus seinem Sessel und zwängte sich zwischen den anderen hindurch zur Tür der Zentrale.

»Was –«, begann Professor Rabenson, aber Bischof unterbrach ihn:

»Kommen Sie, wenn Sie wollen! Ich hab eine Idee!«

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