»Ha, ha«, machte Lisa entnervt. »Urkomisch.«

Kyra funkelte die beiden grimmig an. »Könntet ihr wohl einen Moment lang ernst bleiben?«

Die Geschwister wechselten noch einmal giftige Blicke, dann konzentrierten sie sich wieder auf die Karte.

Ein feines Lächeln spielte um die Mundwinkel des Archivars. »Einen Schatz zeigt das Kreuz leider nicht an, tut mir Leid. Das hier ist ein Grab.« Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er betont fort: »Darin hat man damals die Pestleichen verscharrt.«

»Nachdem man ihnen die Nägel in die Stirn geschlagen hat?«, fragte Kyra.

»Allerdings. Statt sie wie üblich zu verbrennen, hat man sie hier vergraben. Mitten im Wald.«

»Irgendwer muss sie dort gefunden haben«, stellte Lisa fest.

»So sieht’s zumindest aus«, bestätigte Herr Fleck.

»Aber warum sind sie nach all den Jahrhunderten nicht zu Staub zerfallen?«, fragte Chris.

Der Archivar legte die Stirn in Falten. »Ich wünschte, ich hätte darauf eine Antwort.«

Kyra spann den Faden bereits weiter. Es brachte ihnen im Augenblick nichts, zu spekulieren, warum die Gebeine der Toten eine so lange Zeit überstanden hatten. Kyra interessierte vielmehr, wer die Schädel aus der Erde geholt hatte – und auf welche Weise er sie zu lebenden Vogelscheuchen umfunktioniert hatte. Zu mordenden Vogelscheuchen.

»Wer war damals dafür verantwortlich, die Leichen zu beseitigen?«, erkundigte sie sich.

Herr Fleck grinste. Seine Zähne waren noch gelber als seine Haut. »Ich hab gewusst, dass du das fragen würdest.« Er bückte sich und zog ein schweres altes Buch unter dem Schreibtisch hervor. Es war größer als die Atlanten, die sie in der Schule benutzten, und mindestens fünfmal so dick.

Der Archivar hatte eine Stelle in dem Buch mit einem Stück Papier gekennzeichnet. Dort schlug er den Band jetzt auf und legte ihn auf einige andere Bücher.

»Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich die entsprechende Passage gefunden habe«, sagte er. »Hier ist sie.«

Nils warf einen Blick auf den Text. »Ist das Latein?«

»In der Tat.«

»Können Sie das lesen?«

»Natürlich.« Herr Fleck lächelte nachsichtig. »Sonst wären für mich gut zwei Drittel aller Bücher in diesem Archiv wertlos. Damals, als noch gelehrte Mönche Buch führten über das, was sich in der Welt tat, war Latein die wichtigste Schriftsprache.«

Nils nickte beklommen. Das imponierte ihm gewaltig. Der einzige lateinische Satz, den er beherrschte, war gleichzeitig der erste Satz seines Schulbuchs: Publius rusticus est – Publius ist ein Bauer. Das war alles, was ihm zum Thema Latein einfiel. Nicht gerade weltbewegend.

»In dieser Chronik ist genau verzeichnet, was damals passiert ist«, erklärte Herr Fleck und musterte die vier Freunde der Reihe nach. »Das meiste sind detaillierte Aufzeichnungen über den Ausbruch der Krankheit, über ihre Symptome und ihre Auswirkungen auf das Leben in dieser Gegend. Aber hier ist auch die Rede von einem Medicus, einem Heiler, der sich der Kranken annahm. Sein Name war Boralus.«

»Boralus«, wiederholte Kyra gedankenverloren. Hatte sie diesen Namen schon einmal irgendwo gehört? Sie konnte sich nicht erinnern. Dennoch brachte er irgendetwas in ihr zum Klingen. War es wieder das Erbe ihrer Mutter, das sich bemerkbar machte?

Der Archivar beobachtete sie neugierig. Ihr Interesse an diesem Namen überraschte ihn.

»Boralus war ein angesehener und geachteter Mann. Er tauchte etwa zur gleichen Zeit hier in der Gegend auf, als auch die Pest Einzug in Giebelstein hielt. Es heißt, er habe zahlreiche Menschen geheilt. Jene aber, die er nicht retten konnte, ließ er im Wald begraben.«

»Und die Nägel?«, fragte Lisa.

»Wurden in Boralus’ Auftrag geschmiedet. Vom damaligen Dorfschmied, nehme ich an. Boralus selbst schlug sie den Toten in die Schädel. Er war wohl davon überzeugt, dass damit die Krankheit in den Toten festgehalten würde und sich nicht mehr auf andere übertragen könnte. Die Umstände gaben ihm Recht, zumindest in den Augen der abergläubischen Menschen von damals. Schon bald, nachdem das Grab im Wald gefüllt war, verschwand die Pest aus Giebelstein.«

Chris grübelte. »Das klingt ja fast so, als hätte dieser Boralus die Pest erst hierher gebracht, oder? Und dann, als er hatte, was er wollte – nämlich eine bestimmte Anzahl von Leichen, zu welchem Zweck auch immer –, ließ er die Krankheit wieder verschwinden.«

Chris’ Theorie war für seine drei Freunde bestimmt, aber natürlich hatte auch der Archivar zugehört. Für Kyra und die anderen waren solche Gedanken nicht allzu weit hergeholt; sie hatten schon wunderlichere und erschreckendere Dinge erlebt. Auf einen normalen Erwachsenen aber mussten Chris’ Ideen höchst befremdlich wirken.

Daher erstaunte es alle, dass Herr Fleck keineswegs überrascht zu sein schien. Er wirkte nicht einmal verwundert.

Stattdessen nickte er langsam. »So könnte es gewesen sein, allerdings.«

Lisa sah den Archivar mit großen Augen an.

»Sie glauben an so was?«

»Warum nicht?«, erwiderte er lachend. »Wenn man all die Bücher gelesen hat, die ich gelesen habe, muss man die Existenz des Übernatürlichen wohl oder übel akzeptieren – ebenso wie die Existenz von Wesen, die das Gute und das Böse verkörpern. Boralus könnte beides sein, eine weise Lichtgestalt, wie die Chronik es uns glauben machen will, oder aber auch ein finsterer Schurke. Das entspräche dann deiner Theorie, Chris, nicht wahr?«

Chris nickte heftig.

Kyra musterte den alten Archivar eindringlich. »Sie wissen Bescheid über die Sieben Siegel, oder?«

Die anderen sahen sie erschrocken an, aber sie achtete nicht darauf. Sie war überzeugt, dass Herr Fleck von weit mehr Dingen wusste, als er zugeben wollte.

Der Archivar lächelte geheimnisvoll. »Vielleicht.« Er schlug abrupt das schwere Buch zu und verschwand einen Moment lang hinter einer Staubwolke. »Aber darum geht es im Augenblick nicht. Lasst uns bei diesem Boralus bleiben. Und bei den Vogelscheuchen.«

Kyra schluckte und räusperte sich. »Haben Sie noch mehr über ihn rausgefunden? Wo kam er her? Was geschah später mit ihm?«

»Woher er kam, weiß ich nicht. Auch habe ich nirgends einen Vermerk über seinen Tod gefunden. Wenn es nach den alten Chroniken geht, könnte er genauso gut immer noch durch Giebelstein spuken.« Herr Fleck hatte die letzte Bemerkung als Scherz gemeint, aber allen lief bei diesem Gedanken ein eisiger Schauer über den Rücken. »Das könnte er tatsächlich, nicht wahr?«, fügte der Archivar dumpf hinzu. »Umherspuken, meine ich.«

»Wer weiß«, flüsterte Chris.

Lisa verschränkte die Arme vor der Brust und massierte mit den Händen ihre Oberarme.

»Warum ist es hier unten eigentlich so kalt?«, beklagte sie sich.

Über Herrn Flecks Gesicht zuckte sein vergilbtes Grinsen. »Nach ein paar Jahrzehnten hier unten spürst du das nicht mehr.«

»Also«, sagte Kyra entschieden, »was ist nun? Gibt es noch mehr Informationen über Boralus?«

»Ich weiß, wo er gelebt hat«, antwortete der Archivar. »Das Haus steht noch immer.«

»Echt?«, platzte Nils heraus.

»Es ist ein alter Hof im Wald«, erklärte der Archivar. »Natürlich ist er in der vergangenen Jahrhunderten mehrfach umgebaut worden. Einmal, um 1790, ist er sogar bis auf die Grundmauern abgebrannt. Aber einzelne Teile sind immer noch dieselben wie damals, als Boralus dort lebte – ein paar Mauerbruchstücke, der alte Brunnenschacht, Teile des Kellers. Außerdem ist noch etwas zur späteren Geschichte des Hauses überliefert: Die Besitzer haben immer alleine dort gelebt und galten als seltsame Eigenbrötler.«

Chris unterbrach ihn aufgeregt: »Nehmen wir mal an, Boralus steckt hinter den Vogelscheuchen. Dann könnte der Schlüssel zu diesem Rätsel doch in seinem Haus zu finden sein. Oder bei dessen jetzigem Besitzer.«

Kyra schaute auf die alte Karte. »Ist es das hier?« Sie deutete auf eine Stelle der Karte, nicht weit vom Grab der Pesttoten entfernt. Dort war ein winziges Haus eingezeichnet.

»Woher weißt du das?«, erkundigte sich der Archivar irritiert.

»Ich hab’s mir … gedacht«, gab sie stockend zurück. In Wahrheit hatte sie selbst nur eine vage Vermutung, wie sie darauf gekommen war. Wieder ein Überbleibsel des Erbes ihrer Mutter. Manchmal machten ihr diese fremden Erinnerungen wirklich Angst.

»Das ist der Hof«, bestätigte Herr Fleck nach einem letzten Seitenblick auf Kyra und legte seinen schwarzsamtigen Zeigefinger über das Symbol auf der Karte.

»Den kenn ich«, sagte Nils. »Ich hab mal Zeitungen ausgetragen –«

»Genau drei Tage lang«, unterbrach Lisa ihn gehässig.

Nils schnitt seiner Schwester eine Grimasse.

»Auf jeden Fall war ich damals draußen auf dem Hof. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Ich hab schnell die Zeitung hingeschmissen und bin wieder abgehauen.«

»Wissen Sie, von wem der Hof heute bewirtschaftet wird?«, fragte Chris.

»Er gehört einem Bauern«, sagte der Archivar. »Samuel Wolf ist sein Name. Er ist allein stehend und hat keine Kinder.«

»Nie gehört«, sagte Lisa.

Kyra schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht.«

»Wolf kommt nicht oft in die Stadt«, sagte Herr Fleck. »Er hat ein paar Felder am Waldrand, die er bewirtschaftet. Kaum jemand in Giebelstein weiß Genaueres über ihn.«

Chris seufzte und sah Nils an. »Wie lange brauchen wir mit den Rädern bis zu diesem Hof?«

»’ne knappe halbe Stunde, schätze ich.«

»Wartet«, warf Kyra ein. »Ich finde, wir sollten uns trotz allem erst mal dieses Grab angucken. Oder das, was davon übrig ist.«

»Sag bloß, du willst ’nen Spaten mitnehmen?«, flachste Nils.

Kyra lachte nicht. Lächelte nicht einmal.

»Denkst du denn wirklich, dass das noch nötig ist?«