Im Pestgrab

Keiner von ihnen war je zuvor so tief in den Wald vorgedrungen.

Die Stelle, an der das Grab auf der Karte eingezeichnet war, lag weit abseits der einsamen Waldwege. Die Freunde schoben ihre Fahrräder ins dichte, dornige Unterholz, wo man sie auf Anhieb nicht entdecken würde. Dann machten sie sich auf, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen.

Es wurde bereits dunkel. Die Nacht kroch über die Wälder heran und erfüllte die Zwischenräume im Laubdach mit grauem Dämmerlicht. Hier und da funkelten die Augenpaare nächtlicher Jäger aus den Schatten der Büsche und Sträucher.

»Wir haben nicht mal ’ne Taschenlampe dabei«, schimpfte Nils. »Kann mir einer sagen, wie wir irgendwas sehen wollen für den unwahrscheinlichen Fall, dass wir dieses blöde Grab finden?«

»Wie wär’s, wenn du vorausgehst?«, schlug Lisa vor. »Sobald du in ein Loch fällst, wissen wir, dass wir angekommen sind.«

Kyra und Chris wechselten einen schnellen Blick – die beiden Geschwister würden wohl niemals aufhören, sich gegenseitig zu triezen.

Sie waren etwa zwanzig Minuten im dichten Unterholz umhergeirrt, als sie endlich fündig wurden. Es war Chris, der plötzlich stolperte, nicht Nils. Kyra packte ihn gerade noch am Arm, eher er kopfüber in eine Grube purzeln konnte.

Es war zu finster, um alles mit Gewissheit zu erkennen. Doch was sie sehen konnten, reichte aus.

Vor ihnen öffnete sich im Waldboden ein Irrgarten aus Schneisen. Sie sahen aus wie Schützengräben in einem alten Kriegsfilm. Die Vertiefungen führten kreuz und quer zwischen den hohen, alten Bäumen umher. An vielen Stellen war verschlungenes Wurzelwerk freigelegt. Die Ausschachtungen waren nicht systematisch durchgeführt, vielmehr schien es, dass mal an dieser, mal an jener Stelle gegraben worden war. Das Labyrinth der Gräben musste mindestens zwanzig mal zwanzig Meter messen – möglich, dass die tatsächliche Ausdehnung jedoch weitaus größer war. Die Abenddämmerung mochte noch so manche Grube unter ihrem Schleier aus Schatten und Zwielicht verbergen.

»Das muss Privatbesitz sein«, überlegte Chris laut, »sonst wäre es dem Förster aufgefallen.«

Kyra stimmte ihm zu. »Das alles hier gehört wahrscheinlich diesem Bauern, von dem Herr Fleck gesprochen hat.«

»Samuel Wolf«, ergänzte Nils.

Lisa bekam beim Klang dieses Namens eine Gänsehaut, ohne dass sie hätte sagen können, weshalb. Schließlich hatten sie noch keinen echten Beweis, dass Wolf in die ganze Sache verstrickt war.

Kyra schaute Chris an. »Hilfst du mir mal?«

Und noch bevor er eine Antwort geben konnte, begann sie bereits, in den vorderen Graben hinabzuklettern. Chris packte sie rasch an der Hand, um zu verhindern, dass sie an der steilen Erdwand abrutschte und sich womöglich noch verletzte.

»Danke«, keuchte sie, als sie unten ankam. »Uuh, das ist matschig.«

»Das muss Grundwasser sein«, sagte Lisa. »Es hat doch seit Tagen nicht geregnet.«

Der Graben war fast drei Meter tief. In der Tat hatten sich an seinem Boden zahllose Pfützen gebildet. Kyra patschte erst ein wenig ziellos umher, bis sie sich schließlich nach links wandte und dem Verlauf des Grabens folgte.

»Warte!«, rief Chris ihr hinterher. Aus der Hocke sprang er in die Tiefe und landete unweit von Kyra im Schlamm. Eine schmutzige Wasserfontäne bespritzte ihre Beine.

»Vielen Dank«, brummte sie und berührte mit den Fingerspitzen ihre nassen Hosenbeine. »Eklig. Und kalt.«

»’tschuldigung.«

Nils folgte als Nächster, und zuletzt hüpfte auch Lisa hinab in den Graben.

»Mist«, fluchte Kyra. »Jetzt ist keiner mehr da, der uns wieder hochhelfen kann.«

Daran hatten sie gar nicht gedacht! Wie sollten sie die hohen Grabenwände wieder hinaufklettern, ohne Hilfe von oben? Außerdem war das Erdreich an den Seiten feucht und gab nach, wenn man es berührte. Bei einem Erdrutsch würde sie der Schlamm verschütten.

»Guckt mal!«, presste Nils plötzlich hervor. Er deutete auf etwas Bleiches, das neben ihm aus dem Erdreich der Grabenwand ragte.

Lisa schnappte nach Luft. »Ist das –«

»Ein Knochen«, bestätigte Chris mit schwankender Stimme.

Als sie sich jetzt im Dämmerlicht umschauten, sahen sie zu ihrem Entsetzen, dass aus dem Boden und den Seitenwänden Gebeine ragten – verblichene Arm- und Beinknochen, sogar eine Hand voll brüchiger Totenschädel. Ihre Augenhöhlen waren mit Morast und Wurzelwerk gefüllt.

Wer immer sich am Grab der Pestleichen zu schaffen gemacht hatte, war nicht besonders gründlich gewesen.

»Er hat nur die Schädel benutzt«, stellte Kyra fest. Sie versuchte, sachlich zu bleiben, doch auch ihre Stimme klang zittrig. »Die anderen Knochen hat er liegen lassen.«

»Aber hier sind doch noch Schädel«, widersprach Nils.

»Nur solche, die vom Erdreich zerdrückt worden sind«, sagte Kyra. »Dabei sind die Nägel rausgebrochen. Schaut doch mal, offenbar hat er nur für jene Schädel Verwendung gehabt, die samt der Nägel erhalten geblieben sind.«

Tatsächlich fanden sie nur sehr wenige Totenschädel, und diese waren völlig zertrümmert. Nirgends war einer zu sehen, in dem noch der Nagel steckte.

Lisa sah sich furchtsam um. »Wenn es jetzt einen Erdrutsch gibt, werden wir nicht nur unter Schlamm, sondern auch noch unter Pestgerippen begraben. Ist euch das eigentlich klar?«

»Nett, dass du uns dran erinnerst«, erwiderte Nils.

»Kommt, wir laufen noch ein wenig weiter, bevor es ganz dunkel wird«, sagte Kyra. Und damit eilte sie auch schon los.

Nils schüttelte fassungslos den Kopf. »Es ist ganz dunkel. Wenigstens fast.«

Chris zuckte nur mit den Schultern und folgte Kyra. Lisa gesellte sich nach kurzem Zögern zu ihm, und auch Nils ging hinterher.

Kyra war in ihrem Eifer nicht zu bremsen. Mochte die Umgebung des Pestgrabes auch noch so grauenvoll sein – Kyra ließ sich nicht aufhalten. Zumindest nicht von ihrer Furcht.

Erst als sich eine Gestalt vor ihr aus der Finsternis schälte, blieb sie abrupt stehen.

»Nicht schon wieder!«, keuchte Nils.

Eine Vogelscheuche stand am Boden des Grabens und wandte ihnen das Leinengesicht zu. Ihre ausgebreiteten Arme reichten von einer Wand zur anderen und versperrten den Freunden den Weg.

»Sie wissen, dass wir hier sind«, flüsterte Kyra.

»Wer weiß, dass wir hier sind?«, fragte Lisa.

»Die Vogelscheuchen. Oder die Mächte, die sie kontrollieren. Boralus. Vielleicht Samuel Wolf.«

»Da vorn kommen wir nicht weiter«, sagte Chris.

Kyra nickte. »Alle Mann zurück.«

Sie warfen sich herum und liefen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Immer wieder stolperten sie über Gebeine, die im Boden steckten. Einmal mussten sie sich bücken, weil in Kopfhöhe ein Knochenarm aus dem seitlichen Erdreich ragte.

Schneller, schneller, schneller …

Aber ganz gleich, wie schnell sie rannten – sie wurden bereits erwartet.

Eine zweite Vogelscheuche stand dort, wo sie in die Grube herabgesprungen waren. Auch sie blickte ihnen stumm entgegen und versperrte den Weg.

»Die versuchen, uns festzusetzen«, rief Chris. Eine Spur von Panik lag in seiner Stimme.

Den anderen erging es nicht besser. Plötzlich hatten sie alle schreckliche Angst. Lisa sah ihren Kopf schon auf einer Vogelscheuche stecken, mit tief herabgezogenem Strohhut und flatternden Stofffetzen um den Schultern. Bei diesem Gedanken wurde ihr so schlecht, dass sie sich am liebsten übergeben hätte.

Nils überwand als Erster seinen Schrecken.

»War da vorne nicht eine Abzweigung?«, rief er den anderen zu.

Sie rannten knapp zehn Meter zurück, wo auf der rechten Seite ein Graben einmündete. Zu ihrem Entsetzen sahen sie, dass die erste Vogelscheuche näher gekommen war. Sie stand nur noch zwei Schritte von der Abzweigung entfernt. Wenn sie nur ein paar Sekunden später umgekehrt wären, hätte sie ihnen den einzigen Fluchtweg abgeschnitten.

Panisch stürmten sie in den zweiten Graben. Er führte am Wurzelwerk einer mächtigen Eiche vorüber. Um sie herum ragten weitere Knochen ins Freie.

Chris lief vorneweg. Deshalb sah er als Erster, was alle insgeheim befürchtet hatten.

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