Boralus

»Ich kann nicht glauben, wie viel Glück wir gehabt haben«, stöhnte Chris, als sie den Eingang des Rathauses erreichten. »Wenn wir eine von den Scheuchen angefasst hätten – mit bloßen Händen meine ich –, dann sähen wir jetzt wahrscheinlich genauso aus wie der arme Kropf.«

»Mit Sicherheit können wir das nicht wissen«, sagte Kyra.

»Ich jedenfalls kann auf den Beweis verzichten«, bemerkte Nils trocken.

Die Frau hinter dem Informationsschalter am Eingang war mit anderen Besuchern beschäftigt, deshalb bemerkte sie nicht, wie die vier Freunde blitzschnell an ihr vorüberschlichen. Auf der Treppe, die hinab in die Gewölbe führte, begegnete ihnen niemand – nur selten verirrte sich überhaupt ein Mensch hier hinunter. Was interessierte die Rathausbeamten die Vergangenheit der Stadt, wenn sie genug mit der Gegenwart zu tun hatten?

Kyra klopfte an die Tür des Archivs. Nur Augenblicke später bat Herr Fleck sie herein.

»Ihr seid früh«, sagte er.

Die vier versammelten sich in einem Halbkreis um den Schreibtisch des Archivars. Kyra und Chris fiel auf, dass dort weitere Türme aus alten Büchern entstanden waren, manche zehn, fünfzehn Bände hoch. Als Herr Fleck die Tür schloss, wippten die Büchersäulen vor und zurück wie geheimnisvolle Meerespflanzen in einer sanften Strömung.

»Ich habe ein paar Dinge für euch herausgefunden«, sagte der alte Mann, als er hinter seinen Schreibtisch trat. Fahrig wühlte er in dem Chaos aus aufgeschlagenen Folianten und losen Dokumenten.

Lisa sah sich betreten um. Aus den finsteren Archivgängen in ihrem Rücken wehte ein kühler Luftzug. Auch Chris spürte ihn – es erinnerte ihn an die Windstöße, die aus U-Bahn-Tunneln dringen, kurz bevor ein Zug in die Station einfährt; Luft, die von etwas Großem, Massigem verdrängt wird. Genau so fühlte es sich an: Als käme durch die dunklen Gänge etwas Gewaltiges auf sie zu, etwas, das kalte Luft vor sich herschob wie eine Bugwelle.

Aber da war nichts in den Gängen. Nur Schwärze. Nur völlige Finsternis.

Lisa dachte, dass sie verrückt werden würde, wenn sie jeden Tag hier herunterkommen müsste. Ganz allein in diesen Gewölben, fast ohne Licht. Und überall nur Bücher, Bücher, Bücher.

Herr Fleck hatte gefunden, was er suchte: Unter dem Papierhaufen auf dem Schreibtisch zog er ein Paar schwarze Samthandschuhe hervor. Er streifte sie über seine knochigen Finger und hob dann vorsichtig etwas vom Boden auf.

Es war eine Papierrolle, so lang wie der Arm eines Erwachsenen.

»Wenn ich sie ohne Handschuhe anfassen würde, könnte es passieren, dass sie zerfällt«, erklärte der Archivar und blickte in die Runde. Er stand leicht vornübergebeugt, die einzige Lichtquelle war die Lampe über seinem Kopf. Sein Gesicht war hinter einer Maske aus Schatten verborgen. Nur seine Augen schimmerten hell im Dunkel. Lisa fand, dass seine Augäpfel ebenso vergilbt aussahen wie die Papierberge, zwischen denen er lebte.

»Dies ist eine Karte«, sagte er, streifte ein schmales Lederband von der Papierrolle und öffnete sie. Vorsichtig breitete er sie auf einer freien Stelle des Schreibtisches aus.

»Liebe Güte, die muss ja steinalt sein«, murmelte Nils beeindruckt.

Die Farben und Linien waren ausgeblichen, trotzdem ließ sich deutlich erkennen, dass dies eine Karte von Giebelstein und der umliegenden Gegend war. Der Ort sah viel kleiner aus als heute, der Raum innerhalb der Stadtmauern war höchstens zur Hälfte mit Häusern ausgefüllt. Der Bahndamm existierte noch nicht, allein das Hügelgrab hatte man eingezeichnet.

»Von wann ist die?«, fragte Lisa.

»Etwa aus dem Jahr 1430«, erwiderte Herr Fleck. »Plus minus zehn Jahre.«

Die Freunde blickten fasziniert auf die Karte, so als läge allein in den verschlungenen Linien und Symbolen der Schlüssel zur Lösung all ihrer Sorgen.

»Zu dem Zeitpunkt, als sie gezeichnet wurde, lag die Pestepidemie schon Jahrzehnte zurück«, erklärte der Archivar. »Trotzdem gibt es hier einen Hinweis, der nützlich sein könnte.«

»Welchen?«, wollte Kyra wissen.

»Schaut, hier.« Herr Fleck berührte mit seinem Samtfinger eine Stelle westlich der Stadt, tief in den Wäldern, die damals viel größer und wohl auch dichter gewesen waren.

»Ich seh nichts«, kommentierte Nils mit einem Schulterzucken.

»Schau genau hin, junger Mann. Hier, vor meinem Zeigefinger.«

Die vier beugten sich näher über die Karte. Und tatsächlich, vor dem Finger des Archivars entdeckten sie ein kleines schwarzes Kreuz.

»Was ist das?«, fragte Nils. »Ein Schatz?«

Lisa rollte mit den Augen. »Du hast zu viele Piratenfilme geguckt.«

Ihr Bruder schnaubte verächtlich. »Besser als Schnulzen.« Er formte mit den Lippen einen übertriebenen Kussmund und machte ein lautes, schmatzendes Geräusch.

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