Kassandra wurde bleich. »Doch nicht schon wieder die –«

Sie brach ab, als die vier Freunde ihr die Innenseiten ihrer Unterarme entgegenhielten. Auf jedem hoben sich deutlich sichtbar die sieben magischen Male ab.

Tante Kassandra ließ sich auf einen der Stühle fallen, die rund um einen kleinen Holztisch am Schaufenster standen. »Oh nein«, stöhnte sie. Sie rieb sich mit dem Handballen die Augen, atmete tief durch und fragte dann: »Hexen?«

»Wir wissen es nicht«, sagte Chris. »Aber es hat irgendwie auch mit Kropf zu tun. Und mit seinem Schaf.«

»Und den Vogelscheuchen«, fügte Nils hinzu.

»Was für Vogelscheuchen?«

Da erzählten die vier ihr alles, was vorgefallen war. Von ihrer Entdeckung auf dem Bahndamm, dem Besuch beim Stadtarchivar und den Scheuchen hinter dem Kerkerhof. Kyra kramte sogar den Nagelabdruck vom Schädel der Pestleiche hervor und zeigte ihn ihrer Tante.

»Dann ist es also wieder so weit«, sagte Kassandra. Meist hielten die Freunde sie aus ihren Begegnungen mit den Mächten des Bösen heraus, doch heute war die Lage zu ernst. Schließlich war ganz Giebelstein von den Scheuchen bedroht, die unaufhaltsam über die Hügel näher rückten. Kassandra schloss einen Moment lang die Augen und überlegte. »Es hat wohl keinen Sinn, die Leute zu warnen. Viele Bauern benutzen Vogelscheuchen, das ist nichts Besonderes. Habt ihr schon irgendwas rausgefunden?«

»Nein«, entgegnete Kyra. »Wir sollen heute Abend wieder ins Stadtarchiv kommen. Vielleicht weiß Herr Fleck dann ein bisschen mehr.«

Kassandra nickte. »Das wird er wohl. Er ist ein kluger Mann. Etwas merkwürdig, aber klug. Und sehr belesen. Ich glaube, er weiß sogar über Abakus und das Arkanum Bescheid.«

»Das hast du uns nie erzählt!«, entfuhr es Kyra scharf.

»Warum hätten wir ihn auch noch in die Sache hineinziehen sollen?«, fragte ihre Tante. »Es ist doch schon schlimm genug, dass deine Freunde mit betroffen sind.«

Chris straffte sich eifrig. »Das ist kein Problem.«

»Wirklich nicht«, sagte auch Lisa.

Nils nickte mürrisch. »Nee, völlig in Ordnung.«

Tante Kassandra lächelte. »Kyra kann froh sein, dass sie euch als Freunde hat, wisst ihr das?« Sie schaute ihre Nichte an. »Weißt du das?«

Kyra wurde rot. »Jaja«, sagte sie fahrig. Sie fand das alles ganz schön peinlich. »Aber was unternehmen wir denn jetzt?«

»Wir können nichts machen, solange wir nicht bei Herrn Fleck waren«, sagte Chris. »Ohne mehr über diese Pestleichen und ihre Herkunft zu wissen, ist doch alles zwecklos.«

»Kann ich euch irgendwie helfen?«, fragte Tante Kassandra. Am liebsten hätte sie die vier natürlich in irgendein Zimmer gesperrt, damit sie sich nicht schon wieder solchen Gefahren aussetzten. Aber sie wusste genau, dass es keinen Sinn hatte. Es gab kein Entrinnen vor dem Fluch der Sieben Siegel. Wenn die Freunde sich ihrem Schicksal nicht stellten, würde das Schicksal zu ihnen kommen – in diesem Fall eben in Gestalt der unheimlichen Vogelscheuchen.

»Bleib du hier«, sagte Kyra zu ihrer Tante. »Halt einfach die Augen und Ohren offen.«

Chris sah Kyra von der Seite an. »Meinst du, wir sollten versuchen, Kropf zu finden?«

Kyra nickte. »Ist doch das Sinnvollste, oder?«

Lisa pflichtete ihr bei. »Vielleicht können wir ihm irgendwie helfen.«

»Vorausgesetzt«, sagte Nils, »es ist ihm nicht genauso ergangen wie seinem Schaf.«

Tante Kassandra goss sich auf den Schreck eine große Tasse Tee ein. »Oh Gott, oh Gott, oh Gott«, flüsterte sie, trank einen Schluck und verbrannte sich die Zunge.

Chris grinste und deutete auf die Tasse. »Was ist das?«

»Brotkrumentee.«

Die Freunde machten lange Gesichter, dann wandten sie sich zur Tür. Nichts, was sie dort draußen erwartete, konnte schlimmer sein als dieser Tee.

»Passt auf euch auf, ja?«, rief Tante Kassandra hinter ihnen her, als sie hinaus auf die Straße gingen. »Habt ihr gehört?«

»Klar«, erwiderte Kyra über die Schulter, dann fiel die Ladentür mit einem Klimpern der Türglocke ins Schloss.

Sie ließen die Räder stehen, weil sie auf den Wiesen nur hinderlich sein würden. Stattdessen rannten sie zu Fuß durchs Stadttor, ein Stück an der Landstraße entlang Richtung Norden und dann, durch ein Schlupfloch in den Hecken, hinaus auf die Weiden.

Jeder hatte eine Hand voll Müsliriegel aus Tante Kassandras Küche stibitzt. Darauf kauten sie, während sie durch das hohe Gras stapften. Es war bereits Nachmittag, und sie hatten kein Mittagessen gehabt. Die Riegel machten immerhin satt, und eigentlich schmeckten sie sogar ganz gut – auch wenn irgendwelches Zeug über Vitamine, Nähr- und Ballaststoffe auf der Verpackung stand.

Von dem Trupp, der aufgebrochen war, um Kropf zu finden, entdeckten sie keine Spur. Vermutlich suchten die Männer auf der anderen Seite der Stadt, oder aber sie hatten aufgegeben. Wahrscheinlich glaubten alle, dass der alte Schäfer ihnen ohnehin früher oder später wieder mit seinem Gefasel auf die Nerven gehen würde, ihm würde schon nichts passiert sein.

Im Norden erhob sich der ummauerte Hügel, auf dem die Kirche Sankt Abakus inmitten eines verwitterten Friedhofs stand. Dort oben hatten einst drei Hexen des Arkanums versucht, den Hexenmeister Abakus wieder zu erwecken, dessen Sarkophag seit Jahrhunderten in der Krypta der Kirche lagerte. Kyra und die anderen hatten seine Auferstehung vereitelt. Dabei waren sie auf das Geheimnis der Sieben Siegel gestoßen; damals hatten sich die Male unauslöschlich in ihre Unterarme gebrannt.

Heute aber ließ nichts darauf schließen, was in den uralten Mauern der Kirche vorgefallen war. Die Sonne beschien den hohen Glockenturm und hob ihn leuchtend von den dunklen Wolken ab, die sich über den Wäldern im Norden zusammenballten. Eine Hand voll Krähen kreiste kreischend um die Mauern.

Die Freunde wussten nicht, wo sie nach dem Schäfer suchen sollten. Daher war die Kirche als Ausgangspunkt so gut wie jeder andere.

Eilig passierten sie das Pfarrhaus am Fuß des Hügels. Hinter einer Scheibe sah Kyra das bleiche Gesicht des Pfarrers Berg, der ihnen argwöhnisch hinterherblickte. Keiner der vier ging regelmäßig zur Messe; ihr plötzliches Auftauchen weckte das Misstrauen des Geistlichen. Trotzdem kam er nicht aus dem Haus. Er beobachtete sie lieber vom Fenster aus. Wahrscheinlich nahm er an, die Freunde hätten ihn nicht bemerkt.

Sie liefen den geschlängelten Weg hinauf und erreichten den steinernen Torbogen am Eingang des Friedhofs. Dort drehte Kyra sich noch einmal um und schaute über die umliegenden Hügel. In einem Umkreis von einigen hundert Metern zählte sie vier Vogelscheuchen. Die beiden, die den Freunden am nächsten standen, hatten sich ihnen zugewandt; die anderen blickten Richtung Giebelstein.

»Kommt, schauen wir uns den Friedhof an«, schlug Nils vor.

Sie wussten, dass der alte Kropf sich in der Vergangenheit manches Mal hierher zurückgezogen hatte, um in Ruhe eine Flasche billigen Fusel zu leeren. Meist saß er dann im Gras, lehnte mit dem Rücken an einem Grabstein und lallte unverständlich vor sich hin. Früher war das ein trauriger, ein erschreckender Anblick gewesen, aber heute hätten sie einiges dafür gegeben, den Schäfer so vorzufinden. Immerhin hätte das bedeutet, dass ihm nichts Schlimmeres zugestoßen war.

Der Gottesacker machte einen friedlichen Eindruck. Das Moos auf den Grabsteinen hatte das Tauwasser der Nacht aufgesogen und glitzerte silbrig. Einige Gräber waren von hohem Unkraut überwuchert. Ein paar Hummeln summten um gelbe Wildblumen.

Die vier streiften zwischen den Grabmälern und Gedenktafeln umher, schreckten Feldmäuse und Krähen auf und umrundeten die Kirche. Kropf war nirgends zu entdecken.

Chris kletterte auf die Friedhofsmauer und schaute sich um.

Derweil hockte sich Kyra ins Gras und seufzte tief. »So hilflos hab ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.«

Lisa legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ach, komm … Es hat schon schlimmer um uns gestanden. Wenigstens müssen wir nicht ständig um unser Leben rennen.«

»Und Giebelstein?«, fragte Kyra vorwurfsvoll. »Was, wenn die Scheuchen die Stadt erreichen?«

»Wir wissen ja nicht mal, was dann passiert«, sagte Lisa.

»Ich will’s lieber nicht drauf ankommen lassen.«

Chris streckte plötzlich einen Arm aus und wies nach Osten. »He, ist er das nicht?«

Sofort waren die drei anderen neben ihm.

Etwa hundert Meter entfernt, hinter der Kuppe des nächsten Hügels, stand eine Gestalt und wandte ihnen den Rücken zu. Sie trug dieselbe Kleidung, die Kropf in der Nacht zuvor angehabt hatte, als sie ihn in der Ferne über die Weiden hatten laufen sehen.

Und doch war es nicht Kropf, der da stand.

Die Gestalt hatte beide Arme ausgestreckt. Wie eine Vogelscheuche.

»Warum hat eine Vogelscheuche Kropfs Klamotten an?«, sprach Nils den Gedanken aller laut aus.

Lisa schluckte. »Oh Mann!«

Sie verließen den Friedhof, so schnell sie konnten, und rannten den benachbarten Hügel hinauf. Von unten aus konnten sie die Scheuche nicht mehr sehen. Erst als sie sich der Kuppe näherten, tauchte die gespenstische Gestalt wieder hinter dem Hügel auf. Sie hatte sich jetzt umgedreht. Ihr Gesicht war unter dem Rand des tief herabgezogenen Hutes nicht zu sehen.

Es war Kropfs Kleidung, daran bestand kein Zweifel. Sein langer Schäfermantel wehte im Wind. Darunter war sein verblichenes Arbeitshemd zu erkennen.

Vier Meter vor der Scheuche blieben die Freunde wie angewurzelt stehen.

»Ach du heilige Scheiße!«, fluchte Nils. Er war der Einzige, der überhaupt einen Ton herausbekam. Alle anderen waren starr vor Schreck.

Von hier aus konnten sie unter die breite Hutkrempe der Scheuche blicken. In ihrem Schatten erkannten sie jetzt deutlich, was sie aus leeren Augenhöhlen anblickte.

Diesmal war der Totenschädel nicht von einem alten Leinensack bedeckt. Blank und weiß leuchtete er den vieren entgegen. Auch war er keineswegs vergilbt und halb zerfallen wie die Köpfe der anderen Scheuchen.

Dieser Schädel hatte nicht seit hunderten von Jahren im Boden gelegen.

Auch ein Nagel war nirgends zu sehen. Nur das leichenhafte Grinsen war das gleiche wie bei den anderen.

»Ist das –« Weiter kam Lisa nicht. Sie musste den Namen nicht aussprechen. Alle wussten auch so, dass sie es diesmal nicht mit einem uralten Pesttoten zu tun hatten.

Chris murmelte unverständlich vor sich hin. Nils kratzte sich nervös am Kopf, während Lisas Beine zitterten wie Gummibänder. Nur Kyra blieb nach außen hin gelassen; das Erbe ihrer Mutter war stärker als ihr Entsetzen.

Kropfs Kleidung. Kropfs Totenschädel.

Die Scheuchen hatten den Schäfer zu einem der ihren gemacht.

 

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