Köpfe mit Nägeln

Es war bereits tiefe Nacht, als Kyra das leise Scheppern von Fahrrädern vernahm, die unten im Innenhof des Hauses an die Wand gelehnt wurden. Das mussten Lisa und Nils sein. Chris war schon vor ein paar Minuten eingetroffen, saß wippend auf Kyras Schreibtischstuhl und kaute nachdenklich an einem Bleistiftende.

»Das sind die anderen«, flüsterte Kyra. »Komm mit!«

Chris sprang auf und folgte ihr leise die Treppe des alten Fachwerkhauses hinunter.

Wieder einmal fluchte Kyra im Stillen über die knirschenden Treppenstufen. Tante Kassandra schlief schon seit Stunden. Die Wanduhr unten im Flur zeigte zwanzig nach drei. Eine gute Zeit, wenn man niemandem auf der Straße begegnen wollte. Höchstens ein paar Katzen trieben sich jetzt noch dort draußen herum.

»Da seid ihr ja«, flüsterte Kyra, als sie und Chris durch die Hintertür der Küche auf den Hof traten.

Die beiden Geschwister warteten neben ihren Fahrrädern.

Nils seufzte. »Unsere Eltern wollten und wollten nicht ins Bett gehen. Unser Vater hat das Fußballspiel im Fernsehen geguckt.«

»Und dann mussten wir noch warten, bis sie eingeschlafen waren«, fügte Lisa hinzu. Sie schämte sich ein wenig vor Chris, der wieder mal viel pünktlicher gewesen war.

»Macht nix«, meinte Kyra. »Um die Uhrzeit sind wenigstens die Straßen leer.«

»Das sind sie hier in Giebelstein doch schon gleich nach Geschäftsschluss«, bemerkte Chris spitz. Sein Vater war bis vor kurzem Diplomat gewesen, und so hatte Chris viele Jahre in den größten Metropolen der Welt gelebt. Das Kleinstadtleben war noch immer neu und ungewohnt für ihn. Hin und wieder konnte er sich ein paar Seitenhiebe gegen das verschlafene Giebelstein und seine Bewohner nicht verkneifen.

»Uns gefällt’s hier ganz gut«, erwiderte Nils betont.

Zur Überraschung aller widersprach Chris nicht. »Mir auch«, meinte er nur. »Ehrlich, mittlerweile würde ich Giebelstein gegen keine Großstadt der Welt eintauschen.« Dabei schenkte er Kyra ein zaghaftes Lächeln. Sie tat, als hätte sie es nicht bemerkt. Hinter ihr gab sich Lisa alle Mühe, nicht wütend mit dem Fuß aufzustampfen.

»Wenn ihr mit eurem Kinderkram fertig seid, können wir vielleicht von hier verschwinden«, murmelte Nils, dem das verliebte Getue der anderen auf die Nerven ging. Er kannte Kyra, seit sie kleine Kinder gewesen waren, und er konnte sich um nichts in der Welt vorstellen, dass man sich in sie verlieben könnte. Tatsächlich sah er sie überhaupt nicht wirklich als weibliches Wesen an. Kyra war seine beste Freundin, basta. Und Lisa, na ja, sie war eben seine Schwester. Welcher Junge könnte schon Interesse an ihr haben? Dabei wusste er nur zu genau, dass es in der Schule sehr wohl ein paar Jungs gab, die Lisa heimlich anhimmelten – aber das waren Spinner, fand er, die offenbar nichts Besseres zu tun hatten. Besseres wie zum Beispiel Monstermasken sammeln oder Gruselfilme gucken. Ja, das waren die Dinge, die wirklich wichtig waren im Leben.

Die vier setzten sich zu Fuß in Bewegung. Durch die Toreinfahrt traten sie auf Giebelsteins gepflasterte Hauptstraße. Kyra hatte Recht gehabt: Weit und breit war kein Mensch zu sehen.

Sie liefen durch das nördliche Stadttor hinaus ins Hügelland. Von hier aus würden sie zwanzig Minuten bis zur Kieselwiese brauchen.

Als sie heute Abend nach Hause gekommen waren, hatten sie sich alle vier geschämt, weil sie einfach die Flucht ergriffen hatten. Vor einer Vogelscheuche noch dazu! Seit sie zu Siegelträgern geworden waren, hatten sie es mit den mörderischen Hexen des Arkanums zu tun gehabt, mit Storchendämonen, gefallenen Engeln und Bestien aus der Tiefe der Erde. Und jetzt sollten sie sich eingestehen, dass ihnen eine dämliche Vogelscheuche Angst eingejagt hatte? Der Gedanke kratzte an ihrem Stolz und war beileibe nichts, an das sie sich gerne erinnerten.

Das Bequemste wäre gewesen, die Sache einfach zu vergessen. Dann aber fielen ihre Blicke wieder auf die sieben magischen Male auf ihren Unterarmen. Ihnen allen war klar, dass es vor dem Fluch der Siegel kein Entkommen gab. Wenn die Zeichen erst einmal erschienen waren, hatten die Freunde keine andere Wahl, als sich ihren Gegnern zu stellen. Ganz gleich, wo Kyra und die anderen sich auch versteckten, die Kreaturen der Finsternis würden sie ausfindig machen. Also konnten die vier ihren Feinden ebenso gut freiwillig gegenübertreten.

So hatten sie also noch am Abend beschlossen, der Kieselwiese in der Nacht einen zweiten Besuch abzustatten. Keinem war wohl dabei, und jeder von ihnen hätte lieber daheim im warmen Bett gelegen und alle Dämonen dieser Welt Dämonen sein lassen. Aber nein, so lief das nicht. Es ging wieder los. Und niemand konnte etwas daran ändern.

Nachts war der Weg über die Weiden nicht ganz so angenehm wie bei Tag. Die Halme der Gräser bogen sich unter schweren Tautropfen.

Schon nach wenigen hundert Metern waren die Schuhe der Freunde durchnässt, und alle froren erbärmlich an den Füßen. Auch war es im Dunkeln schwierig, den Schlaglöchern und Bodenwellen auszuweichen. Ganz zu schweigen von den Kuhfladen, mit denen Nils schon am Abend Bekanntschaft gemacht hatte.

Schließlich aber erreichten sie die Kieselwiese. Als Erstes fiel ihnen auf, dass das tote Schaf nicht mehr im Gras lag. Nachdem der Tierarzt den Kadaver begutachtet hatte, war die arme Henrietta wohl abtransportiert worden. Immerhin blieb den Freunden dadurch der neuerliche Anblick des Tierkadavers erspart.

Aber auch die Vogelscheuche war verschwunden.

»Wo steckt sie nur?«, flüsterte Chris. Sein Blick streifte über die umliegenden Hügelkuppen. Ein kühler Ostwind knickte die Halme und raschelte in den dunklen Hecken.

»Hat sich vielleicht zum Schlafen hingelegt«, flachste Nils.

Lisa verdrehte die Augen. »Wahnsinnig witzig, wirklich.«

»Nicht wahr?«

Auch Kyra schenkte Nils einen strafenden Blick. »Seid doch mal still! Guckt lieber, ob ihr sie irgendwo anders sehen könnt.«

»Woanders?«, fragte Nils. »Wie soll sie denn woanders hingekommen sein?«

»Vielleicht ist sie gelaufen«, erwiderte Lisa, aber sie meinte es nicht als Scherz. Ganz im Gegenteil.

Die vier schauten einander an. Jeder suchte ein Grinsen oder auch nur Schmunzeln in den Mundwinkeln der anderen. Aber keinem war nach Späßen zu Mute. Was Lisa gesagt hatte, musste wohl oder übel in Betracht gezogen werden. Schließlich hatte der Anblick der Vogelscheuche die Siegel sichtbar gemacht. Keine gewöhnliche Scheuche hätte eine solche Reaktion hervorgerufen.

»Dann lag Kropf tatsächlich richtig, meint ihr?«, sprach Nils aus, was alle dachten. »Die Vogelscheuche hat das Schaf getötet?«

Kyra hob die Schultern. »Bis wir ’ne bessere Lösung gefunden haben, sieht’s wohl so aus.«

Nils schluckte. »Wow.«

»Das ist grausam«, flüsterte Lisa tonlos, so, als befürchte sie, die Scheuche könnte sie im Gras versteckt belauschen.

»Das waren die Hexen auch«, gab Chris zurück. »Und Abakus. Und der schwarze Storch. Und all die anderen Viecher.«

»Also eine lebende Vogelscheuche«, sagte Kyra entschieden. Die Tatsachen laut auszusprechen beruhigte sie ein wenig. Es war immer leichter, wenn man wusste, mit was für einem Gegner man es zu tun hatte.

»Da!«, stieß Lisa aus. »Auf dem Bahndamm.«

Es war der verrückteste Platz, den man sich für eine Vogelscheuche hätte vorstellen können – und dennoch hatte Lisa Recht.

Dort oben, hoch auf den von Brombeersträuchern gesäumten Schienen, stand die Scheuche. Stumm. Starr. Die Schwärze unter ihrer zerfledderten Hutkrempe schien die Blicke der vier Freunde anzusaugen wie ein Strudel. Es fiel schwer, sich von dem geisterhaften Umriss abzuwenden und einen klaren Gedanken zu fassen.

»Und was jetzt?«, fragte Nils zaghaft.

»Was wohl?« Kyra gab sich einen Ruck und versuchte, ihrer Stimme einen entschlossenen Klang zu geben. »Wir gehen hin.«

»Um genau so zu enden wie Henrietta?«

»Hast du ’ne bessere Idee?«

»Nicht im Moment.«

»Kommt«, mischte Chris sich ein. »Bringen wir’s hinter uns. Hier rumzustehen hat ja nun erst recht keinen Sinn.«

Nils rümpfte die Nase. »Jede Minute, die wir hier rumstehen, ist vielleicht eine Minute, die wir länger am Leben bleiben.«

Lisa knuffte ihn gegen die Schulter. »Los jetzt!«

Nils stöhnte, dann schloss er sich den drei anderen an. Gemeinsam eilten sie über die Kieselwiese, erreichten die Hecke an ihrer Nordseite und kletterten durch das Gestrüpp. Jenseits davon erhob sich der Bahndamm, steil und lehmig. Sie hatten ihn auf dem Weg zum Hügelgrab schon unzählige Male erklommen, doch jetzt erschien ihnen der Aufstieg viel mühsamer als sonst. Vielleicht war das aber auch nur ihr Unterbewusstsein, das ihnen eine letzte Warnung zukommen ließ.

Geht nicht dort hinauf! Haut ab von hier! Verschwindet augenblicklich!

Sie erreichten die alten Gleise an einer Stelle, die etwa zwanzig Meter von jenem Platz entfernt lag, an dem sich die Scheuche auf einem einzelnen, dürren Pfahl erhob.

Die stählernen Schienenstränge waren schon vor Jahrzehnten stillgelegt worden. Keine Waggons fuhren mehr entlang dieser Strecke. Nur manchmal, wenn sie starken Ostwind hatten, klang es, als nähere sich ein Geisterzug aus der Ferne. Es waren nur Geräusche, gewiss, aber keiner der Freunde war besonders scharf darauf, in einem solchen Augenblick hier oben zu stehen. Denn wer konnte schon absolut sicher sein, ob da nicht doch etwas näher kam, irgendetwas, das mit vernichtender Gewalt über die Gleise donnerte, unsichtbar und dennoch tödlich.

Heute Nacht aber schien die einzige Bedrohung von der gespenstischen Vogelscheuche auszugehen, die zwischen zwei verrotteten Holzbohlen aus dem Gleisbett emporstach. Ihre Arme waren weit ausgestreckt; sie bildeten eine Waagerechte, dürr und knöchern, umspielt vom Geflatter uralter Stofffetzen. Ihr einziges Bein war der Pfahl, auf dem sie ruhte. Der breitkrempige Hut war tief ins Gesicht gezogen, aber im schwachen Schein des Mondes ließ sich sogar aus der Entfernung erkennen, dass der Kopf darunter mit etwas Dunklem, Grobem bespannt war. Einem Leinensack, vielleicht.

»Ich geh näher ran«, beschloss Chris.

Kyra und Lisa folgten ihm. Auch Nils schloss zu ihnen auf. Die Neugier war jetzt größer als ihre Furcht. In ihren Köpfen regte sich die ermutigende Erinnerung an frühere Triumphe über Bestien, die weit gefährlicher ausgesehen hatten als diese Vogelscheuche. Sie würden schon mit ihr klarkommen, jawohl, das würden sie bestimmt! Und wenn wir uns das alle nur lange genug einreden, dachte Lisa sarkastisch, werden wir schon noch selbst daran glauben.

»Riecht komisch«, flüsterte Nils, als sie bis auf vier Schritte an das knöcherne Wesen aus Holz und Stoff herangekommen waren.

»Muffig«, stimmte Kyra ihm zu.

»Ich hab mal unter einem Busch ein totes Kaninchen gefunden«, sagte Nils. »Nur noch Knochen und ein paar Fellfetzen. Das hat genauso gestunken.«

»In was du so alles deine Nase steckst«, bemerkte Lisa spitz.

Ihr Bruder schnitt ihr eine Grimasse.

Chris bückte sich und hob einen langen Ast vom Boden auf, den der Wind irgendwann hier heraufgetragen hatte. Er sah nicht besonders stabil aus, aber für ihre Zwecke würde er hoffentlich ausreichen.

Chris ging so nah an die Scheuche heran, bis er die Hutkrempe mit der Spitze des Zweiges berühren konnte. Mit einer raschen Bewegung stieß er den Hut nach hinten. Träge segelte er hinter dem Rücken der Scheuche zu Boden.

Darunter kam ein Kopf aus Sackleinen zum Vorschein.

»Fällt euch eigentlich was auf?«, murmelte Lisa.

»Was denn?«, wollte ihr Bruder wissen.

»Als wir eben unten auf der Wiese standen, hat es ausgesehen, als hätte die Vogelscheuche zu uns herübergeschaut.«

»Na und?«

»Lass mich doch ausreden! Jetzt tut sie das immer noch – uns anschauen, meine ich –, obwohl wir aus einer anderen Richtung kommen.«

Chris wurde blass. »Du meinst, die hat sich zu uns umgedreht?«

»Lisa hat Recht«, meinte Kyra.

Ihnen wurde bei dieser Feststellung merklich kühler. Nach allem, was sie bislang erlebt hatten, war die allererste Gänsehaut immer noch die unangenehmste – jener Moment, in dem einem unumstößlich klar wird, dass man es mit Dingen zu tun hat, die einfach nicht sein dürfen.

Übernatürlichen Dingen.

Bösen Dingen.

»Kannst du mit dem Stock den Sack vom Kopf runterziehen?«, fragte Nils.

Chris hob die Schultern. »Ich könnte es mal mit der Hand versuchen. Ich meine, was soll schon passieren?«

»Nein!«, entfuhr es Lisa. »Nicht anfassen.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß nicht … Ist nur so ein Gefühl.«

»Trotzdem finde ich, wir sollten nachsehen, was unter dem Sack steckt«, sagte Nils.

Chris seufzte. »Ich versuch’s mit dem Ast.«

Vorsichtig tastete er mit der Stockspitze nach dem Gesicht der Scheuche. Ihre hölzernen Glieder und Gelenke knirschten wie die Takelage eines Geisterschiffs. Das fleckige Hemd, das ihren Körper bedeckte, bauschte sich unter einem Windstoß auf und verursachte ein raschelndes Flüstern. Es gelang Chris erst beim dritten oder vierten Versuch, den Leinenstoff vom Ansatz am dürren Hals der Scheuche nach oben und dann nach hinten zu schieben.

Allen vieren stockte der Atem.

Zum Vorschein kam ein menschlicher Schädel. Die knöcherne Fratze eines skelettierten Gesichts grinste ihnen entgegen. Gelber, wurmstichiger Knochen. Leere, schwarze Augenhöhlen. Zähne von der Farbe schmutziger Kieselsteine.

 

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»Uuh!«, machte Nils.

»Igitt!«, entfuhr es Kyra.

»Buäh«, brummte Chris.

Allein Lisa blieb still. Sie konnte nur in die beiden dunklen Augenhöhlen starren, zwei Schlünde, die keinen Boden, keine Rückwand zu besitzen schienen, nur Tiefe, Tiefe, Tiefe.

Dann wanderte Lisas Blick ein wenig höher, und sie entdeckte den Nagel.

Auf den ersten Blick sah er aus wie ein seltsames Schmuckstück, das man auf der Stirn des Totenkopfes angebracht hatte. Eine metallische Plakette vielleicht, nicht größer als die Spitze von Lisas kleinem Finger. Dann aber erkannte sie, dass es tatsächlich die Kuppe eines langen Nagels war, den irgendwer in den Schädel getrieben hatte, etwa drei Zentimeter über der Spitze der dreieckigen Nasenöffnung.

»Seht ihr das?«, flüsterte Lisa.

Kyra nickte nachdenklich. Sie kämpfte mit dem Drang, einfach vorzuspringen und den Nagel genauer unter die Lupe zu nehmen.

»Da ist irgendwas in die Oberfläche geritzt«, sagte Kyra und blinzelte, um das Muster besser erkennen zu können.

»Stimmt«, sagte auch Chris. »Es sieht aus wie ’ne Art Gravur im Kopf des Nagels.«

»Kann einer von euch erkennen, was das ist?«, wollte Lisa wissen, obwohl es dazu eigentlich viel zu dunkel war.

Kyra bückte sich im Gestrüpp seitlich der Gleise und kratzte einen Klumpen lehmiger Erde auf. Diesen formte sie zu einer glatten Kugel.

»Gib mir mal den Stock«, bat sie Chris.

Sie nahm den Zweig und spießte die Kugel oben auf die Spitze. Dann trat sie weit genug vor, um mit Stock und Lehmkugel einen Abdruck des Nagels zu nehmen. Es gelang ihr auf Anhieb, ohne dass sie die Scheuche berühren musste.

Als sie den Ast zurückzog und die Kugel vorsichtig löste, konnte sie den Umriss der Gravur genauer betrachten. Eigentlich war es kein ungewöhnliches Muster – einfach nur ein Kreis mit einem Stern oder einer Sonne in der Mitte. Trotzdem spürten alle, dass es damit eine besondere Bewandtnis hatte.

Jetzt, da sie überzeugt waren, eine erste Spur zur Lösung des Rätsels gefunden zu haben, wichen sie erleichtert einige Schritte zurück. Sie brachten zehn Meter zwischen sich und die Scheuche, ehe sie wieder stehen blieben.

Während Kyra, Lisa und Chris noch einmal einen Blick auf den Lehmabdruck des Nagels warfen, schaute Nils über die wogenden Grashügel im Nachtlicht Richtung Giebelstein.

»Ist das nicht Kropf?«, fragte er plötzlich.

Tatsächlich lief in einiger Entfernung eine winzige Gestalt über einen Hügelkamm. Kein Zweifel, es war tatsächlich der alte Schäfer.

»Der torkelt aber ganz schön«, sagte Lisa.

»Der wird sich erst mal einen genehmigt haben«, pflichtete Chris ihr bei.

Nach einigem Hin und Her kamen sie überein, dass der alte Schäfer sich von selbst wieder beruhigen würde. Es war gewiss besser, ihn in Frieden zu lassen. Außerdem konnten sie seine Trauer um die arme Henrietta durchaus nachempfinden.

Als die vier sich wieder zu der Scheuche umwandten, war sie näher gekommen.

Es war keine Täuschung.

Die Vogelscheuche war auf sie zugerückt. Mindestens vier oder fünf Meter. Die Entfernung zwischen ihr und den Freunden war nur noch halb so groß wie vor wenigen Augenblicken.

»Aber … das ist doch unmöglich«, keuchte Chris.

Nils nickte. »Sie hat ja nicht mal Beine!«

»Habt ihr gesehen, wie sie sich bewegt hat?«, fragte Kyra und blickte in die Runde. »Ich meine, wie sie sich tatsächlich vorwärts bewegt hat?«

Die anderen schüttelten die Köpfe. Kropf hatte sie alle abgelenkt.

»Okay«, meinte Chris. »Das reicht fürs Erste. Hauen wir ab.«

Lisa atmete insgeheim auf. Wenn selbst Chris die Knie schlotterten, musste sie sich für den Eisklumpen in ihrem Magen nicht schämen.

»Morgen früh«, murmelte Kyra in Gedanken.

»Was ist morgen früh?«, erkundigte sich Nils, ohne den Blick von der reglosen Scheuche zu nehmen.

Kyra hob die Lehmkugel mit dem Abdruck.

»Morgen früh finden wir raus, was es damit auf sich hat.« Sie zögerte kurz, dann fügte sie hinzu:

»Ich weiß, wer uns vielleicht mehr darüber sagen kann.«

 

In dieser Nacht träumte Kyra von einem Spiegel.

Es war ein großer Spiegel, er reichte ihr fast bis zum Kinn. Sein breiter Rahmen glänzte goldfarben, altertümliche Verzierungen waren darin eingelassen.

Kyra betrachtete ihr Bild in der Oberfläche. Es sah falsch aus – nicht verzerrt, wie in den gewellten Jahrmarktsspiegeln, sondern einfach nur anders. Kühler. Finsterer. So, als reflektierte der Spiegel nur die dunkle Seite des Betrachters, seine schlechten Angewohnheiten, sein böses Ich.

Plötzlich ertönte ein schneidender Laut. Ein Stern aus Rissen erblühte im Zentrum des Spiegels, dann zerbrach er in tausend Scherben, eine Explosion aus Silberglanz und Glas.

Klirrend rieselten die Splitter zu Boden, ein Wintersturm aus messerscharfen Eiskristallen.