»Das ist ja eine ganze Armee!«, brachte Chris mühsam hervor und schluckte.

»Sieht so aus«, flüsterte Kyra gebannt. Sie konnte ihren Blick nicht von den Vogelscheuchen nehmen. Sie waren überall, rund um die ganze Stadt verteilt. Mindestens fünfzig. Aber wer wusste schon, wie viele noch hinter den nächsten Hügeln lauerten?

Keine stand näher als fünfhundert, sechshundert Meter. Aber das mochte sich schnell ändern.

»Was werden die tun, wenn sie die Stadt erreichen?«, fragte Lisa.

»Du hast doch gesehen, was sie mit Henrietta gemacht haben«, erwiderte Nils.

Lisa schüttelte sich bei der Erinnerung an den Schafskadaver.

»Ich weiß nicht«, sagte Chris nachdenklich. »Was wollen sie schon tun, wenn man ihnen mit ’ner Kettensäge oder Feuer zu Leibe rückt? Trotz allem sind sie nur aus Holz.«

»Ich wäre da nicht so sicher«, gab Kyra zurück. »Immerhin scheint auf irgendeine Weise Leben in ihnen zu sein, sonst würden sie sich nicht fortbewegen, oder? Wer weiß, was noch in ihnen steckt. Und vor allem: Wer sie befehligt!«

»Das Arkanum!«, rief Nils wie aus der Pistole geschossen.

Seit die Freunde die Auferstehung des Hexenmeisters Abakus vereitelt hatten, mussten sie ständig mit einem Angriff des Arkanums, des Geheimbundes der Hexen, rechnen.

»Es könnte das Arkanum sein«, stimmte Kyra zu. »Aber solange wir das nicht genau wissen, sollten wir vorsichtig sein mit solchen Vermutungen. Sonst macht uns das blind für andere Möglichkeiten.«

Chris versuchte noch einmal, die Scheuchen auf den Hügeln zu zählen, gab aber schließlich auf. »Glaubt ihr, auf jeder steckt so ein Totenschädel?«

»Woher sollte denn irgendwer all die Pestskelette nehmen?«, wandte Lisa ein. »Müssten die nach so vielen Jahrhunderten nicht längst zu Staub zerfallen sein?«

»Kommt darauf an, worin sie gelegen haben«, sagte Nils. »Wenn der Boden besonders lehmig war, wer weiß, dann hat er sie vielleicht haltbar gemacht. Zumindest die Knochen.«

Kyra runzelte die Stirn. »Ich würde mir ja schon ganz gern so ein Ding aus der Nähe anschauen.«

»Spinnst du?«, entgegnete Nils schockiert. »Hast du etwa Lust, auf irgendeiner Wiese gefunden zu werden wie Kropfs Schaf, mit so einem Scheuchenpfahl im Bauch?«

Lisa räusperte sich. »Bevor Nils und ich zu Hause weggefahren sind, hab ich eine von ihnen hinten im Park des Kerkerhofs gesehen.«

Nils warf ihr einen finsteren Blick zu. »Musstest du das unbedingt erzählen?«

Kyras Wangen glühten vor Aufregung. Das geschah meist, wenn das Erbe ihrer toten Mutter – einer gefürchteten Hexenjägerin und Gegnerin des Arkanums – die Oberhand über ihre Entscheidungen gewann. Ihre drei Freunde hatten bereits mehrfach festgestellt, dass dies immer häufiger vorkam. Ohne dass Kyra ihre Mutter je kennen gelernt hätte, schien etwas von ihr in der Tochter weiterzuleben.

»Wenn eine dieser Scheuchen bei euch im Park steht, ist das doch ideal!«, platzte Kyra heraus. »Wir können sie in Ruhe untersuchen. Und falls es doch ernst werden sollte, bleibt uns immer noch der Erkerhof als Fluchtmöglichkeit. Da drinnen kriegen die uns nie.«

Nils’ Unterkiefer sackte herunter. »Tolle Idee. Ganz toll, wirklich«, murmelte er ohne jede Begeisterung.

Chris aber kam Kyra gleich zur Hilfe. »Ich meine auch, dass wir es versuchen sollten. Wir haben den ganzen Nachmittag Zeit. Herr Fleck hat uns erst für heute Abend wieder zum Stadtarchiv bestellt.«

Jetzt, da Chris sich Kyras Vorschlag angeschlossen hatte, konnte auch Lisa keinen Rückzieher mehr machen. »Fahren wir hin. Außerdem müssen wir sowieso unsere Eltern warnen.«

Nils schüttelte den Kopf. »Was sollen wir denen denn sagen? Dass Giebelstein von Vogelscheuchen angegriffen wird? Dann darf ich zur Belohnung den Rasen gleich noch mal mähen.«

Der Rasen des Parks hinter dem Erkerhof war wirklich verflucht groß.

Kyra machte sich auf den Weg nach unten.

»Auf alle Fälle ist es das einzig Vernünftige, was wir im Moment tun können.«

Die anderen schlossen sich ihr an. Erneut ging es durch die Schießscharte aufs Dach und von dort aus in Kyras Speicherzimmer.

Wenig später schoben Kyra und die anderen ihre Fahrräder auf den Hinterhof, dann bogen sie in die Hauptstraße ein. Chris saß auf Nils’ Gepäckträger. Vor dem Haus der Guldenmunds hielten sie kurz an und warteten, bis Chris sein eigenes Rad aus dem Keller geholt hatte. So schnell sie konnten, rasten sie dann durch das südliche Stadttor hinaus auf die Landstraße. Nach einigen hundert Metern zweigte rechts eine lange Pappelallee ab, die zum Hotel Erkerhof führte.

Das Gemäuer lag ein wenig außerhalb der Stadt, auf einer sanften Erhebung am Waldrand. Es war gebaut wie ein Hufeisen, dessen offene Seite nach Osten wies, mit Blick auf die Hügel. Der größte Teil des Parks befand sich im Norden der Hotelanlage, ein schmaler Streifen erstreckte sich aber auch entlang seiner Rückseite im Westen.

Genau dort hatten Lisa und Nils die Scheuche beobachtet. Sie hatte gleich am Waldrand gestanden, im düsteren Halbschatten der vorderen Bäume.

Nun aber war sie fort.

»Sie war da, wirklich!«, stammelte Lisa, die sogleich einen prüfenden Blick hinüber zu Chris warf. Glaubte er, sie hätte sich die Scheuche nur eingebildet?

Aber nein, natürlich wusste er, dass sie keine hysterische Zicke war, die sich wichtig machen wollte. Ihr absolutes Vertrauen zueinander war eine der wichtigsten Waffen in ihrem Kampf gegen die Mächte der Finsternis.

»Wohin kann sie verschwunden sein?«, fragte Chris und schaute sich suchend im Park um. Er und die anderen stiegen von ihren Rädern ab und lehnten sie an die Rückwand des Hotels, unweit einer schmalen Hintertür. In früheren Jahrhunderten, als dies noch das Schloss des verruchten Barons Moorstein gewesen war, waren durch diesen Eingang die Dienstboten ein und aus gegangen.

Der Park war verwildert und unübersichtlich. Die Eltern von Nils und Lisa hatten genug damit zu tun, das riesige Hotel instand zu halten. Für den Park war kein Geld übrig. Nur Nils rückte der wuchernden Wildnis ab und an notgedrungen mit dem Rasenmäher zu Leibe. Die Sträucher und uralten Bäume wuchsen so, wie es ihnen gefiel. Stämme und Äste waren mit einem Netz aus Kletterpflanzen überzogen. Brennnesseln quollen in dichten Büscheln zwischen knorrigem Wurzelwerk empor. Hinter einer mächtigen Buche befand sich seit Monaten ein großer Ameisenhaufen, von dem man sich besser fern hielt.

»Da drüben ist sie!«, rief mit einem Mal Lisa. Sie hatte die Vogelscheuche hinter einem finsteren Ginsterdickicht entdeckt. Nur der Leinenkopf und die ausgestreckten Arme waren zu sehen. Das flache, ausdruckslose Gesicht der Scheuche war den Freunden zugewandt, so, als hätte sie die vier schon die ganze Zeit über stumm beobachtet.

»Wartet«, sagte Nils. Er verschwand durch den Hintereingang und kehrte bald darauf mit einer langen Harke aus dem Werkzeugkeller des Kerkerhofs zurück.

»Hat sie sich bewegt?«, fragte er.

»Keinen Zentimeter«, gab Chris zurück.

Nils ging voran, die Harke weit vor sich gestreckt. Die anderen folgten ihm. Sie machten einen Bogen um die Ginsterbüsche und warteten gespannt darauf, dass sich die Scheuche zu ihnen umwandte. Doch die unheimliche Gestalt regte sich nicht.

»Vielleicht will sie, dass wir uns sicher fühlen«, flüsterte Kyra.

»Klar«, sagte Nils. »Und gleich wird sie ›Buuh‹ rufen, und wir werden vor Schreck alle tot umfallen.« Er streckte die Harke so weit aus, dass die Stahlzinken die schmutzigen Lumpen der Scheuche berührten.

»Pass ja auf!«, riet Kyra ihm, ohne selbst recht zu wissen, worauf er eigentlich Acht geben sollte. So wie die Scheuche dastand, war sie nur ein toter Gegenstand, der eher beunruhigend als tatsächlich bedrohlich wirkte. Und doch – sie durften nicht vergessen, was mit dem armen Schaf geschehen war.

Es gelang Nils, mit der Harke den Stoff vom Gesicht der Scheuche zu ziehen. Niemand war überrascht, als darunter ein weiterer Totenschädel zum Vorschein kam. Er war nicht ganz so gut erhalten wie der erste, sein Mund war fast zahnlos. Ein leeres Schneckenhaus klebte in der linken Augenhöhle.

»Im Keller hab ich Brennspiritus gesehen«, sagte Nils. »Wir könnten versuchen, das Ding in Brand zu stecken.«

Wie als Antwort auf seine Worte drang ein lang gezogenes Knirschen zwischen den Lumpen der Vogelscheuche hervor. Ein besonders heftiger Windstoß wirbelte den Stoff auf, bis seine Enden wie lange Finger nach Nils tasteten. Erschrocken machte er einen Satz nach hinten.

»Ich hol den Spiritus«, rief er hastig, bevor einer der anderen reagieren konnte.

Wenig später tauchte er mit einem rostigen Blechkanister wieder auf.

»Hat sie sich bewegt?«, fragte er.

Kyra schüttelte den Kopf. Sie deutete auf den Kanister. »Glaubst du wirklich, dass das ’ne gute Idee ist?«

»Hast du ’ne bessere?«

Chris packte die Harke, die Nils beiseite gelegt hatte. Er versuchte, damit die Scheuche umzustoßen. Vergeblich.

»Die steckt im Boden wie einbetoniert«, murmelte er missmutig.

Lisa meldete sich zu Wort. »Glaubt ihr, es hat überhaupt Sinn, nur eine einzige von denen abzufackeln? Ich meine, da draußen sind noch dreißig oder vierzig andere. Bevor wir sie auch nur zur Hälfte verbrannt haben, sind die Ersten doch schon längst in der Stadt.«

»Wir sollten wenigstens mal ausprobieren, wie das Ding auf Feuer reagiert.« Mit diesen Worten schraubte Nils den Verschluss des Kanisters auf. Die drei anderen traten eilig einige Schritte zurück.

Nils holte aus und wollte gerade Spiritus auf die Scheuche spritzen, als Kyra plötzlich rief:

»Mist, guckt mal da drüben!«

Alle wirbelten herum.

Hinter ihnen waren zwei weitere Scheuchen aufgetaucht. Die eine war bereits bis auf drei Meter an sie herangekommen.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, keuchte Chris.

Noch immer wusste keiner, was tatsächlich passieren würde, wenn einer von ihnen zu nah an eine Scheuche geriet. Aber allein die Vorstellung, dass sie, ohne es zu bemerken, von den geisterhaften Wesen eingekreist werden könnten, machte ihnen Angst. Das Bild des toten Schafs war in ihren Gedanken allgegenwärtig.

»Ich glaube, du solltest das nicht tun«, sagte Lisa und zeigte auf den Kanister in Nils’ Hand.

Ihr Bruder schaute erst zu ihr, dann auf die Scheuchen, die im Hintergrund herangekommen waren. Seine Entschlossenheit schwand dahin.

»Vielleicht hast du Recht«, sagte er leise.

»Schraub den Kanister zu, und stell ihn auf den Boden«, empfahl ihm Kyra. »Wir sollten sie nicht auch noch wütend machen.«

»Vogelscheuchen – wütend?« Chris schüttelte den Kopf. Aber er wusste genauso gut wie die anderen, dass nichts mehr unmöglich war, seit sie zu Siegelträgern geworden waren.

»Da – die eine ist näher gekommen!«, entfuhr es Lisa. »Hat einer von euch hingesehen?«

Alle schüttelten die Köpfe. Wieder waren sie abgelenkt gewesen. Sie würden sich angewöhnen müssen, die Scheuchen im Auge zu behalten, wenn sie keine bösen Überraschungen erleben wollten.

»Hauen wir ab!«, entschied Kyra.

»Ja«, gab Chris ihr Recht, »ich glaub, das ist das Beste.«

Sie zogen sich durch die Hintertür ins Innere des Kerkerhofs zurück. Mithilfe eines schweren Stahlriegels verschlossen sie die Tür. Zur Sicherheit schoben die beiden Jungs noch eine Kiste mit Gartengeräten dagegen.

Anschließend machten sie sich auf die Suche nach Lisas und Nils’ Eltern. Sie liefen durchs ganze Hotel, bis sie entdeckten, dass der Kleintransporter, mit dem Lebensmittel und andere Utensilien herangeschafft wurden, nicht im Hof stand. Offenbar waren die beiden in die Stadt gefahren.

»Gäste habt ihr im Moment keine, oder?«, fragte Kyra.

»Nö«, erwiderte Nils, »nicht einen einzigen. Erst für nächsten Montag haben sich ein paar angekündigt.«

Kyra nickte erleichtert. »Okay, fahren wir zurück nach Giebelstein.«

»Vielleicht solltest du deiner Tante erzählen, was passiert ist«, schlug Lisa vor. Leiser fügte sie hinzu: »Oder noch passieren wird.«

Kyra schüttelte den Kopf. »Sie würde sich doch nur Sorgen machen.«

Aber Lisa blieb beharrlich. »Vielleicht hat sie ’ne Idee, was wir tun können, um die Scheuchen aufzuhalten.«

»Fahren wir doch erst mal hin«, mischte sich Chris ein. »Dann können wir uns immer noch überlegen, was wir machen.«

Sie eilten hinaus auf den Hof, schwangen sich auf die Räder und rasten die Pappelallee hinunter.

Im Vorbeifahren bemerkten sie zwischen den Bäumen dürre Gestalten.

Reglos, stumm.

Mit wehenden Lumpenhemden, zerfransten Hüten und weit ausgebreiteten Armen.