Als die Lichtkegel der Scheinwerfer weiter über das Deck geisterten, entdeckten Kyra und der Professor eine Öffnung in den Planken. Sie war offensichtlich durch Gewalteinwirkung entstanden, denn ihre Ränder waren ausgezackt und gesplittert.

»Sieht merkwürdig aus«, sagte der Professor. »Schau mal, das zerbrochene Holz ist an den Rändern nach außen gebogen.«

»So als wäre etwas unter Deck gewesen, was sich gewaltsam befreit hat«, stimmte Kyra ihm zu. »Ein Gefangener vielleicht?«

»Aber welcher Gefangene hat so viel Kraft, einfach das Deck aufzubrechen?«

Kyra ließ die zerborstene Stelle im versteinerten Holz des Wracks nicht aus den Augen. Einen Moment lang sah es fast aus, als bewege sich etwas in der Schwärze dahinter, doch dann war alles wieder ruhig.

»Was sind denn das für Splitter unter dem Loch?«, fragte sie.

»Splitter? Wo?«

»Da.« Sie presste den Zeigefinger auf die Glasscheibe des Monitors – wenn sie das zu Hause auf dem Fernseher machte, fluchte ihre Tante Kassandra immer zum Steinerweichen und verdonnerte sie dazu, das Glas mit einem Tuch zu polieren, bis alle Fingerabdrücke verschwunden waren.

Professor Rabenson beugte sich vor und entdeckte nun auch die Trümmer, die unterhalb des zerfetzten Decks auf dem Lavaboden lagen. Es handelte sich offenbar um Bruchstücke der versteinerten Planken. Das konnte nur eins bedeuten: dass die Zerstörung erst angerichtet worden war, als das Boot bereits auf dem Grund des Ozeans lag.

Möglicherweise erst gestern! Oder vor wenigen Stunden!

»Papa«, sagte Kyra, »lass uns bitte von hier verschwinden, ja?«

Er sah sie eindringlich an. »Du glaubst, deshalb sind die Siegel erschienen, oder? Du denkst, irgendetwas hat sich aus dem Wrack befreit. Etwas Böses, nicht wahr?«

Kyra nickte. »Warum gibt es keine Tiere im Ring der Schwarzen Raucher? Und keine Pflanzen? Und das, obwohl die Wärme sie doch eigentlich anziehen müsste!« Sie überlegte kurz, dann fuhr sie fort: »Es muss doch einen Grund haben, dass diese Wikinger so weit von ihrer Heimat weggefahren sind. Vielleicht hatten sie etwas an Bord, was sie unbedingt loswerden wollten. Etwas, was sie so weit von zu Hause fortbringen wollten, dass es garantiert niemals zurückkehren würde. Vielleicht hat es sie nur deshalb hierher ans andere Ende der Welt verschlagen! Doch dann kam ihnen das Unwetter dazwischen. Das Boot ging unter und mit ihm das, was sie unter Deck gefangen hielten. Was, wenn es die ganzen tausend Jahre gebraucht hat, um sich aus seinem Gefängnis zu befreien?«

Der Professor war während Kyras Rede bleich geworden. »Ich jedenfalls wäre ziemlich wütend, wenn man mich so lange gefangen halten würde.«

»Lass uns abhauen«, sagte sie beharrlich. »Bitte!«

Das Shuttle schwebte noch immer reglos vor der sternförmigen Öffnung im Deck des Bootes. Da das Wrack auf der Seite lag, klaffte das Loch vor ihnen wie ein aufgerissenes Maul.

»Okay«, sagte der Professor und wollte schon den Steuerknüppel nach vorne schieben, als Kyra plötzlich rief: »Da bewegt sich was!« Alarmiert deutete sie auf den Monitor. »Da ist irgendwas unter Deck!«

Der Professor nahm die Hand von dem Hebel.

»Wir haben eine fernlenkbare Kamera an Bord. Wir könnten sie durch die Öffnung ins Innere des Bootes schicken. Was meinst du?«

Kyra hatte Angst, und auch ihr Vater kaute nervös auf seiner Unterlippe herum. Trotzdem brannten sie vor Neugier auf die Lösung dieses Rätsels. Vor was hatten die Wikinger solche Angst gehabt, dass sie es in einer selbstmörderischen Odyssee bis auf die andere Seite des Planeten gebracht hatten?

Andererseits – was immer es war, es hielt sich mit größter Sicherheit nicht mehr im Schiff auf. Schließlich war es von dort ja erst entkommen. Möglich, dass es doch Tiere hier unten gab, Fische oder irgendwelche Würmer, die sich im Inneren des Wracks eingenistet hatten.

»Versuch’s halt mit der Kamera«, sagte Kyra zu ihrem Vater. Der Professor nickte, teils erwartungsvoll, teils besorgt.

Wenig später klinkte sich eine stählerne Sonde aus der Unterseite des Shuttles aus und glitt, angetrieben von einem Propeller, auf das Wrack und die Öffnung in seinem Deck zu.

Der Professor legte einige Schalter um. Auf einem der kleinen Seitenmonitore erschien das Bild, das die Kamera der Sonde einfing.

Das Loch wurde größer und größer, und noch immer war nicht zu erkennen, was sich dort in der Dunkelheit bewegt hatte.

»Vielleicht sollten wir einen Sicherheitsabstand einhalten«, meinte Kyras Vater und ließ das Shuttle ein gehöriges Stück rückwärts gleiten. Sie waren jetzt etwa dreißig Meter von dem Boot entfernt.

Per Fernbedienung schaltete Professor Rabenson den einzigen Scheinwerfer des kleinen Robotgeräts ein. Sofort fiel das Licht gebündelt in die finstere Wunde des Schiffswracks, und einen Augenblick später war die Sonde selbst darin verschwunden.

Kyras Blick hing wie gebannt an dem Monitor.

»Was ist das?«, flüsterte ihr Vater, als vor der Kamera etwas aufblitzte, gespenstisch unscharf im Licht des Scheinwerfers.

»Es war zu schnell wieder weg«, sagte Kyra. Sie bemerkte, dass auch sie selbst unbewusst leiser sprach, so als könnte sie allein durch ihre Worte etwas wecken, was im Inneren des unheimlichen Wracks auf Opfer lauerte.

Wieder blitzte etwas auf. Dann noch etwas. Und ein drittes Mal.

»Das reicht«, zischte der Professor angespannt. Er schob den Steuerhebel vorwärts und beschleunigte die Turbinen.

»Warte!«, gab Kyra zurück. Sie musste jetzt einfach wissen, was sich dort drin verbarg, und sie wollte nicht riskieren, das Funksignal der Kamera zu verlieren.

Der Professor ließ das Shuttle ansteigen, bis sie sich gut zwanzig Meter über dem Meeresboden befanden. Falls es gefährlich würde, konnten sie auf diese Weise schneller die Flucht ergreifen.

Etwas schoss abrupt auf die Kamera zu! Blitzschnell!

Etwas Silbernes. Schuppiges.

Ein gewaltiges Maul wurde auf dem Monitor aufgerissen. Kyra und der Professor zuckten erschrocken zurück. Zähne funkelten, ein endloser Schlund pulsierte im Licht des Scheinwerfers. Nur für einen Sekundenbruchteil. Dann brach das Bild zusammen, und Schwärze füllte wabernd den Monitor wie Tinte, die sich in ein Aquarium ergießt.

Aber Kyra hatte genug gesehen, um zu wissen, was sich unter dem Deck des versteinerten Drachenbootes verbarg. Sie hatte diese Wesen schon früher getroffen, daheim in Giebelstein, und sie hatte gelernt, sie zu fürchten wie den Teufel selbst.

»Weg hier!«, brüllte sie.

Das Shuttle bäumte sich auf, als der Professor die Turbinen ruckartig hochfuhr. Inmitten einer Wolke aus Strudel und Blasen schoss es vorwärts, über das Wrack hinweg und auf den Ring der Schwarzen Raucher zu.

Hinter ihnen füllte sich die Öffnung im Deck mit Leben, als die Finsternis aufbrach und glitzernde Leiber ins Freie strömten.

Sechs Hexenfische nahmen die Verfolgung auf.

 

»Wer ist das?«, flüsterte Bischof verbissen. Seine Blicke wanderten von einem Monitor zum nächsten. Nahezu alle Kameras der S.I.M.-1 zeigten Bilder der sonderbaren Frauen, die mit wehendem schwarzem Haar und in enger schwarzer Kleidung über die Decks der Forschungsinsel schwärmten.

Lisa, Nils und Chris wechselten erschrockene Blicke. Sie wussten genau, wer diese Frauen waren. Aber sollten sie dem Forscher die Wahrheit sagen?

»Ich werde ein SOS aussenden«, sagte Bischof. »Von der KARTHAGO aus wird es zwar nicht weit kommen, aber wer weiß, vielleicht hört uns doch jemand.«

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, wandte Chris ein. »Die Hex …«, er unterbrach sich, »die Frauen werden dann wissen, dass wir hier unten sind.«

»Aber ein SOS ist unsere einzige Chance«, erwiderte Bischof. Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er keinen Widerspruch duldete.

Er setzte sich ans Funkgerät und gab über die Tastatur einen Zahlencode ein. Ein Piepsen bestätigte, dass er jetzt sprechen konnte.

»Tiefseestation KARTHAGO an alle, die uns hören. Die Forschungsinsel S.I.M.-1 wurde von … wurde geentert«, sprach er stockend ins Mikrofon. »Ich wiederhole: S.I.M.-1 wurde geentert. Wir wissen nicht von wem und mit welcher Absicht. Bitten dringend um Hilfe!«

Er wiederholte seine Worte mehrmals, bis er schließlich abbrach und das Funkgerät ausschaltete. »So«, sagte er dann, »mehr können wir nicht tun.«

Chris schüttelte stumm den Kopf. Lisa und Nils waren völlig seiner Meinung: Dieser Funkspruch war vielleicht ein schlimmer Fehler. Wenn das Arkanum erfuhr, dass jemand von hier unten aus die S.I.M.-1 beobachtete, war das Schicksal der KARTHAGO-Besatzung besiegelt. Erst recht, falls es entdeckte, wer sich in der Station aufhielt.

Das Arkanum war ein weltweiter Geheimbund grausamer Hexen. Diese wunderschönen, aber eiskalten Frauen waren die Todfeinde der vier Siegelträger. Seit Kyra, Lisa, Chris und Nils verhindert hatten, dass sie ihren verstorbenen Herren, den schrecklichen Hexenmeister Abakus, zu neuem Leben erweckten, machte das Arkanum Jagd auf die Freunde. Dass Kyras Mutter einst selbst ein Mitglied dieses Bundes gewesen war, die anderen Hexen dann jedoch verraten hatte und zur erbitterten Jägerin alles Bösen geworden war, machte die Sache nicht gerade besser.

Fest stand: Falls das Arkanum herausfand, dass Kyra und ihre Freunde an Bord der KARTHAGO waren, würden seine Mitglieder alles daran setzen, die Siegelträger zu vernichten. Und das konnte den Hexen nicht allzu schwer fallen – besonders in Anbetracht der Tatsache, dass sich die vier fünftausend Meter unter der Wasseroberfläche befanden, eingepfercht in eine bessere Blechbüchse.

»Können wir nicht irgendetwas Sinnvolles unternehmen?«, fragte Nils mit einem abfälligen Seitenblick in Bischofs Richtung.

»Vielleicht sollten wir in der Kapsel aufsteigen und versuchen, mit diesen Leuten zu reden«, überlegte der Forscher laut.

»Nicht ohne Kyra und den Professor!«, entgegnete Lisa heftig.

Bischof nickte. »Wir müssen den beiden Bescheid geben, damit sie sofort zurückkehren.«

Dagegen war nichts einzuwenden, und so nahm der Forscher das Funkgerät erneut in Betrieb. Doch sooft er auch versuchte, das Shuttle zu erreichen, es kam keine Antwort.

Lisa brachte kaum einen Ton heraus. »Was … was bedeutet das nun wieder?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.

»Gar nichts«, sagte Bischof schnell. »Macht euch keine Sorgen. Wir haben schon bei früheren Tauchgängen festgestellt, dass der Ring der Schwarzen Raucher keine Funksignale durchlässt. Wir vermuten, der Grund dafür ist der hohe Anteil an Schwermetallen im Ausstoß der Raucher. Das Shuttle wird gerade beim Wrack sein – da ist es kein Wunder, dass sie uns nicht hören können.«

Nils lief zurück zu dem Monitortisch. »Das müssten wir doch auf dem Radar feststellen können, oder?«

»Natürlich.« Bischof trat ebenfalls an den runden Tisch, Chris und Lisa folgten ihm. Der Forscher zeigte mit dem Finger auf das Signal des Shuttles und las einige Zahlenwerte von den Seiten des Schirms ab. »Hier – genau wie ich gesagt habe. Sie befinden sich im Ring der Raucher, ganz nahe beim Wrack.«

Lisa atmete auf.

Im selben Moment gellte ein scharfes Pfeifen durch die Zentrale. Alle fünf zuckten erschrocken zusammen.

»Was war das denn?«, wollte Nils wissen, als er die Hände wieder von den Ohren nahm.

»Klingt, als käme ein Funkspruch rein«, sagte Bischof und sprang aufgeregt hinüber zur Konsole.

»Vom Shuttle?«, fragte Lisa.

»Nein«, erwiderte der Forscher. »Von der S.I.M.-1.« Er runzelte die Stirn. »Das ist ja seltsam …«

»Was denn?«

»Schaut’s euch selbst an.« Mit einem Knopfdruck hatte er das hereinkommende Funksignal auf einen der Monitore gelegt.

Ein Gesicht erschien auf dem Bildschirm. Es war ein Mann, keine Hexe. Sein rotes, rundes Gesicht war verschwitzt, sein Haar klebte ihm in dunklen Strähnen an der Stirn. Es war offensichtlich, dass er Angst hatte. Er sah aus, als sei er eben erst um sein Leben gerannt.

»Das ist Enrique, der Chefkoch der S.I.M.-1«, murmelte Bischof irritiert.

Enrique begann zu sprechen. Der Ton drang mit einer winzigen Zeitverzögerung aus den Lautsprechern der Zentrale. Die Übertragung begann mitten im Satz.

»… der Einzige, der noch wach ist«, keuchte Enrique. »Alle anderen sind betäubt. Diese Frauen haben sie in den Speisesaal gebracht. Sie müssen einen nur berühren, damit man einschläft. Ich konnte entkommen. Verstecke mich jetzt in … nein, das sage ich besser nicht, falls die mich belauschen. KARTHAGO, könnt ihr mich empfangen?«

»Ja«, sagte Bischof ins Mikrofon, »wir hören.«

Kein »Ende« oder »Bitte kommen«. Dazu war jetzt keine Zeit.

Lisa tastete instinktiv nach Chris’ Hand. Er schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln, als er den Druck ihrer Finger erwiderte. Nils sah es, aber jetzt war nicht der richtige Moment für bissige Bemerkungen. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er Lisa wegen ihrer Verliebtheit gehänselt. Jetzt aber wünschte er sich beinahe selbst jemanden, der ihm Mut machte und ihn tröstete, falls ihre Lage noch schlimmer wurde.

Der Koch schaute sich gehetzt nach allen Seiten um, dann fuhr er fort: »Sie kamen wie aus dem Nichts, kurz nachdem ihr abgetaucht seid. Sie haben das ganze Schiff überrannt. Und sie … singen!«

»Sie singen?« Bischof nahm an, er habe sich verhört.

Enrique nickte. »Ja, singen. Wie in einer Kirche. Nicht die Frauen, die hier auf der Insel sind. Aber es dringt von ihrem Segelschiff herüber, von diesem riesigen, schwarzen Kreuzer, mit dem sie gekommen sind. Es scheint tief aus dem Inneren des Schiffes zu kommen, wie ein … wie ein Chor.« Er hantierte unterhalb des Bildausschnitts. »Ich versuche, die Leistung des Mikrofons zu erhöhen. Vielleicht könnt ihr es hören.«

Es knisterte und rauschte in den Lautsprechern, und dann schälte sich aus den Störgeräuschen eine Vielzahl weiblicher Stimmen, tief und dumpf, mit einem finsteren, unirdischen Hall. Der gespenstische Chor ging ihnen durch Mark und Bein. Es war das Unheimlichste, was Lisa und die anderen je gehört hatten.

Nach einigen Sekunden erkannten sie, dass die Stimmen immer wieder zwei Worte wiederholten, getragen von einer langsamen, schaurigen Melodie.

Mater Suspiriorum. Mater Suspiriorum. Mater Suspiriorum. Mater Suspiriorum …

»Aber das ist doch –«, begann Nils.

Lisa beendete den Satz für ihren Bruder. »Die Mutter der Seufzer«, flüsterte sie. »Eine der Drei Mütter.«

Die Drei Mütter waren die Herrscherinnen des Arkanums, die Göttinnen aller Hexen: Mater Tenebrarum, Mater Lacrimarum und Mater Suspiriorum. Bisher wussten die vier Freunde nicht, ob es sich dabei um Wesen aus Fleisch und Blut handelte oder vielleicht um Geister, die aus dem Jenseits Einfluss auf die Verbrechen des Arkanums nahmen. Möglicherweise waren die Drei Mütter auch etwas völlig anderes, etwas gänzlich Fremdes.

Chris kam ein grauenvoller Gedanke: »Glaubt ihr, sie ist an Bord des Schiffes? Ich meine – die Mutter der Seufzer persönlich?«

Die Geschwister wechselten einen entsetzten Blick, aber niemand sagte ein Wort.

Bischof räusperte sich nach einem Augenblick vernehmlich. »Könnte mir jemand erklären, von was ihr da redet?«

Es blieb ihnen vorerst erspart, darauf zu antworten, denn jetzt meldete sich der verängstigte Koch wieder zu Wort.

»Ich habe ein paar ihrer Gespräche belauscht. Sie wissen nicht, dass ihr da unten seid. So wie’s aussieht, ist die KARTHAGO der einzig sichere Ort im Umkreis von zig Seemeilen. Falls es mir gelingt, bis zu einer der Kapseln zu gelangen, werde ich versuchen, zu euch runterzukommen.«

Bischof schüttelte stumm den Kopf und sagte nach kurzem Überlegen: »Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist, Enrique. Unser Sauerstoff ist begrenzt. Wer weiß, wie lange wir hier bleiben müssen. Versteck dich an Bord der S.I.M.-1 und versuch, mehr über diese Frauen herauszufinden.«

Das Bild des Kochs flimmerte und erlosch dann für mehrere Sekunden, um bald darauf wieder zu erscheinen. »Kontakt gestört. Kann euch nicht hören. Versuche, eine der Kapseln zu erreichen. Wiederhole: Ich komme zu euch!«

Es knisterte und knackte in den Lautsprechern wie im Inneren eines Ameisenhaufens, dann brach die Leitung endgültig zusammen.

»Enrique!«, brüllte Bischof ins Mikrofon. »Enrique, hörst du mich?«

Der Koch antwortete nicht mehr.

»Dieser Dummkopf!«, wetterte Bischof.

»Sie können ihm doch keinen Vorwurf machen, weil er Angst hat«, hielt Chris dagegen.

»Schließlich hat er allen Grund dazu«, setzte Lisa leiser hinzu.

Bischof drehte sich zu den drei Freunden um und musterte sie mit einem beunruhigenden Funkeln in den Augen. »Ihr wisst doch mehr über diese Sache. Hat der Professor etwas damit zu tun?«

»Der Professor?« Nils grinste ohne jede Fröhlichkeit. »Nicht das Geringste.«

Bischof machte einen Schritt auf sie zu. Vielleicht wollte er, dass es einschüchternd wirkte. Doch mit was hätte er ihnen schon drohen können? Was konnte schlimmer sein als der Schlamassel, in dem sie steckten?

»Ihr müsst mir sagen, was ihr wisst«, verlangte er. »Alles.«

Chris rümpfte die Nase. »Und wir dachten schon, Sie halten uns für dumme Schulkinder«, knurrte er sarkastisch.

»Ihr begreift noch immer nicht, dass es hier vielleicht um unser Leben geht, nicht wahr?« Bischof war jetzt wirklich wütend. Lisa wich unmerklich zurück, bis sie eine der Kunststoffkonsolen in ihrem Rücken spürte.

Nils blickte von seiner Schwester zu Chris.

»Vielleicht sollten wir wirklich alles erzählen.«

»Er wird uns ja doch kein Wort glauben«, sagte Chris.

Bischof seufzte. »Das überlasst ihr am besten mir.«

Die beiden Jungs schauten zu Lisa. Sie errötete leicht und holte tief Luft. Dann begann sie, vom Arkanum und den Hexen zu berichten.

 

»Schnell!«, rief Kyra. »Schneller!«

Professor Rabenson presste seine schwitzende Handfläche fester auf den Steuerhebel und beschleunigte das Shuttle auf Höchstgeschwindigkeit.

»Sie sind genauso schnell wie wir!« Kyra blickte auf einen Monitor, der ihr zeigte, was sich hinter dem Shuttle befand. Die Kamera filmte durch die Strudel der Turbinen, deshalb war das Bild leicht verschwommen – es sah aus wie flirrende Luft über einem Lagerfeuer. Trotzdem erkannte Kyra deutlich die sechs silbernen Schemen, die die Spur des Shuttles aufgenommen hatten. Sie bildete sich ein, sogar ihre bösen, dunklen Augen sehen zu können, auch wenn das ganz unmöglich war. Kyra spürte geradezu die Niedertracht und grausame Intelligenz in diesen Blicken.

»Das sind die Hexenfische des Arkanums«, erklärte sie ihrem Vater. Wenn sie es sich genau überlegte, wusste sie gar nicht, ob er ihnen nicht vielleicht schon einmal selber begegnet war. Er sprach niemals über die Zeit, die er mit Kyras Mutter verbracht hatte. Tante Kassandra hatte ihrer Nichte einmal erklärt, er ertrage den Schmerz nicht, der ihn bei der Erinnerung an sie überfalle. Aber Kyra wusste genau, dass der Tag kommen würde, an dem sie sich nicht mehr mit solchen Ausreden abspeisen lassen konnte. Schließlich hatte sie das Erbe ihrer Mutter angetreten – ob es ihm gefiel oder nicht. Die Sieben Siegel ließen sich nicht einfach abwaschen wie Tintenkleckse.

»Was machen die hier unten?«, fragte der Professor, während er Knöpfe und Hebel bediente und komplizierte Zahlenreihen von Digitaldisplays ablas.

»Keine Ahnung.« Kyra vergewisserte sich mit einem weiteren Blick, dass die Hexenfische nicht aufholten. Der Abstand zwischen ihnen und dem Shuttle blieb jetzt in etwa gleich – er betrug ungefähr zwanzig Meter. »Ehrlich gesagt, wusste ich nicht einmal, dass sie echte Fische sind. Ich meine, normalerweise hausen sie in den hässlichen Krokodilledertaschen der Hexen oder fliegen durch die Luft! Aber dass es sie auch irgendwo im Meer gibt, ist ’ne ziemliche Überraschung für mich.«

Kyra und ihre Freunde waren bislang erst zweimal mit den gefräßigen Killerfischen der Hexen aneinander geraten: einmal, als sie die Rückkehr des Hexenmeisters verhindert hatten, und ein weiteres Mal, als eine Mondhexe ihnen den mörderischen Dornenmann auf den Hals gehetzt hatte. Bei beiden Gelegenheiten hatten sie die Fische besiegen können. Aber hier, in fünf Kilometern Tiefe? Im Wasser, das offenbar das natürliche Element der Hexenfische war? Die Chancen standen nicht besonders gut.

Und noch etwas bereitete Kyra Sorgen: Wo immer die Fische auftauchten, waren auch die Hexen nicht weit. Das Arkanum musste aus irgendeinem Grund Interesse am Ring der Schwarzen Raucher und dem Wrack in seinem Zentrum haben.

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