Die Vogelscheuche

»Schwarz!«, brummte Nils. »Warum muss es eigentlich immer Schwarz sein?«

Während Nils sprach, musterte er seinen Freund Chris von oben bis unten. Chris trug wie immer schwarze Jeans und ein schwarzes Sweatshirt. Keiner seiner Freunde hatte ihn je in etwas anderem gesehen. Bunte Kleidung war ihm zuwider.

Nils und Chris gingen nebeneinander über eine Wiese am Fuß des alten Bahndamms. Lisa und Kyra liefen ein paar Schritte hinter ihnen. Sie waren auf dem Weg vom alten Hügelgrab, ihrem geheimen Treffpunkt, nach Hause. Im Westen berührte die Sonne bereits die Wipfel der Wälder. Es würde bald dunkel sein.

»Was stört dich denn an Schwarz?«, gab Chris zurück. Ihm war klar, dass Nils nur wieder eine Möglichkeit suchte, herumzunörgeln. Und heute war eben er, Chris, an der Reihe. Es kümmerte ihn nicht besonders. Er kannte Nils zu gut, als dass er ihm deshalb böse gewesen wäre. Und schließlich waren sie alle manchmal mies gelaunt.

»Was mich stört? Nix stört mich«, erwiderte Nils. »Es ist nur so … so einfallslos.«

Chris grinste. »Schwarz ist halt meine Lieblingsfarbe.«

Hinter ihnen meldete sich Kyra zu Wort.

»Schwarz ist überhaupt keine Farbe. Genauso wenig wie Weiß. Nicht aufgepasst im Kunstunterricht?«

Chris und Nils blieben stehen und schauten sich zu Kyra um.

»Klugscheißer!«, entfuhr es ihnen wie aus einem Munde. Aber sie grinsten dabei, und Kyra nahm es ihnen nicht übel.

»Also, ich find schwarze Klamotten schick«, meinte Lisa.

Chris schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Lisa wandte verschämt den Blick ab. Kyra und ihr Bruder Nils wussten, dass Lisa hoffnungslos in Chris verknallt war. Der Einzige, der noch immer nichts davon mitbekommen hatte, war Chris selbst. Und außer Lisa würde es ihm wohl auch niemand erzählen; Nils nicht, weil er solche Gesprächsthemen für unter seiner Würde hielt, und Kyra nicht, weil sie Chris nun mal selbst sehr nett fand – und er sie, zu Lisas argem Leidwesen.

Nils grinste seine Schwester an und beugte sich zu ihr vor. »Du findest nicht die Klamotten schick, sondern den, der drinsteckt«, flüsterte er ihr leise ins Ohr.

»Ich hasse Brüder«, gab Lisa giftig zurück.

Nils’ Grinsen wurde noch breiter. »Daran, dass ich ein Junge bin, kann’s ja wohl nicht liegen, oder?«

Lisa war kurz davor, ihm die Augen auszukratzen. Aber was hätte Chris dann von ihr gedacht? Nein, sie würde so tun, als wäre sie vollkommen erhaben über das Gerede ihres Bruders. Das würde sehr erwachsen wirken!

Kyra räusperte sich. »Können wir jetzt weitergehen? Meine Tante will heute Abend kochen.«

»Was gibt’s denn?«, erkundigte sich Nils mit Unschuldsmiene. »Blumenstängel mit Blattgrünsoße?«

Tante Kassandra war überzeugte Vegetarierin. Nicht, dass Kyra etwas dagegen gehabt hätte – wären die Mahlzeiten nur ein wenig abwechslungsreicher gewesen. Kyra brauchte kein Fleisch. Aber jedes Mal, wenn sie vorschlug, ihre Tante könne doch mal Pizza mit Champignons oder etwas Ähnliches machen, stand am Ende doch nur die gleiche Gemüsepampe auf dem Tisch. Ihre Tante meinte es nicht böse: Leider war es aber eine unumstößliche Tatsache, dass Kassandra Rabenson eine grauenvolle Köchin war. Und das wusste auch sie selbst nur zu genau, deshalb wagte sie sich gar nicht erst an etwas anderes als das Altbekannte heran. Kyras Freunden war das klar, und gelegentlich zogen sie sie damit auf.

Die vier gingen weiter, jetzt ein wenig schneller. Die Dämmerung kroch über das grüne Hügelland rund um Giebelstein, und schon erhoben sich hinter den Begrenzungshecken der Felder und Wiesen die ersten Schatten. Seit die vier Freunde Träger der magischen Sieben Siegel waren, hatten sie gelernt, sich vor der Dunkelheit in Acht zu nehmen.

Plötzlich blieb Lisa stehen. Sie streckte die Hand aus und wies nach Osten, hinauf zur Kuppe eines nahen Hügels.

»Guckt mal, da oben!«

Die Blicke der anderen folgten Lisas ausgestrecktem Zeigefinger.

»Wer ist denn das?«, flüsterte Nils.

Über den Hügel lief ein Mann. Er war offenbar sehr aufgeregt und schien es eilig zu haben, stolperte aber immer wieder und schaute angstvoll über seine Schulter – so, als wäre ihm irgendetwas auf den Fersen. Sogar hier unten konnte man noch seinen rasselnden Atem hören.

»Das ist doch –«, begann Kyra.

»Der alte Kropf!«, ergänzte Lisa.

»Kropf?«, fragte Nils. »Warum rennt der wie ein Blöder da oben rum?«

»Da ist irgendwas passiert«, meinte Chris. »Vielleicht mit seinen Schafen.«

Chris lief los, die anderen folgten ihm nach kurzem Zögern. Nach ein paar Schritten waren sie wieder alle auf einer Höhe und eilten den Hügel hinauf. Immer wieder mussten sie dabei unter einer der Hecken hindurchklettern, aber darin hatten sie Übung. Schon als kleine Kinder hatten Kyra und die beiden Geschwister hier gespielt. Die Hecken waren für sie stets so etwas wie geheime Wege gewesen, in deren Schutz sie manches Mal das ganze Hügelland durchquert hatten, ohne von irgendwem gesehen zu werden. Chris dagegen war erst vor kurzem nach Giebelstein gezogen, und obwohl er der Sportlichste der vier war, war er nicht ganz so begeistert, wenn es darum ging, durch das Astwerk der Hecken zu steigen.

Während sie die Hügelflanke hinaufhasteten, erkannten sie, dass der alte Kropf Richtung Giebelstein lief. Sein Japsen und Keuchen wurde immer lauter und schneller. Es war zweifelhaft, ob er es in diesem Zustand überhaupt bis zur Stadt schaffen würde.

Kropf war Schäfer. Er arbeitete für einen der großen Bauernhöfe und war in ganz Giebelstein als kauziges, aber gutmütiges Original bekannt. Tagsüber sah man ihn kaum, denn dann war er mit seinen Schafen auf den Hügeln und Wiesen unterwegs. Abends aber saß er meist in einer der Kneipen und trank mehr, als gut für ihn war.

»He, Kropf«, brüllte Kyra hinter ihm her. Sie duzte ihn, weil auch Kropf zu jedermann in Giebelstein »du« sagte. Außerdem kannte sie ihn seit Jahren. Früher hatte er Kindern auf der Straße manchmal Bonbons geschenkt, bis einige der Eltern ihn gebeten hatten, er möge das lieber bleiben lassen. Kropf hatte einfach nur mit den Schultern gezuckt, ganz wie es seine Art war, und seine Süßigkeiten fortan allein aufgegessen.

»Kropf!«, rief jetzt auch Nils, und diesmal erkannte der alte Schäfer seinen Namen. Im Laufen schaute er sich um. Die Freunde erschraken, als sie die Panik in seinen Zügen sahen, das ängstliche Glühen in seinen Augen.

»Warte doch!«

Kropfs Blick irrlichterte an den Freunden vorüber, tiefer ins Dämmergrün der Hügel, dann blieb er stehen. Mit vornübergebeugtem Oberkörper und keuchendem Atem wartete er, bis die vier aufgeholt hatten.

»Was ist denn los?«, fragte ihn Kyra.

»Ist irgendwas Schlimmes passiert?«, wollte Lisa wissen.

Kropf gab einen weinerlichen Laut von sich, schniefte auf und blickte Lisa dann geradewegs in die Augen. »Was Schlimmes passiert?«, wiederholte er. »Darauf kannst du wohl wetten!«

Chris schob verstohlen den Ärmel seines schwarzen Sweatshirts nach oben. Prüfend musterte er seinen Unterarm, doch die Sieben Siegel, die ihn und die anderen vor der Nähe teuflischer Mächte warnten, blieben unsichtbar. Chris atmete auf. Wenn Gefahr drohte, erschienen sie innerhalb von Sekunden: sieben magische Male, rätselhafte Schriftzeichen, die aussahen, als wären sie von einer überirdischen Macht in ihre Haut tätowiert worden.

Kyras Blick blieb fest auf den alten Schäfer gerichtet. »Wovor hast du solche Angst?«

Kropf schluckte. »Wenn ihr gesehn hättet, was ich gesehn hab, dann würdet ihr die Beine in die Hand nehmen und laufen. Verflucht schnell laufen, jawohl!«

Die vier sahen einander an. Schließlich fragte Lisa: »Was hast du denn gesehen?«

Der Schäfer holte tief Luft. »Wollt ihr das wirklich wissen?«

»Nun erzähl schon«, verlangte Kyra.

Kropf nickte bedächtig, schaute noch einmal prüfend über die Hügel und räusperte sich. Dann beugte er sich vor und flüsterte: »Henrietta ist ermordet worden!«

»Ermordet?«, entfuhr es Kyra.

»Wer ist Henrietta?«, fragte Chris.

Lisa lächelte, aber es wirkte nicht besonders fröhlich. »Ein Schaf.«

Chris stutzte. »Jemand hat ein Schaf ermordet?«

»Nicht einfach irgendein Schaf«, fuhr der alte Schäfer auf. »Meine Henrietta!«

»Sein Lieblingsschaf«, erklärte Nils im Flüsterton.

»Aber wer sollte denn so was tun?«, fragte Lisa.

Kropf schnaubte, dann schluchzte er leise.

»Ich weiß, wer’s war. Ich hab’s gesehn.«

»Wer?«, riefen Kyra und Lisa im Chor.

Der Alte machte eine kurze Pause, so als müsse er sich erst Mut machen, um zu antworten.

»Die Vogelscheuche«, sagte er dann.

Die Freunde schauten einander an.

Chris hüstelte verstohlen. »Eine … Vogelscheuche?«

»Aber ja doch! Ich muss zur Polizei, um das zu melden.« Kropf war plötzlich so aufgebracht, als wollte er einem von ihnen an die Gurgel gehen.

Aber natürlich tat er nichts dergleichen. Stattdessen sackte er mit einem Mal in sich zusammen, und Chris und Nils mussten vorspringen, um ihn festzuhalten. Vorsichtig halfen sie ihm, sich auf den Boden zu setzen, wo er müde und verwirrt vor sich hin starrte.

»Riechst du was?«, flüsterte Lisa Kyra zu.

»’ne Fahne?« Kyra schnüffelte und schüttelte denn den Kopf. »Nee.«

»Eben«, meinte Lisa leise, sodass der Schäfer es nicht hören konnte. »Er hat nichts getrunken – und trotzdem erzählt er so ’n komisches Zeug.«

Kropf schaute abrupt auf. »Henrietta lag im Gras, und sie war … sie war voller Blut! Und mitten in ihrem Fell … mitten in meiner Henrietta … steckte diese Vogelscheuche!«

»Wo soll das passiert sein?«, fragte Chris bemüht sachlich.

Der Alte hob die Hand und deutete nach Nordosten. »Da drüben, auf der alten Kieselwiese.«

Das Grundstück dort hieß so, weil der Boden mit vielen weißen Kieselsteinen durchsetzt war. Trotzdem wuchs das Gras nirgends höher und saftiger. Für Schafe und Kühe war das Gelände ideal.

»Wir könnten mal hingehen und nachschauen«, schlug Chris vor.

Kropfs Hand schoss vor und packte Chris’ Unterarm. »Nein! Tut das nicht!«

»Wieso nicht?«, kam Kyra Chris zur Hilfe. »Uns wird die Vogelscheuche schon nichts tun.«

»Und wenn doch?«, stammelte der Alte. »Dann hab ich die Schuld.«

Chris löste Kropfs Hand vorsichtig von seinem Arm. »Uns wird schon nichts passieren.«

»Seid ihr sicher?«, meinte Nils. »Vielleicht sollten wir warten, bis die Polizei kommt.«

»In Giebelstein gibt’s kein Revier. Bis die hier sind, ist es schon wieder Morgen.«

Auch Lisa gefiel der Gedanke nicht, im schwindenden Tageslicht nach einem toten Schaf zu suchen. Aber weil Chris unbedingt herausfinden wollte, was geschehen war, widersprach sie nicht. »Gehn wir halt hin«, seufzte sie schweren Herzens.

»Überstimmt«, sagte Kyra in Nils’ Richtung.

Nils brummelte etwas Übellauniges, dann meinte er nur: »Wie ihr wollt.«

Kropf rappelte sich auf. »Sagt später nicht, ich hätt euch nicht gewarnt«, rief er und setzte sich torkelnd in Richtung Giebelstein in Bewegung. Schlitternd rannte er den Hügel hinunter und verschwand im Schatten einer Hecke.

»Dann los«, forderte Kyra die anderen auf, und gemeinsam eilten sie zurück zum Bahndamm und an ihm entlang nach Osten.

Die Kieselwiese lag nur ein paar Minuten entfernt auf dieser Seite der stillgelegten Gleise. Lediglich eine sanfte Hügelkuppe versperrte ihnen die Sicht dorthin.

»Der alte Kropf spinnt doch, oder?«, fragte Lisa zaghaft.

»Klingt so«, erwiderte Kyra, aber sie wirkte keineswegs überzeugt. Sie hatten gemeinsam schon zu viel erlebt, um die Worte des Schäfers einfach als Verrücktheit abzutun.

»Auf meinem Arm ist nix zu sehen«, sagte Nils. »Auf euren?«

Alle verneinten. Bislang blieben die Sieben Siegel unsichtbar.

Sie stürmten den Hügel hinauf und schauten von dort aus hinunter.

Die Kieselwiese breitete sich vor ihnen in der Dämmerung aus. Das hohe Gras bog sich im sanften Abendwind und raschelte geheimnisvoll. Durch ein offenes Gatter war Kropfs Herde auf eine der benachbarten Weiden weitergezogen, bewacht nur von Kropfs altem Schäferhund. Das Fell des Tieres war fast genauso grau wie das Haar seines Herrchens.

In der Mitte der leeren Kieselwiese lag etwas Unförmiges, weiß und rot gemustert.

»Henrietta«, flüsterte Kyra.

Eilig liefen sie den Hang hinunter, kletterten durch eine weitere Hecke und wurden erst zehn Meter vor dem toten Schaf langsamer. Unsicher näherten sie sich dem Kadaver.

Zumindest in einem hatte der alte Kropf Recht gehabt: Sein Lieblingsschaf war tot, daran gab es keinen Zweifel. Henriettas Wolle war nicht länger weiß. Ihr Kopf wies gnädigerweise in eine andere Richtung, sodass die Freunde nicht in den gebrochenen Blick der toten Augen starren mussten.

Einen Moment lang brachte keiner ein Wort heraus. Der Anblick war zu schrecklich.

»Das ist so … gemein«, brachte Lisa hervor. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Welcher Mistkerl mag das wohl gewesen sein?«, knurrte Kyra.

Nils warf ihr einen Seitenblick zu. »Wer sagt denn, dass es ein Kerl war?«

»Frauen tun so was nicht«, meinte Lisa.

Ihr Bruder runzelte die Stirn. »Ach ja?«

Chris ging dazwischen, bevor es zu einem Streit zwischen den Geschwistern kommen konnte. »Kropf hat ja auch nicht von einer Frau oder von einem Mann gesprochen, nicht wahr?«

Nils winkte ab. »Der war doch besoffen.«

»War er nicht«, widersprach Lisa entschieden.

Kyra stimmte zu. »Das hätten wir gerochen.«

Wieder verfielen sie alle in Schweigen und blickten auf das Schaf hinab.

Henrietta war tot, gewiss – doch die Vogelscheuche, von der Kropf gesprochen hatte, war nirgends zu sehen.

Kyra rang nach Luft. »Sie ist erstochen worden, oder?«

»Sieht so aus«, erwiderte Chris. »So eine verdammte Sauerei!«

Lisa wischte sich die Tränen von den Wangen.

»Kropf hat gesagt, die Vogelscheuche hätte …« – sie stockte – »… sie hätte in dem Schaf gesteckt.«

Chris überwand seinen Widerwillen und betrachtete die Wunde genauer. »Könnte hinkommen.« Er rümpfte die Nase. »Mann, ist das eklig.« Er erhob sich und machte einen Schritt nach hinten.

»He, seht mal!«, rief plötzlich Nils aus und deutete nach rechts, in jene Richtung, in der in einiger Entfernung Giebelstein lag.

Zwischen den Hecken blitzte ein Lichterpaar auf. Scheinwerfer! Ein Fahrzeug rumpelte über den schmalen Feldweg und näherte sich der Kieselwiese. Jeden Moment würde es hinter den Büschen hervorkommen.

»Los, hauen wir ab!«, entschied Kyra. »Das ist ein Polizeiwagen.«

»Aber wir haben doch nichts getan«, sagte Lisa.

»Wollt ihr neben einem toten Schaf gefunden werden?«, fragte Kyra. »Ich meine, für die sind wir Kinder! Die werden glauben, dass wir das waren. Irgend so ein blöder Streich.«

Nils zog eine Grimasse. »Lustiger Streich!«

Alle vier drehten sich um und rannten den Hügel hinauf. Sie konnten sich gerade noch hinter der Kuppe verstecken, bevor der Polizeiwagen das Ende der Hecke erreichte. Das Blaulicht war abgeschaltet, und so tauchten nur die Scheinwerfer die Wiese und das tote Schaf in kaltes, weißes Licht.

Die Freunde warfen sich ins Gras und beobachteten zwischen den Halmen hindurch, was dort unten geschah.

Der Wagen hielt an. Zwei Polizisten stiegen aus. Kropf saß auf dem Rücksitz. Er verließ den Wagen als Letzter und folgte den Uniformierten zu Henriettas Kadaver.

»Er hat Glück gehabt«, flüsterte Nils. »Er muss dem Streifenwagen genau über den Weg gelaufen sein. Sonst wären die niemals so schnell hier gewesen!«

Seit Giebelstein kein eigenes Polizeirevier mehr hatte, patrouillierten hier manchmal Streifenwagen aus der nächstgrößeren Stadt. Kropf musste einem davon begegnet sein.

Die Freunde spitzten die Ohren und versuchten zu verstehen, was die Männer dort unten sprachen. Vergeblich. Die Entfernung war zu groß.

»Kommt, wir gehn nach Hause«, meinte schließlich Chris.

Nils fluchte. »Ich glaub, ich hab mich in ’nen Kuhfladen gelegt.«

»Uuh«, machte Kyra und rümpfte die Nase.

»Wartet mal!«, zischte in diesem Augenblick Lisa. »Oh nein!«

»Was ist?«

Lisa hielt den anderen ihren nackten Unterarm hin.

Sie sahen es alle auf einmal, und sofort rasten die Blicke der drei anderen auf ihre Arme.

Da waren sie – die Sieben Siegel! Wie frisch mit schwarzer Tinte aufgetragen, schimmerten die magischen Schriftzeichen auf ihrer Haut.

»Scheiße!«, fluchte Nils.

»Kann man wohl sagen«, stimmte Chris zu. Es kam selten genug vor, dass er und Nils einer Meinung waren.

Unten auf der Wiese führten die Polizisten den alten Kropf zurück zum Wagen. Das Fahrzeug setzte zurück, wendete und fuhr langsam zwischen den Hecken davon. Wahrscheinlich würden die Polizisten mit einem Tierarzt zurückkehren, der ihnen etwas über die exakte Todesursache sagen konnte.

»Schaut mal, da drüben«, kam es von Kyra. Ihre Stimme klang eisig.

Die Blicke der Übrigen folgten ihrem ausgestreckten Arm.

Auf der anderen Seite der Kieselwiese, dort, wo der Boden wieder anstieg, gut fünfzig Meter von dem toten Schaf entfernt, stand eine Gestalt. Sie erhob sich oben auf dem Kamm des Hügels, hoch und dürr und Ehrfurcht gebietend. Zerzauste Lumpen flatterten gespenstisch um ihre ausgestreckten Arme.

Die Vogelscheuche.

»Ich will hier weg«, flüsterte Nils und sprach damit aus, was alle dachten.

Blitzschnell sprangen sie auf und rannten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Das tote Schaf, die Siegel – und jetzt auch noch die Vogelscheuche. Das war zu viel für einen einzigen Abend. Erst einmal mussten sie irgendwohin, wo sie sicher waren.

Erst einmal Atem holen.

Sich beraten.

Einen Plan fassen.

Oben auf dem Hügel drehte sich die Vogelscheuche knirschend zur Seite – so, als blicke sie den vier Freunden aus schwarzen, schattigen Augenhöhlen hinterher.

Aber vielleicht war es auch nur der Wind, der sie bewegte. Nur der kühle, säuselnde Abendwind.

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