Schnell einigten sich die Freunde darauf, dass Kyra und Nils nach vorne blickten, während Lisa und Chris die hintere Scheuche beobachteten. Auf diese Weise näherten sie sich langsam, aber unbehelligt der mächtigen Eichenwurzel.

Nils begann als Erster den Aufstieg. Dabei musste er zwangsläufig auf die Wurzelstränge und seine Hände und Füße achten. Kyra wusste, dass sie jetzt nicht mit den Lidern schlagen durfte. Sie allein musste die beiden vorderen Scheuchen im Auge behalten – der Sekundenbruchteil eines einzigen Lidschlages würde den dämonischen Kreaturen genügen, um sie einzuholen.

Nils kam oben an. Lisa folgte als Zweite. Dann Chris. Vom Rand des Grabens aus beobachteten sie die Scheuchen, sodass Kyra als Letzte heraufklettern konnte.

»Das war knapp«, stöhnte Nils, als sie wieder alle beisammen waren.

»Freu dich nicht zu früh«, sagte Chris. »Noch sind wir nicht hier weg. Und wer weiß, wie viele von denen sich in den Wäldern herumtreiben.«

»Was jetzt?«, fragte Lisa.

»Zu Wolfs Hof«, sagte Kyra.

»Und dann?«, erkundigte Nils sich unwirsch. »Was, wenn uns dieser Boralus dort schon erwartet?«

»Das will ich doch hoffen«, sagte Kyra kühl. »Wie sollen wir ihm sonst das Handwerk legen?«

Lisa hatte manchmal das Gefühl, dass Kyra vergaß, dass sie noch keine Erwachsene war. Und erst recht keine erfahrene Hexenjägerin wie ihre Mutter. Sie war nur ein Mädchen, das die magischen Sieben Siegel trug. Wie sollten sie es mit diesem Boralus aufnehmen, wenn sie nicht einmal wussten, ob es überhaupt einen Weg gab, ihn zu bezwingen?

Lisa sah Chris und Nils an, dass ihnen die gleichen Gedanken durch den Kopf gingen. Aber sie wusste auch, dass ihre Freundin ein verflixter Dickkopf war. Und mit einem zumindest hatte Kyra Recht – für sie als Siegelträger war es nun einmal Pflicht und Fluch zugleich, sich Kreaturen wie Boralus entgegenzustellen.

Rückwärts gehend, entfernten sie sich von dem schrecklichen Grab im Wald und behielten die drei Scheuchen so lange wie möglich in ihrem Blickfeld. Schließlich aber warfen sie sich herum und rannten los, rannten, so schnell sie nur konnten.

Niemand hielt sie auf. Keine Scheuchen. Kein wutentbrannter Dämon.

Boralus musste wissen, dass das nicht nötig war. Die vier kamen zu ihm. Er brauchte sich gar nicht mehr die Mühe zu machen, sie im Wald zu stellen.

Es dauerte weitere zwanzig Minuten, ehe sie ihr Ziel erreichten.

Die Nacht war endgültig hereingebrochen, als vor ihnen aus dem Dunkel der Hof auftauchte. Boralus’ Heimstatt. Das uralte Herz seiner Macht.

Das Anwesen war nicht groß und sah heruntergekommen aus. Das Haupthaus wirkte schief und verzogen, an einer Stelle war ein Loch im Dach provisorisch mit Brettern abgedichtet worden. Die Oberfläche des Vorplatzes war von zahllosen Traktorspuren zerfurcht. Links davon erhob sich ein Stall in der Finsternis, aber es drangen keine Geräusche heraus – wahrscheinlich gab es hier schon lange kein Vieh mehr. Auch das Haupthaus wirkte verlassen. Hinter keinem Fenster brannte Licht.

»Da drüben«, flüsterte Lisa und zeigte nach links. Dort lag, ein wenig abseits, eine große Scheune. Ihr hohes Doppeltor war geschlossen. Durch die Ritzen drang der sanfte Schein flackernder Kerzen.

Kyra nickte. »Er muss da drin sein.«

»Wer?«, fragte Nils. »Boralus oder Wolf?«

»Dämonen brauchen keinen Kerzenschein«, behauptete Kyra.

»Also Wolf«, sagte Chris nachdenklich. »Gehen wir rein?«

»Deshalb sind wir ja hergekommen«, sagte Nils.

Sie schlichen über den dunklen Vorplatz. Ein widerlicher Geruch hing in der Luft.

Lisa rümpfte die Nase. »Das stinkt hier doch nicht nach Schweinestall, oder?«

»Verwesung«, stellte Kyra fest.

Nils, Chris und Lisa wechselten einen Blick, sagten aber nichts mehr. In solchen Augenblicken war Kyra nicht mehr sie selbst. Es gab wenig, was sie dann noch beeindrucken konnte. Allerdings war die innere Anspannung auch ihr deutlich anzusehen.

Sie erreichten die Scheune und schauten durch einen breiten Spalt im Holz hinein. An den Wänden hingen allerlei Werkzeuge, manche für Reparaturen und zur Feldarbeit bestimmt, andere augenscheinlich aus der Zeit, als der Bauer noch selbst geschlachtet hatte. Schrecklich anzusehende Hackmesser und Knochensägen baumelten an spitzen Eisenhaken. Der Stahl der Klingen war blass und rostig, so, als wären sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden – was sie allerdings nicht ungefährlicher erscheinen ließ.

»Mir wird schlecht«, stöhnte Lisa tonlos.

»Geht mir genauso«, wisperte Chris.

Eine Gestalt kauerte im Schneidersitz in der Mitte des Schuppens. Das musste der Mann sein, den sie suchten – Wolf! Um ihn brannten in einem Kreis sieben Kerzen.

Er sah jung aus, nicht älter als Mitte dreißig. Dennoch war sein Haar schlohweiß, so, als hätte es durch einen tiefen Schock die Farbe verloren. Sein Körper war dürr und knochig, wie abgemagert.

Wolf hatte das Gesicht nach unten gewandt. Die Freunde konnten nicht sehen, ob seine Augen geschlossen waren. Seine Hände ruhten mit den Handflächen nach oben auf seinen Knien. Hinter ihm erhob sich wie ein Altar aus Stahl und Rost ein gigantischer Mähdrescher.

»Schläft der?«, fragte Nils leise.

»Sieht aus, als würde er meditieren oder so was«, meinte Lisa.

»Als wäre er in Trance«, sagte Kyra.

Nils atmete auf. »Dann sollten wir dafür sorgen, dass es dabei bleibt. Wenigstens wird er uns so nicht erwischen.«

»Wo steckt Boralus?«, fragte Chris. »Oder ist er Boralus?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Kyra. »Seht mal, da liegt irgendwas vor ihm auf dem Boden.«

Tatsächlich, jetzt entdeckten sie es alle. Es sah aus wie ein Stück Glas. Oder eine Spiegelscherbe. Auf der Oberfläche bewegte sich etwas, obwohl sich in dem Schuppen nichts regte.

»Ich will sehen, was das ist«, sagte Kyra, und schon huschte sie zum Tor.

»Du willst doch nicht etwa zu ihm reingehen?«, zischte Nils ihr aufgebracht hinterher.

Doch da hatte Kyra das Tor bereits einen Spaltbreit aufgedrückt und war ins Innere der Scheune geschlüpft. Nils schlug sich fassungslos vor die Stirn, während Chris und Lisa gemeinsam einen tiefen Seufzer ausstießen. Trotzdem folgten die drei ihrer Freundin.

Als sie sich durch den Torspalt drängten, näherte Kyra sich schon dem Kerzenzirkel und dem Mann in seiner Mitte. Noch immer rührte Wolf sich nicht.

Nils fiel auf, dass auf einer Werkbank, die sie von außen nicht hatten sehen können, zahlreiche moderne Werkzeuge lagen. Da waren schwere Bohrmaschinen, eine Motorsäge, eine Nagelpistole und anderes technisches Gerät. Wolf musste also bis vor einiger Zeit noch seiner üblichen Arbeit nachgegangen sein. Zumindest war das ein Indiz dafür, dass er und Boralus nicht ein und dieselbe Person waren. Es sei denn, der Dämon hätte dem Bauern erst vor kurzem seinen Willen aufgezwungen.

Kyra näherte sich noch immer dem Zentrum der Scheune. Sie wagte kaum zu atmen. Unweit der Kerzen ging sie vorsichtig in die Hocke, um in Wolfs vorgebeugtes Gesicht zu blicken.

Seine Augen waren weit geöffnet.

Erschrocken zuckte Kyra zurück, taumelte zwei Schritte nach hinten. Dabei prallte sie rückwärts gegen Chris. Beide wären gestürzt, hätten Lisa und Nils sie nicht aufgefangen.

Wolf bemerkte nichts davon. Er starrte weiterhin wie gebannt vor sich auf den Boden, geradewegs in die gezackte Spiegelscherbe.

»Er ist in Trance«, stellte Kyra fest. Ihr Atem raste jetzt vor Aufregung.

»Du meinst wirklich, er kann uns nicht hören?«, flüsterte Lisa.

»Im Augenblick nicht.«

Auch Chris pirschte sich nun an den Sitzenden heran. Kyra folgte ihm eilig.

Sehr langsam, sehr vorsichtig betraten sie den Kerzenzirkel. Während Lisa und Nils wie gebannt zuschauten, beugten sich die beiden vor, um einen Blick auf die Oberfläche der Spiegelscherbe zu erhaschen.

Grelle Lichter zuckten über das Glas. Aber es waren keine Spiegelungen. Es sah aus, als wären sie im Glas. Oder dahinter.

Kyra streckte die Hand aus, um die Scherbe zu berühren, aber Chris hielt sie hastig zurück.

»Spinnst du? Du kannst das doch nicht anfassen!«

»Wieso denn nicht?«

»Weil … weil …«, stammelte Chris, »weil es gefährlich sein könnte.«

Kyra lächelte. »Angst?«

»Um dich.«

Lisa hörte die Worte der beiden. Sie wurde knallrot. Warum war sie nicht selbst vorgesprungen, als Chris auf den Bauern zugegangen war? Dann hätte sie es sein können, die nun die Scherbe aufhob. Vielleicht hätte er dann das Gleiche zu ihr gesagt statt zu Kyra.

Nils berührte seine Schwester sachte am Unterarm. »He«, flüsterte er leise und klang dabei ungewohnt verständnisvoll. »Mach dir nix draus. Das hat doch nichts zu bedeuten.«

Lisa war so überrascht über seine Reaktion, dass sie die beiden dort vorne zwischen den Kerzen fast vergaß. Sie konnte nicht anders: Sie schenkte Nils ein dankbares Lächeln.

Derweil tastete Kyra nach der Scherbe. Chris behielt das starre Gesicht des Bauern im Auge. Bei der winzigsten Regung würde er Kyra zurückreißen. Schweißperlen standen auf seiner Stirn.

Kyra atmete ein letztes Mal tief durch, dann schloss sie ihre Finger um den Rand der Scherbe, riss sie vom Boden und taumelte gefolgt von Chris nach hinten.

Wolf erwachte ruckartig aus seinem Trancezustand. Ein schrecklicher Laut ertönte aus seinem aufgerissenen Mund, halb Schrei, halb schmerzerfülltes Aufheulen.

Die vier liefen zurück zum Scheunentor. Dort gewann ihre Neugier die Oberhand. Alle blieben stehen und blickten zurück zu Wolf, der sich mühsam hochrappelte.

Es war, als hätte man einen Bluthund von der Kette gelassen.

Wolf begann zu toben, schlug wie wild um sich, trat und boxte ins Leere und hörte dabei nicht auf, die schrecklichen Schreie auszustoßen. Dabei beachtete er die vier Freunde am Tor überhaupt nicht.

»Er ist nicht hier«, sagte Kyra benommen. »Nicht wirklich. Sein Geist ist irgendwie … anderswo.«

Die anderen begriffen nicht genau, was sie damit meinte, nahmen aber an, dass sie Recht hatte. Wie so oft griff Kyra unbewusst auf das Wissen ihrer Mutter zurück. Und wie immer erkannte sie dabei Dinge, die eigentlich außerhalb ihrer eigenen Erfahrung lagen.

»Boralus beherrscht ihn. Deshalb hat er seit Tagen nichts mehr gegessen und getrunken. Der Dämon hat ihn am Leben gehalten, solange der Kontakt zwischen ihnen Bestand hatte. Wolf war sein Diener, sein Sklave.« Kyra betrachtete die Spiegelscherbe in ihrer Hand, die jetzt wieder wie ein ganz normales Stück Glas aussah. »Irgendwie habe ich die Verbindung zwischen ihnen gekappt.«

Weiter kam sie nicht, denn plötzlich stürmte Wolf aus dem Kerzenzirkel geradewegs auf das Scheunentor zu. Aufgeschreckt rannten die vier Freunde auseinander. Doch noch immer zeigte der abgemagerte Mann kein Interesse an ihnen. Kreischend und tobend drängte er sich ins Freie.

Rasch versammelten sich die vier neben der Türöffnung. An die Wand gepresst, spähten sie dem Wahnsinnigen hinterher.

Was sie sahen, erschütterte sie bis ins Mark.

Der Vorplatz des Hofes war voller Vogelscheuchen. Zwanzig, dreißig, vierzig.

»Das ist ja –«, begann Nils.

»Eine ganze Armee«, stöhnte Chris.

Wie harmlos die Scheuchen aussahen! Wieder standen sie alle vollkommen bewegungslos da, nur die Lumpen wallten um die dürren Holzglieder. Ihre Schädelgesichter waren mit Leinen verhängt.

Wolf kreischte und lachte irre, lief zwischen den Scheuchen umher wie ein übermütiges Kind, zupfte an den zerfetzten Stoffen oder schnitt ihnen Grimassen.

»Wolf hat sie in Boralus’ Auftrag erschaffen«, vermutete Kyra. »Er hat die Schädel ausgegraben und zu Scheuchen verarbeitet. Dann hat Boralus selbst ihnen Leben geschenkt – oder was ein Dämon wie er eben unter Leben versteht. Und jetzt sind sie nicht mehr aufzuhalten.«

Der Bauer lief immer schneller im Zickzack umher. Zweimal sah es so aus, als würde er wieder in die Scheune hineinlaufen. Erschrocken zogen sich die Freunde zurück. Doch dann machte Wolf wieder kehrt und setzte seinen Irrlauf weiter fort, bis plötzlich eine der Scheuchen direkt vor ihm aufragte.

Wolf war zu schnell, er konnte nicht mehr ausweichen. Schreiend rannte er der Scheuche in die ausgebreiteten Arme.

Etwas geschah, wenn auch keiner der vier genau erkennen konnte, was es war. Die Berührung hatte irgendetwas in Gang gesetzt. Einen magischen Prozess.

Eine Verwandlung.

Wolf stolperte zurück, aber es war zu spät.

Mit ruckartigen Bewegungen breitete er die Arme aus. Er streckte seine Beine, presste sie fest aneinander, bis sein Körper in Form eines Kreuzes dastand.

Lisa wandte sich ab. Sie wusste, was geschah. Auch die Jungen blickten angewidert in eine andere Richtung. Nur Kyra verfolgte voller Ekel, aber auch mit Faszination, was weiter geschah.

Als Lisa eine Weile später zaghaft wieder hinaus auf den Hof blickte, war Wolf verschwunden. An seiner Stelle stand eine neue Vogelscheuche. Über ihrem hölzernen Körper hing die Kleidung des Bauern – und auf ihren Schultern saß ein blanker Knochenschädel.

Chris löste sich vom Tor und lief an dem riesigen Mähdrescher vorbei zur Rückseite der Scheune. Dort blickte er durch einen Spalt ins Freie. Das Gleiche tat er an beiden Seitenwänden. Dann erst kehrte er niedergeschlagen zu den drei anderen zurück.

»Sie sind überall«, flüsterte er mit hohler Stimme. »Die Scheuchen haben uns eingekreist.«

Herr Fleck war überzeugt, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Selbst dann noch, als sich die Geister um ihn herum in blasse Schwaden auflösten und innerhalb weniger Augenblicke zu nichts zerfaserten.

Der Archivar wusste nicht, dass Kyra in genau diesem Moment die Spiegelscherbe aufgehoben hatte. Er ahnte auch nicht, dass Boralus die Geister mithilfe von Energie erschaffen hatte, die er dem armen Bauern Wolf abgezapft hatte; als die Verbindung zwischen den beiden zusammengebrochen war, hatten auch die Geister an Kraft verloren.

So schnell, wie sein Alter es zuließ, lief der Archivar die Treppe hinauf und eilte an seinen Schreibtisch. In der einen Hand hielt er noch immer das vergilbte Buch aus der hintersten Ecke der unteren Gewölbe. Mit der anderen packte er die Kiste voller Pestnägel, die er Kyra und ihren Freunden gezeigt hatte.

Mit beidem stürmte er die Stufen hinauf in die Nacht, über den leeren, finsteren Marktplatz, die Hauptstraße hinunter bis zu dem kleinen Teeladen am Nordtor, von dem er wusste, dass er Kyras Tante gehörte. Licht fiel von innen durch das Schaufenster auf das nächtliche Straßenpflaster.

Kassandra Rabenson ging voller Sorge in ihrem Geschäft auf und ab, nippte hin und wieder an einer Tasse kalt gewordenem Tee und machte sich schlimme Vorwürfe. Sie hätte die vier nicht so einfach gehen lassen dürfen. Sie hätte sie zurückhalten müssen.

Die Türklingel läutete Sturm, als Herr Fleck in den Laden stürzte, unter einem Arm das Buch, unter dem anderen die Nagelkiste.

»Frau Rabenson!«, keuchte er aufgeregt. »Schnell – haben Sie einen Wagen?«

Tante Kassandra nickte. Sie war kreidebleich geworden.

»Dann los«, rief der Archivar und lief zur Hintertür des Ladens in Richtung Innenhof. »Kommen Sie! Ich erkläre Ihnen alles unterwegs.«