Herr Fleck hatte die Kiste mit einem von Tante Kassandras Seidentüchern umwickelt, damit der Deckel beim Wurf nicht aufklappte. Chris streifte es beiseite und begann, die Nagelpistole mit den antiken Nägeln zu laden. Weil sie handgeschmiedet waren, passten nicht alle; nach einer Weile hatte er jedoch genug gefunden, um das Magazin zu füllen.

»Dahinten kommen sie!«, schrie mit einem Mal Nils und wies in den hinteren Teil der Scheune.

Tatsächlich standen dort im Schatten drei Scheuchen mit ausgebreiteten Armen. Augenscheinlich war die Rückwand unbeschädigt. Wände waren also kein Hindernis für die geisterhaften Wesen.

»Probier’s aus«, sagte Kyra.

Chris nickte, zielte in die Richtung der Scheuchen und betätigte den Auslöser. Mit einem dumpfen Geräusch krachte der erste Nagel in einen Balken, gleich neben einer der Vogelscheuchen.

Der zweite Schuss traf. Im ersten Moment tat sich gar nichts. Dann aber ertönte ein hoher, schriller Laut, gefolgt von etwas, das wie das Knistern eines Feuers klang. Doch nirgends waren Flammen zu sehen. Stattdessen stürzte die Scheuche einfach in sich zusammen, bis nur noch ein Haufen Lumpen und Holzstücke den Ort markierte, an dem sie gestanden hatte.

Die Freunde jubelten. »Es funktioniert!«, rief Kyra erleichtert, während Lisa vor Freude ihren Bruder umarmte.

Chris legte abermals an. Dann noch mal. Die beiden Scheuchen fielen auseinander, so, als sei nie Leben in ihnen gewesen.

»Da rauf«, sagte Kyra und sprang eine schmale Holztreppe nach oben, die in den ersten Stock der Scheune führte. Früher war dies ein Heuboden gewesen, doch jetzt war das ganze Stockwerk leer.

Leer, bis auf einen einzigen Gegenstand.

In der Mitte des Raumes stand ein zerstörter Spiegel. Eigentlich war es nur noch ein reich verzierter Rahmen, aus dem einzelne Spiegelspitzen ragten wie Zähne eines Urzeitmonsters. Darunter lagen auf den Holzbohlen dutzende funkelnder Scherben; sie sahen aus wie ein silbernes Puzzlespiel, das darauf wartete, zusammengesetzt zu werden.

Es war der Spiegel aus Kyras Traum.

Als sich die vier den Scherben vorsichtig näherten, sahen sie, dass unter der Oberfläche Formen und Lichter umherwirbelten.

»Boralus«, flüsterte Kyra. »Er haust hinter den Scherben.«

»Wer hat den Spiegel zerschlagen?«, fragte Nils.

Kyra wischte sich mit dem Unterarm Schweiß von der Stirn. »Wolf. Das kann nur er gewesen sein. Als er gemerkt hat, dass Boralus Macht über ihn gewann, muss er versucht haben, ihn auf diese Weise wieder zu vertreiben. Aber da war es bereits zu spät.«

»Dann hab ich ’ne Idee«, sagte Nils grimmig. Bevor irgendwer ihn aufhalten konnte, sprang er mit beiden Füßen mitten in den Scherbenhaufen und begann, die Überreste unter seinen Füßen zu zertreten. Dürre Lichtfinger stiegen aus dem Glas auf und versuchten, nach seinen Sohlen zu greifen, aber es gelang ihnen nicht, ihn aufzuhalten.

Die anderen gesellten sich dazu. Das Spiegelglas war uralt und sehr zerbrechlich. Schon bald war nur noch eine Schicht aus feinkörnigem Silberstaub übrig. Das Flimmern und Flirren unter der Oberfläche war erloschen.

Kyra atmete tief durch. »Boralus haben wir damit wohl kaum besiegt. Aber zumindest gibt es jetzt ein Tor weniger, durch das er in unsere Welt eindringen kann.«

»Ob damit auch die Scheuchen gebannt sind?«, fragte Chris.

Wie als Antwort auf diese Frage stand plötzlich eines der Wesen neben der Treppe. Keiner hatte gesehen, wie es dort aufgetaucht war.

Chris legte an und feuerte. Der erste Nagel ging abermals fehl, doch der zweite schlug zielsicher in den Leinensack über dem Schädel der Kreatur. Sekunden später polterten ihre Bestandteile die Stufen hinab in die Tiefe.

»He, Kinder!«, ertönte es von draußen. Herrn Flecks Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.

Die vier rannten zur Vorderwand des Heubodens auf eine breite Öffnung zu, durch die früher Heu hereingebracht worden war. Von hier aus hatten sie eine gute Sicht auf den gesamten Vorplatz.

Der Archivar stand in der Mitte des Platzes, unweit des kaputten Mähdreschers. Er entdeckte sie und seufzte erleichtert. Tante Kassandra war bei ihm.

Die Vogelscheuchen hatten sich scheinbar in Luft aufgelöst.

»Sie sind weg!«, rief Chris erleichtert aus.

Nils schüttelte sorgenvoll den Kopf. »Schön wär’s. Sieh mal nach unten.«

Chris, Kyra und Lisa lehnten sich gefährlich weit vor und blickten an der Außenwand hinab auf das zertrümmerte Tor. Davor standen mehrere Scheuchen, die Gesichter ins Innere des Gebäudes gewandt.

»Sie sind alle unten im Erdgeschoss!«, brüllte Tante Kassandra. »Neben euch … ja, genau da … ist eine Leiter. Könnt ihr daran runterklettern?«

Tatsächlich. Rechts neben dem Schobertor war eine Leiter langgelehnt. »Die ist viel zu weit unten!«, brüllte Nils zurück. »Das schaffen wir nie!«

Lisa schaute nach hinten und entdeckte, dass sich neben der Treppe jetzt eine ganze Versammlung von Vogelscheuchen gebildet hatte. Die Kreaturen waren nur noch wenige Meter entfernt. Mochte Chris auch noch so treffsicher sein, er würde niemals alle Scheuchen erledigen können, bevor sie einen der Freunde erreichten.

Im gleichen Moment schwang sich Chris aus der Öffnung. Auf dem ehemaligen Türrahmen kam er zum Stehen und kletterte von da aus zur Leiter. Die anderen folgten ihm vorsichtig. Als sie unten ankamen, waren die letzten Vogelscheuchen gerade im Inneren der Scheune verschwunden.

Hinter ihnen jaulte ein Motor auf. Tante Kassandra saß am Steuer des Käfers und fuhr einen engen Kreis um die gesamte Scheune. Herr Fleck lehnte sich dabei weit aus der offenen Beifahrertür. In seinen Händen hielt er den Ersatzkanister vom Führerstand des Mähdreschers. Er hatte den Deckel geöffnet und goss das Benzin während der Fahrt auf den Boden.

Bald schon hatten sie die Scheune einmal umrundet. Mit quietschenden Reifen kam der Käfer neben den Freunden am Waldrand zum Stehen.

»Passt auf!«, rief Tante Kassandra. Sie sprang aus dem Wagen und hielt in der Rechten ihr silbernes Zippo-Feuerzeug. Sie ließ eine Flamme hochschnellen, dann warf sie es aus einem Schritt Entfernung mitten in die Benzinspur.

Mit einem höllischen Fauchen schossen rund um die Scheune Flammen empor. Innerhalb weniger Sekunden griffen sie auf die Holzwände über.

»Sind wirklich alle da drinnen?«, fragte Kyra atemlos und schaute ihre Tante an.

Kassandra nickte. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. »Ihr habt sie alle hineingelockt. Das war ganz schön clever.«

Die Freunde schauten sich verdutzt an. Gelockt? Sie?

»Na ja«, meinte Chris. »Eigentlich sind wir nur weggelaufen.«

Herr Fleck deutete auf die Nagelpistole in Chris’ Hand. »Das sieht mir aber ganz danach aus, als hättet ihr euch erbittert gewehrt, oder?«

Chris grinste. Lisa fand, dass er unglaublich mutig und verwegen dabei aussah.

Innerhalb weniger Minuten stand die ganze Scheune in Brand. Aus dem Inneren erklangen fremdartige Geräusche, hohe, spitze Töne, die nur entfernt wie Schreie klangen. Die Freunde wichen mit Kassandra und Herrn Fleck langsam zurück, weg aus der mörderischen Hitze.

»Was ist mit den Vogelscheuchen auf den Hügeln?«, fragte Lisa. »Sie hatten ganz Giebelstein umzingelt.«

Der Archivar lächelte sanft. »Sie sind alle hier. Boralus hat sie gerufen, als er bemerkte, dass ihr ihm auf die Schliche gekommen seid.«

»Woher wussten Sie eigentlich die Sache mit den Nägeln?«, erkundigte sich Nils.

Herr Fleck hob das Buch. »Es steht alles hier drin. Was heute passiert ist, ist nicht zum ersten Mal geschehen. Im siebzehnten Jahrhundert hat Boralus schon einmal versucht, Giebelstein zu vernichten. Damals hat sich ihm eine mutige Frau entgegengestellt. Ihr Name war Dea.«

Tante Kassandra schenkte dem Archivar einen strafenden Seitenblick. Er ließ das Buch sofort sinken, sprach aber mit gesenkter Stimme weiter. »Sie war es, die den Dämon in den Spiegel verbannt hat. Er hat lange gebraucht, um einen Weg zu finden, von seinem Gefängnis aus Macht über einen Sterblichen zu erlangen. Vor ein paar Tagen ist es ihm gelungen.«

»Der arme Herr Wolf«, sagte Lisa.

Kyra streckte die Hand nach dem Buch aus.

»Darf ich das mal geliehen haben?«

Herr Fleck und Tante Kassandra wechselten einen raschen Blick. Dann schüttelte der Archivar bedauernd den Kopf. »Tut mir Leid, im Archiv gibt es keine Ausleihe. Ich bin schließlich keine öffentliche Bücherei.«

»Außerdem«, fügte Kassandra hinzu, »würde es dir nur neue Flausen in den Kopf setzen.«

Lisa und Nils grinsten einander an, und auch Chris musste sich ein Lächeln verkneifen. Kyra dagegen sah einen Moment lang aus, als wollte sie wütend werden, doch dann gab sie auf. Sie war viel zu erschöpft, um sich nach alldem noch mit zwei Erwachsenen herumzustreiten. Vielleicht konnte sie Herrn Fleck später überreden, ihr einen Blick in das Buch zu gestatten.

Dea, dachte sie. Was für ein seltsamer Name. War das nicht lateinisch für »Göttin«? Was für eine merkwürdige und interessante Frau musste das gewesen sein!

Gemeinsam mit ihren Freunden schaute Kyra zurück zum Feuer. Die Scheune war ein einziges Flammenmeer. Das Gebäude verbrannte, zusammen mit den Scheuchen in seinem Inneren. Hitze trieb in wabernden Schüben herüber.

Als schließlich das brennende Dach einstürzte, stob eine Myriade von Funken auf und stieg hinauf in den Nachthimmel. Wie Sterne hingen sie einen Moment lang in der Schwärze, dann trudelten sie langsam wieder herab. Ein letztes Mal glühten sie auf, funkelten heller denn je – und erloschen.