Kyra schüttelte sich. »Wir haben den Totenschädel nicht angefasst. Könnten wir uns trotzdem irgendwie … na ja, angesteckt haben?«

Fleck lächelte. »Nach all den Jahren, die dieser Schädel irgendwo gelegen haben muss, bezweifle ich, dass man sich an ihm noch infizieren könnte. Nein, davor braucht ihr keine Angst zu haben.«

Chris und Kyra wechselten einen erleichterten Blick. Dann wandte Kyra sich wieder an den Archivar: »Und was hat es mit dem Nagel auf sich?«

»Rund um die großen Pestepidemien gab es allerlei Aberglauben und Hokuspokus. Den Menschen war damals jedes Mittel recht, die Krankheit in den Griff zu bekommen. In der Regel wurden die Toten verbrannt, doch das hat nicht viel genutzt. Die Ansteckungen gingen trotzdem weiter. An manchen Orten versuchte man, der Seuche mit Magie Herr zu werden. Unter anderem schlug man den Toten geweihte Nägel in die Schädel. Damit wollte man die Krankheit – oder ihren bösen Geist – bannen und sie daran hindern, den Körper des Pestkranken zu verlassen.« Fleck legte die Kugel beiseite und nahm eine schwere Taschenlampe von seinem Schreibtisch. »Wartet einen Moment. Ich will euch etwas zeigen.«

Mit diesen Worten trat er in eine der Gangmündungen. Kyra und Chris sahen zu, wie er sich inmitten des Lichtscheins entfernte, immer weiter und weiter. Der Tunnel zwischen den Büchern schien kein Ende zu nehmen. Schließlich bog Fleck nach rechts ab, und das Licht wurde von den prall gefüllten Regalen verdeckt.

»Wo geht er hin?«, flüsterte Chris.

Kyra verzog die Mundwinkel. »Woher soll ich das wissen?«

Es dauerte eine Weile, ehe der Archivar zu ihnen zurückkehrte. Er hielt eine hölzerne Kiste in den Händen, nicht größer als ein Schuhkarton. Uralte Spinnweben spannten sich über dem Deckel.

»Die hab ich das letzte Mal vor über dreißig Jahren geöffnet«, erklärte er und stellte die Kiste auf dem Schreibtisch ab. Eine Staubwolke wogte unter den Rändern hervor.

»Was ist das?«, wollte Chris wissen.

Fleck lächelte undurchsichtig, dann klappte er den morschen Deckel hoch. Kyra und Chris kamen näher, um einen neugierigen Blick ins Innere zu werfen.

In der Kiste lagen Nägel. Sie sahen aus wie jener, den sie im Schädel der Scheuche entdeckt hatten. Alle waren in etwa so lang wie Kyras kleiner Finger. Und in jeden war der Kreis mit dem Sternensymbol eingraviert.

»Sie stammen aus dem vierzehnten Jahrhundert, soweit ich weiß«, erklärte der Archivar. »Die sind wohl damals übrig geblieben und auf dem einen oder anderen Umweg hier unten gelandet. Giebelstein wurde zu jener Zeit von einem besonders schlimmen Ausbruch der Pest heimgesucht. Wenn ihr wollt, werde ich ein paar meiner Chroniken wälzen und nachschauen, was damals vorgefallen ist – und wer diese Nägel geschmiedet hat.«

Kyra nickte heftig. »Das wäre toll.«

»Könnt ihr heute Abend noch mal wiederkommen?«, fragte Fleck. »Dann habe ich bestimmt schon mehr in Erfahrung gebracht.«

»Klar«, entgegnete Chris, »kein Problem.«

Fleck klappte die Kiste wieder zu und brachte die beiden zur Tür. Im Hinausgehen drehte Kyra sich noch einmal zu ihm um.

»Haben Sie vielleicht eine Idee, warum der Schädel einer Pestleiche aus dem vierzehnten Jahrhundert heute als Kopf einer Vogelscheuche auftaucht?«

Der Archivar seufzte leise. »Ich weiß über vieles Bescheid, das früher in diesem Ort vorgefallen ist. Doch die Dinge, die heute geschehen, liegen nicht mehr ganz auf meiner … nun, Wellenlänge, fürchte ich.« Fleck hüstelte trocken. Es klang wie ein altes Buch, das rasch vom Anfang bis zum Ende durchgeblättert wird. »Die Leute sagen mir nach, dass ich in der Vergangenheit lebe. Und ich schätze, damit haben sie nicht ganz Unrecht. Wenn ihr also herausfinden wollt, was hier und jetzt in Giebelstein vorgeht, müsst ihr das auf eigene Faust tun. Ich kenne nur die Geheimnisse der Geschichte, nicht die der Gegenwart.«

Er zwinkerte Kyra zu, dann verabschiedete er sich.

Als sie die Treppe hinaufstiegen, flüsterte Chris: »Komischer Kerl, was?«

Wie als Antwort fiel unten im Keller die Tür der Büchergewölbe mit einem schrillen Knirschen ins Schloss.