Die Mutter der Seufzer

Das Shuttle verließ die Schleusenhalle, tauchte hinaus in den Ozean und beschleunigte sogleich auf Höchstgeschwindigkeit.

Gerade noch rechtzeitig.

Denn schon legte sich ein titanischer Schatten über das Schleusentor. Kiefer so groß wie ein Kleinwagen schnappten in leerem Wasser zusammen – genau an der Stelle, an der sich eben noch das Shuttle befunden hatte.

Kyra und Lisa beobachteten in fieberhafter Anspannung, wie der Hai die Verfolgung aufnahm. Auch die vier Hexenfische schwärmten ins Freie, doch sie machten gar nicht erst den Versuch, den Mädchen oder dem Hai zu folgen. Stattdessen schossen sie aufwärts, wohl in der Hoffnung, den Hexenkreuzer ihrer Meisterinnen zu erreichen. In Windeseile waren sie nicht mehr zu sehen.

Kyra brachte den Mund näher ans Mikrofon.

»Wir sind jetzt draußen.«

»Wo ist der Hai?«, fragte ihr Vater aus den Lautsprechern.

»Hinter uns. Ungefähr dreißig Meter, schätze ich.«

»Gut«, sagte Bischof, »dann ist er auf den Köder angesprungen.«

Lisa schaute Kyra finster an. »Hat der gerade Köder gesagt?«

»Das hat er, glaube ich.«

»Der hat gut reden. Sitzt gemütlich in seinem Kommandosessel, während wir hier den Mundgeruch von diesem Urzeitviech ertragen müssen.«

»Tut mir Leid«, sagte Bischof, der Lisas Worte gehört hatte. »Ihr seid unglaublich tapfer, alle beide. Ich weiß nicht, ob ich so viel Mut hätte wie ihr.«

Das versöhnte Lisa ein wenig, auch wenn sie den Forscher deshalb noch immer nicht besser leiden konnte.

Die Armaturen und Monitorscheiben des Shuttles begannen zu beschlagen, als sie den Rauchern näher kamen. Sogar das Drahtgittergeflecht des Mikrofons verlor an Glanz. Die beiden Mädchen schwitzten vor Aufregung, aber das merkten sie selbst kaum. Sie hatten jetzt nur noch Augen für die riesenhafte Bestie, die hinter ihnen durch die Fluten der Tiefsee schoss.

»Das schaffen wir nie!«, flüsterte Lisa. »Der wird das Shuttle einfach in zwei Hälften beißen.«

»Guten Appetit«, brummte Kyra.

Tatsächlich sah es aus, als sei der Hai näher gekommen, obwohl Bischof sofort das Gegenteil behauptete: »Auf dem Radar bleibt euer Vorsprung konstant.«

»Wie schnell ist der Hai?«, fragte Lisa.

»Laut unseren Anzeigen ist er jetzt bei knapp sechzig Stundenkilometern«, erwiderte der Forscher.

»Hat nicht irgendwer gesagt, er kommt mindestens auf achtzig?«, bemerkte Kyra.

In der Zentrale herrschte einen Moment lang betretenes Schweigen. Nur Rauschen drang aus den Lautsprechern.

»Theoretisch achtzig«, sagte Bischof schließlich.

»Theoretisch bedeutet aber, dass er auch noch schneller sein könnte, nicht wahr?« Lisa wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Das ist so gut wie unmöglich«, antwortete Bischof schnell.

»So gut wie«, wiederholte Kyra verkniffen. »Das macht uns ’ne Menge Hoffnung, wirklich.«

Der Autopilot jagte das Shuttle den unterseeischen Gebirgshang hinunter. Noch immer war die Tiefseelandschaft in das Flirren des Hexenstrahls getaucht. Die gleißende Lichtsäule erhob sich in der Ferne als schnurgerader Leuchtstreifen, der den Ring der Schwarzen Raucher über tausende von Metern mit der Wasseroberfläche verband. Es war ein majestätischer, aber auch ein Angst einflößender Anblick.

Der Hai glitt erhaben die Schräge hinab, wenige Meter über dem Boden. Seine Schwanzflosse schien sich kaum zu bewegen, und doch verlieh sie ihrem Besitzer in den entscheidenden Momenten den nötigen Schub, um das mörderische Tempo zu halten.

Achtzehn Meter stahlharte Muskeln. Achtzehn Meter schnappender Tod.

»Mir egal, was das blöde Radar sagt«, schimpfte Lisa. »Für mich sieht’s verdammt noch mal so aus, als käme er immer näher.«

»Ja«, bestätigte Kyra, »für mich auch.«

»Das täuscht«, meldete sich Bischof mit lahmer Stimme. Sie konnten ihm genau anhören, dass er schwindelte. Er befürchtete offenbar, sie würden sonst in Panik ausbrechen.

Kyra blickte auf die Konsole und las die Geschwindigkeit des Shuttles ab. »Zweiundsechzig«, murmelte sie.

»Was sagt Ihre Anzeige über den Hai?«, fragte Lisa.

»Achtundsechzig«, sagte Professor Rabenson.

»Können wir noch schneller werden?«

»Nicht im Moment«, erwiderte Bischof. »Ich muss euch abbremsen, damit ihr den Winkel am Fuß des Gebirges schafft. Ansonsten würdet ihr euch geradewegs in den Boden der Ebene bohren.«

Lisa atmete konzentriert ein und aus. Sie versuchte, an irgendetwas anderes zu denken, so wie es einem in Büchern und Filmen immer geraten wird. Aber natürlich war das unmöglich. Wie hätte sie sich in solch einer Situation etwas Nettes, Harmloses vorstellen können?

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